Am darauf folgenden Vormittag um zehn traf ich im Dampfbad der Kasanin-Klinik mit Doktor Albert Shedd zusammen. Die Patienten fläzten sich nackt in den Dampfschwaden, während das Personal in blauen Badehosen umherschlurfte.
Doktor Shedd tauchte aus dem weißen Dampf auf und lächelte mich freundlich an; er war mindestens siebzig, mit Haarsträhnen, die wie gebogener Draht von seinem runden, runzeligen Kopf abstanden. Im Dampfbad leuchtete seine Haut rosa.
»Guten Morgen, Mr. Rosen.« Er nickte und sah mich verschmitzt an. »Wie war der Flug?«
»Gut.«
»Dann sind Sie nicht von irgendwelchen anderen Flugzeugen verfolgt worden, nehme ich an.« Er lachte glucksend.
Ich war ihm für diesen Witz dankbar, denn er implizierte, dass Shedd irgendwo in mir ein grundsätzlich gesundes Element ausgemacht hatte, das er über den Weg des Humors ansprechen wollte. Er machte sich über meine Paranoia lustig – und dadurch schwächte er sie geschickt ab.
»Sehen Sie sich in der Lage, in dieser reichlich ungezwungenen Atmosphäre frei zu reden?«
»Aber ja. In Los Angeles bin ich immer in ein finnisches Dampfbad gegangen.«
»Also gut, dann schauen wir mal.« Er konsultierte seine Unterlagen. »Sie handeln mit Klavieren? Und Elektroorgeln?«
»Richtig, mit der Rosen-Elektroorgel – der besten der Welt.«
»Sie waren zu Beginn Ihrer schizophrenen Episode geschäftlich in Seattle unterwegs und haben sich mit einem Mr. Barrows getroffen. Zumindest laut dieser Aussage Ihrer Familie.«
»Ja, genau.«
»Uns liegen Ihre schulischen Psychotests vor, Sie scheinen damals keinerlei Probleme gehabt zu haben. Sie reichen bis zum neunzehnten Lebensjahr, dann kommen die Unterlagen vom Militärdienst. Auch hier alles in Ordnung. Genauso wie in den anschließenden Bewerbungstests. Es scheint mir eher eine situationsgebundene Schizophrenie zu sein als ein lebenslanger Prozess. Sie haben in Seattle unter ganz besonderem Stress gestanden, nicht wahr?«
»Ja.«
»Es kann sein, dass die Krankheit nie wieder auftreten wird, aber wir müssen den Vorfall als ein Warnzeichen betrachten – wir müssen uns darum kümmern.« Er musterte mich durch den wogenden Dampf. »In Ihrem Fall könnte möglicherweise eine Therapie helfen, die sich ›kontrollierter Wachtraum‹ nennt. Sagt Ihnen das etwas?«
»Nein.« Aber es klang gut.
»Dabei würden wir Ihnen halluzinogene Medikamente verabreichen, also Medikamente, die Sie zum Halluzinieren anregen. Für einen sehr begrenzten Zeitraum täglich. Das würde Ihrer Libido die Erfüllung der regressiven Impulse gestatten, die im Moment zu stark sind, als dass sie auszuhalten wären. Diese Wachträume würden wir dann sukzessive einschränken, bis wir sie hoffentlich ganz weglassen können. Einen Teil dieser Zeit würden Sie hier verbringen, wir würden jedoch anstreben, dass Sie später nach Boise zurückkehren können, zu Ihrer Arbeit, und dort eine ambulante Therapie erhalten. Die Kasanin-Klinik ist hoffnungslos überbelegt, müssen Sie wissen.«
»Ich weiß.«
»Würden Sie das gern versuchen?«
»Ja.«
»Es würde weitere schizophrene Episoden bedeuten, die natürlich unter Beobachtung stattfänden, unter kontrollierten Bedingungen.«
»Das ist mir egal.«
»Es würde Sie nicht stören, dass ich und andere Mitarbeiter Zeuge Ihres Verhaltens während dieser Episoden wären? Mit anderen Worten, dass wir in Ihre Privatsphäre eindringen…«
»Nein, das würde mich nicht stören. Mir ist egal, wer dabei zusieht.«
»Ihre paranoiden Tendenzen können nicht allzu stark sein, wenn Sie so wenig dagegen haben, beobachtet zu werden.«
»Ich habe überhaupt nichts dagegen.«
»Sehr schön.« Er nickte erfreut. »Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen.« Und damit spazierte er davon, in seiner blauen Badehose, das Klemmbrett unter dem Arm. Mein erstes Gespräch mit meinem Psychiater in der Kasanin-Klinik war vorbei.
