21 Eine swovanische Nacht

Die Nacht senkte sich langsam über Ebou Dar, aber das Schimmern der weißen Gebäude widerstand der Dunkelheit. Kleine Gruppen von Nachtschwärmern der swovanischen Nacht mit Zweigen Immergrün im Haar tanzten unter einem Dreiviertelmond auf den Straßen, wobei nur wenige eine Laterne trugen, während sie zur Musik der Flöten und Trommeln und Hörner umhersprangen, die aus Gasthäusern und Palästen drang, aber überwiegend lagen die Straßen verlassen da. In der Ferne bellte ein Hund, und ein anderer in der Nähe antwortete wütend, bis er plötzlich aufjaulte und dann schwieg.

Mat schlich auf Zehenspitzen und lauschte, während sein Blick die Mondschatten absuchte. Nur eine die Straße entlang huschende Katze regte sich. Das Tappen laufender bloßer Füße verklang. Der Besitzer des einen Paars sollte stolpern und der des anderen bluten. Als Mat sich bückte, stieß sein Fuß gegen einen auf dem Pflaster liegenden Knüppel, der so lang war wie sein Arm. Schwere Messingbeschläge glänzten im Mondlicht. Damit hätte man ihm gewiß den Schädel spalten können. Er schüttelte den Kopf und wischte seinen Dolch an dem zerschlissenen Umhang des Mannes zu seinen Füßen ab. Geöffnete Augen starrten aus einem schmutzigen, faltigen Gesicht in den Nachthimmel. Ein Bettler, so wie er aussah und roch. Mat hatte noch nie davon gehört, daß ein Bettler jemanden angegriffen hätte, aber vielleicht waren die Zeiten härter, als er gedacht hatte. Ein großer Jutesack lag neben der ausgestreckten Hand. Der Bursche hatte wohl gehofft, er würde Reichtümer in Mats Taschen finden. Der Sack hätte ihn vom Kopf bis zu den Knien bedecken können.

Nördlich über der Stadt flammte plötzlich mit hohlem Donnern Licht am Himmel auf, während sich funkelnde Streifen Grün zu einer Kugel ausdehnten, und dann ließ ein weiterer Ausbruch rote Funken durch das Grün rieseln, gefolgt von blauen und gelben Funken. Die Nachtblumen der Feuerwerker, nicht so großartig, wie sie in einer mondlosen Nacht mit einem Wolkenhimmel gewesen wären, aber sie nahmen ihm dennoch den Atem. Er konnte stundenlang Feuerwerke betrachten. Nalesean hatte von einem Feuerwerker gesprochen - Licht, war das erst heute morgen gewesen? -, aber keine neuen Nachtblumen erstrahlten. Wenn Feuerwerker den Himmel erblühen ließen, wie sie es nannten, pflanzten sie mehr als nur vier Blumen. Also hatte eindeutig ein Reicher für die swovanische Nacht eingekauft. Mat wünschte, er wüßte, bei wem. Ein Feuerwerker, der Nachtblumen verkaufte, würde auch noch anderes verkaufen.

Er ließ den Dolch wieder in seinen Ärmel gleiten, las seinen Hut vom Pflaster auf und ging eilig davon, wobei seine Stiefel widerhallten, ein Geräusch, das so einsam klang, wie die Straßen verlassen waren. Durch die meisten geschlossenen Fensterläden drang kein Lichtschimmer. Wahrscheinlich konnte man in der Stadt keinen besseren Ort für einen Mord finden. Die gesamte Begegnung mit den drei Bettlern hatte nur eine oder zwei Minuten gedauert und war von niemandem bemerkt worden. In dieser Stadt konnte man drei oder vier Auseinandersetzungen am Tag erleben, wenn man nicht vorsichtig war, aber die Möglichkeit, zwei Räuberbanden an einem Tag zu begegnen, schien genauso groß wie die Möglichkeit, daß die Bürgerwehr eine Bestechung abwies. Was geschah mit seinem Glück? Wenn nur diese verdammten Würfel in seinem Kopf aufhören würden umherzurollen. Er lief nicht, aber er trödelte auch nicht, eine Hand an einem Heft unter seinem Umhang und ein Auge aufmerksam auf Bewegungen in den Schatten gerichtet. Er sah jedoch nichts außer einigen Nachtschwärmern, welche die Straße entlang torkelten.

Im Schankraum der Wanderin waren die Tische bis auf einige wenige an den Wänden fortgeräumt worden. Die Flötenspieler und Trommler musizierten für vier lachende Reihen Menschen, die ein Mittelding zwischen einer Quadrille und einer Gigue tanzten. Mat beobachtete sie und machte einen Schritt nach. Fremde Händler in edlem Tuch sprangen mit Einheimischen in bestickten Seiden westen oder jenen nutzlosen, über die Schultern geschlungenen Umhängen umher. Er merkte sich zwei der Händler aufgrund der Art vor, wie sie sich bewegten, von denen nur einer schlank war, die sich aber beide mit leichter Anmut bewegten, und mehrere einheimische Frauen, die ihre beste Kleidung trugen, deren tiefe Ausschnitte von ein wenig Spitze oder viel Stickerei gesäumt waren, die aber nicht aus Seide bestand. Natürlich hätte er nichts dagegen gehabt, mit einer in Seide gehüllten Frau zu tanzen - er hatte niemals einen Tanz mit einer Frau irgendeines Alters oder Status abgelehnt -, aber die Reichen hielten sich heute nacht in den Palästen oder den Heimen der wohlhabenderen Händler und Geldverleiher auf. Die Menschen, die dort an den Wänden aufgereiht standen und für den nächsten Tanz Atem schöpften, tranken aus Bechern oder schnappten sich frische Becher von Tabletts, die von Schankmädchen eilig durch die Menge getragen wurden. Herrin Anan würde heute abend wahrscheinlich genauso viel Wein verkaufen wie sonst in einer ganzen Woche. Und auch Bier. Die Einheimischen hatten offensichtlich keinen guten Geschmack.

