34 Ta'veren

Im Hof vor dem Palast war alles so vorbereitet worden, wie Rand es angeordnet hatte. Oder fast alles. Die Morgensonne warf lange Schatten, so daß nur zehn Schritte vor den hohen Bronzetoren im Licht der Sonne lagen. Dashiva und Flinn und Narishma, die drei Asha'man, die Rand zurückbehalten hatte, warteten neben ihren Pferden, wobei selbst Dashiva mit dem Silberschwert und dem rotgoldenen Drachen an seinem schwarzen Kragen strahlte, obwohl er das Schwert immer noch so betrachtete, als sei er ständig überrascht, es vorzufinden. Einhundert Mann von Dobraines Waffenträgern saßen mit zwei in der unbewegten Luft herabhängenden Bannern hinter Dobraine zu Pferde, ihre dunklen Rüstungen in der Sonne glänzend, und rote, weiße und schwarze Seidenwimpel waren unmittelbar unter den Spitzen um die Speere gebunden. Hochrufe erklangen, als Rand erschien, seinen Schwertgürtel mit der goldenen Drachenschließe um eine rote, goldverzierte Jacke gebunden.

»Al'Thor! Al'Thor! Al'Thor!« hallte es im Hof wider. Menschen, die sich auf den Ständen der Bogenschützen drängten, stimmten mit ein, Tairener und Cairhiener in Seide und Spitze, die Colavaere noch vor einer Woche zweifellos genauso laut zugejubelt hatten. Männer und Frauen, von denen einige gleichzeitig wünschten, er wäre niemals nach Cairhien zurückgekehrt, winkten und jubelten ihm zu. Er hob daraufhin das Drachenszepter an, und sie jubelten noch lauter.

Donnernder Trommelklang und Trompetenstöße stiegen durch die Hochrufe auf, von einem Dutzend weiterer Männer Dobraines hervorgebracht, die karmesinrote Wappenröcke mit der schwarzweißen Scheibe auf der Brust trugen. Die Hälfte der Männer führte mit dem gleichen Stoff gekennzeichnete lange Trompeten und die andere Hälfte Kesselpauken mit sich, die, ebenfalls verziert, zu beiden Seiten der Pferde befestigt waren. Fünf Aes Sedai mit ihren Stolen kamen Rand entgegen, als er die breiten Stufen hinabstieg. Alanna gewährte ihm einen prüfenden Blick aus jenen großen, dunklen, durchdringenden Augen - das winzige Geflecht von Empfindungen in seinem Schädel vermittelte ihm, daß sie ruhiger und entspannter war, als er sie je erlebt hatte -, ein prüfender Blick, gefolgt von einer kaum merklichen Bewegung, woraufhin Min seinen Arm berührte und sich ein paar Schritte mit ihr entfernte. Bera und die anderen vollführten flüchtige Hofknickse und beugten leicht den Kopf, während hinter Rand Aiel aus dem Palast strömten. Nandera führte zweihundert Töchter des Speers an - sie würden nicht von den ›Eidbrechern‹ überstrahlt werden -, und Camar, ein schlanker Berghang-Daryne, der grauer als Nandera und einen halben Kopf größer als Rand war, führte zweihundert Seia Doon an, die nicht von den Far Dareis Mai, geschweige denn von den Cairhienern, überstrahlt würden. Sie zogen auf beiden Seiten an ihm vorbei, und die Aes Sedai bildeten einen Ring im Hof. Bera, die wie eine stolze Bauersfrau, und Alanna, die wie eine geheimnisvolle, wunderschöne Königin wirkte, und die rundliche Rafela, die in ihrem blauen Gewand geheimnisvoll aussah, beobachteten ihn besorgt. Faeldrin musterte ihn mit kühlem Blick, ebenfalls eine Grüne, die ihre dünnen Zöpfe mit farbigen Perlen geschmückt hatte, und auch die schlanke Merana in ihrer grauen Kleidung, deren Stirnrunzeln Rafela wie das Bild der Aes Sedai-Gelassenheit erscheinen ließ. Fünf.

»Wo sind Kiruna und Verin?« verlangte Rand zu wissen. »Ich habe nach Euch allen verlangt.«

»In der Tat, mein Lord Drache«, antwortete Bera ruhig. Sie vollführte ebenfalls einen Hofknicks, nur eine leichte Verbeugung, aber es überraschte ihn dennoch. »Wir konnten Verin nicht finden. Sie ist nirgendwo bei den Aiel-Zelten. Sie befragt wahrscheinlich die...« Ihr ruhiger Tonfall schwankte einen Moment, »...die Gefangenen, um vielleicht zu erfahren, was geplant war, wenn sie Tar Valon erreicht hätten.« Wenn er Tar Valon erreicht hätte. Sie wußte genug, um damit nicht herauszuplatzen, wenn jedermann es hören konnte. »Und Kiruna ... bespricht mit Sorilea eine Frage des Protokolls. Aber gewiß wird sie sich uns nur zu gern anschließen, wenn Ihr sie persönlich herbeiruft. Ich könnte selbst gehen, wenn Ihr...«

Er winkte ab. Fünf sollten genügen. Vielleicht konnte Verin etwas erfahren. Wollte er es wissen? Und Kiruna. Eine Frage des Protokolls? »Ich bin froh, daß Ihr mit den Weisen Frauen zurechtkommt«, begann Bera und schloß dann fest den Mund. Was auch immer Alanna gerade zu Min sagte, ließ Min zutiefst errötend das Kinn emporrecken, wenn sie auch seltsamerweise äußerst ruhig zu antworten schien. Er fragte sich, ob sie es ihm erzählen würde. Wenn es etwas gab, dessen er sich bei Frauen sicher war, dann war es die Tatsache, daß jede einzelne Geheimnisse im Herzen trug, die manchmal mit einer anderen Frau, aber niemals mit einem Mann geteilt wurden.