Eines Nachmittags also wurde ich in einen großen Raum mit nackten Wänden gebracht, wo mich mehrere Schwestern und zwei Ärzte in Empfang nahmen. Sie schnallten mich auf einen Tisch mit Lederpolstern und spritzten mir das halluzinogene Medikament. Dann traten sie zurück und warteten. Ich wartete ebenfalls, auf meinem Tisch festgeschnallt, in meinem Krankenhauskittel, die Arme an den Seiten.
Wenige Minuten später fand ich mich in der Innenstadt von Oakland, Kalifornien wieder. Ich saß auf einer Parkbank am Jack-London-Square. Neben mir fütterte jemand Brotkrumen an einen Schwarm blaugrauer Tauben. Eine junge Frau. Pris. Sie trug Caprihosen und einen grünen Rollkragenpulli, und ihre Haare waren mit einem rotkarierten Tuch zurückgebunden.
»Hey«, sagte ich.
Sie sah mich zornig an. »Verdammt, ich hab dir doch gesagt, dass du leise sein sollst. Wenn du redest, verjagst du sie noch, und dann füttert sie dieser alte Knacker da drüben.«
Auf einer Bank ein Stück den Weg hinunter saß Doktor Shedd und lächelte zu uns herüber. Er hielt ebenfalls eine Tüte Brotkrumen in der Hand.
»Pris, ich muss mit dir reden.«
»Wieso? Es ist für dich wichtig, aber ist es das auch für mich? Oder ist dir das egal?«
»Es ist mir nicht egal.«
»Dann zeig es mir – sei leise. Ich bin ziemlich glücklich mit dem, was ich gerade mache.« Sie fütterte weiter die Vögel.
»Liebst du mich?«
»Himmel, nein!«
Und doch spürte ich, dass sie es tat.
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann blichen der Park, die Bank und Pris langsam aus, und ich war wieder auf dem Tisch festgeschnallt, neben mir Doktor Shedd und die Schwestern der Kasanin-Klinik.
»Das lief schon viel besser«, sagte Shedd.
»Besser als was?«
»Als die beiden Male davor.«
Ich konnte mich nicht an irgendwelche Male davor erinnern und sagte ihm das.
»Kein Wunder, da hat es ja auch nicht geklappt. Es wurde kein Phantasieleben aktiviert – Sie sind einfach eingeschlafen. Doch ab jetzt können wir mit Resultaten rechnen.«
Am nächsten Morgen erschien ich wieder im Therapieraum, um mir meine Ration Traumleben abzuholen, meine eine Stunde mit Pris.
Als man mich gerade festschnallte, kam Doktor Shedd herein. »Ich werde Sie nun auch Gruppentherapie machen lassen, Mr. Rosen. Wissen Sie, was das ist? Sie werden Ihre Probleme einer Gruppe von Mitpatienten schildern, die dann Kommentare dazu abgeben. Sie sitzen dabei und hören sich an, wie die anderen über Sie diskutieren. Sie werden feststellen, dass das Ganze in einer freundlichen und zwanglosen Atmosphäre vonstatten geht. Und meist ist es sehr hilfreich.«
»Sehr gern.« Ich fühlte mich ziemlich einsam, hier in der Klinik.
»Sie haben nichts dagegen, dass der Inhalt Ihrer Wachträume der Gruppe zugänglich gemacht wird?«
»Aber nein. Warum sollte ich?«
»Dass wir jeden Ihrer Wachträume aufzeichnen und, mit Ihrer Erlaubnis, in der Gruppe diskutieren?«
»Selbstverständlich gebe ich Ihnen meine Erlaubnis. Ich habe nichts dagegen, dass eine Gruppe Mitpatienten meine Phantasien kennt. Erst recht nicht, wenn sie mir helfen können.«
»Sie werden feststellen, dass es auf der ganzen Welt niemanden gibt, der mehr darauf brennt, Ihnen zu helfen, als Ihre Mitpatienten.«
Mir wurde das halluzinogene Medikament verabreicht, und ich fiel erneut in einen Wachtraum.
