41 Eine Schwerterkrone

Rand träumte wild um sich schlagend wirre Träume, in denen er mit Perrin stritt und Mat bat, Elayne zu finden, und in denen Farben gerade außer Sicht aufflammten und Padan Fain mit blitzender Klinge auf ihn zusprang, und manchmal glaubte er im Herzen eines Nebels eine Stimme um eine tote Frau trauern zu hören, Träume, in denen er sich Elayne, Aviendha, Min zu erklären versuchte, allen dreien gleichzeitig, und selbst Min sah ihn verächtlich an.

»...nicht gestört werden!« Cadsuanes Stimme. Ein Bestandteil seiner Träume?

Die Stimme ängstigte ihn. Er rief in seinem Traum nach Lews Therin, und der Klang seiner Stimme hallte durch dichten Nebel, in dem sich Gestalten bewegten und Menschen und Pferde schreiend starben, ein Nebel, in dem Cadsuane ihm unerbittlich folgte, während er keuchend davonlief. Alanna versuchte, ihn zu beruhigen, aber sie fürchtete Cadsuane ebenfalls. Er konnte ihre Angst genauso stark spüren wie seine eigene. Sein Kopf schmerzte. Und seine Seite.

Die alte Narbe brannte. Er spürte Saidin. Jemand hielt Saidin fest. War er es? Er wußte es nicht. Er bemühte sich aufzuwachen.

»Ihr werdet ihn töten!« rief Min. »Ich werde nicht zulassen, daß Ihr ihn tötet!«

Als er die Augen öffnete, blickte er in ihr Gesicht. Sie sah ihn nicht an. Sie umfaßte seinen Kopf mit beiden Armen und sah jemanden an, der ein Stück vom Bett entfernt stand. Ihre Augen waren gerötet. Sie hatte geweint, weinte aber jetzt nicht mehr. Ja, er befand sich in seinem eigenen Bett, in seinen Räumen im Sonnenpalast. Er konnte einen wuchtigen, kantigen Bettpfosten aus Schwarzholz mit Elfenbeinkeilen sehen. Min lag in einer cremefarbenen Seidenbluse auf dem Leinenlaken, das ihn bis zum Hals bedeckte, schützend um ihn zusammengerollt. Alanna hatte Angst. Er spürte sie im Hinterkopf zittern. Angst um ihn. Dessen war er sich aus einem unbestimmten Grund sicher.

»Ich glaube, er ist wach, Min«, sagte Amys sanft.

Min schaute hinab, und ihr von dunklen Lokken umrahmtes Gesicht erstrahlte in einem jähen Lächeln.

Vorsichtig, weil er sich schwach fühlte, nahm er ihre Arme fort und setzte sich auf. In seinem Kopf drehte sich alles vor Benommenheit, aber er zwang sich dazu, sich nicht wieder hinzulegen. Sein Bett war umringt.

Auf einer Seite stand Amys, flankiert von Bera und Kiruna. Amys' jugendliche Züge waren völlig ausdruckslos, aber sie strich ihr langes weißes Haar zurück und richtete ihre dunkle Stola, als hätte sie gerade einen Kampf bestanden. Die beiden Aes Sedai wirkten äußerlich gelassen, aber auch entschlossen - eine Königin, entschlossen, ihren Thron zu verteidigen, und eine Bäuerin, die bereit war, um ihren Hof zu kämpfen. Es schien ihm seltsamerweise, als wären es diese drei, die wie ein Mann zusammenstanden, wenn er jemals drei Menschen - und nicht nur physisch - hatte zusammenstehen sehen.

Auf der anderen Seite des Bettes standen Samitsu, mit Silberglocken in ihrem Haar, sowie eine schlanke Schwester mit dichten schwarzen Augenbrauen und einer rabenschwarzen Haarmähne und Cadsuane, welche die Fäuste in die Hüften stemmte. Samitsu und die Aes Sedai mit dem rabenschwarzen Haar trugen mit gelben Fransen versehene Stolen und preßten die Kiefer genauso fest zusammen wie Bera oder Kiruna, aber Cadsuanes strenger Blick ließ sie alle vier eher unschlüssig erscheinen. Die beiden Gruppen von Frauen sahen einander nicht an, aber die Männer.

Am Fußende des Bettes standen Dashiva mit dem Silberschwert und dem rotgoldenen Drachen am Kragen und Flinn und Narishma, die alle mit grimmigen Gesichtern versuchten, die Frauen auf beiden Seiten des Bettes gleichzeitig im Auge zu behalten. Jonan Adley stand neben ihnen, und seine schwarze Jacke war an einem Ärmel versengt. Saidar erfüllte alle vier Männer anscheinend im Überfluß. Dashiva hielt fast genauso viel davon fest, wie Rand hätte festhalten können. Rand schaute zu Adley, der leicht nickte.

In dem Moment erkannte er jäh, daß er unter dem Laken, das bis zu seiner Taille herabgerutscht war, nichts außer einem Verband um die Körpermitte trug. »Wie lange habe ich geschlafen?« fragte er. »Wie kommt es, daß ich lebe?« Er berührte vorsichtig den weißen Verband. »Fains Dolch kam aus Shadar Logoth. Ich habe gesehen, wie er einst einen Mann durch einen Kratzer in wenigen Momenten tötete. Er starb schnell, und er starb qualvoll.« Dashiva stieß murrend einen Fluch aus, der Padan Fains Namen beinhaltete.

Samitsu und die anderen Gelben wechselten bestürzte Blicke, aber Cadsuane nickte nur, wobei die goldenen Ornamente um ihren eisengrauen Knoten schwangen. »Ja, Shadar Logoth. Das würde manches erklären. Ihr habt es Sumeko zu verdanken, daß Ihr lebt, und Meister Flinn.« Sie sah den grauhaarigen Mann mit seinem Kranz weißen Haars nicht an, aber er grinste, als habe sie sich vor ihm verneigt. Tatsächlich nickten ihm die Gelben überraschenderweise alle zu. »Und Corele natürlich«, fuhr Cadsuane fort. »Jeder hat seinen Teil beigetragen, einschließlich einiger Dinge, die vermutlich seit der Zerstörung nicht mehr getan wurden.« Ihre Stimme wurde hart. »Ohne diese drei wärt Ihr inzwischen tot, und Ihr könntet noch immer sterben, wenn Ihr Euch nicht an ihre Anweisungen haltet. Ihr müßt Euch ausruhen und dürft Euch nicht anstrengen.« Plötzlich knurrte Rands Magen laut, und sie fügte hinzu: »Wir konnten Euch nur ein wenig Wasser und Brühe einflößen, seit Ihr verletzt wurdet. Zwei Tage ohne Nahrung ist für einen kranken Mann eine lange Zeit.«

Zwei Tage. Nur zwei. Er vermied es, Adley anzusehen. »Ich stehe auf«, sagte er.

»Ich werde nicht zulassen, daß sie dich umbringen, Schafhirte«, sagte Min mit eigensinnigem Funkeln in den Augen, »und ich werde auch nicht zulassen, daß du dich umbringst.« Sie legte ihre Arme um seine Schultern, als wollte sie ihn am Fleck festhalten.

»Wenn der Car'a'carn aufstehen will«, sagte Amys tonlos, »werde ich Nandera die Töchter des Speers vom Gang hereinbringen lassen. Somera und Enaila werden ihm gern genau die Hilfe zuteil werden lassen, die er braucht.« Um ihren Mund spielte ein leichtes Lächeln. Sie war einst selbst eine Tochter des Speers gewesen und wußte ausreichend über diese besonderen Umstände Bescheid. Weder Kiruna noch Bera lächelten. Sie sahen Rand stirnrunzelnd wie einen vollkommen Narren an.

»Junge«, sagte Cadsuane trocken, »ich habe schon mehr von Euren unbehaarten Hinterbacken gesehen, als mir lieb ist, aber wenn Ihr sie vor uns allen zur Schau stellen wollt, wird vielleicht sogar jemand Gefallen daran finden. Wenn Ihr jedoch aufs Gesicht fallt, muß ich Euch den Hintern versohlen, bevor ich Euch wieder ins Bett stecke.« Samitsus und Coreles Mienen nach zu urteilen, würden sie ihr nur zu gern dabei helfen.

Narishma und Adley starrten Cadsuane entsetzt an, während Flinn an seiner Jacke zog, als ringe er mit sich. Dashiva brach jedoch in rauhes Lachen aus. »Wenn Ihr wollt, daß wir die Frauen hinausschaffen...« Der Mann mit dem glatten Gesicht begann Stränge vorzubereiten, keine Schilde, aber komplizierte Gewebe aus Geist und Feuer, die vermutlich jedermann, den sie berührten, zu große Schmerzen bereiten würden, als daß er noch daran denken könnte, die Macht zu lenken.

»Nein«, sagte er rasch. Bera und Kiruna würden der schlichten Aufforderung zu gehen gehorchen, und wenn Corele und Samitsu geholfen hatten, ihn am Leben zu erhalten, schuldete er ihnen mehr als Schmerzen. Wenn Cadsuane jedoch glaubte, seine Nacktheit würde ihn daran hindern aufzustehen, sollte sie sich auf eine Überraschung gefaßt machen. Er war ohnehin im Zweifel, ob die Töchter des Speers ihm überhaupt noch Anstand gelassen hatten. Mit einem Lächeln für Min entwand er sich ihren Armen, warf das Laken zurück und kletterte auf Amys' Seite aus dem Bett.

Die Weise Frau preßte den Mund zusammen. Er konnte fast sehen, wie sie überlegte, ob sie die Töchter des Speers rufen sollte. Bera warf Amys einen gequälten, unsicheren Blick zu, während Kiruna sich mit geröteten Wangen hastig umwandte. Rand schritt langsam zum Schrank. Langsam, weil er erwartete, daß er Cadsuane vielleicht eine Gelegenheit zum Eingreifen verschaffte, wenn er sich zu schnell bewegte.

»Pah!« murrte sie hinter ihm. »Ich schwöre, ich sollte dem sturen Jungen den Hintern versohlen.« Jemand brummte, was Zustimmung oder auch Mißbilligung für sein Handeln bedeuten konnte.

»Ah, aber es ist solch ein hübscher Hintern, nicht wahr?« sagte jemand anderer in singendem murandianischen Akzent. Es mußte Corele gewesen sein.

Gut, daß sein Kopf im Schrank steckte. Vielleicht hatten die Töchter des Speers ihm doch nicht soviel Anstand genommen wie er geglaubt hatte. Licht! Sein Gesicht fühlte sich so heiß wie ein Hochofen an. In der Hoffnung, daß seine Bewegungen jegliches Schwanken verbergen würden, zog er sich eilig an. Sein Schwert stand an die Rückwand des Schranks gelehnt, der Schwertgürtel um die dunkle Scheide aus Wildschweinleder geschlungen. Er berührte das lange Heft und nahm seine Hand dann wieder fort.

Er wandte sich barfuß um, während er noch sein Hemd schloß. Min saß in ihrer engen grünen Seidenhose noch immer im Schneidersitz auf seinem Bett und konnte sich, ihrer Miene nach zu urteilen, nicht zwischen Anerkennung und Enttäuschung entscheiden. »Ich muß mit Dashiva und den anderen Asha'man sprechen«, sagte er. »Allein.«

Min stand auf und lief zu ihm, um ihn zu umarmen. Nicht fest; sie behandelte seine verbundene Seite sehr vorsichtig. »Ich habe zu lange darauf gewartet, dich wieder aufwachen zu sehen«, sagte sie und legte einen Arm um seine Taille. »Ich muß bei dir bleiben.« Sie betonte dies ein wenig. Sie mußte eine Vision gehabt haben, oder vielleicht wollte sie einfach helfen, ihn auf den Beinen zu halten. Ihr Arm schien ihn zu stützen. Wie auch immer - er nickte. Er war nicht sehr standfest, Rand legte eine Hand auf ihre Schulter und erkannte jäh, daß die Asha'man genauso wenig wie Cadsuane oder Amys wissen sollten, wie schwach er war.

