»Mr. Rosen, Sie müssen wieder auf Ihren Hocker steigen«, sagte die Lincoln leise in mein Ohr.
Ich nickte und setzte mich unbeholfen wieder. Pris… sah hinreißend aus. Sie trug ihre Haare jetzt viel kürzer und nach hinten gebürstet, und ein eigenartiger Lidschatten ließ ihre Augen riesengroß und schwarz erscheinen. Barrows dagegen war mit seinem rasierten Kopf und seiner jovialen Art ganz wie immer; geschäftsmäßig grinsend nahm er die Speisekarte entgegen.
»Sie ist wunderschön«, sagte das Simulacrum.
»Ja.« Um uns herum an der Bar hatten fast alle Männer – und auch einige Frauen – innegehalten und sie kurz inspiziert; ich konnte es ihnen nicht verdenken.
»Wir müssen etwas tun, Mr. Rosen. Ich werde zu ihrem Tisch hinübergehen und ihnen sagen, dass Sie für den späten Abend eine Verabredung mit Mrs. Devorac haben. Mehr kann ich nicht tun, der Rest lastet auf Ihren Schultern.« Noch bevor ich sie aufhalten konnte, bewegte sich die Lincoln schon von der Bar weg.
Sie kam bei Barrows’ Tisch an, beugte sich vor, legte ihm eine Hand auf die Schulter, sprach ihn an. Prompt wandte sich Barrows zu mir um. Pris sah ebenfalls herüber; ihre dunklen, kalten Augen glitzerten.
Schließlich kehrte die Lincoln an die Bar zurück. »Gehen Sie zu ihnen, Mr. Rosen.«
Blitzartig stand ich auf und schlängelte mich zwischen den Tischen hindurch zu Barrows und Pris. Sie starrten mich an. Sie glaubten wohl, dass ich meine .38er dabeihatte, aber das stimmte nicht – sie lag im Motel. »Sie sind erledigt, Barrows«, sagte ich. »Ich habe sämtliche Informationen für Silvia beisammen.« Ich sah auf meine Armbanduhr. »Zu schade für Sie, aber jetzt ist es zu spät. Sie haben Ihre Chance gehabt und alles vermasselt.«
»Setzen Sie sich, Rosen.«
Ich nahm an ihrem Tisch Platz. Die Bedienung brachte Martinis.
Barrows grinste mich an. »Wir haben unser erstes Simulacrum gebaut.«
»Ah ja? Wen denn?«
»George Washington.«
»Ein Jammer, mitansehen zu müssen, wie Ihr Imperium zu Staub zerfällt.«
»Ich verstehe zwar nicht, was Sie damit meinen, aber ich freue mich, dass wir uns hier über den Weg laufen. Eine gute Gelegenheit, einige Missverständnisse aus der Welt zu schaffen.« Er wandte sich Pris zu. »Tut mir leid, Geschäftliches besprechen zu müssen, Liebling, aber es ist ein glücklicher Zufall, Louis hier anzutreffen. Du hast doch nichts dagegen?«
»Doch, habe ich. Wenn er nicht geht, ist es aus mit uns.«
»Aber Liebes, wenn es dich so aufregt, kann ich dir ja ein Taxi rufen.«
Sie sah ihn mit eisiger Miene an. »Ich lasse mich nicht wegschicken. Wenn du versuchst, mich loszuwerden, wirst du dich so schnell auf einer Müllhalde wiederfinden, dass dir der Kopf schwirrt.«
Wir sahen sie beide an. Unter der schönen Fassade war es immer noch die alte Pris.
»Ich denke, ich werde dich nach Hause schicken.«
»Nein.«
Barrows winkte der Bedienung. »Rufen Sie bitte ein Taxi für die…«
»Du hast mich vor Zeugen gevögelt«, rief Pris.
Barrows erbleichte und schickte die Bedienung wieder weg. »Jetzt hör aber auf.« Seine Hände zitterten. »Kannst du dich nicht einen Abend mal benehmen?«
»Ich sage, was ich will und wann ich will.«
»Na schön, was für Zeugen?« Barrows brachte ein Lächeln zustande. »Dave Blunk? Colleen Nild? Nur weiter, Liebling.«
»Du bist ein obszöner alter Mann, der den Frauen unter die Röcke sieht. Du gehörst hinter Gitter.« Ihre Stimme war nicht laut, aber so deutlich, dass an den Tischen in der Nähe mehrere Leute herübersahen. »Du hast ihn mir einmal zu oft reingesteckt. Und eins kann ich dir sagen: es ist ein Wunder, dass du ihn überhaupt hochgekriegt hast. Dieses kleine, wabbelige Ding.«
Barrows’ Lächeln wurde zu einem schiefen Grinsen. »Sonst noch was?«
»Ja. Du hast die Leute alle gekauft, damit sie nicht gegen dich aussagen.«
»Bist du jetzt fertig?«
Sie sah ihn schweigend an.