Ich saß hinter dem Steuer meines Magic Fire Chevrolet im Feierabendverkehr auf dem Freeway. Im Radio berichtete gerade jemand von einem Stau weiter vorn.
»Ob Straßengewirr, Baustelle oder Verkehrschaos«, sagte er. »Ich bring Sie da durch, liebe Hörer.«
»Danke«, erwiderte ich.
Neben mir auf dem Beifahrersitz fuhr Pris auf. »Hast du schon immer dem Radio geantwortet? Das ist kein gutes Zeichen. Ich wusste doch, dass es mit deiner geistigen Gesundheit nicht zum besten steht.«
»Pris, auch wenn du das Gegenteil behauptest, ich weiß, dass du mich liebst. Erinnerst du dich denn nicht mehr – wir beide in Colleen Nilds Wohnung in Seattle?«
»Nein.«
»Du weißt nicht mehr, wie wir uns dort geliebt haben?«
»Igitt!«
»Ich weiß, dass du mich liebst.«
»Lass mich lieber gleich hier raus, mitten im Verkehr. Mir wird speiübel.«
»Pris, warum sind wir hier zusammen unterwegs? Fahren wir gerade nach Hause? Sind wir verheiratet?«
»Herrgott!«
»Antworte mir.«
Sie rückte schaudernd von mir ab, presste sich gegen die Tür, so weit weg, wie es nur ging.
Als ich wieder erwachte, schien Doktor Shedd sehr erfreut. »Sie machen Fortschritte. Sie erzeugen eine äußere Katharsis für die regressiven Impulse Ihrer Libido – und genau da wollen wir hin.« Er klopfte mir ermutigend auf die Schulter, wie es vor gar nicht so langer Zeit Maury Rock getan hatte.
Während meines nächsten Wachtraums sah Pris deutlich älter aus. Es war Abend, und wir spazierten langsam über den Bahnhof von Cheyenne, Wyoming. Ich sah immer wieder zu ihr. Ihr Gesicht war voller – als würde sie erwachsen werden. Und sie wirkte gelassener.
»Wie lange sind wir jetzt verheiratet?«, fragte ich.
»Weißt du das denn nicht?«
»Dann sind wir’s also.« Mein Herz machte einen Sprung.
»Natürlich sind wir verheiratet. Meinst du, wir leben in wilder Ehe? Was ist denn los mit dir, leidest du an Gedächtnisschwund?«
»Lass uns in die Bar dort gehen.«
»Gut. Weißt du, ich bin froh, dass du mich von diesen Gleisen weggebracht hast. Die haben mich deprimiert. Ich habe mir vorgestellt, wie die Lok näherkommt und ich auf die Gleise falle, und sie fährt über mich drüber und schneidet mich in Stücke. Ich habe mich gefragt, wie es sich anfühlen würde, es so hinter sich zu bringen – einfach nur dadurch, dass man sich nach vorn fallen lässt wie beim Schlafengehen.«
»Sag doch so was nicht.« Ich legte meinen Arm um sie und drückte sie. Sie war steif, unnachgiebig, so wie immer.
Als Doktor Shedd mich aus dem Wachtraum holte, blickte er ernst drein. »Ich bin nicht allzu erfreut zu sehen, dass in der Projektion Ihrer Anima jetzt morbide Elemente zum Vorschein kommen. Aber das ist zu erwarten gewesen, es zeigt, was für ein langer Weg noch vor uns liegt. Beim nächsten Versuch, dem fünfzehnten…«
»Dem fünfzehnten! Sie meinen, das war eben schon der vierzehnte Wachtraum?«
»Ja. Sie sind jetzt seit über einem Monat hier. Mir ist bewusst, dass Ihre Episoden ineinander übergehen. Das ist zu erwarten gewesen, denn manchmal gibt es überhaupt keinen Fortschritt, manchmal wird das gesamte Material wiederholt. Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Mr. Rosen.«
»Na schön.« Tatsächlich bedrückte es mich.
Beim nächsten Versuch – jedenfalls nahm mein Hirn ihn als den nächsten wahr – saß ich wieder mit Pris auf der Bank im Jack-London-Park in der Innenstadt von Oakland. Diesmal war sie still und traurig; sie fütterte die umherspazierenden Tauben nicht, sondern saß einfach mit verschränkten Händen da und starrte zu Boden.