»Ich bin nicht hierhergekommen, um den ganzen Tag herumzustehen«, sagte er verärgert. Die Aes Sedai hatten sich mit Bera über die Führung geeinigt, während die anderen einen halben Schritt zurückblieben. Wenn sie es nicht gewesen wäre, wäre es Kiruna gewesen. Ihre Entscheidung, nicht seine. Es kümmerte ihn wirklich nicht, solange sie sich an ihre Eide hielten, und er hätte es vielleicht dabei belassen, wenn Min und Alanna nicht gewesen wären. »Merana wird von jetzt an für Euch sprechen, und Ihr werdet Eure Befehle von ihr entgegennehmen.«

Den plötzlich geweiteten Augen nach hätte man denken können, er hätte jede einzelne von ihnen geschlagen. Einschließlich Merana. Sogar Alanna wandte ruckartig den Kopf. Warum sollten sie bestürzt sein? Natürlich hatten seit den Brunnen von Dumai fast immer Bera oder Kiruna das Wort ergriffen, aber Merana war nach Caemlyn gesandt worden.

»Bist du bereit, Min?« fragte er und schritt auf den Hof, ohne eine Antwort abzuwarten. Der große, feurig blickende schwarze Wallach, den er seit den Brunnen von Dumai geritten hatte, war mit einem Sattel mit Goldverzierungen sowie einer karmesinroten, in jeder Ecke mit der schwarzweißen Scheibe bestickten Satteldecke für ihn herangebracht worden. Das Geschirr paßte zu dem Tier und zu seinem Namen. Tai'daishar - in der Alten Sprache Herr der Herrlichkeit. Und Pferd und Geschirr paßten beide zum Wiedergeborenen Drachen.

Während Rand aufstieg, führte Min ihre mausgraue Stute heran und zog ihre eng anliegenden Reithandschuhe über, bevor sie aufstieg. »Seiera ist ein prächtiges Tier«, sagte sie und tätschelte der Stute den Hals. »Ich wünschte, sie gehörte mir. Ich mag auch ihren Namen. Eine um Baerlon vorkommende Blume, die im Frühling dort wächst, heißt Blauauge.«

»Sie gehört dir«, sagte Rand. Welcher Aes Sedai auch immer die Stute gehörte - sie würde es nicht ablehnen, sie ihm zu verkaufen. Er würde Kiruna tausend Kronen für Tai'daishar geben, dann konnte sie sich nicht beschweren. Selbst der beste Hengst aus tairenischer Zucht würde niemals auch nur ein Zehntel dieser Summe kosten. »Hattest du eine anregende Unterhaltung mit Alanna?«

»Nichts, was dich interessieren würde«, sagte sie beiläufig. Aber ihre Wangen waren leicht gerötet.

Er schnaubte leise und erhob dann die Stimme. »Lord Dobraine, ich denke, ich habe das Meervolk lange genug warten lassen.«

Die Prozession zog entlang der breiten Straßen Menschenmengen an, und auch in Fenstern und auf Dächern versammelten sich Menschen, als die Nachricht des Herannahens der Prozession vorauseilte. Zwanzig Speerträger Dobraines führten sie an, um den Weg freizumachen, zusammen mit dreißig Töchtern des Speers und ebenso vielen Schwarzaugen. Dann kamen die Trommler, die ihre Instrumente unaufhörlich dröhnen ließen, und die Trompeter verstärkten den Lärm noch mit Trompetenstößen. Rufe von Zuschauern erstickten die Trommeln und Trompeten fast gleichermaßen, ein wortloses Brüllen, das genausogut Wut wie Beifall hätte sein können. Die Banner blähten sich unmittelbar vor Dobraine und hinter Rand, das weiße Drachenbanner und das scharlachrote Banner des Lichts, und verschleierte Aiel liefen neben Speerträgern her, deren Wimpel ebenfalls im Wind wehten. Hin und wieder wurden Rand ein paar Blumen zugeworfen. Vielleicht haßten sie ihn nicht. Vielleicht fürchteten sie ihn nur. Das mußte genügen.

»Ein jedem König angemessener Zug«, sagte Merana laut, so daß man es hören konnte.

»Dann genügt er für den Wiedergeborenen Drachen«, erwiderte Rand scharf. »Bleibt Ihr zurück? Und du auch, Min.« Andere Dächer hatten Mörder beherbergt. Der für ihn bestimmte Pfeil würde heute keine Frau treffen.

Sie fielen hinter seinem großen Schwarzen zurück, immerhin drei Schritte, und dann waren sie sofort wieder neben ihm, und Min berichtete ihm, was Berelain über das Meervolk auf den Schiffen, über die Jendai-Prophezeiung und den Coramoor aufgeschrieben hatte, und Merana fügte hinzu, was sie über die Prophezeiung wußte, obwohl sie zugab, daß es nicht sehr viel war.

