18 Wie der Pflug die Erde aufbricht

Rand ergriff Saidin ausreichend lange, um den Schutz zu lösen, den er in einer Ecke des Vorraums gewoben hatte, hob seinen kleinen, silbern eingefaß-ten Becher an und sagte: »Noch mehr Tee.« Lews Therin murrte in seinem Hinterkopf verärgert.

Verzierte und vergoldete Sessel standen jeweils paarweise aufgereiht zu beiden Seiten einer aufgehenden goldenen Sonne, die, zwei Schritte breit, in den glänzenden Steinboden eingelassen war, und ein weiterer Sessel, der fast vollkommen aus Gold zu bestehen schien, stand auf einem kleinen Podest, das genauso sorgfältig gearbeitet war, aber Rand saß mit gekreuzten Beinen auf einem für diese Gelegenheit ausgelegten Teppich mit einem tairenischen Wirrwarr in Grün und Gold und Blau. Den drei Clanhäuptlingen, die ihm gegenübersaßen, hätte es nicht gefallen, wenn er sie von einem Sessel aus empfangen hätte, selbst wenn sie selbst Sessel angeboten bekommen hätten. Sie waren ein weiteres Wirrwarr, das vorsichtig behandelt werden mußte. Rand trug die Ärmel seines Hemds hochgeschoben, so daß die rotgoldenen Drachen sichtbar wurden, die sich um beide Unterarme wanden und metallisch glitzerten. Die Clanhäuptlinge trugen die Cadin'sors der Aielmänner, die ihre nur auf dem linken Arm befindlichen Drachen verbargen. Vielleicht war die Mahnung an das, was er war - daß auch er in Rhuidean gewesen war, obwohl die Reise für die meisten Menschen, die es betraten, den Tod bedeutete - unnötig. Vielleicht.

Die drei Gesichter verrieten wenig, als sie Merana aus der Ecke herannahen sahen, wo sie abgeschirmt gewesen war. Janwins runzliges Gesicht hätte aus altem Holz geschnitzt sein können, aber so wirkte es immer, und wenn seine blaugrauen Augen stürmisch dreinblickten, so war dies auch immer so. Selbst sein Haar wirkte wie Sturmwolken. Er war jedoch ein ausgeglichener Mensch. Indirian und der einäugige Mandelain hätten an etwas anderes denken können, nur daß ihre unbewegten Blicke Merana folgten. Lews Therin wurde plötzlich still, als beobachte auch er durch Rands Augen.

Meranas alterslose Züge offenbarten noch weniger als die Gesichter der Clanhäuptlinge. Sie glättete ihre hellgrauen Röcke, kniete sich neben Rand und nahm die Teekanne hoch. Sie brauchte für die Kanne, die eine große Kugel aus goldüberzogenem Silber war, mit Leoparden als Füße und Henkel und einem weiteren auf dem Deckel kauernden Leoparden, beide Hände, und sie zitterte ein wenig, als sie Rands Becher vorsichtig füllte. Wie sie es tat, schien zu besagen, daß sie es tun wollte, aus ihren eigenen Gründen, die niemand von ihnen auch nur andeutungsweise verstehen konnte. Wie sie es tat, kennzeichnete sie weitaus deutlicher als Aes Sedai als ihr Gesicht. War dies nützlich, oder schadete es eher?

»Ich lasse sie die Macht nicht ohne Erlaubnis lenken«, sagte Rand. Die Clanhäuptlinge schwiegen. Merana erhob sich und kniete sich dann neben die Häuptlinge. Mandelain bedeckte seinen Becher mit einer breiten Hand, um anzuzeigen, daß er keinen Tee mehr wollte. Die anderen beiden hielten ihr die Becher hin, während blaugraue und grüne Augen sie gleichermaßen beobachteten. Was sahen sie? Was konnte er noch tun? Sie stellte die schwere Teekanne auf das große Tablett mit den Leopardengriffen zurück und blieb knien. »Kann ich meinem Lord Drache noch auf andere Weise dienlich sein?«

Ihre Stimme war die reine Selbstbeherrschung, aber nachdem er sie in ihre Ecke zurückverwiesen hatte, als sie sich erhoben und umgewandt hatte, umklammerten ihre schlanken Hände einen Moment ihre Röcke. Der Grund dafür könnte jedoch auch gewesen sein, daß sie sich plötzlich Dashiva und Narishma gegenübersah. Die beiden Asha'man - um genau zu sein, war Narishma noch ein Soldat, der niedrigste Rang der Asha'man, der weder Schwert noch Drache am Kragen trug - standen unbewegt zwischen zwei der hohen, goldgerahmten Spiegel, welche die Wände säumten. Zumindest der jüngere Mann wirkte auf den ersten Blick unbewegt. Die Daumen in den Schwertgürtel gehakt, beachtete er Merana nicht und Rand und die Aielmänner kaum mehr, und doch sah man auf den zweiten Blick, daß seine dunklen, zu großen Augen niemals ruhten, als erwarte er, daß das Unerwartete jeden Moment aus der Luft auftauchte. Und wer konnte wissen, daß es nicht geschähe? Dashiva schien mit den Gedanken woanders zu sein. Seine Lippen bewegten sich lautlos, und er blickte blinzelnd und stirnrunzelnd ins Leere.

Lews Therin knurrte wütend, als Rand die Ashaman ansah, aber es war Merana, die die Gedanken des toten Mannes in Rands Kopf beschäftigte. Nur ein Narr glaubt, ein Löwe oder eine Frau könnten wahrhaft gezähmt werden.

Rand unterdrückte die Stimme verärgert bis auf ein gedämpftes Summen. Lews Therin konnte hindurchdringen, aber nur mit Mühe. Rand ergriff Saidin und wob den Schutz erneut, der Merana von ihren Stimmen abschirmte. Die Quelle wieder loszulassen, steigerte seine Verärgerung, das Zischen in seinem Kopf wie auf glühende Kohlen tropfendes Wasser. Lews Therins wahnsinniger, ferner Zorn hallte wider.