»Was ist mir dir?«
Eine Träne rann ihr die Wange hinab. »Nichts, Louis.« Sie zog ein Taschentuch aus der Handtasche, tupfte sich die Augen ab und putzte sich die Nase. »Ich fühle mich einfach irgendwie leblos und leer, das ist alles. Vielleicht bin ich schwanger. Meine Periode ist schon eine Woche überfällig.«
Das versetzte mich in Hochstimmung. Ich zog sie in meine Arme und küsste sie auf die kalten Lippen. »Aber das ist doch wundervoll!«
Sie lächelte leicht und tätschelte meine Hand. »Ich bin froh, dass du dich darüber freust, Louis.«
Sie hatte sich eindeutig verändert. Sie hatte Falten um die Augen herum, die ihr ein abgekämpftes, erschöpftes Aussehen verliehen. Wie viel Zeit war vergangen? Wie viele Male waren wir jetzt zusammengewesen? Ein Dutzend Mal? Hundertmal? Ich konnte es nicht sagen; die Zeit floss nicht mehr ruhig vor sich hin, sondern bewegte sich in Sprüngen. Ich fühlte mich ebenfalls älter und wesentlich müder. Und doch – was waren das für gute Neuigkeiten!
Zurück im Therapieraum, erzählte ich Shedd von Pris’ Schwangerschaft. Er war ebenfalls erfreut. »Sehen Sie, Mr. Rosen, wie Ihre Wachträume immer mehr Reife zeigen, immer mehr Elemente einer wirklichkeitsbezogenen Überprüfung von Ihrer Seite? Am Ende wird der Reifegrad der Träume Ihrem tatsächlichen Alter entsprechen, und an diesem Punkt haben die Wachträume ihre Funktion erfüllt.«
Fröhlich ging ich nach unten zu meinen Mitpatienten, um mir ihre Erklärungen zu dieser neuen Entwicklung anzuhören. Ich wusste, dass sie eine Menge zu sagen haben würden, sobald sie sich die Abschrift der heutigen Sitzung durchgelesen hatten.
In meinem zweiundfünfzigsten Wachtraum bekam ich endlich meinen Sohn zu Gesicht, ein gesundes, schönes Baby, das Pris’ Augen und meine Haare hatte. Wir saßen im Wohnzimmer – Pris gab ihm gerade die Flasche –, und es war, als hätten mich meine ganzen Anspannungen, meine ganzen Ängste und Sorgen, endlich verlassen.
»Diese blöden Dinger.« Wütend schüttelte Pris die Flasche. »Sie fallen zusammen, wenn er trinkt. Das muss am Sterilisieren liegen.«
Ich trottete in die Küche, um eine frische Flasche aus dem Sterilisator zu holen.
»Wie lautet sein Name, Schatz?«, fragte ich, als ich zurückkam.
»Wie sein Name lautet?« Pris sah mich fassungslos an. »Bist du noch ganz dicht, Louis? Du willst allen Ernstes wissen, wie der Name deines Kindes lautet? Rosen natürlich, wie denn sonst?«
Ich konnte nur dümmlich lächeln. »Vergib mir.«
Sie seufzte. »Na ja, ich bin es ja gewohnt.«
Aber wie heißt er denn jetzt?, fragte ich mich. Nun, vielleicht erfahre ich es beim nächsten Mal, und wenn nicht, dann vielleicht beim übernächsten Mal…
»Charles«, sagte Pris leise zu dem Baby. »Hast du Pipi gemacht?«
Charles also. Ich war froh – es war ein guter Name.
Vielleicht hatte ich ihn ausgesucht, ja, er klang nach einem Namen, den ich ausgesucht haben könnte.
An diesem Tag eilte ich nach meinem Wachtraum gerade die Treppe zum Gruppenraum hinunter, als ich eine Reihe von Patientinnen erblickte, die durch eine Tür in den Frauentrakt des Gebäudes gingen. Eine von ihnen hatte kurze schwarze Haare und war viel schlanker und kleiner als die anderen Patientinnen um sie herum; sie sahen wie aufgeblasene Ballons aus im Vergleich zu ihr. Ist das Pris?, fragte ich mich und blieb stehen. Bitte dreh dich um, bettelte ich und ließ ihren Rücken nicht aus den Augen.