Rand behielt die Dächer im Auge und hörte nur mit halbem Ohr zu. Er hatte Saidin nicht umarmt, aber er konnte es bei Dashiva und den beiden anderen unmittelbar hinter ihm wahrnehmen. Er verspürte nicht das Kribbeln, das ihm vermitteln würde, daß die Aes Sedai die Quelle umarmten, aber er hatte ihnen auch befohlen, es nicht ohne seine Erlaubnis zu tun. Vielleicht sollte er das ändern. Sie hielten sich anscheinend an ihren Schwur. Wie konnten sie auch nicht? Sie waren Aes Sedai. Es wäre unglücklich, wenn die Klinge eines Mörders ihn erwischte, während eine der Schwestern zu entscheiden versuchte, ob zu dienen bedeutete, ihn zu retten, oder ob zu gehorchen bedeutete, die Macht nicht zu lenken.

»Warum lachst du?« wollte Min wissen. Seiera tänzelte näher heran, und Min sah lächelnd zu ihm hoch.

»Dies ist keine lächerliche Angelegenheit, mein Lord Drache«, sagte Merana auf seiner anderen Seite bissig. »Die Atha'an Miere können sehr eigen sein. Jedermann wird heikel, wenn es um ihre Prophezeiungen geht.«

»Die Welt ist eine lachhafte Angelegenheit«, belehrte er sie. Min lachte mit ihm, aber Merana rümpfte die Nase und kam sofort aufs Meervolk zurück, als er wieder schwieg.

Am Fluß verliefen die hohen Stadtmauern bis ans Wasser und flankierten graue Steindocks, die sich vom Kai hinaus erstreckten. Flußschiffe, Boote und Lastkähne aller Arten und Größen waren überall vertäut, die Mannschaften an Deck durch den Tumult aufmerksam geworden, und das Schiff, das Rand suchte, lag wartend da, an einem Dock vertäut, von dem bereits alle Arbeiter fortgeschickt worden waren. Man nannte es ein Großboot, ein niedriges, schmales Schiff ohne jegliche Masten, sondern mit nur einer Stange am Bug, vier Schritt hoch und am oberen Ende mit einer Laterne versehen, wie auch das Heck. Fast dreißig Meter lang und mit ebenso vielen Rudern bestückt, konnte es nicht die Lasten tragen, die ein Segelschiff derselben Größe befördern konnte, aber es war auch nicht vom Wind abhängig und konnte bei Niedrigwasser Tag und Nacht fahren, wobei die Ruderer in Schichten arbeiteten. Großboote wurden auf den Flüssen für wichtige und dringliche Ladungen eingesetzt, was angemessen schien.

Der Kapitän verbeugte sich wiederholt, als Rand mit Min am Arm und den Aes Sedai und Asha'man auf den Fersen die Laufplanke herabkam. Elver Shaene wirkte in seiner gelben Jacke in murandianischem Stil, die ihm bis auf die Knie hing, äußerst mager. »Es ist mir eine Ehre, Euch zu Diensten zu sein, mein Lord Drache«, murmelte er, während er sich mit einem großen Taschentuch den kahlen Schädel abwischte. »Es ist mir eine Ehre. Wirklich eine Ehre. Eine große Ehre.«

Der Mann hätte eindeutig lieber giftige Vipern mit seinem Schiff befördert. Er betrachtete blinzelnd die Stolen der Aes Sedai und ihre alterslosen Gesichter und leckte sich über die Lippen, während sein Blick unbehaglich von ihnen zu Rand flackerte. Beim Anblick der Asha'man sank sein Kinn herab, als er ihre schwarzen Jacken mit Gerüchten in Zusammenhang brachte, und er vermied es daraufhin, auch nur in ihre Richtung zu sehen. Shaene beobachtete, wie Dobraine die Männer mit den Bannern und die Trompeter und die Trommler, die ihre Instrumente schleppten, an Bord führte, und betrachtete dann die das Dock säumenden Reiter, als hege er den Verdacht, daß auch sie an Bord kommen wollten. Nandera mit zwanzig Töchtern des Speers und Camar mit zwanzig Schwarzaugen, alle mit der um den Kopf geschlungenen Shoufa, wenn auch unverschleiert, veranlaßten den Kapitän, schnell beiseite zu treten, um die Aes Sedai zwischen sich und sie zu bringen. Die Aiel blickten, wegen des Sekundenbruchteils, den sie verlieren würden, wenn sie sich verschleiern müßten, finster drein, aber das Meervolk wußte vielleicht, was ein Schleier bedeutete, und es wäre ihnen kaum nützlich, wenn sie sich angegriffen fühlten.

Das Großboot verließ das Dock, während die beiden Banner am Bug flatterten, die Trommeln dröhnten und die Trompeten schmetterten.

Draußen auf dem Fluß erschienen Menschen auf den Decks und in der Takelage der Schiffe, um sie zu beobachten. Auch auf dem MeervolkSchiff erschienen auffallend bunt gekleidete Menschen. Die Meerschaum war größer als die meisten anderen Schiffe, aber auch schnittiger, mit zwei hohen Masten, die kühn nach hinten geneigt waren, und rechtwinklig darüberliegenden Spieren, wo fast alle anderen Schiffe schräg verlaufende Spieren aufwiesen. Alles an diesem Schiff war anders, aber Rand wußte, daß die Atha'an Miere allen anderen zumindest in einem gleichen müßten: Sie konnten entweder aus eigenen Stücken zustimmen, ihm zu folgen, oder dazu gezwungen werden. Die Prophezeiungen besagten, daß er die Völker aller Länder vereinen würde - »er soll den Norden mit dem Osten verbinden, und der Westen soll mit dem Süden verbunden werden«, hieß es -, und es durfte niemandem gestattet sein, sich ihm zu widersetzen.