Barrows wandte sich nun mir zu. »So, jetzt können wir.« Es war erstaunlich – er wirkte nach wie vor gelassen.
Ich räusperte mich. »Soll ich mich an Mrs. Devorac wenden oder nicht?«
Barrows warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Dave Blunk kommen lassen?«
»Nein.« Ich war überzeugt, dass Blunk ihm dazu raten würde, einzulenken.
Barrows entschuldigte sich und ging telefonieren. Während er weg war, saßen Pris und ich einander gegenüber, ohne dass jemand etwas sagte. Schließlich kam er wieder zurück. Pris funkelte ihn argwöhnisch an. »Was für eine Schweinerei hast du jetzt vor, Sam?«
Barrows erwiderte nichts, sondern lehnte sich nur bequem zurück.
»Louis, er hat irgendwas in die Wege geleitet.« Pris blickte sich hektisch um. »Merkst du es nicht?«
»Mach dir keine Sorgen, Pris«, sagte ich. Aber besonders wohl fühlte ich mich auch nicht. Ich sah, dass die Lincoln unruhig an der Bar saß und ein finsteres Gesicht machte. Hatte ich etwa einen Fehler gemacht? Nun, jetzt war es zu spät – ich hatte zugestimmt.
»Könnten Sie bitte kommen?«, rief ich. Die Lincoln stand sofort auf und kam zu uns. »Mr. Barrows wartet noch auf seinen Anwalt.«
Die Maschine setzte sich und dachte nach. »Ich glaube, das schadet nicht.«
Wir warteten. Nach etwa einer halben Stunde erschien Dave Blunk und schlängelte sich zu uns durch. Hinter ihm kamen Colleen Nild in Abendgarderobe und ein junger Mann mit Bürstenschnitt und Fliege, der einen ziemlich aufgeweckten Eindruck machte.
Wer ist das?, fragte ich mich. Meine Beklommenheit nahm zu.
»Tut mir leid, dass wir so spät sind«, dröhnte Blunk, während er Mrs. Nild mit dem Stuhl behilflich war. Er und der junge Mann mit der Fliege setzten sich. Niemand stellte irgendjemanden vor.
Das muss irgendein Angestellter von Barrows sein, dachte ich. Etwa der Hiwi, der die Formalie einer rechtskräftigen Ehe mit Pris übernehmen würde?
Als Barrows bemerkte, dass ich den Mann anstarrte, sagte er: »Das hier ist Johnny Booth. Johnny – Louis Rosen.«
Der junge Mann nickte flüchtig. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Rosen.« Dann nickte er den anderen zu. »Hallo.«
»Moment mal.« Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. »John Booth? John Wilkes Booth?«
Barrows grinste. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.«
»Aber er sieht gar nicht wie John Wilkes Booth aus.« Ich hatte ja gerade erst in den Nachschlagewerken geblättert: John Wilkes Booth war Theaterschauspieler gewesen, und seine Ausstrahlung soll spektakulär gewesen sein. Das hier dagegen war bloß einer dieser Laufburschen, wie man sie in allen Großstädten der Vereinigten Staaten über die Büroflure flitzen sieht. »Das ist also Ihr erster Versuch? Dann gebe ich Ihnen einen Tipp – fangen Sie besser noch mal ganz von vorn an.« Doch während ich das sagte, starrte ich das Ding entsetzt an, denn so beknackt es auch aussah, im technischen Sinne war es ein Erfolg.
Das Simulacrum von Lincolns Attentäter! Ich konnte nicht vermeiden, einen Seitenblick auf die Lincoln zu werfen, um ihre Reaktion zu sehen. Konnte sie etwas mit dem Namen anfangen?
Sie rührte sich nicht. Aber die Falten in ihrem Gesicht, die Schatten der Schwermut, waren tiefer geworden. Sie schien zu wissen, was ihr bevorstand, was dieses neue Simulacrum bedeutete.
Ich konnte nicht fassen, dass Pris dieses Ding designt hatte. Doch dann wurde mir klar, dass sie es gar nicht designt hatte – darum hatte es ja so ein Allerweltsgesicht. Das war allein Bundys Werk. Er hatte für Barrows die Elektronik entwickelt, und der hatte sie dann in diesen Jedermann-Behälter stopfen lassen, der hier am Tisch saß und lächelte und nickte. Sie hatten nicht einmal versucht, das authentische Aussehen von Booth nachzubilden, das hatte sie gar nicht interessiert. Das Ganze diente nur einem einzigen Zweck.
»So, wir können unser Gespräch jetzt fortsetzen«, sagte Barrows.
Blunk nickte, die Booth-Maschine ebenfalls. Mrs. Nild studierte die Karte, während Pris das Simulacrum wie versteinert anstarrte. Also hatte ich recht – es war eine Überraschung für sie. Während sie zu rauschenden Partys eingeladen, schick eingekleidet und verschönert worden war, hatte Bob Bundy in irgendeiner Werkstatt von Barrows Enterprises gestanden und an diesem Ding hier herumgelötet.