Mat versuchte einen weiteren Tanzschritt und hielt dann Caira auf, als sie mit einem Tablett vorübereilen wollte. Er bemühte sich, die Musik mit seiner Stimme zu übertönen, um einiges zu fragen und sein Essen zu bestellen, Edelfisch, ein Gericht mit scharfem Beigeschmack, das Herrin Anans Köchin perfekt zubereitete. Ein Mann brauchte seine Kraft, um beim Tanzen mithalten zu können.

Caira warf einem Burschen in einer gelben Weste, der sich einen Becher von ihrem Tablett schnappte und die Münzen dafür darauf fallen ließ, ein vielsagendes Lächeln zu, hatte aber dieses Mal kein Lächeln für Mat übrig. Tatsächlich preßte sie den Mund zu einer schmalen Linie zusammen, was keine geringe Leistung war. »Ich bin also Euer kleines Häschen?« Sie fuhr mit vielsagendem Naserümpfen fort. »Der Junge ist im Bett, wo er hingehört, und ich weiß nicht, wo Lord Nalesean ist, oder Harnan, oder Meister Vanin oder sonst jemand. Und die Köchin sagte, sie würde nur Suppe und Brot für jene vorbereiten, die ihre Zungen in Wein ertränken. Aber warum mein Lord Edelfisch will, wenn eine edle Frau in seinem Zimmer wartet, verstehe ich wirklich nicht. Wenn Ihr mich entschuldigen wollt - manche Leute müssen für ihren Unterhalt arbeiten.« Sie fegte davon, bot ihr Tablett dar und lächelte jeden Mann in Sichtweite breit an.

Mat blickte ihr stirnrunzelnd nach. Eine edle Frau? In seinem Zimmer? Die Goldkiste war jetzt in einer kleinen Höhlung vor einem der Herde unter dem Küchenboden versteckt, aber die Würfel in seinem Kopf spielten dennoch plötzlich verrückt.

Die fröhlichen Klänge verebbten, während er langsam die Treppe hinaufstieg. Er hielt vor seiner Zimmertür inne und lauschte den Würfeln. Es hatte heute bisher zwei Versuche gegeben, ihn auszurauben. Zweimal wäre ihm beinahe der Schädel gespalten worden. Er war sich sicher, daß die Schattenfreundin ihn nicht gesehen hatte, und niemand konnte sie als edel bezeichnen, aber... Er tastete nach dem Heft unter seinem Umhang und nahm die Hand dann wieder fort, als ihm eine Frau in den Sinn kam, eine große Frau, zwischen deren Brüsten ein Dolchheft hervorsah. Sein Dolch. Er brauchte einfach Glück. Er öffnete seufzend die Tür.

Die Jägerin, die Elayne zu ihrer Behüterin gemacht hatte, wandte sich um und hob seinen ungespannten Zwei-Flüsse-Bogen an, den blonden Zopf über eine Schulter gelegt. Ihre blauen Augen hefteten sich bewußt auf ihn, und ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Sie schien bereit, ihn mit dem Bogen zu prügeln, wenn sie nicht bekam, was sie wollte.

»Wenn es um Olver geht«, begann er, als plötzlich eine Erinnerung aufkam, sich ein Nebel über einem Tag, einer Stunde seines Lebens lichtete.

Mit den Seanchanern im Westen und den Weißmänteln im Osten bestand kaum noch Hoffnung, so daß er sein gewundenes Horn anhob und hineinblies, ohne wirklich zu wissen, was ihn erwartete. Der Ton klang golden, wie das Horn es war, und so lieblich, daß er nicht wußte, ob er lachen oder weinen sollte. Der Ton hallte wieder, und die Erde und der Himmel schienen zu singen. Wahrend dieser eine reine Ton in der Luft schwebte, stieg ein Nebel auf, scheinbar aus dem Nichts, dünne Ranken, die sich verdichteten, höher wogten, bis sich alles verfinsterte, als hätten Wolken das Land bedeckt. Und auf diesen Wolken kamen sie wie einen Berghang her abgeritten, die toten Helden der Legende, die dazu verurteilt waren, durch das Horn von Valere zurückgerufen zu werden. Artur Falkenflügel selbst führte sie an, groß und mit einer Hakennase, und dahinter kamen die übrigen, kaum mehr als einhundert. So wenige, aber es waren all jene, die das Rad immer wieder hervorbringen würde, um das Muster zu leiten, um Legenden und Mythen zu schmieden. Mikel des Reinen Herzens und Shivan der Jäger hinter seiner schwarzen Maske. Von ihm hieß es, er verkünde das Ende der Zeitalter, die Zerstörung dessen, was gewesen war, und die Geburt dessen, was sein würde, er und seine Schwester Calian, die Wählerin genannt, die mit einer roten Maske an seiner Seite ritt. Amaresu, mit dem glühenden Sonnenschwert in Händen, und Paedrig, der goldzüngige Friedensstifter, und dort, mit dem Silberbogen in Händen, mit dem sie niemals ein Ziel verfehlte...