Als er von seinem Badezuber aus Befehle erteilt hatte, konnte er nicht im einzelnen erklären, was er auf der Meerschaum zu erreichen beabsichtigte, so daß er es jetzt nachholte. Es bewirkte bei den Asha'man, wie erwartet, Grinsen - nun, Finn und Narishma grinsten, Dashiva blinzelte wie abwesend - und bei den Aiel, ebenfalls wie erwartet, Stirnrunzeln. Es gefiel ihnen nicht, zurückgelassen zu werden.

Dobraine nickte nur. Aber die Reaktion der Aes Sedai hatte Rand nicht erwartet.

»Wie Ihr befehlt, mein Lord Drache«, sagte Merana und vollführte einen ihrer flüchtigen Hofknickse. Die anderen vier wechselten Blicke, aber sie vollführten unmittelbar nach ihr ebenfalls Hofknickse und murmelten ebenfalls »wie Ihr befehlt«. Kein Protest, kein Stirnrunzeln, kein überheblicher Blick oder Vortrag, warum es auf seine Art geschehen sollte. Konnte er ihnen allmählich vertrauen? Oder würden sie eine Möglichkeit finden, sich wie bei den Aes Sedai üblich um ihren Schwur zu drücken, sobald er ihnen den Rücken kehrte?

»Sie werden ihr Wort halten«, murmelte Min plötzlich, ganz so, als hatte sie seine Gedanken gelesen. Einen Arm bei ihm untergehakt, sprach sie so leise, daß nur er sie hören konnte. »Ich habe nur diese fünf in deiner Hand gesehen«, fügte sie hinzu, falls er nicht verstand. Er war sich nicht sicher, daß er sich darauf konzentrieren konnte, selbst wenn sie es in einer Vision gesehen hatte.

Er mußte nicht lange bitten. Das Großboot zog durchs Wasser und hielt ungefähr zwanzig Schritt vor der weitaus größeren Meerschaum an. Die Trommeln und Trompeten schwiegen. Rand lenkte die Macht und bildete aus mit Feuer verwobener Luft eine Brücke von der Reling des Großboots zu der des Meervolk-Schiffes. Er betrat sie mit Min am Arm, wobei er für aller Augen außer denen der Asha'man über Nichts ging.

Er erwartete, zumindest zu Anfang, halbwegs, daß Min zögern würde, aber sie schritt einfach neben ihm aus, als befände sich Stein unter ihren Stiefeln.

»Ich vertraue dir«, sagte sie ruhig. Außerdem lächelte sie, teilweise tröstend und teilweise, wie er glaubte, weil es sie belustigte, erneut seine Gedanken gelesen zu haben.

Er fragte sich, wie sehr sie ihm vertrauen würde, wenn sie wüßte, daß er bestenfalls eine Brücke dieser Länge weben konnte. Ein Fuß weiter, und das Ganze hätte beim ersten Schritt nachgegeben. In diesem Punkt ähnelte dies dem Versuch, sich selbst mit der Macht anzuheben, was unmöglich war. Selbst die Verlorenen wußten genausowenig, wie man dies tat, wie sie wußten, warum eine Frau eine längere Brücke weben konnte als ein Mann, selbst wenn sie nicht so stark war wie er. Es war keine Frage des Gewichts. Jegliches Gewicht konnte jede Brücke überqueren.

Rand hielt kurz vor der Reling der Meerschaum mitten in der Luft inne. Trotz aller Beschreibungen Meranas erschrak er über den Anblick der ihn beobachtenden Menschen. Dunkle Frauen, Männer mit bloßem Oberkörper und bunten Schärpen, die bis zu den Knien hinabhingen, Gold- oder Silberketten um Hälse und Ringe in Ohren sowie bei einigen Frauen, die über ihren dunklen, bauschigen Hosen kunterbunte Blusen trugen, auch in der Nase. Alle Frauen zeigten geübt ausdruckslose Mienen. Vier von ihnen, die ebenso barfuß waren wie die übrigen, trugen bunte Seidenstoffe, Zwei von ihnen trugen Brokat und wiesen auch mehr Halsketten und Ohrringe auf als alle anderen, und von einem Ohrring zu einem Ring in einem Nasenflügel war eine Kette mit Goldmedaillons gespannt. Sie sagten nichts, sondern standen nur zusammen, beobachteten ihn und schnupperten an kleinen, durchbrochenen goldenen Dosen, die von Ketten um ihren Hals herabhingen. Er stellte sich ihnen vor.

»Ich bin der Wiedergeborene Drache. Ich bin der Coramoor.«

Ein vereintes Seufzen lief durch die Besatzung, das die vier Frauen jedoch nicht einschloß.