Als sie durch die Tür ging, wandte sie sich für einen Moment um. Ich sah die Stupsnase, die prüfenden grauen Augen – es war Pris!
»Pris«, rief ich und winkte mit den Armen.
Sie starrte mich an, mit zusammengekniffenen Augen und schmalen Lippen. Dann lächelte sie, ein wenig nur.
Du bist wieder hier, in der Kasanin-Klinik, sagte ich mir. Und das ist keine Phantasie, kein Wachtraum, ob nun kontrolliert oder nicht; ich habe dich gefunden, in der wirklichen Welt, der äußeren Welt, die kein Produkt einer regressiven Libido oder eines Medikaments ist. Seit dem Abend in Seattle, als du dem Johnny-Booth-Simulacrum eins mit dem Stöckelschuh verpasst hast, habe ich dich nicht mehr gesehen. Wie lange ist das schon her? Wie viel habe ich seitdem erlebt und getan – in einem Vakuum getan, ohne dich, ohne die authentische, wirkliche Pris. Zufrieden mit einem bloßen Phantom… Gott sei Dank, ich habe dich gefunden. Ich wusste, dass ich dich eines Tages finden würde.
Ich ging nicht zur Gruppentherapie, sondern blieb dort auf dem Flur und wartete.
Schließlich, Stunden später, kam sie durch die Tür direkt auf mich zu, das Gesicht ganz ruhig, ein amüsiertes Funkeln in den Augen.
»Hey«, sagte ich.
»Also haben sie dich gekriegt, Louis Rosen. Du bist schließlich auch schizophren geworden. Das überrascht mich nicht.«
»Ich bin schon seit Monaten hier.«
»Und? Setzt schon die Heilung ein?«
»Ja. Glaube schon. Die machen jeden Tag einen kontrollierten Wachtraum mit mir, und ich gehe immer zu dir, Pris, jedes Mal. Wir sind verheiratet und haben ein Kind namens Charles. Ich glaube, wir leben in Oakland.«
»Oakland?« Sie kräuselte die Nase. »Manche Gegenden von Oakland sind nett, aber manche auch grässlich.« Sie ging weiter den Flur entlang. »War nett, dich zu sehen, Louis. Vielleicht laufen wir uns wieder einmal über den Weg.«
»Pris«, rief ich voller Schmerz. »Komm zurück!«
Aber sie ging weiter und war bald am Ende des Flurs verschwunden.
Als ich sie das nächste Mal in meinem Wachtraum sah, war sie definitiv älter. Ihre Figur war rundlicher, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Wir standen zusammen in der Küche; Pris spülte und ich trocknete ab. Im grellen Licht der Deckenbeleuchtung sah ihre Haut trocken aus, mit feinen, winzigen Fältchen überall. Sie trug kein Make-up. Vor allem ihre Haare hatten sich verändert; sie waren nicht mehr schwarz, sondern rötlich braun und sehr hübsch. Ich berührte sie. Sie fühlten sich angenehm an.
»Pris, ich habe dich gestern auf dem Flur getroffen. Hier, wo ich bin – in der Kasanin.«
»Schön für dich.«
»War es real? Realer als das hier?« Im Wohnzimmer sah ich Charles vor dem 3-D-Fernseher sitzen. »Erinnerst du dich an diese Begegnung? War sie für dich so real wie für mich? Ist das hier gerade real für dich? Bitte sag es mir, ich verstehe es nicht mehr.«
Sie kratzte an einer Bratpfanne herum. »Kannst du das Leben nicht einmal so nehmen, wie es kommt, Louis? Musst du immer herumphilosophieren? Du führst dich auf wie ein Schuljunge. Da muss man sich ja fragen, ob du je erwachsen wirst.«
»Ich weiß bloß einfach nicht mehr, welchen Weg ich gehen soll.« Ein Gefühl von Einsamkeit überkam mich, doch ich trocknete weiter das Geschirr ab.