»Na schön«, erwiderte ich. »Machen wir weiter.«
Barrows sah sein Simulacrum an. »Johnny, der Große mit dem Bart dort ist übrigens Abe Lincoln. Ich habe dir von ihm erzählt, weißt du noch?«
»Aber ja, Mr. Barrows.« Das Booth-Ding nickte aufgeregt. »Ich weiß es noch genau.«
Ich hob empört die Hände. »Barrows, das ist eine Fälschung, die Sie uns hier servieren. Irgendeine Mordsmaschine namens ›Booth‹, die weder richtig aussieht noch richtig redet. Das Ding ist einfach nur billig hingepfuscht. Ich schäme mich für Sie.«
Barrows zuckte mit den Schultern.
Ich wandte mich dem Booth-Ding zu. »Zitieren Sie irgendwas von Shakespeare.«
Es grinste dümmlich.
»Dann irgendwas auf Latein.«
Es hörte gar nicht mehr auf zu grinsen.
»Wie lange hat es gedauert, ihn zusammenzuschrauben?«, fragte ich Barrows. »Einen halben Vormittag? Wo ist die Liebe zum Detail geblieben? Was ist aus der Handwerkskunst geworden? Der reine Pfusch – bis auf den eingebauten Killerinstinkt, stimmt’s?«
»Ich glaube, Mr. Rosen, Sie möchten Ihre Drohung, sich an Mrs. Devorac zu wenden, angesichts von Johnny Booth hier wieder zurückziehen.«
»Wie wird es vorgehen? Mit einem Giftring? Mit bakteriologischen Waffen?«
Blunk und Colleen Nild grinsten, und das Booth-Ding tat es ihnen gleich. Ganz wie ihr Boss es von ihnen verlangte. Sie waren alle Barrows’ Marionetten.
Pris starrte das Booth-Simulacrum unentwegt an. Sie reckte den Hals wie ein Huhn, ihre Augen waren voller Lichtsplitter. Plötzlich hob sie die Hand und zeigte auf die Lincoln. »Die habe ich gebaut.«
Barrows wandte sich Pris zu.
»Sie gehört mir. Wussten Sie das, Mr. President? Dass mein Vater und ich Sie gebaut haben?«
»Pris«, sagte ich, »um Himmels willen…«
»Sei still!«
»Nein, Pris, das hier geht nur Barrows und mich etwas an.« Meine Stimme zitterte. »Du meinst es bestimmt gut, und mir ist jetzt auch klar, dass du nichts mit dem Bau dieses Booth-Dings zu tun hast. Aber du…«
»Herrgott, nun halt schon den Mund.« Pris funkelte Barrows an. »Du hast Bob Bundy dieses Ding bauen lassen, um die Lincoln zu zerstören, und du hast dafür gesorgt, dass ich nichts mitbekomme. Du miese Ratte! Das werde ich dir nie verzeihen.«
Barrows runzelte die Stirn. »Was regst du dich denn so auf, Pris? Du willst mir doch nicht sagen, dass du eine Affäre mit dem Lincoln-Simulacrum hast.«
»Ich werde mir meine Arbeit nicht kaputt machen lassen.«
»Vielleicht doch.«
Die Lincoln wandte sich Pris zu. »Ich glaube, dass Mr. Rosen recht hat. Sie sollten ihm und Mr. Barrows gestatten, eine Lösung für ihre Streitigkeiten zu finden.«
»Ich habe schon eine.« Pris beugte sich nach unten, verschwand beinahe unter dem Tisch. Was hatte sie vor? Wir saßen wie erstarrt da. Schließlich kam sie wieder hoch, einen ihrer hochhackigen Schuhe in der Hand, den metallbeschlagenen Absatz nach vorn gerichtet. »Zum Teufel mit dir«, sagte sie zu Barrows.
Barrows hob die Hände. »Nicht.«
Der Schuh krachte gegen den Kopf des Booth-Simulacrums, gleich hinter dem Ohr. Pris’ Augen glänzten feucht, ihr Mund war ein schmaler, verzerrter Strich.
»Glob«, machte das Booth-Simulacrum. Seine Hände fuhren ruckartig in der Luft herum; seine Füße trampelten auf dem Boden. Dann zog es sich krampfhaft zusammen und erstarrte.
»Schlag es nicht noch mal, Pris.« Ich hatte das Gefühl, kein weiteres Mal ertragen zu können.
»Warum sollte ich?« Pris bückte sich und zog den Schuh wieder an. Die Leute an den Tischen um uns herum starrten verdutzt herüber.
Barrows wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. Er setzte zum Sprechen an, überlegte es sich dann anders, blieb still.