Er schob die Tür zu und war versucht, sich dagegen zu lehnen. Er fühlte sich benommen, schwindlig. »Ihr seid es. Birgitte, zweifellos. Verdammt, es ist unmöglich. Wie? Wie?«

Die Frau aus der Legende seufzte ergeben und stellte seinen Bogen wieder in die Ecke neben seinen Speer. »Ich wurde zur Unzeit herausgerissen, Hornbläser, von Moghedien zum Sterben vertrieben und durch Elaynes Bund gerettet.« Sie sprach langsam und betrachtete ihn, als wollte sie sich vergewissern, daß er verstand. »Ich fürchtete, du könntest dich erinnern, wer ich ursprünglich war.«

Noch immer benommen, warf Mat sich stirnrunzelnd in den Lehnstuhl neben seinem Tisch. Wer sie ursprünglich war, wahrhaftig. Sie stellte sich ihm mit in die Hüften gestemmten Fäusten herausfordernd gegenüber, keinen Deut anders als die Birgitte, die er aus dem Himmel hatte reiten sehen. Sogar ihre Kleidung war dieselbe, obwohl dieser kurze Umhang rot und die weite Hose gelb waren. »Elayne und Nynaeve wissen Bescheid und haben es vor mir geheimgehalten, richtig? Ich habe die Geheimnisse satt, Birgitte, und sie verwahren so viele Geheimnisse, wie ein Getreidespeicher Ratten beherbergt. Sie sind mit Herz und Seele Aes Sedai geworden. Sogar Nynaeve ist mir jetzt doppelt fremd.«

»Du hast deine eigenen Geheimnisse.« Sie kreuzte die Arme unter ihren Brüsten und setzte sich aufs Fußende seines Bettes. So wie sie ihn ansah, hätte man meinen können, er sei ein Rätsel. »Du hast ihnen beispielsweise nicht erzählt daß du das Horn von Valere geblasen hast. Und ich denke, daß dies noch das geringste Geheimnis ist, das du vor ihnen verbirgst.«

Mat blinzelte. Er hatte angenommen, sie hätten es ihr gesagt. Sie war immerhin Birgitte. »Welche Geheimnisse habe ich denn sonst? Diese Frauen kennen mich in- und auswendig.« Sie war Birgitte. Natürlich. Er beugte sich vor. »Laßt sie wieder zur Vernunft kommen. Ihr seid Birgitte Silberbogen. Ihr könnt sie Eure Befehle befolgen lassen. Diese Stadt weist an jeder Biegung Fallgruben auf, und ich fürchte, daß die Pfähle jeden Tag spitzer werden.

Drängt sie zur Flucht bevor es zu spät ist.«

Sie lachte; hielt eine Hand vor den Mund und lachte! »Ihr irrt Euch, Hornbläser. Ich befehle ihr nicht. Ich bin Elaynes Behüterin. Ich gehorche.« Sie lächelte wehmütig. »Birgitte Silberbogen. Vertraute des Lichts - ich bin nicht sicher, ob ich diese Frau noch bin. So vieles von dem, was ich war, ist seit meiner seltsamen Wiedergeburt vergangen wie Nebel unter der Sommersonne. Ich bin jetzt keine Heldin mehr, sondern nur eine Frau, die ihren Weg gehen muß. Und nun zu deinen Geheimnissen. Welche Sprache sprechen wir, Hornbläser?«

Er öffnete den Mund ... und hielt inne, als er wirklich hörte, was sie gerade gesagt hatte. Nosane iro gavane domorakoshi, Diymrid'ma'purvem! Sprechen wir welche Sprache, Bläser des Horns? Seine Nackenhaare stellten sich auf. »Das alte Blut«, sagte er vorsichtig - nicht in der Alten Sprache. »Eine Aes Sedai sagte mir einmal, das alte Blut fließe stark in... Verdammt, worüber lacht Ihr jetzt?«

»Über dich, Mat«, brachte sie mühsam hervor, während sie sich wieder zu beruhigen versuchte. Zumindest sprach sie nicht mehr in der alten Sprache. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Einige Menschen sprechen durch das Alte Blut einige Worte oder einen oder zwei Sätze der Alten Sprache. Üblicherweise ohne zu verstehen, was sie sagen. Aber du... Während eines Satzes bist du ein Eharoni-Hochprinz und während des nächsten ein Herrscher Manetherens mit perfektem Akzent. Nein, sorge dich nicht. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.« Sie zögerte. »Ist meines auch bei dir sicher?«

Er winkte ab, noch immer zu verwirrt, um sich beleidigt zu fühlen. »Wirke ich wie ein Schwätzer?« murrte er. Birgitte! Leibhaftig! »Verdammt, ich könnte etwas zu trinken gebrauchen.« Er wußte, noch bevor er die Worte ganz ausgesprochen hatte, daß es die falschen waren. Frauen wollten niemals...

»Das hört sich gut an«, sagte sie. »Ich könnte selbst einen Becher Wein vertragen. Blut und Asche; als ich merkte, daß du mich erkannt hattest, hätte ich fast meine Zunge verschluckt.«

Er setzte sich jäh aufrecht und starrte sie an.