Merana stand hinter der Absperrung, die sie weder sehen noch fühlen konnte, den Kopf hoch erhoben und die Hände an der Taille gefaltet, als sei eine Stola um ihre Arme geschlungen. Eine Aes Sedai durch und durch. Sie beobachtete ihn und die Clanhäuptlinge mit kühlem Blick - gelb gesprenkeltes Hellbraun. Meine Schwestern erkennen überhaupt nicht, wie sehr wir Euch brauchen, hatte sie ihm heute morgen in genau diesem Raum gesagt aber alle von uns, die geschworen haben, das zu tun, um was auch immer Ihr uns bittet, solange es die Drei Eide nicht verletzt. Er war gerade aufgewacht, als sie mit Sorilea im Schlepptau hereingekommen war. Beide schien es überhaupt nicht zu stören, daß er noch im Nachtgewand war und erst einen Bissen von seinem Frühstücksbrot genommen hatte. Ich habe mehr als nur ein wenig Erfahrung im Verhandeln und Vermitteln. Meine Schwestern haben in anderen Dingen Erfahrung. Laßt uns Euch dienen, wie wir es gelobt haben. Laßt mich Euch dienen. Wir brauchen Euch, aber Ihr braucht uns in gewisser Weise auch.

Stets gegenwärtig, schmiegte sich Alanna in einen Winkel seines Geistes. Sie weinte erneut. Er konnte nicht verstehen, warum sie so häufig weinte. Er hatte ihr verboten, ihm nahe zu kommen, wenn sie nicht gerufen wurde, oder ihren Raum ohne eine Eskorte von Töchtern des Speers zu verlassen - für die Schwestern, die sich ihm verschworen hatten, hatte man gestern abend Räume gefunden, im Palast, wo er ein Auge auf sie haben konnte -, aber er hatte von dem Moment an Tränen gespürt, wo sie sich mit ihm verbunden hatte, Tränen und ungekannten Kummer. Manchmal war es besser und manchmal schlimmer, aber es war immer da. Alanna hatte ihm auch gesagt, er brauche die verschworenen Schwestern, hatte es ihm schließlich sogar ins Gesicht gebrüllt, mit geröteten Wangen und Tränen in den Augen, bevor sie seiner Gegenwart sprichwörtlich entflohen war. Und sie hatte auch vom Dienen gesprochen, obwohl er bezweifelte, daß Meranas gegenwärtige Aufgaben dem entsprachen, was sie beide im Sinn hatten. Vielleicht würde eine Art Livree es deutlicher machen?

Die Clanhäuptlinge beobachteten, wie Merana sie beobachtete. Nicht einmal ein Zucken einer Wimper gab ihre Gedanken preis.

»Die Weisen Frauen haben Euch gesagt, wo die Aes Sedai stehen«, sagte Rand grob. Sorilea hatte ihm berichtet, sie wüßten es, aber es wäre auch an der mangelnden Überraschung erkennbar gewesen, als sie Merana das erste Mal herbeieilen und einen Hofknicks vollführen sahen. »Ihr habt gesehen, daß sie das Tablett herangebracht und Euch Tee eingegossen hat. Ihr habt sie auf meinen Befehl hin kommen und gehen sehen. Wenn Ihr wollt, werde ich sie einen Gigue tanzen lassen.« Die Aiel davon zu überzeugen, daß er nicht am Ende einer Aes-Sedai-Peitsche stand, war der notwendigste Dienst, den ihm eine der Schwestern im Moment erweisen konnte. Er würde sie alle einen Gigue tanzen lassen, wenn es nötig wäre.

Mandelain rückte seine graugrüne Augenklappe zurecht, wie er es stets tat, wenn er einen Moment nachdenken wollte. Eine dicke, wulstige Narbe zog sich von der Augenklappe zur Stirn hinauf und halbwegs über seinen überwiegend kahlen Kopf. Als er schließlich sprach, klangen seine Worte nur unwesentlich weniger grob, als Rands geklungen hatten. »Einige sagen, eine Aes Sedai würde alles tun, um zu bekommen, was sie will.«

Indirian senkte die dichten weißen Augenbrauen und spähte an seiner langen Nase hinab in seinen Becher. Nur durchschnittlich groß für einen Aielmann, war er eine halbe Handbreit kleiner als Rand, wenn auch sonst alles an ihm lang zu sein schien. Die Hitze der Wüste schien jedes überflüssige Gramm Fett und noch einiges mehr fortgeschmolzen zu haben. Seine Wangenknochen stachen scharf hervor, und seine Augen waren in Höhlen eingelassene Smaragde. »Ich spreche nicht gern von Aes Sedai.« Seine tiefe, volltönende Stimme erschreckte stets, weil man sie dem hageren Gesicht nicht zuordnete. »Was getan ist, ist getan. Sollen die Weisen Frauen sich um sie kümmern.«

»Wir sollten besser über die Shaido-Steinsoldaten sprechen«, sagte Janwin sanft. Was fast genauso sehr erschreckte, da er ein finsteres Gesicht besaß. »Innerhalb weniger Monate, höchstens eines halben Jahres, wird jeder Shaido, der sterben kann, tot sein - oder zum Gai'shain gemacht worden sein.« Daß seine Stimme sanft klang, bedeutete nicht, daß er sanften Gemüts war. Die beiden anderen nickten. Mandelain lächelte eifrig.

Sie schienen noch immer nicht überzeugt. Die Shaido waren der erklärte Grund für diese Zusammenkunft gewesen und nicht weniger wichtig, nur weil sie nicht der wichtigste Grund waren. Sie bedeuteten jedoch Unannehmlicheiten. Drei Clans, die sich Timolans Miagoma angeschlossen hatten und sich bereits in der Nähe von Brudermörders Dolch befanden, könnten sehr wohl imstande sein zu tun, was Janwin gesagt hatte, aber es gab auch jene, die nicht zu Gai'shain gemacht und nicht getötet werden konnten. Einige waren gefährlicher als andere. »Was ist mit den Weisen Frauen?« fragte Rand.