Langsam begann das Booth-Simulacrum von seinem Stuhl zu rutschen. Ich stand auf und versuchte es zu stützen. Blunk erhob sich ebenfalls, und gemeinsam konnten wir es so platzieren, dass es nicht mehr umfiel. Dann wandte sich Blunk den Leuten um uns herum zu. »Keine Panik, das ist nur eine Puppe, eine mechanische Puppe zu Demonstrationszwecken.« Er deutete auf das nun sichtbare Metall und Plastik im Inneren des Schädels. In dem Loch, das Pris geschlagen hatte, konnte ich etwas schimmern sehen, die beschädigte Zentralmonade vermutlich. Ich fragte mich, ob Bob Bundy sie wieder reparieren konnte. Aber interessierte mich das überhaupt?
Barrows drückte seine Zigarette aus, trank sein Glas leer und sagte mit heiserer Stimme zu Pris: »Damit hast du dir einen Feind gemacht, kleine Lady.«
»Leb wohl, Sam K. Barrows, du dreckige Schwuchtel.« Pris stand auf und warf dabei absichtlich ihren Stuhl um. Dann ging sie zwischen den Tischen hindurch zum Eingang, wo sie sich von der Garderobiere ihren Mantel geben ließ und verschwand.
Wir sahen ihr schweigend nach.
Nach einer Weile deutete Barrows seufzend auf das Booth-Ding. »Was mache ich jetzt damit? Wir müssen es hier irgendwie rausschaffen.« Er sah mich mit müdem Blick an. »Wir werden sie nie wiedersehen. Aber wer weiß, vielleicht steht sie auch draußen auf dem Gehsteig und wartet. Können Sie es sagen? Ich nicht – ich blicke bei ihr nicht durch.«
Ich sprang auf, lief zum Eingang und stürzte auf die Straße. Der uniformierte Türsteher nickte mir höflich zu.
Von Pris war nichts zu sehen.
»Wo ist die junge Frau hin, die gerade rausgekommen ist?«
Der Türsteher hob die Schultern. »Keine Ahnung, Sir.« Er deutete auf die zahllosen Leute, die wie Bienen um den Eingang des Lokals herumschwärmten. »Tut mir leid.«
Ich blickte den Bürgersteig hinauf und hinunter, rannte sogar ein Stück in jede Richtung, um sie noch irgendwo ausfindig zu machen. Aber nichts.
Schließlich ging ich wieder in das Lokal zurück. »Sie haben alles verloren«, sagte ich zu Barrows.
»Ich habe überhaupt nichts verloren.«
Blunk sah mich an. »Sam hat recht. Was hat er denn schon verloren? Bob Bundy kann jederzeit ein neues Simulacrum bauen.«
»Sie haben Pris verloren. Also alles.«
Barrows grinste. »Ach, wer kennt sich schon mit Pris aus? Wahrscheinlich nicht einmal sie selbst.«
»Mag sein.« Meine Zunge fühlte sich geschwollen an. Ich wackelte mit dem Kiefer, spürte keinen Schmerz, spürte überhaupt nichts. »Jedenfalls habe ich sie nicht mehr gefunden.«
»Offensichtlich. Aber denken Sie mal darüber nach – könnten Sie jeden Tag so eine Szene ertragen?«
»Nein.«
In diesem Moment betrat Earl Grant wieder die Bühne. Das Piano spielte, und er begann zu singen:
I’ve got grasshoppers in my pillow, baby.
I’ve got crickets all in my meal.
Sang er zu mir? Hatte er meinen Gesichtsausdruck gesehen, wusste er, wie mir zumute war? Es war ein altes, trauriges Lied.
Pris ist keine von uns, ging es mir durch den Kopf. Pristine – das war wirklich der passende Name: die Unberührte, Makellose. Was Menschen bewegt, was sich zwischen Menschen abspielt, kann sie nicht berühren. Wenn man sie ansieht, sieht man uns, wie wir begonnen haben, vor ein oder zwei Millionen Jahren… Der Song, den Earl Grant sang, war eine der Möglichkeiten, uns zu zähmen, zu mäßigen, langsam zu formen. Ja, der Schöpfer war noch immer bei der Arbeit, er formte noch immer. Doch nicht Pris – bei ihr gab es kein Formen, kein Gestalten mehr.
Als ich Pris angesehen habe, habe ich das Andere gesehen, dachte ich. Was bleibt mir jetzt noch? Nur das Warten auf den Tod. So wie bei dem Booth-Simulacrum. Am Ende hat es doch noch die gerechte Strafe für seine Tat von vor über einem Jahrhundert erhalten. Lincoln hatte vor seinem Tod im Traum einen schwarz verhüllten Sarg und eine Trauerprozession gesehen. Was hatte das Simulacrum wohl letzte Nacht geträumt?
Dieser Traum würde uns alle heimsuchen. Der schwarze Krepp, drapiert auf dem durch Kornfelder fahrenden Zug. Menschen, die ihn kommen sehen und die Hüte abnehmen. Der Sarg, bewacht von Soldaten in Blau, die Gewehre tragen und sich die ganze Zeit über nicht vom Fleck rühren, vom Beginn bis Ende der langen Fahrt…
»Mr. Rosen?«
Erschrocken blickte ich auf. Colleen Nild stand neben mir.