Sie begegnete seinem Blick mit heiterem Augenzwinkern und einem Grinsen. »Im Schankraum herrscht genug Lärm, daß wir reden können, ohne belauscht zu werden. Außerdem hätte ich nichts dagegen, mich dort hinzusetzen und mich ein wenig umzuschauen. Elayne predigt wie ein tovanischer Ratsherr, wenn ich länger als einen Herzschlag mit einem Mann liebäugele.«

Er nickte ohne nachzudenken. Die Erinnerungen anderer Menschen vermittelten ihm, daß die Tovaner ein strenges und mißbilligendes und bis zur Schmerzgrenze enthaltsames Volk waren oder zumindest vor tausend und mehr Jahren gewesen waren. Er war sich nicht sicher, ob er lachen oder stöhnen sollte. Einerseits hatte er die Gelegenheit, mit Birgitte zu sprechen - Birgitte! Er bezweifelte, daß er diesen Schock jemals überwinden würde -, aber andererseits bezweifelte er auch, daß er den Lärm im Schankraum hören würde, weil die Würfel in seinem Kopf so laut klapperten. Sie mußte irgendwie ein Schlüssel dazu sein. Ein Mann mit einem Rest Verstand würde jetzt sofort aus dem Fenster klettern. »Ein oder zwei Becher Wein hört sich auch für mich gut an«, antwortete er.

Eine steife, salzige Brise von der Bucht trug wundersamerweise einen Hauch Kühle heran, aber Nynaeve empfand die Nacht dennoch als bedrückend. Musik und bruchstückhaftes Lachen schwebten von der Stadt und auch schwach vom Festsaal im Palast heran. Sie war von Tylin selbst zum Ball eingeladen worden, und Elayne und Aviendha ebenfalls, aber sie hatten alle, unterschiedlich höflich, abgelehnt. Aviendha hatte gesagt, es gäbe nur einen Tanz, den sie mit Feuchtländer-Männern zu tanzen bereit wäre, was Tylin verunsichert hatte. Nynaeve selbst wäre gern hingegangen - nur ein Narr verpaßte eine Gelegenheit zu tanzen -, aber sie wußte, daß sie dann genau das getan hätte, was sie auch jetzt tat, nämlich irgendwo sitzen, sich sorgen und versuchen, sich nicht die Fingerknöchel zu zerbeißen.

Also befanden sie sich alle hier, mit Thom und Juilin in ihren Räumen eingepfercht, unruhig wie eingesperrte Katzen, während sich alle anderen in Ebou Dar amüsierten. Nun, sie war zumindest unruhig. Was könnte Birgitte aufgehalten haben? Wie lange dauerte es, einem Mann aufzutragen, sich sofort am nächsten Morgen einzufinden? Licht, die ganze Mühe war vergebens gewesen, und die Zeit zum Schlafengehen war schon längst vorüber. Wenn sie Schlaf fände, könnte sie die Erinnerungen an die schrecklichen Bootsfahrten von heute morgen verbarmen. Und am schlimmsten war, daß ihr Wettersinn sagte, daß ein Sturm aufkam, daß der Wind heulen und der Regen so dicht herabprasseln würde, daß niemand mehr zehn Fuß weit sehen könnte. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie verstand, wenn sie dem Wind lauschte und manchmal anscheinend Lügen hörte. Zumindest glaubte sie zu verstehen. Eine andere Art Sturm kam auf, nicht Wind oder Regen, Sie hatte keinen Beweis, aber sie würde ihre Schuhsohlen verspeisen, wenn Mat Cauthon nicht irgendwie darin verwickelt war. Sie wollte einen Monat ein Jahr lang schlafen, um die Sorgen zu vergessen, bis Lan sie mit einem Kuß weckte wie der Sonnenkönig Talia. Was natürlich lächerlich war. Es war nur eine Geschichte, noch dazu eine sehr ungehörige, und sie würde ohnehin nicht der Liebling irgendeines Mannes werden, nicht einmal Lans. Sie würde ihn jedoch irgendwie finden und sich mit ihm verbinden. Sie würde... Licht! Wenn sie sich nicht von den anderen beobachtet gefühlt hätte, wäre sie zutiefst beunruhigt auf und ab gelaufen!

Die Zeit schritt voran. Sie las den kurzen Brief, den Mat bei Tylin hinterlegt hatte, und las ihn abermals. Aviendha saß ruhig neben ihrem Stuhl mit der hohen Lehne auf den hellgrünen Bodenfliesen, wie üblich im Schneidersitz, eine goldverzierte, ledergebundene Ausgabe von Die Reisen des Jain Fernschreiter auf den Knien. Sie zeigte keine Angst, aber die Frau hätte auch mit keiner Wimper gezuckt, wenn ihr jemand eine Viper in ihr Gewand gesteckt hätte. Als sie zum Palast zurückgekehrt war, hatte sie die silberne Halskette angelegt, die sie jetzt fast Tag und Nacht trug. Außer auf der Bootsfahrt. Sie hatte gesagt, sie wollte sie nicht verlieren. Nynaeve fragte sich träge, warum sie ihr Elfenbein-Armband nicht mehr trug. Sie hatte eine Unterhaltung belauscht, in der darüber gesprochen worden war, es nicht mehr zu tragen, bis Elayne ein ähnliches Armband besäße, was wenig Sinn ergab. Dies war jedoch genauso unwichtig wie das Armband selbst. Der Brief auf ihrem Schoß erregte erneut ihre Aufmerksamkeit. Die Stehlampen in dem Wohnraum gaben helles Licht, doch Mats jungenhafte Handschrift war nur schwer lesbar. Aber es war der Inhalt des Briefes, bei dem sich Nynaeves Magen verkrampfte.