Bera und Kiruna vollführten widerwillig Hofknickse und gingen auf die Tür zu, zögerten aber, als Amys sich nicht sofort rührte. »Solange Ihr diese Räume nicht zu verlassen beabsichtigt«, sagte die Weise Frau in einem Tonfall, der nicht im geringsten darauf schließen ließ, daß sie zu ihrem Car'a'carn sprach.

Rand hob einen nackten Fuß an. »Sehe ich so aus, als wollte ich irgendwo hingehen?« Amys schnaubte, aber mit einem Blick auf Adley schloß sie sich Bera und Kiruna an und ging.

Cadsuane und die beiden anderen folgten ihnen kurz darauf. Die grauhaarige Grüne sah ebenfalls zu Adley. Es war kein großes Geheimnis, daß er tagelang von Cairhien fortgewesen war. An der Tür hielt sie inne. »Unternehmt nichts Törichtes, Junge.« Sie klang wie eine strenge Tante, die einen unbeholfenen Neffen warnte, ohne zu erwarten, daß er zuhörte. Samitsu und Corele folgten ihr hinaus, während sie abwechselnd ihn und die Asha'man stirnrunzelnd ansahen. Als sie gegangen waren, lachte Dashiva ein scharfes, pfeifendes Lachen und schüttelte den Kopf. Er klang tatsächlich belustigt.

Rand trat von Min fort, um seine Stiefel neben dem Schrank aufzuheben und ein zusammengerolltes Paar Socken aus dem Schrank zu nehmen. »Ich folge Euch in den Vorraum, sobald ich die Stiefel angezogen habe, Dashiva.«

Der Asha'man mit dem glatten Gesicht zuckte zusammen. Er hatte Adley stirnrunzelnd betrachtet. »Wie Ihr befehlt, mein Lord Drache«, sagte er und preßte die Faust aufs Herz.

Rand wartete, bis die vier Männer ebenfalls gegangen waren, setzte sich dann mit einem Gefühl der Erleichterung in einen Sessel und begann sich die Strümpfe anzuziehen. Seine Beine fühlten sich bereits stärker an, nur weil er aufgestanden war und sich bewegt hatte. Stärker, aber sie wollten ihn noch immer nicht sehr gut tragen.

»Bist du sicher, daß dies klug ist?« fragte Min, während sie sich neben seinen Sessel kniete, und er sah sie bestürzt an. Wenn er während dieser zwei Tage im Schlaf gesprochen hatte, hätten die Aes Sedai es gewußt. Amys hätte Enaila und Somera und fünfzig weitere Töchter des Speers warten lassen, als er erwachte.

Er zog seine Socken hoch. »Hattest du eine Vision?«

Min setzte sich auf die Fersen zurück, kreuzte die Arme unter der Brust und sah ihn fest an. Kurz darauf sah sie ein, daß es nicht wirkte, und seufzte. »Es ist Cadsuane. Sie wird dich etwas lehren, dich und die Asha'man. Ich meine, alle Asha'man. Es ist etwas, das du lernen mußt, aber ich weiß nicht, was es ist, nur daß es keinem von euch gefallen wird, es von ihr zu lernen. Es wird euch überhaupt nicht gefallen.«

Rand hielt mit einem Stiefel in der Hand inne und zog ihn dann an. Was konnte Cadsuane oder jede andere Aes Sedai die Asha'man lehren? Frauen konnten Männer nichts lehren, und Männer konnten Frauen nichts lehren. Das war eine genauso feststehende Tatsache wie die Eine Macht selbst. »Wir werden sehen«, sagte er nur.

Das stellte Min offensichtlich nicht zufrieden. Sie wußte, daß es geschehen würde, und er ebenfalls. Sie irrte sich niemals. Aber was konnte Cadsuane ihn möglicherweise lehren? Was würde er sich von ihr beibringen lassen? Die Frau machte ihn seiner selbst ungewiß, eine Unsicherheit, wie er sie seit dem Fall des Steins von Tear nicht mehr empfunden hatte.

Er stampfte mit dem Fuß auf, damit er in den zweiten Stiefel gelangte, und holte dann seinen Schwertgürtel und eine rote, goldverzierte Jacke aus dem Schrank hervor, die gleiche Jacke, die er bei dem Besuch beim Meervolk getragen hatte. »Was hat Merana für mich ausgehandelt?« fragte er, und Min stieß tief in ihrer Kehle einen verärgerten Laut aus.

»Bis heute morgen noch nichts«, antwortete sie ungeduldig. »Sie und Rafela haben das Schiff seit unserem Weggang noch nicht wieder verlassen, aber sie haben ein halbes Dutzend Botschaften mit der Anfrage geschickt, ob es dir gut genug gehe, um zurückzukehren. Ich glaube nicht, daß sie ohne dich zurechtkommen. Es wäre vermutlich zuviel gehofft, daß du aufs Schiff gehen willst.«

»Noch nicht«, belehrte er sie. Min sagte nichts, aber sie hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und eine Augenbraue hoch gewölbt. Nun, sie würde bald fast alles erfahren.

Im Vorraum sprangen alle Asha'man außer Dashiva von ihren Stühlen auf, als Rand mit Min erschien. Dashiva blickte ins Leere, sprach mit sich selbst und bemerkte Rand erst, als dieser die in den Boden eingelassene Aufgehende Sonne erreicht hatte, woraufhin er mehrere Male blinzelte, bevor er sich erhob.

Rand sprach Adley an, während er die wie ein Drachen gestaltete Schnalle seines Schwertgürtels schloß. »Das Heer hat die Bergfestungen in Illian bereits erreicht?« Er hätte sich gern in einen der vergoldeten Lehnstühle gesetzt, erlaubte es sich aber nicht. »Wie? Es hätte bestenfalls noch einige weitere Tage dauern sollen. Bestenfalls.« Flinn und Narishma waren genauso bestürzt wie Dashiva. Keiner von ihnen hatte gewußt, wohin Adley und Hopwil gegangen waren - oder Morr. Es war immer schwierig zu entscheiden, wem man trauen konnte, und Vertrauen war gefährlich.

Adley erhob sich. Seine Augen unter den dichten Augenbrauen blickten seltsam. Er hatte den Wolf gesehen, wie man in Cairhien sagte. »Der Hohe Herr Weiramon hat die Fußsoldaten zurückgelassen und ist mit den Reitern vorgeprescht«, erstattete er nüchtern Bericht. »Die Aiel haben natürlich Schritt gehalten.« Er runzelte die Stirn. »Wir sind gestern auf Aiel gestoßen. Shaido. Ich weiß nicht, wie sie dorthin gelangt sind. Es waren insgesamt vielleicht neunoder zehntausend Mann, aber sie hatten anscheinend keine Weisen Frauen bei sich, welche die Macht lenken konnten, und sie haben uns auch nicht behindert. Wir haben die Bergfestungen heute um die Mittagszeit erreicht,«

Rand war wütend. Die Fußsoldaten zurückzulassen! Glaubte Weiramon, er könnte palisadenverstärkte Festungen auf Berggipfeln mit Reitern einnehmen? Wahrscheinlich. Der Mann hätte gewiß auch die Aiel zurückgelassen, wenn er schneller als sie hätte sein können. Überhebliche Adlige und ihre törichte Ehre! Dennoch - es war unwichtig. Bis auf die Männer, die starben, weil der Hohe Herr Weiramon verächtlich auf all jene herabblickte, die nicht vom Pferderücken aus kämpften.

»Eben und ich haben die ersten Palisaden zerstört, sobald wir eintrafen«, fuhr Adley fort. »Das gefiel Weiramon nicht sehr. Ich glaube, er hätte uns am liebsten aufgehalten, aber er hatte Angst, es zu tun. Wie dem auch sei - wir begannen, das Holz in Brand zu stecken und Löcher in die Mauern zu sprengen, aber bevor wir weitermachen konnten, kam Sammael. Zumindest ein Mann, der Saidin lenkte und erheblich stärker war als Eben oder ich. Ich würde sagen, so stark wie Ihr, mein Lord Drache.«

»Er war sofort da?« fragte Rand ungläubig, aber dann verstand er. Er war davon überzeugt gewesen, daß Sammael sicher hinter mit Macht gewobenen Schutzvorrichtungen bleiben würde, wenn er Rand gegenübertreten zu müssen glaubte. Zu viele der Verlorenen hatten es versucht, und die meisten waren jetzt tot. Rand lachte wider Willen - und mußte sich die Seite halten. Lachen schmerzte. All diese kunstvolle Täuschung, um Sammael davon zu überzeugen, daß er überall sein würde, nur nicht beim einfallenden Heer, um den Mann aus Illian hervorzulocken, und das alles durch ein Messer in Padan Fains Hand unnötig gemacht. Zwei Tage. Inzwischen wußte jedermann, der Augen-und-Ohren in Cairhien hatte - was gewiß auch für die Verlorenen galt -, daß der Wiedergeborene Drache mit dem Tode kämpfte. Das war vollkommen sicher. »Männer planen und Frauen intrigieren, aber das Rad webt wie das Rad es wünscht«, lautete ein Sprichwort in Tear. »Fahrt fort«, sagte er. »Morr war letzte Nacht bei Euch?«

»Ja, mein Lord Drache. Fedwin kommt jede Nacht, genau wie vorgesehen. Es war gestern abend schon abzusehen, daß wir die Festungen heute erreichen würden.«

»Ich verstehe nichts von alledem.« Dashiva klang aufgebracht. Ein Muskel an seiner Wange zuckte. »Ihr habt Sammael hervorgelockt, aber zu welchem Zweck? Sobald er spürt, daß ein Mann mit auch nur annähernd Eurer Stärke die Macht lenkt, wird er zurück nach Illian fliehen. Dort werdet Ihr ihn nicht erwischen. Er wird Euch bemerken, sobald Ihr innerhalb einer Meile der Stadt ein Wegetor eröffnet.«

»Wir können das Heer retten«, platzte Adley heraus. »Weiramon hat noch immer Angriffe gegen diese Festung angeordnet, als ich ging, und Sammael zerschlägt jedermann in Stücke, ungeachtet dessen, was Eben und ich tun können.« Er verlagerte den Arm mit dem versengten Ärmel. »Wir mußten zurückschlagen und uns sofort wieder zurückziehen, und selbst dann hat er uns mehr als einmal fast am Fleck in Brand gesetzt. Auch die Aiel haben Verluste erlitten. Sie bekämpfen nur die Illianer, die hervorkommen - die anderen Bergfestungen müssen sich rasch leeren, weil so viele hervorkamen, als ich ging -, aber jedesmal, wenn Sammael fünfzig von uns zusammen erspäht, Aiel oder andere, reißt er sie in Stücke. Wenn es drei oder auch nur zwei von ihm gäbe, wäre ich mir nicht sicher, ob ich noch jemanden lebend anträfe, wenn ich zurückgehe.« Dashiva sah ihn an wie einen Wahnsinnigen, und Adley zuckte jäh die Achseln, als spüre er die Leichtheit seines leeren Kragens verglichen mit dem Schwert und Drachen am Kragen des älteren Mannes. »Verzeiht, Asha'man«, murrte er beschämt und fügte dann mit noch leiserer Stimme hinzu: »Aber wir können sie wenigstens retten.«

»Das werden wir«, versicherte Rand ihm. Nur nicht auf die von Adley erwartete Art. »Ihr werdet mir alle helfen, Sammael heute zu töten.« Nur Dashiva wirkte bestürzt. Die übrigen Männer nickten nur. Nicht einmal die Verlorenen ängstigten sie mehr.