»Nimm mich, wo du mich findest. Wie du mich findest. Sei damit zufrieden. Stell keine Fragen.«
»Ja, das werde ich. Ich versuche es jedenfalls.«
Als ich aus dem Wachtraum kam, sagte Doktor Shedd: »Sie irren sich, Mr. Rosen. Sie können Miss Frauenzimmer hier in der Kasanin nicht über den Weg gelaufen sein. Ich habe die Patientenkartei überprüft und niemanden mit diesem Namen gefunden. Ich fürchte, die Begegnung auf dem Gang war ein Rückfall in die Psychose. Wir scheinen keine so vollständige Katharsis Ihrer libidinösen Triebe zu erreichen, wie wir gedacht haben. Vielleicht sollten wir die Dauer der täglichen kontrollierten Regressionen verlängern.«
Ich nickte. Aber ich glaubte ihm nicht – ich wusste, dass das dort auf dem Gang wirklich Pris gewesen war, keine schizophrene Phantasie.
In der folgenden Woche blickte ich durch das Fenster des Solariums nach unten in den Innenhof – und sah, wie sie dort mit ein paar Frauen Volleyball spielte, alle in hellblauen Sportsachen.
Sie sah mich nicht; sie war auf das Spiel konzentriert. Eine Weile stand ich da und genoss ihren Anblick… dann sprang der Ball vom Spielfeld und kullerte auf das Gebäude zu. Pris lief ihm nach. Als sie sich bückte und ihn aufhob, sah ich ihren Namen; er war in bunten Blockbuchstaben auf ihr Trikot gestickt:
ROCK, PRIS
Das erklärte es: Sie wurde in der Kasanin-Klinik unter dem Namen ihres Vaters geführt. Also hatte Doktor Shedd sie auch nicht in der Kartei finden können; er hatte unter ›Frauenzimmer‹ nachgesehen.
Ich werde es ihm nicht verraten, sagte ich mir; ich werde aufpassen, dass ich es während meiner Wachträume nicht erwähne. Auf diese Weise wird er es nie erfahren, und ich kann vielleicht irgendwann noch einmal mit ihr reden.
Und dann dachte ich: Vielleicht ist das alles Shedds Absicht, vielleicht ist es eine Technik, mich aus den Wachträumen zurück in die wirkliche Welt zu holen. Weil diese paar Blicke auf die wirkliche Pris mir mehr bedeuten als alle Wachträume zusammen. Das ist alles Bestandteil der Therapie, und es funktioniert.
Ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel oder nicht.
Nach meinem einhundertzwanzigsten kontrollierten Wachtraum gelang es mir, mit Pris zu reden. Sie kam gerade aus der Caféteria, als ich hineinging. Ich sah sie als Erster; sie war in ein Gespräch mit einer anderen jungen Frau vertieft.
»Pris.« Ich hielt sie auf. »Lass uns bitte ein paar Minuten reden. Sie haben nichts dagegen – es ist Bestandteil der Therapie. Bitte!«
Die andere Frau ging rücksichtsvoll weiter, und ich war mit Pris allein.
»Du siehst älter aus, Louis«, sagte sie nach einer Weile.
»Und du siehst toll aus, wie immer.« Ich hätte sie am liebsten in die Arme genommen; stattdessen stand ich wenige Zentimeter vor ihr und tat nichts.
»Du freust dich bestimmt zu hören, dass sie mich in den nächsten Tagen entlassen. Dann bekomme ich wieder ambulante Therapie. Ich mache gewaltige Fortschritte, sagt Doktor Ditchley. Ich bin fast jeden Tag bei ihm, er ist der beste Arzt hier. Du bist bei Shedd, nicht wahr? Der taugt nichts, ein alter Trottel, meiner Meinung nach.«
»Vielleicht gelingt es uns ja, zusammen von hier wegzugehen. Was würdest du dazu sagen? Ich mache auch Fortschritte.«
»Warum sollten wir zusammen von hier weg?«
»Ich liebe dich und ich weiß, dass du mich auch liebst.«
Sie gab keine Antwort; sie nickte nur ganz leicht.
»Ließe sich das machen? Du weißt so viel mehr über die Klinik als ich. Du hast praktisch dein ganzes Leben hier verbracht.«
»Einen Teil meines Lebens.«
»Könntest du dir was einfallen lassen?«
»Lass du dir doch was einfallen – du bist der Mann.«
»Wenn ich es schaffe, heiratest du mich dann?«
Sie ächzte. »Klar doch, Louis. Was du willst: Heiraten, wilde Ehe, ab und zu mal vögeln – such dir was aus.«
»Heiraten.«
»Und Kinder? Wie in deiner Phantasie? Ein Junge namens Charles?« Sie verzog amüsiert die Lippen.