»Könnten Sie uns behilflich sein? Mr. Barrows geht gerade das Auto holen. Wir wollen das Booth-Simulacrum hier wegschaffen.«
»Oh.« Ich nickte. »Sicher.«
Ich sah zu der Lincoln, die mit gesenktem Kopf dasaß. Hörte sie Earl Grant zu? War sie von seinem Lied überwältigt? Sie rührte sich nicht, atmete offenbar nicht einmal. Es ist eine Art von Gebet, dachte ich. Und gleichzeitig ganz und gar kein Gebet. Das Stocken eines Gebets vielleicht, sein Ende…
Blunk und ich ergriffen das Booth-Ding und stellten es auf die Füße. Es war ziemlich schwer.
»Er fährt einen Mercedes«, keuchte Blunk, während wir Richtung Tür gingen. »Weiß mit roten Ledersitzen.«
Als wir schließlich auf der Straße standen, sah uns der Türsteher neugierig an, aber weder er noch irgendjemand anders machte Anstalten, sich einzumischen oder zu helfen oder herauszufinden, was los war.
»Da kommt er«, sagte Blunk.
Barrows hielt den Wagen an, und Blunk und ich schafften es, irgendwie das Simulacrum auf die Rückbank zu verfrachten.
»Sie kommen besser mit«, sagte Colleen Nild zu mir, als ich vom Wagen zurücktrat.
»Ja, gute Idee«, dröhnte Blunk. »Wir bringen die Booth in die Werkstatt und fahren dann rüber zu Colleens Wohnung und trinken was zusammen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Na los«, meldete sich Barrows hinter dem Steuer. »Rein mit euch. Damit sind auch Sie und Ihr Simulacrum gemeint, Rosen. Gehen Sie es holen.«
»Nein. Nein danke. Fahrt mal.«
»Na schön. Wie Sie wollen.«
Blunk und Colleen Nild stiegen ein, und das Auto verschwand im dichten Abendverkehr.
Mit den Händen in den Taschen ging ich in das Lokal zurück, und bahnte mir einen Weg zu unserem Tisch, an dem immer noch die Lincoln saß, den Kopf gesenkt, die Arme um sich geschlungen, völlig reglos.
Was konnte ich ihr sagen? Wie konnte ich sie aufmuntern?
»Wissen Sie, Sie sollten sich von so etwas wirklich nicht runterziehen lassen.«
Die Lincoln erwiderte nichts.
»Der Quatsch wird immer quetscher, bis er quietscht.«
Sie hob den Kopf, starrte mich an. »Und was soll das heißen?«
»Keine Ahnung, absolut keine Ahnung… Hören Sie, ich bringe Sie zurück nach Boise und besorge Ihnen einen Termin bei Doktor Horstowski. Vielleicht kann er ja etwas gegen diese Depressionen tun.«
Die Lincoln zog ein großes rotes Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase. »Danke für Ihre Besorgnis.«
»Einen Drink? Oder eine Tasse Kaffee oder einen Happen zu essen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wann sind diese Depressionen zum ersten Mal aufgetreten? Wollen Sie vielleicht darüber reden? Erzählen Sie mir einfach, was Ihnen einfällt. Bitte. Danach geht es Ihnen bestimmt besser.«
Die Lincoln räusperte sich. »Kehren Mr. Barrows und sein Hofstaat noch einmal zurück?«
»Das glaube ich nicht. Sie fahren rüber zu Mrs. Nilds Wohnung.«
Die Lincoln hob eine Augenbraue. »Warum fahren sie dorthin und nicht zu Mr. Barrows?«
»Dort gibt es was zu trinken. Hat jedenfalls Dave Blunk gesagt.«
Die Lincoln räusperte sich und machte ein überaus merkwürdiges Gesicht – als sei sie verwirrt und hätte zugleich etwas begriffen.
»Was ist los?«
»Fahren Sie zu Mrs. Nilds Wohnung, Mr. Rosen. Verschwenden Sie keine Zeit.«
»Warum?«
»Weil sie dort ist.«
Mir kribbelte die Kopfhaut.
»Ja, sie hat dort bei Mrs. Nild gewohnt. Ich werde ins Motel zurückkehren. Machen Sie sich um mich keine Sorgen – falls nötig, bin ich durchaus in der Lage, morgen allein nach Boise zurückzufliegen. Nun machen Sie schon, bevor die Truppe dort ankommt.«
Ich stand auf. »Ich weiß nicht…«
»Die Adresse finden Sie im Telefonbuch.«
»Ja, danke für den Hinweis. Wissen Sie, ich habe den Eindruck, Sie haben da gerade eine gute Idee gehabt. Dann machen Sie es mal gut. Wir sehen uns. Und falls…«
»Nun gehen Sie schon.«
Ich ging.
In einem Drugstore konsultierte ich das Telefonbuch, fand Colleen Nilds Anschrift, ging wieder hinaus auf die Straße und winkte nach einem Taxi.