Rand erwartete von Min Streit und vielleicht die Forderung mitzukommen, aber sie überraschte ihn. »Du willst vermutlich, daß niemand herausfindet, daß du gegangen bist, bevor es sein muß, Schafhirte.« Er nickte, und sie seufzte. Vielleicht mußten sich die Verlorenen genauso auf Brieftauben und Augen-und-Ohren verlassen wie jedermann sonst, aber sich zu sehr darauf zu verlassen, konnte verhängnisvoll werden.

»Die Töchter des Speers werden mitkommen wollen, wenn sie es erfahren, Min.« Sie würden es wollen, und es würde ihm schwerfallen, es ihnen zu verweigern. Wenn er es ihnen überhaupt abschlagen konnte. Und doch mochte das Verschwinden Nanderas und derer, wen auch immer sie als Wache einsetzte, verräterisch sein.

Min seufzte erneut. »Ich könnte vermutlich mit Nandera reden. Ich könnte sie vielleicht eine Stunde lang draußen im Gang festhalten, aber sie werden mir nicht gut gesonnen sein, wenn sie es herausfinden.« Rand mußte fast erneut lachen, bevor er sich an seine Seite erinnerte. Sie würden ihr entschieden schlecht gesonnen sein, oder ihm. »Genauer gesagt, Bauernjunge, wird Amys mir nicht gut gesonnen sein, und Sorilea desgleichen. In was du mich immer hineinziehst!«

Er öffnete den Mund, um ihr zu sagen, daß er sie um nichts gebeten hätte, aber bevor er auch nur ein Wort äußern konnte, trat sie sehr nahe an ihn heran. Sie sah durch ihre langen Wimpern zu ihm auf, legte eine Hand auf seine Brust und tippte mit den Fingern. Sie lächelte innig und sprach sanft aber ihre Finger verrieten sie. »Wenn du zulaßt, daß dir etwas passiert, Rand al'Thor, werde ich Cadsuane beistehen, ob sie Hilfe braucht oder nicht.« Ihr Lächeln erhellte sich einen Moment, wirkte fast heiter, bevor sie sich zur Tür wandte. Er sah ihr nach. Sie verwirrte ihn vielleicht manchmal - fast jede Frau, der er jemals begegnet war, hatte dies mindestens einoder zweimal geschafft -, aber sie hatte eine Art zu Gehen, die in ihm den Wunsch erweckte, sie zu betrachten.

Er erkannte jäh, daß Dashiva ihr auch nachsah und sich die Lippen leckte. Rand räusperte sich ausreichend laut, daß es über das Geräusch der sich schließenden Tür hinweg zu hören war. Aus einem unbestimmten Grund hob der Mann mit dem glatten Gesicht trotzig den Kopf. Nicht daß Rand ihn angesehen hätte. Er konnte nicht umhergehen und Männer anstarren, nur weil Min enge Hosen trug. Er umgab sich mit der Leere des Nichts, ergriff Saidin und zwang gefrorenes Feuer und geschmolzene Erde in die Gewebe für ein Wegetor. Dashiva sprang zurück, als es sich öffnete. Vielleicht würde der Mann lernen, sich nicht mehr die Lippen zu lecken wie ein Ziegenbock, wenn man ihm eine Hand abschlug. Etwas gewundenes Rotes überzog das Äußere des Nichts.

Rand trat hindurch auf kahles Erdreich, gefolgt von Dashiva und den übrigen, und ließ die Quelle los, sobald der letzte Mann ins Freie trat. Ein Verlustgefühl durchströmte ihn, als Saidin schwand, wie auch die Bewußtheit Alannas schwand. Der Verlust war nicht so groß erschienen, als Lews Therin noch dagewesen war. Nicht so gewaltig.

Die goldene Sonne über ihnen hatte schon mehr als die Hälfte ihres Abstiegs bewältigt. Ein Windstoß fegte Staub unter seinen Stiefeln hervor, ohne jegliche Kühle zurückzulassen. Das Wegetor hatte sich auf freier Fläche geöffnet, durch ein zwischen vier Holzpfosten gespanntes Seil abgesteckt. An jeder Ecke standen zwei Wächter in kurzen Jacken und bauschigen, in ihren Stiefeln steckenden Hosen und mit flammenden Schwertern an den Seiten. Einige hatten buschige Schnurrbärte, die bis auf ihr Kinn herabhingen, oder dichte Barte, und alle besaßen kühne Nasen und schrägstehende Augen. Einer von ihnen lief herbei, sobald Rand erschien.

»Was tun wir hier?« fragte Dashiva und sah sich ungläubig um.

Um sie herum erstreckten sich Hunderte von spitzen Zelten, grau und staubig weiß, sowie Zelte und Pflockseile mit bereits gesattelten Pferden. Caemlyn lag nur wenige Meilen entfernt hinter Bäumen verborgen, und die Schwarze Burg nicht viel weiter, aber Taim würde hiervon nichts erfahren, wenn er sie nicht durch einen Spion beobachten ließ. Eine von Fedwin Moors Aufgaben hatte darin bestanden, darauf zu lauschen - zu erspüren -, ob jemand zu spionieren versuchte. Während sich von den Pflockseilen Gemurmel ausbreitete, erhoben sich Männer mit kühnen Nasen und gewundenen Schwertern aus der Hocke und wandten sich erwartungsvoll zu Rand um. Hier und da standen auch Frauen auf. Saldaeanische Frauen zogen häufig mit ihren Männern in Kriege, zumindest unter den Adligen und Offizieren. Heute wären von ihnen jedoch keine dabei.

Rand duckte sich unter einem Seil hindurch und schritt geradewegs auf ein Zelt zu, das sich nur durch das davor an einem Stab gehißte Banner - drei einfache rote Blüten auf blauem Feld - von allen anderen unterschied. Die Königsmünze starb selbst in saldaeanischen Wintern nicht ab, und wenn Feuer die Wälder schwärzten, erschienen jene roten Blumen stets als erste wieder. Eine Blüte, die nichts ausrotten konnte: das Zeichen des Hauses Bashere.

Im Zelt war Bashere selbst bereits gestiefelt und gespornt und trug sein Schwert an der Hüfte. Deira war bedenklicherweise bei ihm, in einem Reitgewand derselben Schattierung wie die graue Jacke ihres Mannes, und wenn sie auch kein Schwert trug, würde der lange, aus schwerem Silber gearbeitete Dolch an ihrem Gürtel fürs erste genügen.

»Ich hatte dies erst in Tagen erwartet«, begann Bashere, während er sich von einem Faltstuhl erhob. »Tatsächlich hoffte ich sogar, daß es noch Wochen dauern würde. Außerdem hatte ich gehofft, die meisten von Taims Reserveleuten bewaffnet zu haben, wie der junge Mat und ich es geplant hatten. Ich habe alle Armbrustbauer, die ich auftreiben konnte, zu einer Werkstatt zusammengeschlossen, und sie beginnen sie gerade in Massen zu fertigen. Aber wie die Dinge stehen, haben bisher nur fünfzehntausend Männer Armbrüste und wissen auch, wie sie damit umgehen sollen.« Er hob mit fragendem Blick einen Krug von den auf seinem Falttisch ausgebreiteten Landkarten an. »Haben wir noch Zeit für etwas gewürzten Wein?«

»Keinen gewürzten Wein«, sagte Rand ungeduldig. Bashere hatte schon zuvor über die Männer gesprochen, die Taim gefunden hatte und die nicht lernen konnten, die Macht zu lenken, aber er hatte kaum zugehört. Wenn Bashere sie ausreichend gut ausgebildet zu haben glaubte, war nur das wichtig. »Dashiva und drei weitere Asha'man warten draußen. Sobald Morr sich ihnen anschließt, werden wir bereit sein.« Er sah Deira ni Ghaline t'Bashere an, die mit ihrer Hakennase und den Augen, die einen Falken gütig erscheinen ließen, über ihrem kleinen Mann aufragte. »Keinen gewürzten Wein, Lord Bashere. Und keine Frauen. Nicht heute.«

Deira öffnete den Mund, und ihre dunklen Augen glühten förmlich.

»Keine Frauen«, sagte Bashere und strich sich über seinen stark von Grau durchzogenen Schnurrbart. »Ich werde den Befehl weitergeben.« Er wandte sich Deira zu und streckte die Hand aus. »Frau«, sagte er sanft. Rand zuckte zusammen, wie sanft es auch geklungen hatte, und wartete auf den Ausbruch.

Deira preßte die Lippen zusammen. Sie sah ihren Mann stirnrunzelnd an, ein Falke, der auf eine Maus herabstürzen wollte. Natürlich wirkte Bashere nicht wie eine Maus, sondern lediglich wie ein kleinerer Falke. Sie atmete tief durch. Deira konnte dies klingen lassen, als würde die Erde dabei erzittern. Sie löste den in einer Scheide steckenden Dolch von ihrem Gürtel und legte ihn in die Hand ihres Mannes. »Wir werden später darüber sprechen, Davram«, sagte sie.

»Ausführlich.«

Rand beschloß, daß er sich eines Tages, wenn Zeit dazu wäre, von Bashere erklären lassen würde, wie er das machte. Wenn jemals Zeit dazu war.

»Ausführlich«, stimmte Bashere ihr zu und grinste durch seinen Schnurrbart, während er den Dolch hinter seinen Gürtel steckte. Vielleicht war der Mann einfach selbstzerstörerisch.

Draußen war das Seil abgenommen worden, und Rand wartete mit Dashiva und den anderen Asha'man, während neuntausend Saldaeaner der leichten Kavallerie sich in Dreierreihen hinter Bashere aufreihten. Irgendwo hinter ihnen würden sich fünfzehntausend Fußsoldaten, die sich die Legion des Drachen nannten, sammeln. Rand hatte sie gesehen, alle in blauen Jacken, die so gearbeitet waren, daß sie den rotgoldenen Drachen über der Brust in geschlossenem Zustand nicht verdeckten. Die meisten waren mit stahlverstärkten Armbrüsten bewaffnet. Einige trugen statt dessen schwere, unhandliche Schilde, aber niemand einen Langspieß. Welche seltsame Vorstellung Mat und Bashere sich auch ausgedacht hatten - Rand hoffte, daß sie nicht einen großen Teil seiner Legion in den Tod führen würde.

Morr grinste eifrig, während er wartete, und hätte beinahe sogar auf den Zehen gewippt. Vielleicht war er einfach froh, seine schwarze Jacke mit dem Silberschwert am Kragen wieder tragen zu können, obwohl Adley und Narishma fast genauso grinsten und Flinn ebenfalls nicht weit davon entfernt war. Sie wußten, wohin sie jetzt zogen und was sie dort tun sollten. Dashiva blickte, wie üblich, stirnrunzelnd auf nichts Bestimmtes und bewegte schweigend die Lippen. Ebenfalls schweigend und stirnrunzelnd standen die hinter Deira versammelten saldaeanischen Frauen beisammen und beobachteten das Geschehen, Adler und Falken mit zornig gesträubten Federn. Rand kümmerte es nicht, wie sie die Gesichter verzogen und die Stirn in Falten legten. Wenn er sich Nandera und den übrigen Töchtern des Speers stellen könnte, nachdem er sie hiervon zurückgehalten hatte, dann könnten es die saldaeanischen Männer auch mit jeder Anzahl ausführlicher Streitgespräche aufnehmen. Heute würde, wenn das Licht es wollte, keine Frau für ihn sterben.