»Ja.«
»Dann rede mit Shedd, dem Kliniktrottel. Er kann dich entlassen, er ist dazu befugt. Und ich gebe dir einen Tipp: Halt dich zurück, wenn du das nächste Mal zur Wachtraumtherapie gehst. Sag ihnen, dass du nicht weißt, ob sie überhaupt noch was bringt. Und wenn du dann drin bist, erzähl deiner Phantasie-Sexpartnerin, dieser Pris Frauenzimmer, die sich dein Hirn zurechtgesponnen hat, dass du sie nicht mehr überzeugend findest.« Sie grinste. »Vielleicht bringt dich das ja hier raus, vielleicht auch nicht – vielleicht reitest du dich auch nur noch tiefer rein.«
»Du würdest mich doch nicht…«
»An der Nase herumführen? Reinlegen? Probier es aus, Louis. Du findest es nur heraus, wenn du den Mut dazu aufbringst.«
Sie wandte sich ab, entfernte sich.
»Wir sehen uns«, sagte sie über die Schulter. »Vielleicht.« Ein letztes beherrschtes Grinsen, und sie war weg.
Ich vertraue dir, sagte ich mir.
Nach dem Abendessen lief ich Doktor Shedd über den Weg und fragte ihn, ob ich ihn kurz sprechen könnte.
»Was haben Sie auf dem Herzen, Mr. Rosen?«
»Es geht um meine Wachtraumtherapie. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir noch etwas bringt. Und ich finde meine Phantasie-Sexpartnerin nicht mehr überzeugend. Ich weiß, dass sie nur eine Projektion meines Unbewussten ist – sie ist nicht die wirkliche Pris Frauenzimmer.«
»Das ist ja interessant.«
»Was bedeutet das? Dass es aufwärts mit mir geht oder abwärts?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Wir werden es während der nächsten Wachtraumsitzung sehen. Ich werde mehr wissen, wenn ich Ihr Verhalten dabei beobachten kann.« Er verabschiedete sich und ging den Flur hinunter.
Während meines nächsten Wachtraums fand ich mich in einem Supermarkt wieder. Pris und ich erledigten den wöchentlichen Einkauf.
Sie war jetzt wesentlich älter, aber immer noch Pris, dieselbe attraktive, starke, klarsichtige Frau, die ich immer geliebt hatte. Charles rannte vor uns her und stöberte nach Sachen für das Wochenende, das er mit seiner Pfadfindertruppe im Charles-Tilden-Nationalpark in den Bergen von Oakland verbringen würde.
»Du bist ungewöhnlich still heute«, sagte Pris.
»Ich denke nach.«
»Du machst dir Sorgen, meinst du. Ich kenne dich, ich seh’s dir an.«
»Pris, passiert das hier wirklich? Reicht das aus, was wir hier miteinander teilen?«
»Weißt du, ich halte dein ewiges Herumphilosophieren nicht mehr aus. Entweder du akzeptierst dein Leben oder du bringst dich um. Aber hör endlich mit diesem Geschwätz auf.«
»Gut. Aber im Gegenzug möchte ich, dass du aufhörst, ständig abfällige Bemerkungen über mich zu machen. Die kann ich nämlich nicht mehr hören.«
»Du hast ja bloß Angst, dich der Wahrheit…«
Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich ausgeholt und ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Sie machte einen Satz von mir weg, stand dort, die Hand auf die Wange gepresst, und starrte mich verblüfft an. »Zum Teufel mit dir«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Das werde ich dir nie verzeihen.«
»Pris, ich…«
Sie wirbelte herum, griff sich Charles und eilte den Gang hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.
Auf einmal bemerkte ich, dass Doktor Shedd neben mir stand. »Ich glaube, das war genug für heute, Mr. Rosen.« Der Gang mit seinen Regalen voller Kartons und Verpackungen verschwamm, löste sich auf.