Ihre Gesichter wurden einen Moment unlesbar. Nicht einmal Aes Sedai beherrschten das so gut wie die Aiel. Es erschreckte sie nicht, der Einen Macht gegenüber zu stehen, zumindest nicht dort, wo es jemand sehen konnte. Die Aiel glaubten, daß niemand dem Tod entrinnen konnte, und selbst einhundert zornige Aes Sedai konnten einen Aiel nicht dazu bringen, den einmal erhobenen Schleier wieder zu senken. Aber zu erfahren, daß die Weisen Frauen am Kampf bei den Quellen von Dumai teilgenommen hatten, hatte sie genauso betroffengemacht, als wenn die Sonne in der Nacht und der Mond am Tage an einem blutroten Himmel gestanden hätten.

»Sarinde erzählte mir, daß fast alle Weisen Frauen mit den Algai'd'siswai gehen werden«, sagte Indirian schließlich widerwillig. Sarinde war die Weise Frau, die ihm von den Roten Quellen, der Clanfeste der Codarra, gefolgt war. Oder vielleicht war ›folgen‹ nicht das richtige Wort. Das taten Weise Frauen selten. Auf jeden Fall würden die meisten Weisen Frauen der Codarra und die Shiande und die Daryne mit ihren Speeren nach Norden ziehen. »Um die Weisen Frauen der Shaido werden sich ... Weise Frauen ... kümmern.« Er verzog angewidert den Mund.

»Alles ändert sich.« Janwins Stimme klang noch sanfter als gewöhnlich. Er glaubte es, aber er wollte es nicht glauben. Weise Frauen, die sich an einer Schlacht beteiligten, verletzten einen Brauch, der so alt war wie die Aiel.

Mandelain stellte seinen Becher behutsam ab. »Corehuin möchte Jair erneut sehen, bevor die Träume enden, und ich ebenfalls.« Er hatte, wie Bael und Rhuarc, zwei Frauen. Die anderen Häuptlinge hatten jeder nur eine - außer Timolan -, aber ein verwitweter Häuptling blieb selten Witwer. Die Weisen Frauen sorgten dafür, wenn er es nicht selbst tat. »Wird irgend jemand von uns die Sonne im Dreifaltigen Land noch einmal aufgehen sehen?«

»Das hoffe ich«, sagte Rand langsam. Er soll die Leben der Menschen aufbrechen, wie der Pflug die Erde aufbricht, und alles, was gewesen ist, soll von der Glut seiner Augen vereinnahmt werden. Die Kriegsposaunen sollen ihm nachklingen, die Raben sollen sich an seiner Stimme nähren, und er soll eine Krone aus Schwertern tragen. Die Prophezeiungen des Drachen ließen wenig Hoffnung auf etwas anderes als den Sieg über den Dunklen König. Die Prophezeiung von Rhuidean, die Aiel-Prophezeiung, besagte, daß er sie vernichten würde. Wegen ihm vereinnahmte die Öde die Clans, und uralte Bräuche wurden zerstört. Selbst ohne die Aes Sedai war es kein Wunder, wenn die Häuptlinge darüber nachdachten, ob es richtig war, Rand al'Thor zu folgen, ob er Drachen auf den Armen aufwies oder nicht. »Ich hoffe es.«

»Möget Ihr stets Wasser und Schatten finden, Rand al'Thor«, sagte Indirian.

Nachdem sie gegangen waren, saß Rand stirnrunzelnd in seinen Becher blickend da, fand aber in dem dunklen Tee keine Antworten. Schließlich stellte er ihn neben das Tablett und zog seine Ärmel herunter. Meranas Blick ruhte angespannt auf ihm, als wollte sie ihm seine Gedanken entziehen. Sie schien ebenfalls Ungeduld auszustrahlen. Er hatte ihr gesagt, sie solle in der Ecke bleiben, solange sie keine Stimmen hören konnte. Merana aber sah zweifellos keinen Grund, warum sie nicht hervorkommen sollte, da die Clanhäuptlinge gegangen waren. Hervorkommen und herausfinden sollte, was gesagt worden war.

»Denkt Ihr, sie glauben, daß ich an den Fäden der Aes Sedai tanze?« fragte er.

Der junge Narishma zuckte zusammen. Er war in Wahrheit kaum alter als Rand, aber er hatte den Blick eines fünf oder sechs Jahre jüngeren Mannes. Er sah Merana an, als wüßte sie die Antwort, und bewegte unbehaglich die Schultern. »Ich ... weiß es nicht, mein Lord Drache.«

Dashiva blinzelte und hörte auf, vor sich hin zu murmeln. Er neigte den Kopf wie ein Vogel und sah Rand von der Seite an. »Ist es wichtig, solange sie gehorchen?«

»Es ist wichtig«, sagte Rand. Dashiva zuckte die Achseln, und Narishma runzelte nachdenklich die Stirn. Sie schienen beide nicht zu verstehen, aber vielleicht könnte man Narishma darauf hinführen.

Hinter dem Podest des Throns übersäten Landkarten den Steinboden, zusammengerollt oder gefaltet oder ausgebreitet, wo Rand sie liegengelassen hatte. Er verschob einige mit seiner Stiefel spitze. Er mußte sich um so vieles gleichzeitig kümmern. Um das nördliche Cairhien und die Brudermörders Dolch genannten Berge, sowie die Region rund um die Stadt. Um Illian und die Ebenen von Maredo bis zu Far Madding. Um die Insel Tar Valon und alle umgebenden Städte und Dörfer. Um Ghealdan und einen Teil von Amadicia. In seinem Kopf war Bewegung und Farbe. Lews Therin stöhnte und lachte in der Ferne, schwaches, wahnsinniges Gemurmel darüber, die Asha'man zu töten, die Verlorenen zu töten. Ihn selbst zu töten. Alanna hörte auf zu weinen, schneidende Qual - unter einer dünnen Schicht Zorn gebändigt. Rand fuhr sich mit den Händen durchs Haar und drückte sie dann fest gegen die Schläfen. Wie war es gewesen, als er noch allein in seinem Schädel war? Er konnte sich nicht mehr erinnern.