Hier gibt es nur Hitze und Fliegen, und davon können wir auch viele in Caemlyn finden.

»Bist du sicher, daß du ihm nichts erzahlt hast?« fragte sie.

Juilin hielt in seiner Handbewegung über dem Spielbrett inne und sah sie mit verletzter Unschuld an. »Wie oft soll ich dir das noch sagen?« Verletzte Unschuld war eine der Empfindungen, die Männer am besten zeigen konnten, besonders wenn sie so schuldig waren wie Füchse im Hühnerstall. Bemerkenswerterweise zeigte die Schnitzerei um den Rand des Spielbretts Füchse.

Thom, der auf der anderen Seite des mit Steinintarsien versehenen Tisches des Diebefängers saß, sah in seiner edel geschnittenen Jacke aus bronzefarbenem Tuch weder wie ein Gaukler aus noch wie der Mann, der einst Königin Morgases Geliebter gewesen war. Knorrig und weißhaarig, mit langem Schnurrbart und dichten Augenbrauen, war er von seinen klaren blauen Augen bis zu den Stiefelsohlen die enttäuschte Geduld. »Ich sehe nicht, wie wir das hätten tun können, Nynaeve«, sagte er trocken, »wenn man bedenkt, daß du uns bis heute abend fast nichts erzählt hattest. Du hättest Juilin und mich schicken sollen.«

Nynaeve schnaubte. Als wären die beiden nicht wie geköpfte Hühner herumgelaufen, seit sie angekommen waren, und hätten sich nicht auf Mats Geheiß in ihre und Elaynes Angelegenheiten eingemischt. Die drei konnten auch keine zwei Minuten zusammen sein, ohne zu tratschen. Männer konnten das niemals. Sie... Die Wahrheit war, wie sie widerwillig zugab, daß es ihnen niemals in den Sinn gekommen war, die Menschen zu benutzen. »Ihr hättet mit ihm etwas trinken gehen können«, murrte sie. »Erzählt mir nicht, daß Ihr es nicht tun würdet« So mußte es sein - daß Mat Birgitte in dem Gasthaus schmoren ließ. Dieser Mann würde den ganzen Plan noch verderben.

»Und was ist, wenn sie es getan hätten?« Elayne, die neben einem der hohen Bogenfenster lehnte und durch das weiß gestrichene eiserne Balkongitter in die Nacht schaute, kicherte. Sie tippte mit dem Fuß, obwohl es ein Wunder war, daß sie unter all den durch die Dunkelheit heranschwebenden Melodienfetzen eine einzelne erkennen konnte. »Es ist eine Nacht zum ... Trinken.«

Nynaeve sah sie stirnrunzelnd an. Elayne war schon den ganzen Abend über zunehmend seltsam gewesen. Wenn sie es nicht besser wüßte, hätte sie vermutet, daß sie sich heimlich hinausgeschlichen und einige Male an Wein genippt hatte. Oder eher einige Schlukke genommen hatte. Das wäre jedoch selbst dann unmöglich gewesen, wenn Elayne sie nicht im Auge behalten hätte. Sie alle hatten recht verhängnisvolle Erfahrungen mit zuviel Wein gemacht, und keine von ihnen hatte jemals wieder mehr als einen Becher auf einmal getrunken.

»Mein Interesse gilt Jaichim Carridin«, sagte Aviendha, schloß das Buch und legte es neben sich. Es kümmerte sie nicht, wie seltsam es wirkte, daß sie in einem blauen Seidengewand auf dem Boden saß. »Unter uns werden Schattenläufer getötet, sobald man sie entdeckt, und weder Clan noch Septime, noch Gemeinschaft oder Erstschwcster gehen dagegen an. Wenn Jaichim Carridin ein Schattenläufer ist - warum tötet Tylin Mitsobar ihn dann nicht? Warum tun wir es nicht?«

»Hier sind die Dinge ein wenig verworrener«, belehrte Nynaeve sie, obwohl sie sich dasselbe gefragt hatte. Natürlich nicht, warum Carridin nicht getötet wurde, sondern warum er noch immer kommen und gehen konnte, wie er wollte. Sie hatte ihn genau an dem Tag, nachdem man ihr Mats Brief ausgehändigt und sie Tylin gesagt hatte, was er enthielt, im Palast gesehen. Er hatte über eine Stunde mit Tylin gesprochen und war genauso ehrenvoll gegangen, wie er gekommen war. Sie hatte dies mit Elayne besprechen wollen, aber die Frage, was Mat wußte und woher, war vorrangig. Dieser Mann würde ihnen Schwierigkeiten machen. Irgendwie. Ihre Aufgabe würde mißlingen, ungeachtet dessen, was alle sagten. Ein Unwetter zog heran.