So viele Männer konnten nicht in einer Minute aufgestellt werden, selbst wenn sie den Befehl erwartet hatten, aber bereits nach bemerkenswert kurzer Zeit hob Bashere sein Schwert in die Höhe und rief: »Mein Lord Drache!«

Ein Ruf setzte sich durch die langen Reihen hinter ihm fort. »Der Lord Drache!«

Rand ergriff die Quelle, bildete zwischen den Pfosten ein Wegetor, vier mal vier Schritte weit, und lief hindurch, während er das Gewebe abband, von Saidin erfüllt und die Asha'man unmittelbar hinter ihm. Sie betraten einen großen offenen, von gewaltigen weißen Säulen, deren jede von einem Olivenzweigkranz aus Marmor gekrönt war, umgebenen Platz. An beiden Enden des Platzes standen fast identische Paläste mit purpurfarbenen Dächern, Säulengängen, hohen Balkonen und schmalen Erkern. Es waren der Palast des Königs und der nur geringfügig kleinere Saal des Konzils. Sie befanden sich auf dem Tammuz-Platz im Herzen Illians.

Ein hagerer Mann in einer blauen Jacke mit einem Bart, der seine Oberlippe freiließ, stand da und starrte auf die Stelle, wo Rand und die schwarzgewandeten Asha'man aus einer Öffnung in der Luft hervorgesprungen waren, und eine beleibte Frau in einem grünen Gewand, das ihre grünen Schuhe und ihre Knöchel in grünen Strümpfen freigab, preßte beide Hände aufs Gesicht und stand wie angewurzelt unmittelbar vor ihnen, während ihr die dunklen Augen fast aus dem Kopf fielen. Alle Menschen hielten inne und starrten sie an, Straßenhändler mit ihren Bauchläden, Fuhrleute, die ihre Ochsen angehalten hatten, Männer und Frauen und Kinder, deren Münder offenstanden.

Rand hob die Hände hoch über den Kopf und lenkte die Macht. »Ich bin der Wiedergeborene Drache!« Die Worte hallten, von Luft und Feuer verstärkt, über den Platz, und Flammen brachen hundert Fuß hoch von seinen Händen auf. Hinter ihm erfüllten die Asha'man den Himmel mit in alle Richtungen schießenden Feuerkugeln. Alle bis auf Dashiva, der blaue Blitze in einem gezackten Gewebe über den Platz prasseln ließ.

Mehr war nicht nötig. Ein schreiender Strom Menschen stob in alle Richtungen vom Tammuz-Platz fort. Sie flohen gerade rechtzeitig. Rand und die Asha'man entfernten sich schnell vom Wegetor, und Davram Bashere führte seine wild schreienden Saldaeaner nach Illian hinein, ein Strom von Reitern, die ihre Schwerter schwenkten, während sie aus dem Wegetor hervorbrachen. Bashere führte die mittlere Reihe strikt geradeaus, genauso wie sie es vor anscheinend so langer Zeit geplant hatten, während die beiden anderen Reihen zu beiden Seiten abschwenkten. Sie eilten vom Wegetor fort, teilten sich wiederum in kleinere Gruppen auf und galoppierten in die von dem Platz abgehenden Straßen hinein.

Rand wartete nicht ab, bis der letzte Reiter hervorkam. Nachdem knapp ein Drittel der Männer aus dem Wegetor gedrungen war, wob er sofort eine weitere kleine Öffnung. Man mußte einen Ort nicht kennen, um schnell dorthin zu reisen, wenn man nur eine sehr kurze Entfernung zurücklegen wollte. Rand spürte Dashiva und die übrigen um sich herum ebenfalls Wegetore weben, aber er trat bereits durch seines hindurch und ließ es sich auf einem der schmalen Türme des Palasts des Königs hinter sich schließen. Er fragte sich beiläufig, ob sich Mattin Stepaneos den Baigar, der König von Illian, in diesem Moment irgendwo unter ihm befand.

Die Spitze des Turmes war nur fünf Schritte breit und von einer ihm nicht ganz bis zur Brust reichenden Sandsteinmauer umgeben. Der Turm war mit fünfzig Schritt Höhe der höchste Punkt der ganzen Stadt. Von hier aus konnte Rand über die unter der Nachmittagssonne in Rot und Grün und allen Farben glitzernden Dächer bis zu den langen erhöhten Fußwegen sehen, die den gewaltigen, die Stadt und den Hafen umgebenden Sumpf durchschnitten. Ein scharfer Salzgeruch hing in der Luft. Illian brauchte keine Mauern, da dieser alles umgebende Sumpf Angreifer abhielt. Jeglichen Angreifer, der keine Öffnungen in der Luft gestalten konnte.

Es war eine hübsche Stadt die Gebäude aus hellem, behauenem Stein, eine Stadt, die von genauso vielen Kanälen wie Straßen durchzogen wurde, was aus dieser Höhe wie blaugrünes Flechtwerk erschien, aber Rand hielt nicht inne, um es zu bewundern. Er sandte Stränge aus Luft und Wasser, Feuer und Erde und Geist tief über die Dächer von Wirtshäusern und Läden und mit Erkern versehenen Palästen und drehte sich dabei. Er versuchte, die Stränge nicht zu verweben, sondern sandte sie einfach über die Stadt und gut eine Meile über den Sumpf aus. Von fünf weiteren Türmen senkten sich ebenfalls Stränge über die Stadt, und wo sie einander unkontrolliert berührten, blitzte Licht und flammten Funken und Wolken farbigen Dampfes auf, eine Darbietung, um die jeder Feuerwerker sie beneidet hätte. Rand konnte sich keine bessere Möglichkeit vorstellen, die Menschen unter ihren Bettdecken zu ängstigen und sie von Basheres Soldaten fernzuhalten, obwohl das nicht der Grund war.

Rand hatte vor langer Zeit erkannt, daß Sammael Schutzvorrichtungen in der Stadt verteilt haben mußte, die Alarm auslösen sollten, wenn jemand Saidin lenkte. Schutzvorrichtungen, die so angebracht waren, daß niemand außer Sammael sie finden könnte, Schutzvorrichtungen, die Sammael genau anzeigen würden, wo jemand die Macht lenkte, so daß dieser sofort vernichtet werden konnte. Mit etwas Glück wurde jetzt jede einzelne dieser Schutzvorrichtungen ausgelöst. Lews Therin war sich sicher gewesen, daß Sammael sie spüren würde, wo immer er war, selbst auf eine gewisse Entfernung. Daher sollten die Schutzvorrichtungen jetzt nutzlos geworden sein, und diese Art mußte erneuert werden, wenn sie erst einmal ausgelöst worden waren. Sammael würde kommen. Er hatte noch niemals in seinem Leben kampflos etwas aufgegeben, was er als sein Eigentum betrachtete, wie unsicher sein Anspruch auch war. All das wußte Rand von

Lews Therin. Wenn er real war. Er mußte es sein. Die Erinnerungen waren zu genau. Aber konnte ein Wahnsinniger nicht auch seine Phantasien bis in alle Einzelheiten träumen?

Lews Therin! rief er lautlos. Nur der über Illian hinwegwehende Wind antwortete.

Der Tammuz-Platz unter ihm lag verlassen und still und bis auf wenige zurückgelassene Karren leer da. Das Wegetor war bis auf die Gewebe unsichtbar.

Rand griff zu jenen Geweben hinab, löste den Knoten und ließ Saidin widerwillig los, als das Wegetor erlosch. Alle Stränge verschwanden vom Himmel. Vielleicht hielt noch einer der Asha'man an der Quelle fest, aber er hatte es ihnen untersagt. Er hatte ihnen angedroht, daß er jeden Mann ohne Vorwarnung töten würde, den er noch die Macht lenken spürte, nachdem er selbst damit aufgehört hatte. Er wollte nicht im nachhinein herausfinden, daß der Machtlenker einer von ihnen gewesen war. Er lehnte sich abwartend an die Mauer und wünschte, er könnte sich hinsetzen. Seine Beine schmerzten, und seine Seite brannte, wie auch immer er sich drehte, und doch könnte es sein, daß er ein Gewebe sowohl sehen als auch spüren mußte.

Die Stadt war nicht vollkommen still. Er konnte aus mehreren Richtungen entfernte Schreie und das schwache Zusammenklingen von Metall hören. Trotz der vielen zur Grenze beorderten Männer hatte Sammael Illian nicht vollkommen ungeschützt gelassen. Rand wandte sich um in dem Versuch, alle Richtungen im Auge zu behalten. Er glaubte, daß Sammael zum Palast des Königs oder zu jenem anderen Palast am entgegengesetzten Ende des Platzes kommen würde, aber er konnte nicht sicher sein. Eine Straße hinab sah er eine Horde Saldaeaner mit einer gleichen Anzahl berittener Männer in schimmernden Brustharnischen zusammenprallen. Weitere Saldaeaner galoppierten plötzlich von einer Seite heran, und der Kampf geriet hinter Gebäuden außer Sicht. In einer anderen Richtung erblickte Rand einige Mitglieder der Legion des Drachen, die über eine niedrige Kanalbrücke marschierten. Ein Offizier, der durch eine hohe rote Feder an seinem Helm erkennbar war, schritt mehreren zwanzig Männern mit wuchtigen Schilden voran, gefolgt von vielleicht zweihundert weiteren Soldaten mit schweren Armbrüsten. Wie würden sie kämpfen? Rufe und der Klang von Stahl in der Ferne sowie die schwachen Schreie sterbender Menschen.

Die Sonne sank tiefer, und längliche Schatten legten sich über die Stadt. In der Abenddämmerung war die Sonne eine niedrige karmesinrote Scheibe im Westen. Nur wenige Sterne erschienen. Hatte er sich geirrt? Würde Sammael einfach woanders hingehen, um ein anderes Land zu beherrschen? Hatte er etwas anderem als seinen eigenen wahnsinnigen, weitschweifigen Gedanken gelauscht?

Jemand lenkte die Macht. Rand erstarrte einen Moment und blickte zum Großen Saal des Konzils. Es war genug Saidin für ein Wegetor gewesen. Weitaus schwächeres Machtlenken den Platz entlang hätte er vielleicht nicht gespürt. Es mußte Sammael sein.

Rand ergriff im Handumdrehen die Quelle, wob ein Wegetor und sprang hindurch; in seinen Händen hielt er Blitze bereit. Er fand sich in einem großen Raum wieder, der von widergespiegelten hohen goldenen Stehlampen erleuchtet wurde, und weitere Lampen hingen an Ketten von der Decke herab. Schlachten und der vom Sumpf begrenzte Hafen Illians mit unzähligen Schiffen war auf Marmorfriesen an den Wänden dargestellt. Am entgegengesetzten Ende des Raumes standen neun geschnitzte und vergoldete Lehnstühle wie Throne auf einem hohen weißen Podest mit einer Treppe an der Vorderseite, wobei der in der Mitte stehende Stuhl eine höhere Rückenlehne aufwies als alle anderen. Bevor Rand das Wegetor hinter sich loslassen konnte, explodierte die Turmspitze, auf der er gestanden hatte. Er spürte Feuer und Erde über sich hinwegfegen, noch während ihn ein Sturm aus Steinsplittern und Staub durch das Wegetor hindurch traf und ihn zu Boden warf Schmerz brach an seiner Seite auf, als er landete, und ein scharfer roter Speer bohrte sich in das Nichts, in dem er schwebte, was ihn ebenso wie alles andere veranlaßte, das Wegetor loszulassen. Der Schmerz eines anderen Menschen. Die Schwäche eines anderen Menschen. Er konnte sie im Nichts ignorieren.

Er regte sich, zwang die Muskeln eines anderen Menschen zur Bewegung, stieß sich hoch und lief unsicher auf das Podest zu, während sich Hunderte roter Drähte durch die Decke und in weitem Kreis überall dort durch den meerblauen Marmorboden hindurch brannten, wo noch immer die Überreste seines Wegetors flimmerten. Ein Draht stach durch den Absatz seines Stiefels und durch seine Ferse, und er hörte sich aufschreien, als er hinfiel. Nicht sein Schmerz, an der Seite oder am Fuß. Nicht sein Schmerz.