Eine der großen Türen öffnete sich, und eine der Töchter des Speers, die im Gang Wache standen, kam herein. Riallin, mit lebhaft rotblondem Haar und unentwegt grinsend, wirkte in der Tat rundlich -jedenfalls für eine Tochter des Speers. »Berelain sur Paendrag und Annoura Larisen möchten den Car'acarn sehen«, verkündete sie. Ihre Stimme klang beim ersten Namen warm und freundlich, aber beim zweiten Namen kalt und tonlos, ohne daß ihr Grinsen schwand.

Rand seufzte und öffnete den Mund, um sie herein zu beordern, aber Berelain wartete nicht. Sie stürmte herein, eine etwas ruhigere Annoura dichtauf. Die Aes Sedai scheute beim Anblick Dashivas und Narishmas leicht zurück und musterte neugierig Merana in ihrer Ecke. Nicht so Berelain.

»Was hat das zu bedeuten, mein Lord Drache?« forderte sie zu wissen und schwang den Brief, den er ihram Morgen hatte zukommen lassen. Sie schritt heran und hielt ihm den Brief unter die Nase. »Warum soll ich nach Mayene zurückkehren? Ich habe hier in Eurem Namen gut regiert, und das wißt Ihr. Ich konnte es nicht verhindern, daß Colavaere sich selbst krönen ließ, aber zumindest habe ich sie daran gehindert, die von Euch erlassenen Gesetze zu ändern. Warum soll ich fortgeschickt werden? Und warum erfahre ich das brieflich? Nicht von Angesicht zu Angesicht? Man dankt mir brieflich für meine Dienste und entläßt mich wie einen Schreiber, der die Steuern eingetrieben hat.«

Selbst wenn sie zornig war, war die Erste von Mayene eine der allerschönsten Frauen, die Rand je gesehen hatte. Schwarzes Haar fiel in glänzenden Wellen bis auf ihre Schultern und umrahmte ein Gesicht, das den Blick eines jeden Mannes auf sich zog. Ein Mann konnte in ihren dunklen Augen leicht ertrinken. Heute trug sie glänzende silberne Seide, dünn und anschmiegsam und eher geeignet, einen Liebhaber privat zu unterhalten. Tatsächlich hätte sie das Gewand nicht in der Öffentlichkeit tragen können, wenn der Ausschnitt auch nur noch einen Hauch tiefer gewesen wäre. Er war sich bei dem Anblick nicht sicher, daß sie es tun sollte. Als er den Brief schrieb, hatte er sich gesagt, er wähle diesen Weg, weil er zuviel zu tun und keine Zeit hatte, mit ihr zu streiten. Die Wahrheit war aber, daß er sie zu gern ansah. Aus irgendeinem Grund hatte er begonnen, etwas zu empfinden, was nicht direkt falsch, aber doch fast falsch war.

Sobald sie auftauchte, begann Lews Therin leise zu summen, wie er es tat, wenn er eine Frau bewunderte. Rand merkte plötzlich, daß er sein Ohrläppchen rieb und erschrak. Er wußte instinktiv, daß das noch etwas war, was Lews Therin ohne nachzudenken tat, wie auch das Summen. Er senkte seine Hand, die einen Moment erneut zum Ohr drängte.

Verdammt, dies ist mein Körper! dachte er zähnefletschend. Meiner! Lews Therin hörte überrascht und verwirrt auf zu summen. Der tote Mann floh lautlos in die tiefsten Schatten von Rands Geist zurück.

Rands Schweigen zeitigte eine Wirkung. Berelain senkte den Brief, und ihr Zorn wich ein wenig. Den Blick in seinen versenkt, atmete sie tief ein, und ihre Wangen röteten sich. »Mein Lord Drache...«

»Ihr wißt warum«, unterbrach er sie. Es war nicht leicht ihr nur in die Augen zu sehen. Seltsamerweise wünschte er sich, Min wäre hier. Sehr seltsam. Ihre Visionen würden jetzt nichts nützen. »Als ihr heute morgen von diesem Meervolk-Schiff zurückkehrtet, wartete auf dem Dock ein Bursche mit einem Dolch.«

Berelain warf verächtlich den Kopf in den Nacken. »Er kam nicht näher als bis auf drei Schritte an mich heran. Ich hatte ein Dutzend Beflügelte Wächter und Lordhauptmann Gallenne bei mir.« Nurelle war mit einigen der Beflügelten Wächter bei den Quellen von Dumai erschienen, aber Gallenne führte den Oberbefehl. Sie hatte achthundert von ihnen in der Stadt, zusätzlich zu denjenigen, die mit Nurelle zurückgekehrt waren. »Ihr erwartet von mir, daß ich wegen eines Taschendiebs davonlaufe?«

»Spielt nicht die Närrin«, grollte er. »Ein Taschendieb, wenn ein Dutzend Soldaten Euch umstehen?« Sie errötete. Gut, sie wußte Bescheid. Er ließ ihr keine Gelegenheit zu protestieren oder Erklärungen abzugeben oder ähnlich Törichtes. »Dobraine sagte mir, er habe im Palast bereits flüstern hören, Ihr hättet Colavaere verraten. Jene, die sie unterstutzt haben, könnten Angst haben, mich zu verhöhnen, aber sie werden dafür bezahlen, wenn Euch jemand niedersticht.« Und Faile, laut Dobraine, ebenfalls. Darum mußte man sich kümmern. »Aber sie werden keine Gelegenheit dazu bekommen, weil Ihr nach Mayene zurückgeht. Dobraine wird Euren Platz hier einnehmen, bis Elayne den Sonnenthron beansprucht«

Zorn vereinnahmte sie. Ihre Augen wurden gefährlich groß. Er war froh gewesen, als sie keine Angst mehr vor ihm gehabt hatte, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Als sie den Mund öffnete, um ihren Zorn herauszulassen, berührte Annoura sie am Arm, und sie wandte ruckartig den Kopf. Sie wechselten einen langen Blick, und Berelains Zorn wich wieder. Sie glättete ihre Röcke und straffte energisch die Schultern. Rand wandte hastig den Blick ab.