»Habe ich falsch gehandelt?« Ich hatte es getan, ohne nachzudenken. Hatte ich alles ruiniert? »Das ist das erste Mal im Leben, dass ich eine Frau geschlagen habe.«
»Machen Sie sich keine Sorgen deswegen.« Shedd nickte den Schwestern zu. »Machen Sie ihn los. Und wir lassen die Gruppentherapie heute besser ausfallen, denke ich.« Zu mir sagte er: »An Ihrem Benehmen ist etwas Merkwürdiges, das ich nicht verstehe. Es passt überhaupt nicht zu Ihnen.«
Ich erwiderte nichts, ließ nur den Kopf hängen.
»Man könnte beinahe vermuten, dass Sie simulieren.«
»Nein. Ich bin wirklich krank. Ich wäre längst tot, wenn ich nicht hierher gekommen wäre.«
»Ich glaube, Sie kommen morgen besser in mein Büro. Ich möchte den Benjamin-Sprichworttest und den Vygotsky-Luria-Klotztest einmal selbst mit Ihnen durchführen. Wer den Test durchführt, ist wichtiger als der Test an sich.«
Ich nickte.
Am nächsten Tag bestand ich sowohl den Benjamin-Sprichworttest als auch den Vygotsky-Luria-Klotztest. Nach den Vorschriften des McHeston Act war ich frei – ich konnte nach Hause gehen.
»Ich frage mich wirklich, ob Sie überhaupt hier in der Kasanin hätten sein dürfen«, sagte Doktor Shedd, während er meine Entlassungspapiere unterschrieb. »Ich weiß nicht, was Sie sich davon versprochen haben, hierher zu kommen, aber jetzt werden Sie sich Ihrem Leben aufs Neue stellen müssen. Und zwar ohne eine psychische Erkrankung vorzuschieben.« Mit dieser brüsken Bemerkung war ich offiziell aus der staatlichen Kasanin-Klinik in Kansas City, Missouri entlassen.
Ich räusperte mich. »Es gibt hier eine Frau, von der ich mich gerne verabschieden würde. Ist es in Ordnung, dass ich einige Minuten mit ihr rede? Ihr Name ist Rock.« Vorsichtig fügte ich hinzu: »Ihren Vornamen weiß ich nicht.«
Shedd drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Lassen Sie Mr. Rosen für einen Zeitraum von höchstens zehn Minuten mit einer Miss oder Mrs. Rock reden. Und dann bringen Sie ihn zum Haupteingang – seine Zeit hier ist um.«
Ein stämmiger Pfleger brachte mich zu Pris’ Zimmer im Frauenflügel. Sie saß auf dem Bett und malte sich mit einem orangefarbenen Stift die Fingernägel an. Als ich eintrat, blickte sie auf.
»Hi, Louis«, sagte sie leise.
»Pris, ich habe es getan – ich habe ihm alles so erzählt, wie du es wolltest.« Ich beugte mich vor und berührte sie sanft am Arm. »Ich bin frei. Sie haben mich entlassen. Ich kann wieder nach Hause.«
»Dann geh.«
Ich starrte sie perplex an. »Und was ist mit dir?«
»Ich hab’s mir anders überlegt. Ich habe keine Entlassung beantragt. Ich glaube, ich bleibe lieber noch ein paar Monate. Es gefällt mir hier – ich lerne Weben. Ich webe gerade einen Teppich aus schwarzer Schurwolle.« Sie schlug die Augen nieder. »Ich hab dich belogen, Louis. Ich werde so schnell nicht entlassen, ich bin viel zu krank. Ich muss hier noch lange Zeit bleiben, vielleicht für immer. Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, ich würde bald rauskommen. Bitte verzeih mir.« Sie griff kurz meine Hand und ließ sie wieder los.
Ich konnte nichts erwidern.
Kurz darauf brachte mich der Pfleger zum Ausgang. Mit fünfzig Dollar in der Tasche, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Regierung der Vereinigten Staaten, wurde ich in die Welt hinausgeschickt. Die Kasanin-Klinik lag hinter mir, war nicht länger Bestandteil meines Lebens.
Es geht mir gut, sagte ich mir. Ich kann zurück nach Boise, zu meinem Bruder Chester und meinem Vater, zu Maury und der Firma.
Ich habe alles außer Pris.
Irgendwo in dem großen Gebäude der Kasanin-Klinik saß Pris Frauenzimmer und kämmte schwarze Schurwolle für einen Teppich. Sie ging völlig darin auf, ohne jeden Gedanken an mich oder an irgendetwas anderes.