»Ich bin Harine din Togara Zwei Winde, Herrin der Wogen des Clans Shodein«, verkündete diejenige mit den meisten Ohrringen, eine hübsche Frau mit vollen Lippen in rotem Brokat, die fünf breite kleine Goldringe in jedem Ohr trug. Weiße Strähnen zeigten sich in ihrem glatten schwarzen Haar und feine Falten in ihren Augenwinkeln. Sie strahlte eine eindrucksvolle Würde aus. »Ich spreche für die Herrin der Schiffe. Der Coramoor mag an Bord kommen, wenn es dem Licht gefällt.« Sie zuckte aus einem unbestimmten Grund zusammen, ebenso wie die drei anderen, aber ihre Worte hatten dennoch wie eine Erlaubnis geklungen. Rand betrat mit Min am Arm das Deck und wünschte, er hätte nicht gewartet.

Er ließ die Brücke und auch Saidin los, spürte aber, daß sie augenblicklich durch eine neue Brücke ersetzt wurde. Kurz nacheinander gelangten die Asha'man und die Aes Sedai zu ihm, wobei die Schwestern nicht nervöser waren, als Min es gewesen war, obwohl vielleicht eine oder zwei ihre Röcke ein wenig ausgiebiger glätteten als nötig. Sie fühlten sich in Gegenwart der Asha'man noch immer nicht so wohl, wie sie vorgaben.

Die vier Meervolk-Frauen warfen einen Blick auf die Aes Sedai und schlossen sich dann sofort flüsternd zusammen. Harine und eine junge hübsche Frau in grünern Brokat mit insgesamt acht Ohrringen sprachen eifrig, während die beiden Frauen in einfacher Seide nur gelegentlich etwas einwarfen.

Merana hustete leise und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Ich hörte, daß sie Euch den Coramoor nannte. Die Atha'an Miere sind gute Unterhändler, wie ich gehört habe, aber ich denke, sie hat damit etwas verraten.« Rand nickte und schaute zu Min hinab. Sie betrachtete die Meervolk-Frauen blinzelnd, aber sobald sie seinen Blick bemerkte, schüttelte sie wehmütig den Kopf. Sie sah noch nichts, was ihm helfen könnte.

Harine wandte sich so ruhig um, als hätte es niemals eine eilige Besprechung gegeben. »Dies ist Shalon din Togara Morgengezeiten, Windsucherin des Clans Shodein«, sagte sie mit einer knappen Verbeugung in Richtung der Frau in grünem Brokat, »und dies ist Derah din Selaan Steigende Woge, Segelherrin der Meerschaum.« Beide Frauen verneigten sich bei Nennung ihres Namens kurz und legten die Finger an die Lippen.

Derah, eine hübsche Frau in mittlerem Alter, trug einfaches Blau und ebenfalls acht Ohrringe, obwohl ihr Nasenring und die Verbindungskette edler waren als Harines oder Shalons. »Mein Schiff heißt Euch willkommen«, sagte Derah, »und die Gnade des Lichts soll Euch zuteil werden, bis ihr uns wieder verlaßt.« Sie verbeugte sich kurz in Richtung der vierten Frau in Gelb. »Dies ist Taval din Chanai Neun Möwen, Windsucherin der Meerschaum.« Nur drei Ringe hingen von je einem Ohr Tavals, edel wie jene der Segelherrin. Sie wirkte jünger als Shalon, nicht älter als er selbst.

Harine ergriff erneut das Wort und deutete auf das erhobene Heck des Schiffes. »Wir werden uns in meiner Kabine unterhalten, wenn es Euch recht ist. Ein Wogentänzer ist kein großes Schiff, Rand al'Thor, und die Kabine ist entsprechend klein. Wenn Ihr allein mitkommen wollt, garantieren alle anderen hier für Eure Sicherheit.« Vom Coramoor zum einfachen Rand al'Thor. Sie würde wenn möglich zurücknehmen, was sie gegeben hatte.

Er wollte gerade den Mund öffnen und zustimmen - er hätte alles getan, um dies hinter sich zu bringen; Harine ging bereits in die angegebene Richtung und bedeutete ihm noch immer, ihr zu folgen, während die anderen Frauen sie begleiteten -, als Merana sich räusperte.

»Die Windsucherinnen können die Macht lenken«, murmelte sie hastig hinter vorgehaltener Hand. »Ihr solltet zwei Schwestern mit Euch nehmen, sonst denken sie, sie hätten die Oberhand.«

Rand runzelte die Stirn. Die Oberhand? Er war immerhin der Wiedergeborene Drache. Dennoch... »Gern, Herrin der Wogen, aber Min geht überallhin mit.« Er tätschelte Mins Hand auf seinem Arm - sie hatte ihn keinen Moment losgelassen -, und Harine nickte. Taval hielt bereits die Tür auf, während Derah eine jener kleinen Verbeugungen vollführte und ihn aufforderte einzutreten.

»Und Dashiva natürlich.« Der Mann zuckte bei Nennung seines Namens zusammen, als hätte er geschlafen. Aber zumindest blickte er sich nicht mit geweiteten Augen an Deck um wie Flinn und Narishma. Zumindest starrte er nicht die Frauen an. Geschichten erzählten von der verlockenden Schönheit und Anmut der Meervolk-Frauen, und Rand konnte dies sicherlich bestätigen - sie gingen geschmeidig schwingend, als sollte der nächste Schritt ein Tanzschritt sein -, aber er hatte die Männer nicht zum Liebäugeln hierher gebracht. »Haltet die Augen offen!« befahl er ihnen barsch. Narishma errötete, richtete sich jäh auf und preßte eine Faust auf die Brust. Flinn nickte nur, aber beide schienen jetzt wachsamer. Min schaute aus einem unbestimmten Grund mit zaghaft verzerrtem Lächeln zu ihm auf.