Meranas Schutz war nicht mehr vollständig. Er fragte sich, ob sie hindurchgetreten und wieder rasch zurückgewichen war - wie sonst konnte sie genau auf etwas gestoßen sein, was sie eigentlich nicht bemerken durfte? Als er den Kopf wandte, wich sie zurück, bis sie fast die Wände berührte, wobei sie den Blick nicht von ihm ließ, ihrem Gesicht nach zu urteilen, hätte sie ihm zehn Jahre lang den Tee eingegossen, um hören zu können, was gesagt wurde.

»Mein Lord Drache«, sagte Berelain lächelnd, »da ist noch die Angelegenheit mit den Atha'an Miere.« Ihre Stimme war wie warmer Honig. Ihre geschwungenen Lippen hätten einem Stein Gedanken ans Küssen entlocken können. »Die Herrin der Wogen Hanne ist nicht erfreut darüber, daß sie so lange auf ihrem Schiff festgehalten wird. Ich habe sie mehrere Male besucht. Ich kann die Probleme dort mildern, was Lord Dobraine meiner Meinung nach wohl kaum kann. Ich glaube, das Meervolk ist für Euch lebenswichtig, ob es in den Prophezeiungen des Drachen genannt wird oder nicht. Ihr seid in ihren Prophezeiungen von entscheidender Bedeutung, obwohl sie anscheinend kaum gewillt sind zu sagen, wie genau.«

Rand starrte sie an. Warum kämpfte sie so sehr darum, eine schwierige Aufgabe zu behalten, die ihr von den Cairhienern wenig Dank eingebracht hatte, bevor einige den Wunsch verspürten, sie töten zu wollen? Sie war eine Herrscherin und war es gewohnt, mit Herrschern und Gesandten umzugehen, nicht mit Straßenräubern und in der Dunkelheit aufblitzenden Dolchen. Warmer Honig oder nicht - es war nicht erstrebenswert, in Rand al'Thors Nähe zu bleiben. Sie hatte sich ihm ... nun, einmal angeboten ... aber Tatsache war, daß Mayene ein kleines Land war, und Berelain benutzte ihre Schönheit wie ein Mann ein Schwert, um ihr Land davor zu bewahren, von seinem mächtigeren Nachbarn Tear geschluckt zu werden. So einfach war das. »Berelain, ich weiß nicht, was ich noch tun kann, um Euch Mayene zu garantieren, aber ich werde Euch schriftlich geben, was immer...« Farben wirbelten so wild in seinem Kopf umher, daß seine Zunge erstarrte. Lews Therin kicherte. Eine Frau, die die Gefahr kennt und keine Angst hat, ist ein Schatz, den nur ein Wahnsinniger verschmähen würde.

»Garantien.« Enttäuschung vereinnahmte den Honig, und der Zorn stieg erneut auf, dieses Mal kalter Zorn. Annoura zog an Berelains Ärmel, aber sie achtete nicht auf die Aes Sedai. »Während ich mit Euren Garantien in Mayene sitze, werden andere Euch dienen. Sie werden ihr Entgelt fordern, und der Dienst, den ich hier geleistet habe, wird verblichen und alt sein, während ihrer strahlend und neu ist. Wenn der Hochlord Weiramon Euch Illian gibt und im Gegenzug Mayene fordert - was werdet Ihr dann antworten? Wenn er Euch Murandy und Altara gibt und alles andere bis zum Aryth-Meer?«

»Werdet Ihr dienen, auch wenn es weiterhin bedeutet, daß Ihr gehen müßt?« fragte er ruhig. »Ihr werdet aus meinen Augen sein, aber nicht aus meinen Gedanken.« Lews Therin lachte erneut auf eine Art, die Rand beinahe erröten ließ. Er sah gern hin, aber was Lews Therin manchmal dachte...

Berelain betrachtete ihn eigensinnig, und er konnte die Fragen fast sehen, die Annouras Frage nach sich zog, wie auch deren sorgfältige Auswahl.

Die Tür öffnete sich erneut für Riallin. »Eine Aes Sedai ist gekommen, um den Car'a'carn zu sehen.« Es gelang ihr, dieses Mal kalt und zugleich unsicher zu klingen. »Ihr Name ist Cadsuane Melaidhrin.« Eine auffallend hübsche Frau rauschte unmittelbar hinter Riallin herein, das eisengraue Haar zu einem Knoten auf dem Kopf aufgesteckt und mit herabhängenden Goldverzierungen geschmückt. Jetzt schien alles gleichzeitig zu geschehen.

»Ich dachte, Ihr wärt tot«, keuchte Annoura, der fast die Augen aus dem Kopf fielen.

Merana schoß mit ausgestreckten Händen durch ihren Schutz. »Nein, Cadsuane!« schrie sie. »Ihr dürft ihn nicht verletzen! Ihr dürft es nicht tun!«

Rands Haut kribbelte, als jemand im Raum Saidar umarmte, vielleicht mehr als eine Person, und während er schnell aus Berelains Reichweite trat, griff er nach der Quelle, überflutete sich mit Saidin und spürte es auch die Asha'man erfüllen. Dashivas Gesicht zuckte, als er von einer Aes Sedai zur anderen sah.

Narishma ergriff, trotz der Macht, die er festhielt, mit beiden Händen sein Schwertheft und nahm die Leopard im Baum genannte Haltung ein - kurz vorm Blankziehen. Lews Therin knurrte etwas über das Töten und den Tod, tote sie alle, töte sie jetzt. Riallin hob ihren Schleier und rief etwas, und plötzlich befanden sich ein Dutzend Töchter des Speers im Raum, verschleiert und mit bereitgehaltenen Speeren. Es war kaum überraschend, daß Berelain erstaunt dastand und schaute, als wäre jedermann wahnsinnig geworden.