Thom räusperte sich. »Tylin ist eine schwache Königin und Carridin der Gesandte einer Macht.« Er setzte einen Stein und hielt den Blick auf das Spielbrett gerichtet. Er klang, als denke er nur laut nach. »Ein Weißmantel-Inquisitor kann dem Wesen nach kein Schattenfreund sein. Zumindest wird es in der Hochburg des Lichts so dargestellt. Wenn sie ihn gefangennimmt oder ihn auch nur anklagt, wird sie eine Weißmantel-Legion in Ebou Dar vorfinden, bevor sie blinzeln kann. Vielleicht lassen sie ihr den Thron, aber sie wäre von diesem Moment an eine Marionette, die von der Kuppel der Wahrheit geführt würde. Willst du dich noch immer nicht geschlagen geben, Juilin?« Der Diebefänger sah ihn an und beugte sich dann wütend über das Brett.

»Ich habe sie nicht für feige gehalten«, sagte Aviendha angewidert, und Thom lächelte belustigt.

»Du hast noch niemals etwas gegenübergestanden, das du nicht bekämpfen konntest, Kind«, sagte er sanft, »etwas so Starkes, daß du nur die Wahl hast, zu fliehen oder lebendig verschlungen zu werden. Du solltest dein Urteil über Tylin aufschieben, bis du das erlebt hast.« Aviendha errötete aus einem unbestimmten Grund. Normalerweise verbarg sie ihre Empfindungen so gut, daß ihr Gesicht wie aus Stein gemeißelt wirkte.

»Ich weiß es«, sagte Elayne plötzlich. »Wir werden einen Beweis finden, den sogar Pedron Niall anerkennen muß.« Sie trat wieder in den Raum. Nein, sie schwebte. »Wir werden uns verkleiden und ihm folgen.«

Auf einmal stand nicht mehr Elayne in einem grünen Ebou-Dari-Gewand dort, sondern eine Domani mit einem dünnen, eng anliegenden blauen Gewand. Nynaeve sprang ungewollt auf und preßte die Lippen aus Verärgerung über sich selbst zusammen. Daß sie die Gewebe im Moment nicht sehen konnte, war kein Grund, sich durch das Trugbild erschrecken zu lassen. Sie warf Thom und Juilin einen raschen Blick zu. Sogar Thoms Mund stand offen. Sie umfaßte unbewußt fest ihren Zopf. Elayne würde alles verraten! Was war mit ihr los?

Ein Trugbild wirkte besser, je stärker man sich an das hielt, was - zumindest in Gestalt und Größe -vorher gewesen war, weshalb Teile des Ebou-Dari-Gewandes durch die Domani-Kleidung hindurch blitzten, als Elayne sich drehte, um sich in einem der beiden großen Spiegel des Raums zu begutachten. Sie lachte und klatschte in die Hände. »Oh, er wird mich niemals erkennen. Und dich auch nicht, Nächstschwester.« Plötzlich saß eine Tarabonin mit braunen Augen und blonden, mit roten Perlen der gleichen Schattierung wie ihr eng anliegendes Seidengewand geschmückten Zöpfen neben Nynaeves Stuhl. Sie sah Elayne fragend an. Nynaeve umschloß ihren Zopf fester. »Und wir dürfen dich nicht vergessen«, plapperte Elayne weiter. »Ich weiß genau das Richtige für dich.«

Dieses Mal sah Nynaeve das Schimmern um Elayne. Sie war zornig. Sie sah zwar die Stränge, die um sie gewoben wurden, konnte aber natürlich nicht erkennen, welche Gestalt Elayne ihr gab. Dazu mußte sie in einen der Spiegel sehen. Eine Meervolkfrau mit einem Dutzend mit Edelsteinen besetzten Ringen in den Ohren und doppelt so vielen von der zu ihrem Nasenring verlaufenden Kette herabhängenden Medaillons sah sie entsetzt an. Sie trug, abgesehen von dem Schmuck, lediglich eine weite Hose aus brokatdurchwirkter grüner Seide, wie es die Frauen der Athan'Miere außer Sichtweite des Landes zu halten pflegten. Es war nur ein Trugbild. Sie war unter dem Gewebe noch immer angemessen bekleidet. Aber... Neben ihrem Spiegelbild sah sie jene von Thom und Juilin, die sich beide bemühten, nicht zu grinsen.

Ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Kehle. »Schließt die Augen!« schrie sie die Männer an und begann umherzuspringen, die Arme zu schwenken und alles zu tun, damit ihr Gewand hindurch schiene.

»Schließt sie, verdammt!« Oh. Sie hatten die Augen geschlossen. Starr vor Empörung hörte sie auf herumzuspringen. Jetzt bemühten sie sich jedoch nicht mehr, nicht zu grinsen. Und Aviendha bog sich offen vor Lachen.

Nynaeve riß an ihren Röcken - im Spiegel schien die Meervolkfrau an ihrer Hose zu zupfen - und sah Elayne starr an. »Hör auf damit, Elayne!« Die Domani erwiderte ihren Blick mit ungläubig geöffnetem Mund und geweiteten Augen. Erst jetzt erkannte Nynaeve, wie zornig sie war. Die Wahre Quelle lockte gerade außerhalb ihrer Sichtweite. Sie umarmte Saidar und errichtete rasch einen Schild zwischen Elayne und der Quelle. Oder zumindest versuchte sie es. Jemanden abzuschirmen, der die Macht bereits festhielt, war nicht leicht, selbst wenn man der Stärkere war. Als Kind hatte sie einmal Meister Anvils Hammer so hart wie möglich auf den Amboß geschlagen, und die Erschütterung hatte sich bis in ihre Zehen fortgesetzt. Dies war ungefähr doppelt so stark. »Liebe des Lichts, Elayne, bist du betrunken?«

Das Schimmern um die Domanifrau schwand, wie auch die Domanifrau selbst. Nynaeve erkannte, daß auch das sie umgebende Gewebe verschwunden war, aber sie schaute noch immer in den Spiegel und atmete erleichtert auf, als sie dort Nynaeve al'Meara in mit gelben Schlitzen versehenem Blau sah.