Harine wirkte schon ein wenig ungeduldiger. Ein Mann in bauschiger grüner Seidenhose und einem hinter seiner Schärpe steckenden, mit einem Elfenbeinheft versehenen Dolch trat aus der Besatzung hervor. Weißhaariger als Harine trug auch er fünf breite kleine Ringe in jedem Ohr. Sie winkte ihn noch ungeduldiger zurück. »Wenn Ihr mir folgen wollt, Rand al'Thor«, sagte sie.

»Und natürlich«, fügte Rand wie als Nachgedanken hinzu, »brauche ich Merana und Rafela bei mir.« Er war sich nicht sicher, warum er Rafela erwählt hatte - vielleicht weil die rundliche tairenische Schwester die einzige außer Merana war, die nicht der Grünen Ajah angehörte -, aber zu seiner Überraschung lächelte Merana anerkennend. Und Bera nickte, wie auch Faeldrin und Alanna.

Harine gefiel dies offensichtlich nicht. Sie preßte unbewußt die Lippen zusammen. »Wie Ihr wollt«, sagte sie nicht mehr ganz so freundlich wie zuvor.

Als Rand die Heckkabine betrat, wo alles außer einigen messingbeschlagenen Kisten in die Wände eingebaut schien, kam ihm der Gedanke, daß die Frau erreicht hatte, was immer sie wollte, nur weil sie ihn hierher gebracht hatte. Er war gezwungen, vornübergebeugt zu stehen, selbst zwischen den Dachsparren oder wie auch immer sie auf einem Schiff genannt wurden. Er hatte mehrere Bücher über Schiffe gelesen, aber das wurde in keinem erwähnt. Der Stuhl, den man ihm am Kopfende eines schmalen Tisches anbot, ließ sich nicht hervorziehen, da er an den Planken befestigt war, und nachdem Min ihm gezeigt hatte, wie man die Stuhllehne löste und herausschwang, so daß man sich hinsetzen konnte, stieß er mit den Knien gegen die Unterseite des Tisches. Es gab nur acht Stühle. Harine saß am entgegengesetzten Ende, mit dem Rücken zu den mit roten Läden versehenen Fenstern der Kabine, ihre Windsucherin zu ihrer Linken, die Herrin der Segel zu ihrer Rechten und Taval daneben. Merana und Rafela nahmen die Plätze unterhalb Shalons ein, während sich Min zu Rands Linken setzte. Dashiva, für den kein Platz übriggeblieben war, stellte sich aufrecht neben die Tür, obwohl die Dachsparren fast seinen Kopf streiften. Eine junge Frau in einer hellblauen Bluse mit schmalen Ohrringen brachte große Becher mit schwarzem bitteren Tee.

»Wir sollten dies hinter uns bringen«, sagte Rand gereizt, sobald die Frau mit dem Tablett wieder verschwunden war. Er ließ seinen Becher nach einem Schluck auf dem Tisch stehen. Er konnte seine Beine nicht ausstrecken. Er haßte es, in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein. Erinnerungen daran, gekrümmt in der Kiste zu sitzen, blitzten in seinem Kopf auf, und er konnte sich nur mühsam beherrschen. »Der Stein von Tear ist gefallen, die Aiel sind über die Drachenmauer gedrungen, alle Vorhersagen Eurer Jendai-Prophezeiung sind erfüllt. Ich bin der Coramoor.«

Harine lächelte über ihren Becher hinweg, ein kühles, kaum belustigtes Lächeln. »Vielleicht ist es so, wenn es dem Licht gefällt, aber ich glaube nicht...«

»Es ist so«, fauchte Rand trotz eines warnenden Blicks von Merana. Sie ging sogar so weit, ihn mit dem Fuß anzustoßen. Er ignorierte auch das. Die Kabinen wände schienen jetzt irgendwie enger. »Was glaubt Ihr nicht, Herrin der Wogen? Daß mir die Aes Sedai dienen? Rafela, Merana.« Er vollführte eine barsche Geste.

Er wollte von ihnen nur, daß sie zu ihm kamen und es gesehen wurde, aber sie stellten ihre Becher ab, erhoben sich anmutig, traten zu beiden Seiten seines Stuhls - und knieten sich hin. Eine jede nahm eine seiner Hände in ihre und drückte ihre Lippen auf seinen Handrücken, genau auf den schimmernden, goldmähnigen Kopf des Drachen, der sich um seinen Unterarm wand. Es gelang Rand nur mühsam, seinen Schreck zu verbergen, während er den Blick nicht von Harine ab wandte. Ihr Gesicht wurde ein wenig fahl.