Als er sich auf den Rücken rollte, konnte er noch die Überreste der brennenden roten Drähte sehen, ausreichend frisch, daß er Feuer und Luft auf eine Art gewoben erkennen konnte, die ihm unbekannt war, und er genau die Richtung ausmachen konnte, aus der sie gekommen waren. Schwarze Löcher im Boden und Risse in der kunstvoll gearbeiteten weißen Stuckdecke hoch über ihm zischten und knisterten bei jedem Luftzug laut.

Er hob die Hände und wob Baalsfeuer. Die Wange eines anderen Menschen brannte von einem erinnerten Schlag, und Cadsuanes Stimme zischte und knisterte in seinem Kopf wie die Löcher, welche die roten Drähte gebrannt hatten. Niemals wieder, Junge. Das wirst du niemals wieder tun. Anscheinend hörte er Lews Therin in ferner Angst vor dem, was er verlieren würde, was die Welt einst fast zerstört hatte, wimmern. Alle Stränge außer Feuer und Luft schwanden, und er wob, wie er es gesehen hatte. Eintausend feine rote Fasern blühten zwischen seinen Händen auf und schossen fächerförmig ausgebreitet empor. Ein Kreissegment der Decke von zwei Fuß Durchmesser zerfiel in Steintrümmer und Stuckstaub.

Erst nachdem er dies getan hatte, dachte er, es könnte sich vielleicht jemand zwischen ihm und Sammael befinden. Er beabsichtigte, Sammael heute tot zu sehen, aber wenn er dies erreichen könnte, ohne noch jemand anderen zu töten... Die Gewebe schwanden, während er sich erneut aufrichtete und eilig auf die Seitentüren des Saals zuhumpelte, hohe Türen mit neun goldenen Bienen von der Größe seiner Faust auf jedem Paneel.

Ein kleiner Strang Luft stieß eine Tür auf, bevor er sie erreichte, zu geringfügig, um in einiger Entfernung bemerkt zu werden. Er hinkte auf den Gang hinaus und sank auf ein Knie. Die Seite des anderen Menschen brannte, und seine Ferse schmerzte. Rand zog sein Schwert und lehnte sich abwartend darauf. Ein glattrasierter Bursche mit dicken rötlichen Wangen spähte den Gang hinab um eine Ecke. Es war genug von seiner Jacke zu sehen, daß er als Diener erkennbar war. Zumindest sah die auf einer Seite grüne und auf der anderen Seite gelbe Jacke wie eine Livree aus. Der Bursche sah Rand und glitt dann ganz langsam, als glaube er, er würde vielleicht nicht bemerkt, wenn er sich nur vorsichtig genug bewegte, wieder außer Sicht. Früher oder später müßte Sammael...

»Illian gehört mir!« Die Stimme dröhnte in der Luft aus allen Richtungen heran, und Rand fluchte. Das mußte dasselbe Gewebe sein, das er selbst auf dem Platz benutzt hatte, oder ein sehr ähnliches. Es erforderte so wenig der Macht, daß er die tatsächlichen Stränge vielleicht nicht einmal in zehn Schritt Entfernung des Mannes gespürt hätte. »Illian gehört mir! Ich werde nicht zerstören, was mir gehört, indem ich Euch töte, und ich werde es auch Euch nicht zerstören lassen. Ihr hattet den Mut, mir hierher zu folgen? Habt Ihr auch den Mut, mit erneut zu folgen?« Ein leicht spöttischer Unterton schlich sich in die dröhnende Stimme. »Habt Ihr den Mut?« Irgendwo über Rand eröffnete sich ein Wegetor und schloß sich wieder. Rand zweifelte nicht daran, daß es das war.

Den Mut? Hatte er den Mut? »Ich bin der Wiedergeborene Drache«, murrte er, »und ich werde Euch töten.« Er wob ein Wegetor und trat hindurch, zu einem mehrere Stockwerke höher gelegenen Ort.

Er fand sich in einem weiteren, von Wandteppichen gesäumten Gang wieder, die Schiffe auf See zeigten. Am entgegengesetzten Ende des Ganges schimmerten die Überreste einer karmesinroten Scheibe durch einen Säulengang. Die Überreste von Sammaels Wegetor hingen in der Luft, die schwindenden Stränge wie schwach glühende Geister. Jedoch nicht so schwach, daß Rand sie nicht mehr hätte ausmachen können. Er begann zu weben und hielt dann inne. Er war hier herauf gesprungen, ohne an eine Falle zu denken.

Wenn er genau kopierte, was er sah, würde er herauskommen, wo auch immer Sammael hingelangt war, oder zumindest so in der Nähe, daß es keinen Unterschied machte. Aber mit einer kleinen Änderung. Er konnte nicht sicher sein, ob die Entfernung fünfzig oder fünfhundert Fuß betrüge, und doch war beides ausreichend nahe.

Der senkrechte Silberschlitz begann sich zu einer Öffnung zu drehen und gab die schattenumhüllten Ruinen der Erhabenheit frei, nicht ganz so dunkel wie der Gang. Durch das Wegetor betrachtet war die Sonne eine etwas breitere rote Scheibe, die zur Hälfte von einer eingestürzten Kuppel verborgen wurde. Er kannte diesen Ort. Als er das letzte Mal hierhergekommen war, hatte er jener Liste von Töchtern des Speers in seinem Kopf einen weiteren Namen hinzugefügt; das erste Mal war Padan Fain gefolgt, und er war mehr als ein Schattenfreund, schlimmer als ein Schattenfreund geworden. Daß Sammael nach Shadar Logoth geflohen war, schien auf mehr als eine Art wie die Vollendung eines Kreises. Rand durfte jetzt, wo er den Weg eröffnete, keine Zeit mehr verschwenden. Noch bevor das Wegetor aufhörte, sich auszudehnen, lief er hinkend hindurch in die verheerte Stadt, die einst Aridhol genannt worden war, und ließ das Wegetor im Lauf los, während seine Stiefel auf zerbrochenen Pflastersteinen und totem Laub knirschten.

Er duckte sich um die erste Ecke, die er erreichte. Der Boden erbebte unter seinen Füßen, als ihm Donnergrollen aus der Richtung nachhallte, aus der er gekommen war. Lichtblitz auf Lichtblitz flammte in der dämmerigen Dunkelheit auf. Er spürte Erde und Feuer und Luft über sich hinwegfegen. Schreie und Gebrüll übertönten das donnernde Krachen. Er hinkte davon, ohne sich umzusehen, während Saidin in ihm pulsierte. Er lief, und da die Macht ihn erfüllte, konnte er sogar in den dunklen Schatten deutlich sehen.

Rund um die große Stadt lagen riesige Marmorpaläste mit jeweils vier oder fünf Kuppeln verschiedener Formen, die durch die untergehende Sonne karmesinrot leuchteten. Brunnen und Statuen aus Bronze standen an jedem Kreuzungspunkt, und es gab große Flächen mit Säulen, die zu hoch vor der Sonne aufragenden Türmen verliefen. Zumindest die heilen Säulen ragten vor ihr auf, aber weitaus mehr endeten jäh gezackt. Für jede heile Kuppel gab es zehn zerborstene, deren Gewölbe ganz oder teilweise zerstört waren. Auch Statuen waren umgestürzt, oder es fehlten Arme oder Köpfe. Die sich rasch verdichtende Dunkelheit zog schnell über die weit verstreuten Schutthaufen, und die wenigen verkümmerten Bäume, die sich als verdrehte Gestalten an die Hänge klammerten, erschienen vor dem Himmel wie abgebrochene Finger.

Ziegel und Steine breiteten sich fächerförmig über den Weg aus, der von einem Gebäude wegführte, das vielleicht einmal ein kleiner Palast gewesen war. Die halbe Vorderfront fehlte, und der Rest der mit Säulen versehenen Fassade war der Straße zugeneigt. Rand blieb mitten auf der Straße kurz vor dem Fächer stehen, wartete und versuchte, jemand anderen Saidin lenken zu spüren. Es war keine gute Idee, sich an den Straßenrand zu halten, und das nicht nur, weil sämtliche Gebäude jederzeit einstürzen konnten. Tausend unsichtbare Augen schienen ihn aus den Fenstern wie aus tiefen Augenhöhlen zu beobachten, schienen ihn mit einem fast greifbaren Gefühl der Erwartung anzustarren. Er spürte vage, daß die frische Wunde an seiner Seite pochte, ein Aufflammen, welches das selbst dem Staub Shadar Logoths anhaftende Böse nachahmte. Die alte Narbe krampfte sich wie eine Faust zusammen. Der Schmerz in seinem Fuß schien unwirklich und sehr fern. In der Nähe pulsierte das Nichts selbst um ihn herum, der Makel des Dunklen Königs auf Saidin im Gleichklang mit dem Dolchriß über seinen Rippen. Shadar Logoth war bei Tage ein gefährlicher Ort. Bei Nacht...

Die Straße hinab, jenseits eines spitz zulaufenden Denkmals, das wundersamerweise noch aufrecht stand, bewegte sich eine Schattengestalt, die in der Dunkelheit über den Weg huschte. Rand hätte fast die Macht gelenkt, aber er konnte nicht glauben, daß Sammael so unvorsichtig sein würde. Als er die Stadt betreten hatte, als Sammael alles rund um sein Wegetor zu vernichten versuchte, hatte Rand schreckliche Schreie gehört. Sie hatten es dort kaum bemerkt. Nichts lebte in Shadar Logoth, nicht einmal Ratten. Sammael mußte Gefolgsleute herbeigebracht haben, Burschen, die er ohne Zögern töten würde, um Rand zu erreichen. Vielleicht konnte einer von ihnen Rand zu Sammael führen. Er eilte so schnell und lautlos wie möglich voran. Das zerbrochene Pflaster knirschte mit dem Geräusch brechender Knochen unter seinen Stiefeln. Er hoffte, daß es nur für sein durch Saidin verfeinertes Gehör laut klang.

Er hielt am Fuß des Denkmals inne, ein Obelisk, der mit schwungvoller Schrift bedeckt war, und spähte voraus. Wer auch immer sich dort bewegt hatte, war fort. Nur Narren oder überaus Tapfere betraten Shadar Logoth bei Nacht. Das Böse, das Shadar Logoth befleckte und Aridhol vernichtet hatte, war nicht mit Aridhol gestorben. Weiter die Straße entlang schwebte eine Ranke silbergrauen Nebels aus einem Fenster und kroch auf eine weitere Ranke zu, die aus einem breiten Spalt in einer hohen Steinmauer heranwehte. Die Tiefe dieses Spalts schimmerte, als reiche das Licht des Vollmonds hinein. Mit der Nacht durchstreifte Mashadar sein Stadtgefängnis, eine gewaltige Gegenwart, die an einem Dutzend, an hundert Orten gleichzeitig erscheinen konnte. Mashadar s Berührung war keine erfreuliche Art zu sterben. Der Makel Saidins pochte härter in Rand. Das ferne Feuer an seiner Seite flackerte wie zehntausend Blitze auf, einer nach dem anderen. Selbst der Boden unter seinen Stiefeln schien zu pochen.