Für jemanden, der das alles verursacht hatte, schien Cadsuane bemerkenswert unbeeindruckt. Sie betrachtete die Töchter des Speers und schüttelte den Kopf, wobei die goldenen Sterne und Monde und Vögel sanft schaukelten. »Der Versuch, im nördlichen Ghealdan annehmbare Rosen zu züchten, kommt dem Tode zwar nahe, Annoura«, bemerkte sie trocken, »aber es entspricht nicht ganz dem Grab. Oh, beruhigt Euch, Merana, bevor Ehr noch jemanden erschreckt. Man sollte meinen, Ihr wärt etwas weniger leicht erregbar geworden, seit Ihr das Novizinnen weiß abgelegt habt.«

Merana öffnete und schloß den Mund, wirkte vor allem verlegen, und das Kribbeln schwand jäh. Rand ließ Saidin jedoch nicht fahren - und die Asha'man ebensowenig.

»Wer seid Ihr?« fragte er. »Und zu welcher Ajah gehört Ihr?« Meranas Reaktion nach mußte es die Rote Ajah sein, aber es hätte den Mut eines Selbstmörders erfordert, als Rote Schwester einfach allein hier hereinzuspazieren. »Was wollt Ihr?«

Cadsuanes Blick verweilte nur einen Moment auf ihm, und sie antwortete nicht. Meranas Lippen teilten sich, und die grauhaarige Frau sah sie an, eine Augenbraue gewölbt - und da geschah es. Merana errötete tatsächlich und senkte den Blick. Annoura starrte die Frau noch immer an wie einen Geist. Oder wie einen Riesen.

Cadsuane schritt mit schwingenden Röcken schweigend durch den Raum zu den beiden Asha'man. Rand bekam allmählich das Gefühl, als bewegte sie sich immer auf diese eilige, gleitende Art, anmutig, aber ohne Zeit zu verschwenden oder sich durch etwas aufhalten zu lassen. Dashiva betrachtete sie von Kopf bis Fuß und verzog höhnisch die Lippen. Sie schien es nicht zu bemerken, obwohl sie ihm direkt ins Gesicht sah, genauso, wie sie auch nicht zu bemerken schien, daß Narishmas Hände um sein Schwert lagen, als sie einen Finger unter sein Kinn hielt und seinen Kopf von einer Seite zur anderen wandte, bevor er zurückweichen konnte.

»Welch wunderschöne Augen«, murmelte sie. Narishma blinzelte unsicher, und Dashivas höhnisch verzogene Lippen wurden zu einem unangenehmen Grinsen, das seinen vorherigen Ausdruck vergleichsweise unbeschwert erscheinen ließ.

»Unternehmt nichts«, fauchte Rand. Dashiva besaß die Frechheit, ihn finster anzublicken bevor er plötzlich eine Faust zu dem Gruß auf die Brust preßte, den die Asha'man benutzten. »Was wollt Ihr hier, Cadsuane?« fragte Rand erneut. »Seht mich an, verdammt!«

Sie wandte zumindest den Kopf. »Ihr seid also Rand al'Thor, der Wiedergeborene Drache. Ich hätte gedacht, daß sogar ein Kind wie Moiraine Euch einige Manieren beibringen könnte.«

Riallin steckte den Speer aus ihrer rechten Hand zu jenen hinter ihrem Schild und vollführte schnell die Zeichensprache der Töchter des Speers. Dieses Mal lachte niemand. Dieses eine Mal war sich Rand sicher, daß sie sich nicht über ihn lustig machten. »Beruhigt Euch, Riallin«, sagte er und hob eine Hand. »Beruhigt Euch alle.«

Cadsuane beachtete auch das Gebärdenspiel nicht und lächelte Berelain zu. »Das ist also Eure Berelain, Annoura. Sie ist schöner, als ich gehört hatte.« Sie vollführte mit geneigtem Kopf einen tiefen Hofknicks, der aber irgendwie keinerlei Ehrerbietung beinhaltete, keinen Hinweis darauf, daß sie niedriger gestellt war. Es war tatsächlich nur Höflichkeit, nicht mehr. »Mylady Erste von Mayene, ich muß mit diesem jungen Mann sprechen, und ich würde Euren Berater gern dabeihaben. Ich habe gehört, daß Ihr hier viele Pflichten übernommen habt. Ich möchte Euch nicht davon abhalten.« Es war eine überdeutliche Entlassung, fast als hätte sie ihr bereits die Tür aufgehalten.

Berelain neigte anmutig den Kopf, wandte sich dann geschmeidig zu Rand um und breitete ihre Röcke in einem tiefen Hofknicks aus. »Mein Lord Drache«, sagte sie, »ich erbitte Eure freundliche Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen.«

Rands daraufhin erfolgende Verbeugung geriet nicht so geübt. »Es sei Euch gewährt, was Ihr wünscht.« Er bot ihr seine Hand, um ihr hochzuhelfen. »Ich hoffe, Ihr werdet meinen Vorschlag überdenken.«

»Mein Lord Drache, ich werde Euch dienen, wo immer und wie immer Ihr es wünscht.« Ihre Stimme klang wieder wie reiner Honig. Wegen Cadsuane, vermutete er. Ihr Gesicht wies sicherlich nicht auf die Absicht zu schäkern hin, sondern zeigte nur Entschlossenheit. »Denkt an Hanne«, fügte sie im Flüsterton hinzu.

Als sich die Tür hinter Berelain schloß, sagte Cadsuane: »Es tut immer gut, Kinder spielen zu sehen, meint Ihr nicht auch, Merana?« Merana starrte sie an und blickte dann zwischen Rand und der grauhaarigen Schwester hin und her, Annoura wirkte, als hielte nur Willensstärke sie noch aufrecht.