»Aes Sedai dienen mir, und das Meervolk wird mir ebenfalls dienen.« Er bedeutete den Schwestern, sich wieder auf ihre Plätze zu begeben. Sie wirkten seltsamerweise leicht überrascht. »Das besagt die Jendai-Prophezeiung. Das Meervolk wird dem Coramoor dienen. Ich bin der Coramoor.«

»Ja, aber es geht doch um einen Handel.« Das Wort Handel wurde eindeutig betont. »Die Jendai-Prophezeiung besagt, daß Ihr uns den Ruhm bringen werdet und alle Meere der Welt uns gehören werden. So wie wir Euch etwas geben, müßt Ihr auch uns etwas geben. Wenn ich den Handel nicht erfolgreich abschließe, wird Nesta mich an den Knöcheln nackt in die Takelage hängen und die Ersten Zwölf des Clans Shodein auffordern, eine neue Herrin der Wogen zu benennen.« Ein Ausdruck äußersten Entsetzens stahl sich über ihr Gesicht, als diese Worte ihrem Mund entströmten, und ihre schwarzen Augen weiteten sich mit jedem Wort vor Unglauben mehr. Ihre Windsucherin starrte sie an, und Derah und Taval bemühten sich sehr, es ihr nicht gleichzutun, die Blicke starr auf den Tisch geheftet.

Und plötzlich verstand Rand. Ta'veren. Er hatte die Wirkung gesehen, die jähen Momente, wenn das am wenigsten Wahrscheinliche geschah, weil er in der Nähe war, aber er hatte niemals erkannt, was vor sich ging, bevor es vorbei war. Er lockerte seine Beine, so gut es ging, und stützte die Arme auf den Tisch. »Die Atha'an Miere werden mir dienen, Harine. So steht es geschrieben.«

»Ja, wir werden Euch dienen, aber...« Harine erhob sich halbwegs von ihrem Stuhl und verschüttete ihren Tee. »Was tut Ihr mir an, Aes Sedai?« schrie sie zitternd. »Das ist kein fairer Handel!«

»Wir tun nichts«, erklärte Merana ruhig. Tatsächlich trank sie einen Schluck Tee, ohne zusammenzuzucken.

»Ihr befindet Euch in Gegenwart des Wiedergeborenen Drachen«, fügte Rafela hinzu. »Ich glaube, der Coramoor Eurer Prophezeiung fordert Euch auf, ihm zu dienen.« Sie legte einen Finger an eine rundliche Wange. »Ihr sagtet, Ihr sprächet für die Herrin der Schiffe. Bedeutet das, daß Euer Wort für die Atha'an Miere bindend ist?«

»Ja«, flüsterte Harine rauh und sank auf ihren Stuhl zurück. »Was ich sage, ist für alle Schiffe und für die Herrin der Schiffe selbst bindend.« Es war einer Meervolk-Frau unmöglich zu erblassen, und doch kam sie dem nahe, als sie Rand ansah.

Er lächelte Min zuversichtlich an. Zumindest ein Volk würde zu ihm kommen, ohne bei jedem Schritt zu kämpfen oder wie die Aiel zu zerfallen. Vielleicht dachte Min, er wollte ihre Hilfe, den Handel abzuschließen, aber vielleicht war es auch das Ta'veren. Sie beugte sich zur Herrin der Wogen. »Ihr werdet für das bestraft werden, was heute hier geschieht, Harine, aber nicht so hart, wie ihr vermutlich befürchtet. Zumindest werdet Ihr eines Tages die Herrin der Schiffe werden.«

Harine sah sie stirnrunzelnd an und schaute dann zu ihrer Windsucherin.

»Sie ist keine Aes Sedai«, sagte Shalon, und Harine schien zwischen Erleichterung und Enttäuschung zu schwanken. Bis Rafela das Wort ergriff.

»Vor mehreren Jahren hörte ich Berichte über eine Frau mit einer bemerkenswerten Fähigkeit, Dinge zu sehen. Seid Ihr diejenige, Min?«

Min blickte mit verzogenem Gesicht in ihren Becher und nickte dann widerwillig. Sie sagte stets, je mehr Menschen wüßten, was sie zu tun vermochte, desto weniger Gutes bewirke es. Sie schaute seufzend über den Tisch zu der Aes Sedai. Rafela nickte nur, aber Merana sah sie mit in einer Maske der Gelassenheit gierigen haselnußbraunen Augen an. Sie erwartete zweifellos, Min so bald wie möglich in Bedrängnis zu bringen und herauszufinden, was dieses Talent war und wie es funktionierte, und Min erwartete es zweifellos ebenfalls. Rand verspürte Verärgerung. Sie hätte wissen müssen, daß er sie davor beschützen würde, belästigt zu werden. Verärgerung und Begeisterung, daß er sie zumindest beschützen konnte.

»Ihr könnt Mins Worten vertrauen, Harine«, sagte Rafela. »Die Berichte, die ich hörte, besagten, daß ihre Visionen stets in Erfüllung gehen. Und auch wenn sie es vielleicht nicht erkennt, hat sie doch noch etwas anderes gesehen.« Ihr rundes Gesicht neigte sich zu einer Seite, und ein Lächern umspielte ihren Mund. »Wenn Ihr für die Geschehnisse hier bestraft werdet, muß das bedeuten, daß Ihr dem zustimmt, was immer Euer Coramoor will.«

»Es sei denn, ich stimme nicht zu«, schimpfte Harine. »Wenn ich keinen Handel eingehe...« Sie ballte ihre Hände auf dem Tisch zu Fäusten. Sie hatte bereits zuzugeben, daß sie den Handel abschließen mußte. Sie hatte eingeräumt, daß das Meervolk dienen würde.