»Nein«, sagte Elayne zögernd. Ihr Gesicht war gerötet, aber nicht aus Verlegenheit - nicht nur. Sie reckte ihr Kinn empor, und ihre Stimme wurde eisig.

»Ich bin es nicht.«

Die Tür zum Gang wurde aufgerissen, und Birgitte torkelte mit breitem Lächeln herein. Nun, vielleicht torkelte sie nicht ganz, aber sie lief entschieden unsicher. »Ich hatte nicht erwartet, daß ihr alle wegen mir aufbleibt«, sagte sie strahlend. »Nun, es wird euch interessieren zu hören, was ich zu berichten habe. Aber zuerst...« Sie verschwand mit zwei für jemanden, der einen erheblichen Alkoholspiegel aufwies, steten Schritten in ihrem Zimmer.

Thom betrachtete mit belustigtem und Juilin mit ungläubigem Grinsen die Tür. Tatsächlich wußten sie, wer sie war. Elayne schaute nur zu Boden. Aus Birgittes Schlafraum erklang ein Plätschern, als wäre ein Krug umgekippt worden. Nynaeve wechselte verwirrte Blicke mit Aviendha.

Birgitte kam mit tropfendem Gesicht und Haar und einem von den Schultern bis zu den Ellbogen triefenden Umhang zurück. »Jetzt kann ich wieder klarer denken«, verkündete sie und ließ sich seufzend in einem der Stühle nieder. »Dieser junge Mann hat ein hohles Bein und ein Loch in seiner Fußsohle. Er hat sogar Beslan unter den Tisch getrunken, und ich fing an zu glauben, daß Wein für diesen Burschen Wasser sei.«

»Beslan?« fragte Nynaeve mit erhobener Stimme. »Tylins Sohn? Was hatte er dort zu suchen?«

»Warum hast du das zugelassen, Birgitte?« rief Elayne aus. »Mat Cauthon wird den Jungen verderben, und seine Mutter wird uns die Schuld dafür geben.«

»Der Junge ist genauso alt wie du«, belehrte Thom sie gereizt.

Nynaeve und Elayne sahen sich fragend an. Was wollte er? Jedermann wußte, daß ein Mann von Natur aus erst zehn Jahre später zur Vernunft kam als eine Frau.

Elaynes Verwirrung wurde von Entschlossenheit und nicht geringer Verärgerung ersetzt, als sie sich erneut Birgitte zuwandte. Worte mußten ausgesprochen werden, die beide Frauen morgen vielleicht bedauern würden.

»Wenn ihr jetzt gehen wollt, Thom und Juilin«, sagte Nynaeve rasch. Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie die Notwendigkeit selbst erkannten. »Ihr braucht Schlaf, um morgen früh ausgeruht zu sein.« Sie saßen da und starrten sie an wie Toren, so daß sie mit Nachdruck sagte: »Nun?«

»Dieses Spiel war schon vor zwanzig Zügen entschieden«, stellte Thom fest, während er das Spielbrett betrachtete. »Was hältst du davon, wenn wir in unser Zimmer hinuntergehen und ein neues Spiel beginnen? Du kannst zehn Züge während des Spiels frei wählen.«

»Zehn Züge?« keuchte Juilin und schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück. »Bietest du mir auch Fischsuppe und Milchbrot an?«

Sie diskutierten weiter, während sie hinausgingen, aber an der Tür schauten beide noch einmal mürrisch und verstimmt zurück. Es war ihnen ohne weiteres zuzutrauen, die ganze Nacht wach zu bleiben, nur weil Nynaeve sie zu Bett geschickt hatte.

»Mat wird Beslan nicht verderben«, sagte Birgitte trocken, als sich die Tür hinter den Männern schloß. »Wahrscheinlich könnten nicht einmal neun Federtänzer mit einer Schiffsladung Branntwein ihn verderben. Sie würden nicht wissen, wo sie beginnen sollten.«

Nynaeve hörte dies mit Erleichterung, obwohl ihr der Tonfall der Frau seltsam vorkam - wahrscheinlich durch die Trunkenheit -, aber Beslan war nicht das Thema. Das sagte sie dann auch, und Elayne fügte hinzu: »Nein, er ist es nicht. Du hast getrunken, Birgitte! Und ich habe es gespürt. Ich fühle mich noch immer angeheitert, wenn ich mich nicht konzentriere. So soll der Bund nicht funktionieren. Aes Sedai krümmen sich nicht vor Lachen, wenn Behüter zuviel trinken.« Nynaeve hob hilflos die Hände.

»Sieh mich nicht so an«, sagte Birgitte. »Du weißt mehr als ich. Aes Sedai und Behüter waren schon immer auch Männer und Frauen. Vielleicht ist das der Unterschied. Vielleicht sind wir uns zu ähnlich.« Ihr Lächeln geriet ein wenig schief. Es war nicht annähernd genug Wasser in dem Krug gewesen. »Das könnte vermutlich peinlich sein.«

»Könnten wir uns vielleicht auf die wichtigen Dinge beschränken?« fragte Nynaeve angespannt. »Wie beispielsweise Mat?« Elayne öffnete den Mund, um etwas auf Birgittes Feststellung zu erwidern, aber sie schloß ihn schnell wieder, und die roten Flecken auf ihren Wangen zeigten dieses Mal eindeutig Kummer.