Er wandte sich um und erwog halbwegs, jetzt zu gehen. Sammael war sehr wahrscheinlich fort, jetzt wo sich Mashadar gezeigt hatte. Der Mann hatte ihn sehr wahrscheinlich in der Hoffnung hierher gelockt, daß er die Ruinen durchsuchen würde, bis Mashadar ihn tötete. Rand wandte sich um, blieb stehen und kauerte sich dann an dem Denkmal zusammen. Zwei Trollocs schlichen jene Straße hinab, wuchtige Gestalten in schwarzen Harnischen, eineinhalb mal so groß wie er oder größer. Dornen ragten an Schultern und Ellbogen ihrer Rüstungen hervor, und sie trugen Speere mit langen schwarzen Spitzen und gefährlichen Haken. Ihre Gesichter waren durch seine von Saidin erfüllten Augen gut erkennbar, eines durch einen Adlerschnabel, wo Mund und Nase hätten sein sollen, das andere durch die Hauer der Schnauze eines Keilers entstellt. Jeder ihrer Bewegungen zeugte von Angst. Trollocs liebten es zu töten, liebten Blut, aber Shadar Logoth ängstigte sogar sie. Es würden auch Myrddraal dasein. Kein Trolloc hätte diese Stadt betreten, ohne von Myrddraals dazu getrieben zu werden. Und kein Myrddraal hätte diese Stadt betreten, ohne wiederum von Sammael dazu getrieben zu werden. Was letztlich bedeutete, daß Sammael noch immer hier sein mußte, sonst wären diese Trollocs zu den Toren gelaufen und befänden sich nicht auf der Jagd. Und sie waren auf der Jagd. Die Keilerschnauze schnupperte in die Luft.

Plötzlich sprang eine in Lumpen gehüllte Gestalt aus einem Fenster über den Trollocs hervor und fiel mit bereits stoßbereitem Speer auf sie herab. Eine Aiel, eine Frau, die Shoufa um den Kopf gewickelt, aber mit gesenktem Schleier. Der Trolloc mit dem Adlerschnabel schrie auf, als ihre Speerspitze tief in seine Seite eindrang und sie dann erneut zustieß. Als sein Begleiter um sich tretend hinfiel, fuhr die Keilerschnauze knurrend herum und wurde drohend vorgereckt, aber die Frau duckte sich tief unter der schwarzen, mit einem Haken versehenen Spitze des Trolloc hindurch, stach aufwärts in den Magen des Wesens; es fiel wie das andere in sich zusammen.

Rand war aufgesprungen und lief voran, bevor er darüber nachdenken konnte. »Liah!« rief er. Er hatte sie für tot gehalten, von ihm im Stich gelassen, für ihn gestorben. Liah von den Cosaida Chareen. Dieser Name flammte auf der Liste in seinem Kopf auf.

Sie wirbelte kampfbereit zu ihm herum, den Speer angriffsbereit in einer Hand, den runden Schild aus Ochsenhaut in der anderen. Das Gesicht, das er trotz der Narben auf beiden Wangen als hübsch in Erinnerung hatte, war vor Zorn verzerrt. »Mein!« stieß sie drohend hervor. »Mein! Niemand darf hierher kommen! Niemand!«

Er blieb jäh stehen. Der Speer wartete darauf, auch seine Rippen zu erforschen. »Liah, Ihr kennt mich«, sagte er sanft. »Ihr kennt mich. Ich werde Euch zu den Töchtern des Speers zurückbringen, zu Euren Speerschwestern.« Er streckte die Hand aus.

Ihr Zorn wurde zu einem Stirnrunzeln. Sie neigte den Kopf zu einer Seite. »Rand al'Thor?« fragte sie zögernd. Ihre Augen weiteten sich, ihr Blick senkte sich auf die toten Trollocs, und ein Ausdruck des Entsetzens breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Rand al'Thor«, flüsterte sie und hob mit der Hand, die den Speer hielt, rasch den Schleier über ihr Gesicht. »Der Car'a'carn!« wimmerte sie und floh.

Er humpelte hinter ihr her, mühte sich über Schutthaufen, fiel hin, zerriß sich die Jacke, fiel erneut hin und zerriß sie sich noch mehr, rollte sich herum und stand wieder auf, um weiterzulaufen. Er spürte entfernt die Schwäche und die Schmerzen seines Körpers, aber obwohl er tief im Nichts schwebte, mußte er seinen Körper hart antreiben. Liah verschwand in der Nacht. Hinter der nächsten, von schwarzen Schatten verhüllten Ecke, dachte er.

Er humpelte so schnell er konnte um diese Ecke und lief fast in vier mit schwarzen Rüstungen bekleidete Trollocs und einen Myrddraal, dessen pechschwarzer Umhang unnatürlich still seinen Rücken hinabhing. Die Trollocs knurrten überrascht, aber ihr Erschrecken dauerte keinen Herzschlag lang. Mit Haken versehene Speere und wie Sicheln gebogene Schwerter wurden angehoben. Eine totenschwarze Klinge lag in der Faust des Myrddraal, eine Klinge, die fast ebenso tödliche Wunden verursachte wie Fains Dolch.

Rand versuchte nicht einmal, das mit einem Reiher gekennzeichnete Schwert an seiner Seite zu ziehen. Der Tod in einer zerrissenen roten Jacke, lenkte er die Macht, und ein Feuerschwert lag in seinen Händen, pulsierte im Takt Saidins dunkel und fegte einen augenlosen Kopf von den Schultern. Es wäre einfacher gewesen, sie alle auf diese Art zu vernichten, wie er es die Ashaman bei den Brunnen von Dumai hatte tun sehen, aber die Gewebe jetzt zu verändern, könnte einen todbringenden Moment zu lange dauern. Jene Schwerter konnten sogar ihn töten. Er tanzte die Figuren in der von der Flamme in seinen Händen erleuchteten Dunkelheit, während Schatten über die vor ihm aufragenden Gesichter flohen, Gesichter mit Wolfsschnauzen und Ziegengesichter, schreiend verzerrte Gesichter, als seine Feuerklinge durch schwarze Rüstungen und die darunterliegende Haut schnitt, als wären sie Wasser. Trollocs waren von ihrer Anzahl und überwältigenden Wildheit abhängig. Ihm und diesem Schwert der Macht gegenüberstehend, hätten sie ebenso gut stocksteif dastehen und unbewaffnet sein können.

Der Schwert verschwand aus Rands Händen. Am Ende einer Figur ausbalancierend, die den Wind verkehren genannt wurde, stand er mitten im Tod. Der als letzter gefallene Trolloc schlug noch um sich und kratzte mit seinen Ziegenhörnern auf den zerbrochenen Pflastersteinen. Selbst der kopflose Myrddraal schlug noch immer mit den Armen um sich und scharrte wild mit den Stiefeln. Halbmenschen starben nicht schnell, auch kopflose nicht.

Kaum verschwand das Schwert, als ein Silberblitz aus dem wolkenlosen Sternenhimmel herabfuhr.

Er schlug mit ohrenbetäubendem Brüllen keine vier Schritte von Rand entfernt ein. Die Welt wurde weiß, und das Nichts brach zusammen. Der Boden bewegte sich heftig unter ihm, als ein weiterer Blitz einschlug und noch einer. Rand hatte bis dahin nicht bemerkt, daß er auf dem Gesicht lag. Die Luft knisterte. Er stieß sich benommen hoch und fiel dann beinahe wieder hin, als er vor einem Blitzhagel davonlief, der die Straße beim Donnerklang einstürzender Gebäude aufriß. Er taumelte stur geradeaus, ohne sich darum zu kümmern, wohin ihn das führte, solange er nur von hier fort gelangte.

Plötzlich klärte sich sein Kopf ausreichend weit, daß er erkennen konnte, wo er sich befand, während er über einen weiten, mit aufeinandergetürmten Plattenfragmenten, von denen einige so groß wie er selbst waren, bedeckten Steinboden schwankte. Hier und da gähnten dunkle, unebene Öffnungen im Boden. Rundum erhoben sich hohe Mauern, und Reihe auf Reihe tiefer Balkone verliefen auf ganzer Länge. Nur ein kleiner Teil dessen, was einst ein weites Dach gewesen war, war an einer Ecke übriggeblieben. Sterne schimmerten über ihm hell.

Er stolperte einen weiteren Schritt vorwärts, als der Boden unter ihm nachgab. Er warf verzweifelt die Hände hoch. Die rechte Hand bekam ruckartig eine rauhe Kante zu fassen. Er baumelte in pechschwarzer Dunkelheit. Er konnte nicht erkennen, ob unter ihm vielleicht nur wenige Spann bis zu einem nächsten Stockwerk oder eine Meile Raum war. Er konnte Stränge Luft in den gezackten Rand der Öffnung über seinem Kopf einhängen, um sich selbst hinauszuziehen, aber... Sammael hatte die vergleichsweise geringe Menge Saidin in dem Schwert irgendwie gespürt. Es hatte eine Verzögerung gegeben, bevor die Blitze einschlugen, aber er wußte nicht, wie lange er gebraucht hatte, um die Trollocs zu töten. Eine Minute? Sekunden?

Er schwang seinen linken Arm mühsam hoch und versuchte, die Kante der Öffnung zu ergreifen. Der Schmerz, der nicht mehr durch das Nichts gedämpft wurde, stach an seiner Seite wie ein eindringender Dolch. Flecken tanzten vor seinen Augen. Schlimmer noch - seine rechte Hand glitt auf dem bröckelnden Gestein ab, und er konnte seine Finger schwächer werden spüren. Er würde etwas tun müssen, was...

Eine Hand ergriff sein rechtes Handgelenk. »Ihr seid ein Narr«, sagte die tiefe Stimme eines Mannes, »Betrachtet Euch als Glückskind, daß ich Euch heute nicht sterben sehen will.« Die Hand begann, ihn hochzuziehen. »Wollt Ihr nicht mithelfen?« forderte die Stimme. »Ich beabsichtige nicht, Euch auf den Schultern zu tragen oder Sammael für Euch zu töten.«

Vor Schreck zitternd griff Rand aufwärts, bekam den Rand der Öffnung zu fassen und zog sich trotz der Schmerzen an seiner Seite hoch. Trotz der Schmerzen gelang es ihm auch, das Nichts wiederzuerlangen und Saidin zu ergreifen. Er lenkte die Macht nicht, aber er wollte vorbereitet sein.

Er schob Kopf und Schultern über den Rand der Öffnung und konnte dann den anderen Mann sehen, ein großer Bursche, kaum älter als er, mit nachtschwarzem Haar und einer schwarzen Jacke wie die eines Asha'man. Rand hatte ihn noch niemals zuvor gesehen. Zumindest war er keiner der Verlorenen. Jene Gesichter kannte er. Er glaubte es zumindest. »Wer seid Ihr?« fragte er.

Der Mann lachte bellend. »Ich bin einfach ein vorüberziehender Wanderer. Wollt Ihr Euch jetzt wirklich unterhalten?«

Rand sparte seinen Atem und kämpfte sich weiter hoch, gelangte mit der Brust über den Rand und dann mit der Hüfte. Er erkannte jäh, daß ein Schimmern wie das Leuchten eines vollen Mondes den Boden um sie herum umgab.

Er drehte sich, um über die Schulter zu sehen, und erblickte Mashadar. Keine Ranke, sondern eine silbergraue Woge rollte von einem der Balkone heran, wölbte sich über ihren Köpfen und stieg herab.

Rand hob ohne nachzudenken seine freie Hand. Baalsfeuer schoß aufwärts, und ein Balken flüssigen weißen Feuers schnitt durch die auf sie herabsinkende Woge. Er war sich vage eines weiteren Balkens hellen massiven Feuers bewußt, der von der Hand des anderen Mannes, die nicht die seine festhielt, aufstieg, ein Balken, der die Woge in entgegengesetzter Richtung zu seinem durchschnitt. Die beiden berührten sich.

In Rands Kopf hallte es wie bei einem angeschlagenen Gong. Er verkrampfte sich, und Saidin und das Nichts zerfielen. Er sah alles doppelt, die Balkone, die Steinfragmente, die auf dem Boden umherlagen. Auch der andere Mann schien zweimal, sich einander überschneidend, da zu sein, deren jeder seinen Kopf mit beiden Händen umfaßte. Rand suchte blinzelnd nach Mashadar. Die Woge schimmernden Dunstes war fort. Ein Glühen blieb auf den Balkonen über ihm, aber es nahm jetzt ab und zog sich zurück, während sich Rands Sicht klärte. Anscheinend floh selbst der geistlose Mashadar vor Baalsfeuer.