Die meisten der Töchter des Speers folgten Berelain hinaus, offensichtlich überzeugt, daß es kein Attentat geben würde, aber Riallin und zwei andere blieben, noch immer verschleiert, vor der Tür stehen. Vielleicht war es Zufall, daß eine Tochter des Speers auf jeweils eine Aes Sedai kam. Dashiva glaubte anscheinend ebenfalls, daß alle Gefahr vorüber war. Er lehnte sich an die Wand zurück, einen Fuß aufgestützt, die Lippen leicht in Bewegung, die Arme gekreuzt, und beobachtete offensichtlich die Aes Sedai.

Narishma sah fragend zu Rand, aber dieser schüttelte nur den Kopf. Die Frau versuchte ihn bewußt herauszufordern. Die Frage war, warum sie einen Mann herausfordern sollte, von dem sie wußte, daß er sie dämpfen - oder töten - konnte, ohne sich anzustrengen? Lews Therin murmelte dasselbe. Warum? Warum? Rand betrat das Podest, nahm das Drachenszepter vom Thron auf und setzte sich hin, um abzuwarten, was geschehen würde. Die Frau würde keinen Erfolg haben.

»Ziemlich überladen, findet Ihr nicht?« sagte Cadsuane zu Artnoura, während sie sich umsah. Abgesehen von all dem anderen Gold verliefen auch breite goldene Bänder über den Spiegeln an den Wänden entlang. »Ich wußte noch nie, ob Cairhiener oder Tairener schlimmer übertreiben, aber beide könnten Ebou Dari - oder sogar einen Kesselflicker - vor Scham erröten lassen. Ist das ein Teetablett? Ich hatte gern welchen, wenn er frisch und heiß ist.«

Rand lenkte die Macht, nahm das Tablett auf, wobei er halbwegs erwartete, das Metall durch den Makel zerfressen zu sehen, und ließ es den drei Frauen zukommen. Merana hatte zusätzliche Becher gebracht, und vier standen noch unbenutzt auf dem Tablett. Er füllte sie, stellte die Teekanne wieder ab und wartete. Sie schwebte, von Saidin unterstützt, in der Luft.

Drei äußerlich sehr unterschiedliche Frauen und drei entschieden unterschiedliche Reaktionen. Annoura betrachtete das Tablett ungefähr so, wie sie eine zusammengerollte Viper betrachtet hätte, schüttelte leicht den Kopf und trat dann einen kleinen Schritt zurück. Merana atmete tief ein und nahm mit zitternder Hand vorsichtig einen Becher hoch. Es war nicht dasselbe zu wissen, daß ein Mann die Macht lenken konnte, und gezwungen zu sein, es mit eigenen Augen zu sehen. Cadsuane jedoch nahm ihren Becher und schnupperte mit erfreutem Lächeln in den Dampf. Sie konnte an nichts erkennen, welcher der drei Männer den Tee eingegossen hatte, aber sie sah über ihren Becher hinweg nur Rand an, der sich mit einem Bein über der Lehne auf seinem Sessel rekelte. »Guter Junge«, sagte sie. Die Töchter des Speers warfen sich über ihre Schleier hinweg entsetzte Blicke zu.

Rand erschauerte. Nein. Sie würde ihn nicht provozieren. Aus welchem Grund auch immer sie es wollte - es würde ihr nicht gelingen! »Ich frage noch einmal«, sagte er. Seltsam, daß seine Stimme so kalt klingen konnte. Innerlich war ihm heißer als das heißeste Feuer Saidins.

»Was wollt Ihr? Antwortet oder geht. Durch die Tür oder durch ein Fenster - Ihr habt die Wahl.«

Merana erhob erneut die Stimme, und Cadsuane brachte sie abermals zum Schweigen, dieses Mal durch eine scharfe Geste und ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Ich wollte Euch sehen«, sagte sie ruhig. »Ich gehöre der Grünen Ajah an, nicht der Roten, aber ich trage die Stola schon länger als jede andere lebende Schwester, und ich habe mehr Männern gegenübergestanden, die die Macht lenken konnten, als vier oder vielleicht zehn beliebige Rote. Nicht, daß ich sie verfolge, versteht Ihr, aber ich scheine eine Nase dafür zu haben. Einige haben bis zum bitteren Ende gekämpft, haben, noch nachdem sie abgeschirmt und gebunden waren, um sich getreten und geschrien. Einige haben geweint und gebettelt, haben Gold und alles andere geboten, sogar ihre Seelen, um nicht nach Tar Valon gebracht zu werden. Wieder andere weinten vor Erleichterung, demütig wie Lämmer, letztendlich dankbar, daß es vorüber war. Bei der Wahrheit des Lichts, sie weinen letztendlich alle. Am Ende bleiben ihnen nur Tränen.«

Die in ihm befindliche Hitze wandelte sich in Zorn. Das Tablett und die wuchtige Teekanne wirbelten durch den Raum, zerschlugen donnernd einen Spiegel und prallten in einem Regen aus Glassplittern zurück, wobei die zerbeulte Kanne Tee verschüttete und das Tablett über den Boden schepperte. Alle außer Cadsuane sprangen auf. Rand machte einen Satz vom Podest, während er das Drachenszepter so fest umfaß-te, daß seine Knöchel weiß hervorstanden. »Wollt Ihr mir damit Angst einjagen?« grollte er. »Erwartet Ihr von mir, zu betteln oder dankbar zu sein? Zu weinen? Aes Sedai, ich könnte meine Hand schließen und Euch zerquetschen.« Die Hand, die er hochhielt, bebte vor Zorn. »Merana weiß, warum ich es tun sollte. Und nur das Licht weiß, warum ich es nicht tue.«

Die Frau betrachtete das verbeulte Teegeschirr, als hätte sie alle Zeit der Welt. »Jetzt wißt Ihr es«, sagte sie schließlich so ruhig wie immer, »daß ich Eure Zukunft kenne - und Eure Gegenwart. Die Gnade des Lichts verblaßt für einen Mann, der die Macht lenken kann, zu nichts. Einige sehen das und glauben, das Licht lehne jene Männer ab. Ich glaube das nicht. Habt Ihr bereits begonnen, Stimmen zu hören?«

»Was meint Ihr damit?« fragte er zögernd. Er konnte spüren, daß Lews Therin zuhörte.