»Nun«, fuhr Nynaeve fort. »Wird Mat morgen früh hier sein, oder ist er in einem genauso empörenden Zustand wie du?«

»Vielleicht kommt er«, sagte Birgitte, während sie einen Becher Pfefferminztee von Aviendha entgegennahm, die sich wie immer auf den Boden setzte. Elayne sah sie einen Moment stirnrunzelnd an und setzte sich dann wahrhaftig, ebenfalls im Schneidersitz, neben sie!

»Was meinst du mit ›vielleicht‹?« Nynaeve lenkte die Macht, der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, schwebte zu ihr herüber, und wenn er geräuschvoll aufsetzte, dann hatte sie es so gewollt. Zuviel trinken und auf dem Boden sitzen. Was käme als nächstes? »Wenn er erwartet, daß wir auf Händen und Knien zu ihm kriechen...!«

Birgitte trank dankbar einen Schluck Tee und schien seltsamerweise nicht mehr so betrunken, als sie Nynaeve erneut ansah. »Ich habe es ihm ausgeredet. Ich glaube nicht, daß er es wirklich ernst gemeint hat. Er verlangt jetzt nur eine Entschuldigung und einen Dank.«

Nynaeve fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sie hatte es ihm ausgeredet? Eine Entschuldigung? Matrim Cauthon gegenüber? »Niemals«, grollte sie.

»Wofür?« wollte Elayne wissen, als wäre es von Bedeutung. Sie gab vor, Nynaeves funkelnden Blick nicht zu bemerken.

»Für den Stein von Tear«, erklärte Birgitte, und Nynaeve wandte ruckartig den Kopf. Birgitte klang überhaupt nicht mehr betrunken. »Er sagt, er und Juilin seien in den Stein gegangen, um euch beide aus einem Kerker zu befreien, aus dem ihr nicht selbst entkommen konntet.« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das für jemand anderen als Gaidion getan hätte. Nicht der Stein. Er sagt, ihr hättet ihm kaum gedankt, sondern ihm das Gefühl gegeben, als sollte er dankbar sein, daß ihr ihn nicht beschimpft habt.«

Das entsprach in gewisser Weise der Wahrheit, war aber völlig entstellt. Mat hatte damals mit spöttischem Grinsen gesagt, er sei dort, um für sie die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Selbst da hatte er geglaubt, er könne ihnen Befehle erteilen. »Nur eine der Schwarzen Schwestern hielt im Kerker Wache«, murrte Nynaeve, »und wir hatten uns bereits um sie gekümmert.« Es stimmte allerdings, daß sie noch nicht herausgefunden hatten, wie sie die abgeschirmte Tür öffnen konnten. »Be'lal war ohnehin nicht wirklich an uns interessiert - er wollte durch uns nur Rand anlocken. Moiraine hatte ihn unseres Wissens nach zu dem Zeitpunkt vielleicht schon getötet.«

»Die Schwarze Ajah.« Birgittes Stimme klang äußerst tonlos. »Und eine der Verlorenen. Mat hat sie niemals erwähnt. Ihr schuldet ihm auf Knien Dank, Elayne. Ihr beide. Der Mann verdient Eure Anerkennung. Und Juilin ebenfalls.«

Nynaeve errötete. Er hatte niemals erwähnt...? Dieser überaus verachtungswürdige Mann! »Ich werde mich nicht bei Matrim Cauthon entschuldigen, nicht einmal auf dem Totenbett.«

Aviendha beugte sich zu Elayne und berührte ihr Knie. »Nächstschwester, ich drücke es vorsichtig aus. Wenn das alles stimmt, dann habt ihr beide Mat Cauthon gegenüber Toh. Und ihr habt es seitdem allein schon durch euer Handeln, das ich mit angesehen habe, noch schlimmer gemacht.«

»Toh!» rief Nynaeve aus. Die beiden sprachen stets über diesen Toh-Unsinn. »Wir sind keine Aiel, Aviendha. Und Mat Cauthon ist ein Dorn im Fuß jedes Menschen, dem er begegnet.«

Aber Elayne nickte. »Ich verstehe. Du hast recht, Aviendha. Aber was müssen wir tun? Du wirst mir helfen müssen, Nächstschwestcr. Ich will keine Aiel werden, aber ich ... ich will stolz auf mich sein können.«

»Wir werden uns nicht entschuldigen!« fauchte Nynaeve.

»Es macht mich stolz, dich zu kennen«, sagte Aviendha und berührte leicht Elaynes Wange. »Eine Entschuldigung ist ein Anfang, wenn es auch nicht genügt, dem Toh zu begegnen.«

»Hört ihr mir zu?« fragte Nynaeve. »Ich sagte, ich werde mich nicht entschuldigen!«

Sie sprachen einfach weiter. Nur Birgitte sah sie an und wirkte, als würde sie jeden Moment zu lachen beginnen. Nynaeve riß mit beiden Händen an ihrem Zopf. Sie hatte gewußt, daß sie Thom und Juilin hätten schicken sollen.

Загрузка...