Sie wohnte in einem großen Backsteinhaus. Nur wenige Fenster waren um diese Zeit noch erleuchtet. Ich drückte die Klingel unten an der Tür. Aus dem kleinen Lautsprecher kam Rauschen, dann fragte die gedämpfte Stimme einer Frau, wer ich war.
»Louis Rosen.« War das etwa Pris? »Kann ich raufkommen?«
Die Tür summte, ich machte einen Satz und drückte sie auf. Dann durchquerte ich die menschenleere Eingangshalle und ging die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Keuchend stand ich schließlich vor ihrer Wohnung.
Die Tür war offen. Ich klopfte, wartete, dann ging ich hinein.
Im Wohnzimmer saß Colleen Nild mit einem Drink in der Hand auf einer Couch, ihr gegenüber Sam Barrows. Beide sahen sie mich mit großen Augen an.
»Hi, Rosen.« Barrows deutete mit dem Kopf zu einem Couchtisch, auf dem eine Flasche Wodka, Limonensaft, Eiswürfel und Gläser standen. »Bedienen Sie sich.« Dann, während ich mir einen Drink machte, sagte er: »Ich habe Neuigkeiten für Sie. Jemand, der Ihnen sehr am Herzen liegt, ist hier. Schauen Sie mal ins Schlafzimmer.« Er und Colleen Nild lächelten.
Ich stellte das Glas ab und ging zögerlich zur Schlafzimmertür.
Barrows schwenkte seinen Drink. »Wie kommt es, dass Sie Ihre Meinung geändert haben und doch noch gekommen sind?«
»Die Lincoln dachte, Pris ist hier.«
»Also, ich sage das ja wirklich nicht gern, aber man muss wirklich bekloppt sein, um sich von der Kleinen so einwickeln zu lassen.«
»Das sehe ich anders.«
»Aber nur, weil ihr krank seid, ihr alle, Pris und die Lincoln und Sie. Johnny Booth war tausend Lincolns wert. Wir werden ihn wieder zusammenflicken und für die Monderschließung verwenden. Booth ist schließlich ein alter, vertrauter amerikanischer Name, es spricht nichts dagegen, dass die Familie nebenan Booth heißt. Sie müssen wirklich eines Tages mal nach Luna kommen, Mr. Rosen, und sich ansehen, was wir dort aufgebaut haben.«
»Ein erfolgreicher Geschäftsmann hat es nicht nötig, zu solchen Tricksereien zu greifen.«
»Tricksereien? Ich gebe den Leuten lediglich eine kleine Starthilfe, damit sie endlich das tun, was sie sowieso längst vorhatten… Aber ich will mich nicht streiten. Es war ein ziemlich harter Tag. Ich bin müde und hege niemandem gegenüber irgendwelche Feindseligkeiten.« Er grinste mich an. »Wenn Ihre kleine Firma sich mit uns zusammengetan hätte – Sie müssen geahnt haben, was das bedeutet hätte. Schließlich sind Sie auf mich zugekommen, nicht ich auf Sie. Aber das ist jetzt alles vorbei. Für Sie jedenfalls. Für mich nicht – wir ziehen das durch, auf die eine oder andere Art.«
»Daran besteht kein Zweifel, Sam«, flötete Colleen Nild.
»Danke, Colleen. Ich kann es einfach nicht ertragen, diesen Burschen hier so zu sehen, ohne Ziele, ohne Vision, ohne Ehrgeiz. Es zerreißt einem das Herz, ehrlich.«
Ich erwiderte nichts. Ich stand vor der Schlafzimmertür und hoffte, sie würden aufhören, über mich zu reden.
Colleen Nild lächelte mir zu. »Gehen Sie schon rein.«
Ich öffnete die Tür.
Das Schlafzimmer lag im Dunkeln. In der Mitte waren die Umrisse eines Bettes zu erkennen. Und auf dem Bett lag eine Gestalt. Sie hatte ein Kissen im Rücken und rauchte eine Zigarette. Aber war es wirklich eine Zigarette? Der Raum roch nach Zigarrenrauch. Ich betätigte den Lichtschalter.
Auf dem Bett lag mein Vater. Eine Zigarre in der Hand, sah er mich nachdenklich an. Er trug Bademantel und Pyjama, und neben das Bett hatte er seine Pelzpantoffeln gestellt.
»Mach die Tür zu, mein Sohn«, sagte er leise.
In meiner Verblüffung gehorchte ich. Ich schloss die Tür jedoch nicht schnell genug, um mir das Gelächter aus dem Wohnzimmer zu ersparen, das laute Feixen von Sam Barrows und Colleen Nild. Was hatten sie sich doch für einen Scherz mit mir geleistet, mit ihrem ganzen Gerede – wissend, dass Pris gar nicht hier war, dass die Lincoln sich geirrt hatte.