Seine Haut begann erneut zu kribbeln, und er hätte beinahe die Macht gelenkt, aber alles was geschah, war lediglich, daß die Teekanne angehoben wurde, zu Cadsuane schwebte und sich langsam in der Luft drehte, damit sie diese betrachten konnte. »Einige Männer, die die Macht lenken können, beginnen Stimmen zu hören.« Sie sprach fast abwesend, während sie stirnrunzelnd die abgeflachte Silber- und Goldkugel betrachtete. »Es ist Teil des Wahnsinns. Stimmen, die sich mit ihnen unterhalten, ihnen sagen, was sie tun sollen.« Die Teekanne schwebte langsam auf den Boden zu ihren Füßen. »Habt Ihr schon welche gehört?«

Dashiva lachte heiser und mit bebenden Schultern auf. Narishma benetzte seine Lippen. Er hatte vorher vielleicht keine Angst vor der Frau gehabt, aber jetzt beobachtete er sie wie einen Skorpion.

»Ich werde die Fragen stellen«, sagte Rand entschlossen. »Ihr scheint zu vergessen, daß ich der Wiedergeborene Drache bin.« Du bist real, nicht wahr? fragte er. Es erfolgte keine Antwort. Lews Therin? Manchmal antwortete der Mann nicht, aber Aes Sedai zogen ihn stets an. Lews Therin ? Er war nicht wahnsinnig. Die Stimme war real, keine Einbildung. Kein Wahnsinn. Das plötzliche Bedürfnis zu lachen half auch nicht.

Cadsuane seufzte. »Ihr seid ein junger Mann, der wenig Ahnung davon hat, wohin sein Weg ihn führt und warum, oder was vor ihm liegt. Ihr scheint überreizt. Vielleicht können wir miteinander sprechen, wenn Ihr ruhiger seid. Habt Ihr irgendwelche Einwände dagegen, daß ich Merana und Annoura eine Weile mitnehme? Ich habe beide länger nicht gesehen.«

Rand starrte sie an. Sie rauschte hier herein, beleidigte ihn, drohte ihm, verkündete beiläufig, daß sie von der Stimme in seinem Kopf wußte, und wollte jetzt gehen und mit Merana und Annoura plaudern? Ist sie wahnsinnig? Lews Therin antwortete noch immer nicht. Der Mann war real Er war es!

»Geht«, sagte er. »Geht, und...« Er war nicht wahnsinnig. »Ihr alle, geht! Hinaus!«

Dashiva sah ihn blinzelnd an, neigte den Kopf, zuckte dann die Achseln und ging auf die Tür zu. Cadsuane lächelte auf eine Art, daß er halbwegs erwartete, sie würde ihn erneut einen guten Jungen nennen, nahm aber dann nur Merana und Annoura und schob sie auf die Töchter des Speers zu, die gerade ihre Schleier senkten und besorgt die Stirn runzelten. Narishma sah ihn auch zögernd an, bis Rand eine scharfe Geste vollführte. Schließlich waren sie alle fort, und er war allein. Allein.

Er schleuderte das Drachenszepter von sich. Die Speerspitze blieb zitternd in der Rückenlehne eines der Sessel stecken, und die Quasten schwangen.

»Ich bin nicht wahnsinnig«, sagte er in den leeren Raum. Lews Therin hatte ihm einiges gesagt. Er wäre Galinas Kiste ohne die Stimme des toten Mannes niemals entronnen. Aber er hatte die Macht schon benutzt, bevor er die Stimme jemals gehört hatte. Er hatte herausgefunden, wie man Blitze heraufbeschwor und Feuer schleuderte und ein Gebilde errichtete, das Hunderte von Trollocs getötet hatte. Aber andererseits war das vielleicht Lews Therin gewesen, wie jene Erinnerungen daran, in einem Obstgarten auf Bäume zu klettern, in den Saal der Diener einzutreten und ein Dutzend weitere Erinnerungen, die unvermittelt auf ihn eindrangen. Und vielleicht waren diese Erinnerungen alle Einbildung, wahnsinnige Träume eines irrwitzigen Geistes, genau wie die Stimme.

Er merkte, daß er auf und ab schritt, und doch konnte er nicht damit aufhören. Er hatte das Gefühl, sich bewegen zu müssen, weil seine Muskeln sonst krampfartig reißen würden. »Ich bin nicht wahnsinnig«, keuchte er. Noch nicht. »Ich bin nicht...« Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ ihn in der Hoffnung auf Min herumfahren.

Es war erneut Riallin, die eine kleine, stämmige Frau in einem dunkelblauen Gewand, überwiegend grauem Haar und einem derben Gesicht hereinführte. Ein verhärmtes Gesicht mit geröteten Augen. Er wollte ihnen sagen, sie sollten gehen, ihn allein lassen. Allein. War er allein? War Lews Therin ein Traum?

Wenn sie ihn nur allein lassen würden... Idrien Tarsin war die Vorsitzende der Schule, die er hier in Cairhien gegründet hatte, eine so praktisch veranlagte Frau, daß er sich nicht sicher war, ob sie an die Eine Macht glaubte, da sie sie weder sehen noch berühren konnte. Was hatte sie auf diesen Zustand zurückführen können?

Er zwang sich, sich zu ihr umzuwenden. Wahnsinnig oder nicht, allein oder nicht - niemand sonst konnte tun, was getan werden mußte. Nicht einmal diese kleine Pflicht, die schwerer als ein Berg wog. »Was gibt es?« fragte er und hielt seine Stimme so freundlich wie möglich.

Idrien weinte plötzlich, stolperte auf ihn zu und brach an seiner Brust zusammen. Als sie sich ausreichend weit gefaßt hatte, um ihre Geschichte erzählen zu können, war auch er den Tränen nahe.

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