Rand erhob sich schwankend und bot eine Hand dar. »Ich glaube, wir sollten besser von hier verschwinden. Was ist dort geschehen?«

Der andere Mann stieß sich mit verzerrtem Blick auf Rands dargebotene Hand hoch. Er war so groß wie Rand, was außer unter Aiel selten war. »Ich weiß nicht, was geschehen ist«, fauchte er. »Aber Ihr solltet laufen, wenn Ihr überleben wollt.« Er folgte seinem Rat augenblicklich auch selbst und schoß auf eine Reihe offener Bögen zu, jedoch nicht in der nächstgelegenen Mauer. Mashadar war von dort gekommen.

Rand bemühte sich um das Nichts und hinkte hinter ihm her, so schnell er konnte, aber bevor sie den Plattenboden noch vollständig überquert hatten, fielen die Blitze erneut in einem Sturm von Silberpfeilen. Sie eilten beide durch die Bogengänge, gefolgt vom Donnern der hinter ihnen einstürzenden Mauern und Bögen und von Wolken von Staub und einem Steinhagel. Die Schultern zusammengezogen und einen Arm über sein Gesicht gelegt, lief Rand hustend durch einen weiten Raum, dessen zitternde Gewölbe die Decke noch trugen und wo nur kleine Steine herabregneten.

Er geriet auf eine Straße hinaus, bevor er es merkte, und stolperte drei Schritte, bevor er innehielt. Der Schmerz an seiner Seite wollte ihn sich vornüber beugen lassen, aber er dachte, seine Beine könnten vielleicht nachgeben, wenn er es täte. Sein verletzter Fuß pochte. Es schien ein Jahr her, daß jener rote Draht aus Feuer und Luft ihn in die Ferse gestochen hatte. Sein Retter beobachtete ihn. Von Kopf bis Fuß staubbedeckt gelang es dem Burschen, wie ein König dazustehen.

»Wer seid Ihr?« fragte Rand erneut. »Einer von Taims Männern? Oder habt Ihr Euch selbst gelehrt? Ihr könntet nach Caemlyn gehen, wißt Ihr, zur Schwarzen Burg. Ihr müßt nicht in Angst vor den Aes Sedai leben.« Diese Worte veranlaß-ten ihn aus einem unbestimmten Grund, die Stirn zu runzeln. Er konnte nicht verstehen warum.

»Ich habe noch niemals Angst vor den Aes Sedai gehabt«, fauchte der Mann und atmete dann tief durch. »Ihr wärt gut beraten, von hier fortzugehen, aber wenn ihr zu bleiben und Sammael zu töten beabsichtigt, solltet Ihr versuchen, wie er zu denken. Ihr habt gezeigt, daß Ihr es könnt. Es gefiel ihm schon immer, einen Menschen im Angesicht dessen zu vernichten, was einer der Triumphe dieses Menschen war. Ist dies nicht möglich, genügt auch irgendein Ort, den dieser Mensch beansprucht.«

»Das Wegetor«, sagte Rand. Wenn man behaupten konnte, daß er etwas in Shadar Logoth gekennzeichnet hatte, dann mußte es das Wegetor sein. »Er wartet in der Nähe des Wegetors, und er hat Fallen errichtet.« Anscheinend auch Wachvorrichtungen wie jene in IIlian, um jemanden zu entdecken, der die Macht lenkt. Sammael hatte dies gut vorbereitet.

Der Mann lachte verzerrt. »Ihr könnt den Weg offensichtlich finden, wenn Ihr an der Hand geführt werdet. Versucht, nicht zu stolpern. Viele Pläne werden neu überdacht werden müssen, wenn Ihr Euch jetzt töten laßt.« Er wandte sich um und ging die Straße hinab auf eine Gasse unmittelbar vor ihnen zu.

»Wartet«, rief Rand. Der Bursche ging weiter, ohne zurückzuschauen. »Wer seid Ihr? Welche Pläne?« Der Mann verschwand.

Rand schwankte hinter ihm her, aber als er den Eingang zu der schmalen Gasse erreichte, war sie leer. Unversehrte Mauern verliefen gut hundert Schritt bis zu einer weiteren Straße, wo ein Glühen von einem weiteren Teil Mashadars weithin sichtbar war, aber der Mann war fort. Was einfach unmöglich war. Der Bursche hatte natürlich Zeit gehabt, ein Wegetor zu eröffnen, aber die Überreste dessen hätten noch zu sehen sein müssen, und außerdem wäre es Rand gewiß nicht entgangen, wenn jemand so nahe soviel Saidin gewoben hätte.

Plötzlich erkannte er, daß er Saidin auch nicht gespürt hatte, als der Mann Baalsfeuer wob. Nur daran zu denken, daß sich die beiden Stränge berührten, ließ ihn erneut doppelt sehen. Nur einen Augenblick lang konnte er das Gesicht des Mannes erneut deutlich erkennen, obwohl alles andere verschwommen war. Er schüttelte den Kopf, bis sich seine Sicht wieder klärte. »Wer, im Licht, seid Ihr?« flüsterte er. Und kurz darauf: »Was, im Licht, seid Ihr?«

Wer oder was auch immer er war - der Mann war fort. Aber Sammael befand sich weiterhin in Shadar Logoth. Rand gelang es mühsam, das Nichts erneut zurückzuerlangen. Der Makel auf Saidin vibrierte jetzt, bahnte sich seinen Weg summend tief in ihn hinein. Das Nichts selbst vibrierte. Aber die Schwäche der Muskeln und der Schmerz der Verletzungen schwanden. Er würde einen der Verlorenen töten, bevor diese Nacht vorüber war.

Er geisterte humpelnd durch die dunklen Straßen, wobei er seine Füße mit großer Sorgfalt setzte. Er verursachte noch immer Geräusche, aber die Nacht war jetzt erfüllt von Geräuschen. Schreie und gutturale Rufe klangen in der Ferne. Der geistlose Mashadar tötete, was immer er fand, und Trollocs starben heute nacht in Shadar Logoth, wie es auch schon vor langer, langer Zeit gewesen war. Manchmal sah Rand eine kreuzende Straße hinab Trollocs, zwei oder fünf oder ein Dutzend, gelegentlich zusammen mit einem Halbmenschen, aber meist allein. Niemand bemerkte ihn, und er störte sie nicht. Nicht nur, weil Sammael jegliches Machtlenken entdecken würde. Jene Trollocs und Myrddraals, die Mashadar nicht tötete, waren dennoch tot. Sammael hatte sie zweifellos über die Kurzen Wege hierher gebracht, aber er erkannte offensichtlich nicht, wie Rand sein Wegetor hier gekennzeichnet hatte.

Kurz vor dem Platz, wo sich das Wegetor befand, hielt Rand inne und sah sich um. In der Nähe stand ein anscheinend intakter Turm. Nicht halb so hoch wie manche andere, ragte seine Spitze noch immer mehr als fünfzig Schritte über dem Boden auf. Der dunkle Eingang zu ebener Erde war leer, das Holz war schon lange verrottet und die Scharniere zu Staub zerfallen. Im durch die Fenster scheinenden schwachen Sternenlicht stieg Rand langsam die gewundene Treppe hinauf, wobei kleine Staubwolken unter seinen Stiefeln aufstoben und bei jedem zweiten Schritt ein schmerzhaftes Stechen sein Bein hinaufschoß. Entfernter Schmerz. Unter der Turmspitze lehnte sich Rand gegen die Brustwehr und rang nach Atem. Ein müßiger Gedanke kam ihm in den Sinn, daß er es ständig vorgehalten bekäme, wenn Min hiervon erführe. Min oder auch Amys oder Cadsuane.

Er konnte über zerstörte Dachfirste hinweg den großen Platz sehen, der einer der wichtigsten Plätze in Aridhol gewesen war. Einst hatte ein Ogierhain diesen Teil des Landes bedeckt, aber innerhalb von dreißig Jahren, nachdem die Ogier, welche die ältesten Teile der Stadt errichtet hatten, gegangen waren, hatten die Bewohner die Bäume gefällt, um Raum für das sich ausbreitende Aridhol zu schaffen. Paläste oder deren Überreste umgaben den gewaltigen Platz, das Glühen Mashadars schimmerte tief hinter einigen Fenstern, und ein gewaltiger Schutthaufen bedeckte ein Ende des Platzes, aber in der Mitte stand das Wegetor, anscheinend ein hoher, breiter Stein. Rand war nicht nahe genug, um die kunstvoll eingravierten Blätter und Ranken darauf zu erkennen, aber er konnte die herabgestürzten Teile des hohen Zaunes ausmachen, der es einst umgeben hatte. Durch Macht gestaltetes Metall, das zusammengesunken dalag, schimmerten sie in der Nacht ungetrübt. Er konnte auch die Falle erkennen, die Sammael um das Wegetor gewoben hatte, umgekehrt, damit niemand anderes es sehen konnte. Rand konnte von hier aus in keiner Weise bestimmen, ob die Trollocs und Halbmenschen wirklich hindurchgegangen waren, aber wenn sie es getan hatten, würden sie bald sterben. Eine häßliche Sache. Welche Fallen auch immer Sammael errichtet hatte - sie waren für ihn unsichtbar, aber das war zu erwarten gewesen. Außerdem waren sie wahrscheinlich nicht sehr angenehm.

Zuerst konnte er Sammael nicht sehen, aber dann bewegte sich jemand zwischen den kannelierten, aufleuchtenden Säulen eines Palastes. Rand wartete ab. Er wollte sichergehen. Er hatte nur eine Chance. Die Gestalt trat vorwärts aus dem Säulengang und einen Schritt auf den Platz heraus, den Kopf hierhin und dorthin wendend. Sammael, an dessen Kehle schneeweiße Spitze schimmerte, wartete darauf, daß Rand den Platz beträte und ihm in die Fallen ginge. Das Leuchten in den Fenstern des Palastes hinter ihm wurde heller. Sammael spähte in die den Platz umgebende Dunkelheit, und Mashadar sickerte aus den Fenstern. Dichte Wogen silbergrauen Nebels glitten ineinander und verbanden sich, während sie über seinem Kopf aufragten. Sammael trat ein Stück zur Seite, und die Woge begann herabzusinken und im Fallen allmählich schneller zu werden.

Rand schüttelte den Kopf. Sammael gehörte ihm. Die für das Baalsfeuer benötigten Stränge schienen sich, trotz des fernen Widerhalls von Cadsuanes Stimme, zu sammeln. Er hob die Hand.

Ein Schrei zerriß die Dunkelheit - eine Frau schrie in unsäglicher Seelenangst. Rand sah Sammael sich im gleichen Moment umwenden, um den großen Schutthaufen zu betrachten, als auch sein Blick in diese Richtung zuckte. Auf dem Schutthaufen zeichnete sich eine Gestalt in Jacke und Hose vor dem Nachthimmel ab, deren Bein eine einzelne dünne Ranke Mashadars berührte. Sie schlug mit ausgestreckten Armen um sich, unfähig, sich vom Fleck zu bewegen, und ihr stummes Klagen schien Rand zu rufen.

»Liah«, flüsterte er. Rand streckte unbewußt die Hand aus, als könnte er seinen Arm über die dazwischenliegende Entfernung hinweg ausdehnen und sie fortziehen. Nichts konnte jedoch retten, was Mashadar berührte, nicht mehr, als etwas ihn hätte retten können, wenn Fains Dolch in sein Herz eingedrungen wäre. »Liah«, flüsterte er, und Baalsfeuer entsprang seiner Hand.