Mein Vater hatte ihr Lachen ebenfalls gehört. »Ja, vielleicht hätte ich rauskommen und dieser Farce ein Ende machen sollen, Louis, aber ich wollte wissen, was Mr. Barrows sagt. Er ist in mancher Beziehung ein großer Mann. Setz dich.«
Ich nahm auf einem Stuhl neben dem Bett Platz. »Du weißt auch nicht, wo sie ist? Du kannst mir auch nicht helfen?«
»Ich fürchte nicht, Louis.«
Die Tür knallte auf, und ein Mann, dessen Gesicht verkehrt herum war, kam herein – mein Bruder Chester, geschäftig wie eh und je. »Ich habe ein gutes Zimmer für uns gefunden, Dad«, sagte er. Dann sah er mich und lächelte glücklich. »Hier steckst du also, Louis. Haben wir dich endlich aufgetrieben.«
Mein Vater legte mir die Hand auf den Arm. »Ich war mehrere Male versucht, Mr. Barrows zu korrigieren. Aber einem Mann wie ihm kann man nichts Neues mehr beibringen, also wozu die Zeitverschwendung?«
Ich merkte, wie ich langsam wegdriftete. Die Worte meines Vaters verschwammen. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich Pris hier in diesem Zimmer gefunden hätte, hier auf dem Bett liegend, schlafend, betrunken vielleicht. Ich hätte sie aufgestützt und in meinen Armen gehalten, hätte ihr die Haare aus den Augen gestrichen und sie hinters Ohr geküsst. Ich sah sie vor mir, wie sie langsam wieder ins Leben zurückkehrte.
»Du hörst mir gar nicht zu«, sagte mein Vater tadelnd. Das stimmte: Ich war ganz woanders, nicht mehr in dieser trostlosen, enttäuschenden Wirklichkeit, sondern in meiner Pris-Phantasie, in meinem Traum von einem glücklicheren Leben.
In diesem Traum küsste ich Pris noch einmal, und sie öffnete die Augen. Ich ließ sie wieder zurücksinken, legte mich neben sie, umarmte sie.
»Wie geht es der Lincoln?« Pris’ Stimme, ein Flüstern an meinem Ohr. Sie war überhaupt nicht erstaunt, mich zu sehen; tatsächlich zeigte sie gar keine Reaktion. Aber so war sie eben.
»Ganz gut.« Ich strich ihr über die Haare, während sie dalag und in der Dunkelheit zu mir sah. »Nein, tatsächlich geht es ihr sehr schlecht. Sie hat eine Depression. Aber was kümmert dich das? Du hast sie ja so gebaut.«
»Ich habe sie gerettet«, erwiderte Pris kühl. »Gib mir eine Zigarette, ja?«
Ich steckte ihr eine Zigarette an und reichte sie ihr.
Schwach konnte ich die Stimme meines Vaters hören. »Ignoriere dieses Zerrbild, mein Sohn. Es entfernt dich aus der Realität. Das ist, was Doktor Horstowski krankhaft nennt, erkennst du das nicht?«
Dann Chesters Stimme: »Es ist Schizophrenie, Dad. Millionen Amerikaner leiden daran, ohne es zu wissen. Sie gehen nie in die Klinik deswegen. Ich habe einen Artikel darüber gelesen.«
»Du bist ein guter Mensch, Louis«, sagte Pris. »Ich empfinde Mitleid für dich, weil du mich liebst. Du verschwendest deine Zeit, aber das ist dir egal. Kannst du mir sagen, was Liebe ist? Eine Liebe wie diese?«
»Nein.«
»Kannst du es nicht versuchen?« Sie stützte sich auf. »Ist die Tür abgeschlossen? Wenn nicht, dann geh sie abschließen.«
»Aber… ich kann sie nicht aussperren. Wir werden sie nie loswerden, wir werden nie allein sein.« Trotzdem stand ich auf, machte die Tür zu und schloss ab.
Als ich mich wieder zum Bett umdrehte, öffnete Pris gerade den Reißverschluss ihres Rocks. Sie zog sich den Rock über den Kopf und schleuderte ihn von sich. Dann trat sie ihre Schuhe weg. »Wer sonst kann es mir beibringen, Louis, wenn nicht du?« Sie begann, ihre Unterwäsche auszuziehen.
»Nein, Pris!«
»Warum nicht?«
»Ich halte das nicht aus. Ich muss nach Boise und Doktor Horstowski aufsuchen. Das kann doch jetzt nicht so weitergehen, nicht hier mit meiner Familie im selben Zimmer.«
»Morgen fliegen wir nach Boise zurück. Aber nicht jetzt.« Sie schlug die Decke zurück, schlüpfte hinein und nahm sich wieder ihre Zigarette. »Ich bin so müde, Louis. Bleib heute Nacht bei mir.«
»Das geht nicht.«
»Dann nimm mich dorthin mit, wo du übernachtest.«
»Das geht auch nicht. Die Lincoln ist dort.«
»Ach, ich möchte einfach nur schlafen. Leg dich zu mir. Sie werden uns schon nicht stören. Hab keine Angst vor ihnen. Es tut mir leid, dass die Lincoln einen ihrer depressiven Schübe hat. Aber gib nicht mir dafür die Schuld – so ist sie eben. Und ich habe ihr das Leben gerettet. Sie ist mein Kind, nicht wahr?«
»So könnte man es ausdrücken, ja.«
»Ich habe sie zur Welt gebracht, und ich bin darauf sehr stolz. Als ich dieses Booth-Ding gesehen habe, da wollte ich nur eines – es auf der Stelle töten. Ach, ich wünschte, ich hätte dich genauso zur Welt gebracht wie die Lincoln, ich wünschte, ich hätte alle möglichen Leute zur Welt gebracht – alle. Ich schenke Leben, aber heute Nacht habe ich Leben genommen. Es braucht einige Stärke, jemandem das Leben zu nehmen, meinst du nicht auch, Louis?«
»Ja.« Ich setzte mich neben sie auf das Bett.