»Ich verlange nichts Beschwerliches von Euch«, sagte Rand. Er hatte darüber nachgedacht, seit er zu kommen beschlossen hatte. »Wenn ich Männer oder Vorräte auf Schiffen transportieren will, wird das Meervolk die Schiffe zur Verfügung stellen. Außerdem möchte ich wissen, was in Tarabon und Arad Doman und den umliegenden Ländern vor sich geht. Eure Schiffe können - und werden - in Erfahrung bringen, was ich wissen will. Sie legen in Tanchico und Bandar Eban und hundert dazwischenliegenden Fischerdörfern und Städtchen an. Sie können weiter aufs Meer hinaussegeln als die Schiffe aller anderen. Das Meervolk wird im Westen auf dem Aryth-Meer Wache halten. Es gibt ein Volk, die Seanchaner, die jenseits des Aryth-Meers leben und eines Tages kommen werden, um uns zu erobern. Das Meervolk wird es mich wissen lassen, wenn es soweit ist.«

»Ihr verlangt viel«, murrte Harine verbittert. »Wir wissen von diesen Seanchanern, die anscheinend von den Inseln der Toten kommen, von denen kein Schiff zurückkehrt. Einige unserer Schiffe sind ihren Schiffen begegnet. Sie benutzen die Eine Macht als Waffe. Ihr verlangt mehr, als Ihr wißt, Coramoor.« Dieses Mal hielt sie bei seinem Titel nicht inne. »Etwas Böses ist auf das Aryth-Meer herabgesunken. Seit vielen Monaten ist keines unserer Schiffe von dort zurückgekehrt. Schiffe, die gen Westen segeln, verschwinden.«

Rand verspürte ein Frösteln. Er drehte sein aus einem Teil eines seanchanischen Speers gefertigtes Drachenszepter in Händen. Konnten die Seanchaner bereits zurückgekehrt sein? Sie waren einst, in Falme, vertrieben worden. Die Speerspitze sollte ihn daran erinnern, daß es mehr Feinde auf der Welt gab als diejenigen, die er sehen konnte, aber er war überzeugt gewesen, daß die Seanchaner Jahre brauchen würden, um sich von ihrer Niederlage zu erholen, nachdem sie vom Wiedergeborenen Drachen und den durch das Horn von Valere zurückgerufenen toten Helden ins Meer getrieben worden waren. Befand sich das Horn noch in der Weißen Burg? Er wußte, daß es dorthin gebracht worden war.

Plötzlich konnte er die Beschränkungen der Kabine nicht länger ertragen. Er machte sich mit der Verriegelung an der Armlehne seines Stuhls zu schaffen. Sie wollte nicht aufgehen. Er ergriff das glatte Holz und ließ es mit einem heftigen Ruck zersplittern. »Wir sind übereingekommen, daß mir das Meervolk dienen wird«, sagte er und stieß sich hoch. Die niedrige Decke bewirkte, daß er sich drohend über den Tisch beugte. Die Kabine fühlte sich jetzt noch kleiner an. »Wenn Euer Handel noch mehr umfaßt, werden Merana und Rafela mit Euch darüber sprechen.« Er wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, rasch zur Tür.

Dort fing Merana ihn ab, ergriff seinen Ärmel und sprach schnell und leise auf ihn ein. »Mein Lord Drache, es wäre besser, wenn Ihr bleiben würdet. Ihr habt gesehen, was Euer Ta'veren bereits bewirkt hat. Wenn Ihr hierbleibt, wird sie sicherlich offenbaren, was sie zu verbergen versucht, und zustimmen, bevor wir etwas zugestehen.«

»Ihr gehört der Grauen Ajah an«, belehrte er sie barsch. »Verhandelt! Dashiva, kommt mit mir.«

Auf Deck atmete Rand tief durch. Der wolkenlose Himmel erstreckte sich frei über ihm. Frei.

Es dauerte einen Moment, ehe er Bera und die beiden anderen Schwestern bemerkte, die ihn erwartungsvoll ansahen. Flinn und Narishma taten, was von ihnen erwartet wurde, indem sie mit halbem Auge das Schiff und ansonsten die Ufer beobachteten, die Stadt auf der einen Seite und die erst zur Hälfte wieder aufgebauten Kornspeicher auf der anderen. Auf einem Schiff mitten auf dem Fluß war man angreifbar, wenn einer der Verlorenen zuzuschlagen beschloß. Andererseits war man überall in Gefahr.

Min ergriff seinen Arm, und er zuckte zusammen.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte dich nicht zurücklassen sollen.«

»Ist schon gut«, sagte sie lachend. »Merana hat sich bereits an die Arbeit gemacht. Ich glaube, sie will dir Harines beste Bluse besorgen, und ihre zweitbeste vielleicht auch noch. Die Herrin der Wogen wirkt wie ein zwischen zwei Frettchen gefangenes Kaninchen.«

Rand nickte. Das Meervolk gehörte ihm, oder beinahe. Welche Bedeutung hatte es, ob sich das Horn von Valere in der Weißen Burg befand? Er war Ta'veren. Er war der Wiedergeborene Drache und der Coramoor. Die goldene Sonne brannte noch immer kurz vor dem Zenit. »Der Tag ist noch jung, Min.« Er konnte alles tun. »Würdest du gern sehen, wie ich die Aufständischen niederschlage? Tausend Kronen gegen einen Kuß, daß sie vor Sonnenuntergang mir gehören.«

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