Weniger als einen Herzschlag lang schien ihre Gestalt noch vorhanden zu sein, ganz in starrem Schwarz und Schneeweiß, und dann war sie fort, tot, noch bevor ihr Todeskampf begonnen hatte.

Rand schleuderte schreiend Baalsfeuer auf den Platz zu - der Schutthaufen brach in sich zusammen, löschte den Tod aus der Zeit - und ließ Saidin los, bevor der weiße Balken den See aus Mashadar berührte, der jetzt über den Platz schwappte und am Wegetor vorbei auf Ströme glühenden Graus zuwogte, die aus einem weiteren Palast an der anderen Seite des Platzes hervordrangen. Sammael mußte tot sein. Er mußte es sein. Er hatte keine Zeit gehabt davonzulaufen, keine Zeit, ein Wegetor zu weben, und wenn er es getan hätte, hätte Rand Saidin gespürt. Sammael war tot, von etwas Bösem getötet, das fast ebenso gewaltig war wie er selbst. Empfindungen durchströmten das Äußere des Nichts. Rand wollte lachen, oder vielleicht weinen. Er war hierher gekommen, um einen der Verlorenen zu töten, aber statt dessen hatte er eine Frau getötet, die er hier ihrem Schicksal überlassen hatte.

Er stand lange Zeit oben auf dem Turm, während der abnehmende Mond am Himmel entlangzog und dann fast die Hälfte seines Weges zurückgelegt hatte, und er beobachtete, wie Mashadar den Platz vollkommen ausfüllte, bis nur noch der oberste Teil des Wegetors über dem Nebel aufragte. Dann begann der Dunst langsam abzuebben, um woanders zu jagen. Wenn Sammael noch am Leben gewesen wäre, hätte er den Wiedergeborenen Drachen in diesem Moment leicht töten können. Rand war sich nicht sicher, ob es ihm etwas ausgemacht hätte. Schließlich eröffnete er ein Wegetor und bildete zum Gleiten eine Plattform, eine geländerlose Scheibe, halb weiß und halb schwarz. Gleiten geschah langsamer als das Reisen. Er brauchte mindestens eine halbe Stunde, um Illian zu erreichen, und er brannte auf dem ganzen Weg immer wieder Liahs Namen in seinen Geist ein und strafte sich damit. Er wünschte, er könnte weinen. Er glaubte, die Fähigkeit verloren zu haben.

Im Königspalast warteten sie im Thronraum auf ihn, Bashere und Dashiva und die Asha'man. Es war genau der gleiche Raum, den er am anderen Ende des Platzes gesehen hatte, sogar bis zu den Stehlampen, den in die Marmorwände eingemeißelten Szenen und das lange weiße Podest. Genau der gleiche Raum, nur daß er in jeder Hinsicht ein wenig größer war und auf dem Podest anstatt neun Stühlen nur ein großer vergoldeter Thron mit Leoparden als Armlehnen und neun faustgroßen goldenen Bienen oben an der Rückenlehne stand. Rand setzte sich erschöpft auf die Stufen vor dem Podest.

»Also ist Sammael tot«, sagte Bashere und betrachtete ihn in seiner zerrissenen und staubigen Kleidung von Kopf bis Fuß.

»Er ist tot«, bestätigte Rand. Dashiva seufzte vor Erleichterung laut.

»Die Stadt gehört uns«, fuhr Bashere fort. »Oder Euch, sollte ich besser sagen.« Er lachte plötzlich. »Die Kämpfe haben nur zu rasch geendet, als die richtigen Leute erst einmal herausgefunden hatten, daß Ihr es wart.« Getrocknetes Blut bildete einen schwarzen Fleck auf einem zerrissenen Ärmel seiner Jacke. »Das Konzil hat gespannt auf Eure Rückkehr gewartet. Angstvoll, könnte man sogar sagen«, fügte er mit verzerrtem Grinsen hinzu.

Acht schwitzende Männer hatten am entgegengesetzten Ende des Thronraums gestanden, als Rand hereingekommen war. Sie trugen dunkle, an den Aufschlägen und Ärmeln goldoder silberbestickte Seidenjacken und Spitze an Hals und Handgelenken. Einige trugen einen Bart, der die Oberlippe freiließ, aber alle trugen eine breite Schärpe aus grüner Seide mit neun goldenen Bienen schräg über der Brust.

Sie traten auf Basheres Zeichen hin vor und verbeugten sich bei fast jedem dritten Schritt vor Rand, als trüge er die edelste Kleidung. Ein großer Mann schien der Anführer zu sein, ein Bursche mit rundlichem Gesicht mit einem jener Barte und einer natürlicher Würde, die durch Sorge beeinträchtigt schien. »Mein Lord Drache«, sagte er, während er sich erneut verbeugte und beide Hände auf sein Herz preßte.

»Verzeiht, aber Lord Brend war nirgends zu finden, und...«

»Er kann auch nicht zu finden sein«, sagte Rand tonlos.

Ein Muskel im Gesicht des Mannes zuckte bei Rands Tonfall, und er schluckte. »Sehr wohl, mein Lord Drache«, murmelte er. »Ich bin Lord Gregorin den Lushenos, mein Lord Drache. Ich spreche in Abwesenheit Lord Brends für das Konzil der Neun. Wir bieten Euch...« Neben ihm deutete jemand eindringlich auf einen kleineren, bartlosen Mann, der mit einem Kissen vortrat, auf dem sich ein grünes Seidentuch wölbte. »Wir bieten Euch Illian an.« Der kleinere Mann zog das Seidentuch fort und enthüllte ein schweres goldenes, zwei Zoll breites Diadem aus Lorbeerblättern. »Die Stadt gehört natürlich Euch«, fuhr Gregorin eifrig fort. »Wir haben allen Widerstand niedergeschlagen und bieten Euch nun den Thron von ganz Illian an.«

Rand betrachtete regungslos die Krone auf ihrem Kissen. Die Leute hatten gedacht, er wolle sich in Tear zum König ernennen, und sie hatten auch gefürchtet, er wolle es in Cairhien und Andor tun, aber niemand hatte ihm bisher eine Krone angeboten. »Warum? Gibt Mattin Stepaneos seinen Thron so bereitwillig auf?«

»König Mattin ist vor zwei Tagen verschwunden«, antwortete Gregorin. »Einige von uns fürchten... Wir fürchten, daß Lord Brend etwas damit zu tun haben könnte. Er hat...« Er hielte inne, weil er schlucken mußte. »Er hatte großen Einfluß auf den König, einige würden vielleicht sagen zuviel, aber er war in den letzten Monaten abgelenkt, und Mattin hatte sich zu behaupten begonnen.«

Streifen seines schmutzigen Jackenärmels und Stücke seines Hemdsärmels baumelten herab, als Rand die Hand nach der Lorbeerkrone ausstreckte. Der Drache, der sich um seinen Unterarm wand, glänzte im Lampenlicht genauso hell wie die goldene Krone. Er drehte sie in den Händen. »Ihr habt mir noch immer nicht erklärt warum. Weil ich Euch erobert habe?« Er hatte Tear erobert, und Cairhien ebenfalls, aber einige wandten sich in beiden Ländern noch immer gegen ihn. Doch es schien die einzige Möglichkeit zu sein.

»Zum Teil«, sagte Gregorin trocken. »Wir hätten dennoch jemanden aus unseren eigenen Reihen erwählen können. Es wurden schon zuvor Könige aus dem Konzil erhoben. Aber das Korn, das auf Euren Befehl von Tear hierhergeschickt wurde, ist, mit dem Licht, in aller Munde. Ohne es wären viele verhungert. Lord Brend hat dafür gesorgt, daß jedes Stück Brot dem Heer zugeteilt wurde.«

Rand blinzelte und zog die Hand ruckartig von der Krone zurück, um an einem Stich im Finger zu saugen. Fast zwischen den Lorbeerblättern der Krone verborgen, befanden sich die scharfen Spitzen von Schwertern. Vor wie langer Zeit hatte er den Tairenern befohlen, Korn an ihre alten Feinde zu verkaufen oder zu sterben, wenn sie es verweigerten? Er hatte nicht gewußt, daß sie damit weitergemacht hatten, nachdem er Vorbereitungen getroffen hatte, in Illian einzumarschieren. Vielleicht hatten sie sich gefürchtet, die Angelegenheit zur Sprache zu bringen, aber sie hatten auch nicht gewagt, damit aufzuhören. Vielleicht hatte er ein gewisses Recht auf diese Krone erworben.

Er setzte den Kreis aus Lorbeerblättern vorsichtig auf seinen Kopf. Die Schwerter deuteten jeweils zur Hälfte nach oben und unten. Niemand würde diese Krone beiläufig oder leichtfertig tragen.

Gregorin verbeugte sich glatt. »Das Licht bescheine Rand al'Thor, den König von Illian«, stimmte er an, und die sieben anderen Lords verbeugten sich mit ihm und murmelten ebenfalls: »Das Licht bescheine Rand al'Thor, den König von Illian.«

Bashere begnügte sich mit einer Neigung des Kopfes - er war immerhin der Onkel einer Königin -; aber Dashiva rief aus: »Alles Heil Rand al'Thor, dem König der Welt!« Flinn und die anderen Asha'man nahmen den Ruf auf.

»Alles Heil Rand al'Thor, dem König der Welt!«

»Alles Heil dem König der Welt!«

Das klang gut.

Die Geschichte verbreitete sich, wie Geschichten es tun, und sie veränderte sich, wie sich Geschichten mit der Zeit und der Entfernung verändern; sie verbreitete sich mit den Küstenschiffen von Illian, mit Händlerzügen auf Wagen und mit heimlich gesandten Brieftauben, verbreitete sich in Wellen, die mit anderen Wellen zusammentrafen und wiederum neue schufen. Ein Heer war nach Illian gekommen, besagten die Geschichten, ein Heer von Aiel, von Aes Sedai, die aus der dünnen Luft erschienen, von Männern, welche die Macht lenken konnten und beflügelte Wesen ritten, sogar ein Heer Saldaeaner, obwohl nicht viele Menschen diese Geschichte glaubten. Einige Geschichten besagten, der Wiedergeborene Drache habe vom Konzil der Neun die Krone Illians überreicht bekommen, und andere besagten, Mattin Stepaneos selbst habe sie ihm auf Knien dargeboten. Einige besagten, der Wiedergeborene Drache habe Mattin die Krone vom Kopf gerissen und diesen dann auf einen Speer aufgespießt. Nein, der Wiedergeborene Drache hatte Illian dem Erdboden gleichgemacht und den alten König im Schutt begraben. Nein, er und sein Heer von Asha'man hatten Illian aus der Erde herausgebrannt. Nein, er hatte Ebou Dar zerstört, nach Illian.

Eine Tatsache tauchte in jenen Geschichten jedoch immer wieder auf. Die Lorbeerkrone von Illian war neu benannt worden. Sie hieß jetzt die Schwerterkrone.

Und aus einem unbestimmten Grund erachteten die Männer und Frauen, welche die Geschichten erzählten, es häufig für notwendig, fast gleichlautende Worte hinzuzufügen. Der Sturm zieht auf, sagten sie, während sie besorgt südwärts schauten. Der Sturm zieht auf.


Meister der Blitze, Sturmreiter,

Träger einer Schwerterkrone, Verkünder des Schicksals.

Wer das Rad der Zeit zu drehen glaubt,

erfahrt die Wahrheit vielleicht zu spät.

Aus einer bruchstückhaften Übersetzung der Prophezeiungen des Drachen, die vermutlich von Lord Mangore Kiramin, Schwertbarde von Aramelle und Behüter Caraighan Maconars, in der später so genannten Volkssprache verfaßt wurde (circa 300 NZ).

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