Sie streckte die Hand aus und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Ich habe diese Macht über dich. Ich kann dir Leben schenken und es dir wieder nehmen. Ängstigt dich das?«
»Nicht mehr. Es hat mich einmal geängstigt, als es mir zum ersten Mal klar geworden ist.«
»Mich hat es nie geängstigt. Sonst hätte ich diese Macht verloren. Und ich muss sie behalten – irgendjemand muss sie doch haben.«
Ich antwortete nicht. Zigarrenrauch zog an mir vorbei, verursachte mir Übelkeit, machte mir meinen Vater und meinen Bruder bewusst, die beide aufmerksam zusahen.
»Der Mensch braucht immer ein paar Illusionen«, sagte mein Vater paffend, »aber das hier ist lachhaft.« Chester nickte.
»Pris«, flüsterte ich.
»Schau dir das an«, rief mein Vater aufgebracht. »Er redet mit ihr.«
»Raus mit euch!« Ich wedelte heftig mit den Armen, doch es nützte nichts, sie rührten sich nicht von der Stelle.
»Du sollst wissen, Louis«, sagte mein Vater, »dass ich Verständnis für dich habe. Ich sehe, was Mr. Barrows nicht sieht – das Edle an deiner Suche.«
In der Dunkelheit konnte ich Pris wieder ausmachen. Sie hatte ihre Sachen aufgeklaubt und saß nun auf der Bettkante, die Kleider an ihren Bauch gepresst. »Spielt es eine Rolle, was irgendwer über uns sagt oder denkt?«, fragte sie. »Ich würde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen, ich würde Wörtern nicht so viel Wirklichkeit zubilligen. Da draußen sind sie alle wütend auf uns, Sam und Maury und der ganze Rest. Aber die Lincoln hätte dich nie hierher geschickt, wenn es nicht das Richtige wäre, meinst du nicht auch?«
»Pris, ich weiß, dass alles gut wird. Vor uns liegt eine glückliche Zukunft.«
Sie lächelte. Es war ein Lächeln voller Traurigkeit, und für einen Moment kam es mir vor, als stammte das, was ich am Lincoln-Simulacrum wahrgenommen hatte, von Pris. Der Schmerz, den sie empfand – sie hatte ihn in ihr Werk einfließen lassen, ohne es zu wollen, vielleicht sogar ohne auch nur von ihm zu wissen.
»Ich liebe dich, Pris.«
Sie richtete sich auf – nackt, dünn, zitternd –, legte die Hände an die Seiten meines Kopfes und zog mich hinunter.
»Er schläft«, sagte mein Vater zu Chester. »Mein Sohn schläft. Und er liebt – wenn du mir folgen kannst.«
»Was werden sie in Boise dazu sagen?«, fragte mein Bruder verärgert. »Ich meine, wie können wir denn mit ihm wieder nach Hause, wenn er so ist?«
»Ach halt den Mund, Chester. Du verstehst seine Psyche nicht, das, was er sucht. Es ist wie eine Art Rückkehr zum Ursprung, zu der Quelle, von der wir uns abgewandt haben.«
»Hörst du sie?«, fragte ich Pris.
An mich gepresst lag sie da und sah mich mit ausdruckslosem Gesicht an. Und doch war sie absolut aufmerksam. Für sie hatte in diesem Moment alles ein Ende – Veränderung und Wirklichkeit, die Ereignisse ihres Lebens, die Zeit an sich… Sie hob die Hand und berührte mich an der Wange, strich mit ihren Fingerspitzen darüber.
Von der Tür her vernahm ich Colleen Nilds Stimme. »Wir werden jetzt gehen, Mr. Rosen, und die Wohnung Ihnen überlassen.«
Weder Pris noch ich erwiderten etwas. Kurz darauf hörten wir, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel.
»Das ist aber nett von ihnen«, sagte mein Vater. »Louis, du hättest dich wenigstens bedanken können. Dieser Mr. Barrows ist wirklich ein Gentleman.«
»Ja, du solltest dankbar sein«, knurrte Chester.
Die beiden starrten uns vorwurfsvoll an.
Ich drückte Pris an mich. Das war alles, was ich wollte.