16 Die Seherin

Perrin führte sie in die Tiefe der Schenke hinein. Rand konzentrierte sich so sehr darauf, was er Nynaeve sagen wollte, daß er Min nicht sah, bis sie ihn am Arm packte und zur Seite zog. Die anderen gingen noch ein paar Schritte weiter den Flur entlang, bevor sie bemerkten, daß er stehengeblieben war. Dann blieben auch sie stehen, einerseits ungeduldig, andererseits zögernd.

»Dafür haben wir keine Zeit, Junge«, sagte Thom barsch. Min sah den weißhaarigen Gaukler scharf an. »Geh und vollführe irgendwelche Kunststückchen«, fuhr sie ihn an und zog Rand noch weiter von den anderen weg. »Ich habe wirklich keine Zeit«, sagte Rand zu ihr. »Und ganz bestimmt nicht für närrisches Geschwätz über Entkommen und so was.« Er versuchte, seinen Arm loszureißen, aber jedesmal, wenn er ihn befreit hatte, packte sie ihn erneut.

»Und ich habe auch keine Zeit für irgendwelchen Blödsinn. Halte also bitte den Mund!«

Sie betrachtete kurz die anderen, dann näherte sie sich ihm und sagte mit gedämpfter Stimme: »Vor kurzem ist eine Frau angekommen — kleiner als ich, jung, mit dunklen Augen und sie trägt das dunkle Haar in einem Zopf, der ihr bis an die Taille reicht. Sie ist ein Teil des Ganzen, genauso wie der Rest von euch.«

Rand starrte sie eine Minute lang an. Nynaeve? Was kann sie damit zu tun haben? Licht, wieso bin ich eigentlich darin verwickelt? »Das ist... unmöglich.«

»Du kennst sie?« flüsterte Min.

»Ja, und sie kann nicht in... in was auch immer das alles bedeutet... verwickelt sein.«

»Die Funken, Rand. Sie hat Frau Alys getroffen, als sie hereinkam, und es gab Funken, obwohl nur sie beide zusammenstanden. Gestern konnte ich keine Funken wahrnehmen, wenn nicht wenigstens drei oder vier von euch zusammenkamen, aber heute ist alles klarer und heftiger.« Sie sah Rands Freunde an, die ungeduldig warteten, und sie schauderte, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte. »Es ist beinahe ein Wunder, daß die Schenke nicht Feuer fängt. Ihr seid alle in größerer Gefahr als gestern. Seit sie ankam.«

Rand blickte zu seinen Freunden hinüber. Thom, dessen Brauen sich zu einem buschigen V verzogen hatten, beugte sich vor, offensichtlich bereit, etwas zu unternehmen, damit Rand schneller folgen konnte. »Sie wird nichts unternehmen, was uns verletzen könnte«, sagte er zu Min. »Ich muß jetzt gehen.« Diesmal gelang es ihm, seinen Arm zu befreien.

Er mißachtete ihr empörtes Quieken und begab sich zu den anderen. Sie gingen weiter den Korridor hinunter. Rand sah einmal zurück. Min schüttelte die Faust in seine Richtung und stampfte mit dem Fuß auf.

»Was hatte sie zu sagen?« fragte Mat.

»Nynaeve ist ein Teil davon«, sagte Rand ohne nachzudenken. Dann sah er Mat scharf an und erwischte ihn gerade noch mit bereits geöffnetem Mund. Die Erleuchtung breitete sich langsam auf Mats Gesicht aus. »Teil wovon?« sagte Thom leise. »Weiß dieses Mädchen etwas?«

Während Rand noch überlegte, was er sagen sollte, sprach Mat bereits: »Natürlich gehört sie dazu«, sagte er ärgerlich. »Sie ist ein Teil des Pechs, das wir seit der Winternacht hatten. Vielleicht ist es für euch keine große Sache, die Seherin hier vorzufinden, aber ich sähe beinahe noch lieber die Weißmäntel hier als sie.«

»Sie sah, wie Nynaeve ankam«, sagte Rand. »Sah auch, daß sie sich mit Frau Alys unterhielt, und dachte, sie könne etwas mit uns zu tun haben.« Thom sah ihn von der Seite her an, und sein Schnauben brachte seine Schnurrbarthaare durcheinander, aber die anderen schienen Rands Erklärung zu akzeptieren. Er hatte nicht gern Geheimnisse vor seinen Freunden, aber Mins Geheimnis konnte für sie selbst genauso gefährlich werden wie für ihre ganze Gruppe.

Perrin blieb plötzlich vor einer Tür stehen, und trotz seiner Größe schien er ängstlich zu zögern. Er atmete tief ein, sah seine Begleiter an, atmete noch einmal durch, öffnete dann langsam die Tür und ging hinein. Einer nach dem anderen folgte ihm. Rand war der letzte, und er schloß die Tür mit äußerstem Widerstreben hinter sich.

Es war der Raum, in dem sie am Abend zuvor gegessen hatten. Im Kamin prasselte ein Feuer. In der Mitte des Tisches stand ein glänzendes Silbertablett mit einer Silberkanne und Bechern. Moiraine und Nynaeve saßen an den gegenüberliegenden Tischenden. Keine wandte den Blick von der anderen. Moiraines Hände ruhten auf dem Tisch, genauso bewegungslos wie ihr Gesicht. Nynaeves Zopf war über ihre Schulter nach vorn geschlungen, und das Ende lag in ihrer Faust verborgen. Sie zupfte immer wieder ein wenig daran, so wie sie es zu tun pflegte, wenn sie dem Gemeinderat noch sturer als üblicherweise gegenüberstand. Perrin hatte recht. Trotz des Feuers war die Atmosphäre eisig kalt, und die Kälte ging von den beiden Frauen am Tisch aus.

Lan lehnte am Kaminsims, starrte in die Flammen und rieb seine Hände, um sie zu wärmen. Egwene lehnte mit dem Rücken an der Wand. Sie hatte ihren Umhang um und die Kapuze über den Kopf gezogen. Thom, Mat und Perrin blieben unsicher an der Tür stehen.

Rand fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Doch er zuckte die Achseln und ging zum Tisch. Manchmal muß man den Wolf bei den Ohren packen, machte er sich selbst Mut. Allerdings erinnerte er sich auch an ein anderes Sprichwort: Wenn du einen Wolf an den Ohren hältst, ist es genauso schwer, loszulassen, wie sich festzuhalten. Er fühlte Moiraines Blick und den von Nynaeve, und sein Gesicht begann zu brennen, aber er nahm trotzdem genau zwischen den beiden Platz.

Eine Minute lang bewegte sich absolut nichts im Raum. Dann traten Egwene und Perrin und schließlich auch Mat vor, gingen zögernd zum Tisch und setzten sich neben Rand in die Mitte. Egwene zog ihre Kapuze noch weiter vor, genug, ihr Gesicht halb zu verbergen, und sie alle vermieden es, irgend jemanden anzusehen.

»Also«, schnaubte Thom von seinem Standort neben der Tür her, »soviel wäre nun geschafft.«

»Da nun alle hier sind«, sagte Lan, verließ den Kamin und füllte einen der silbernen Becher mit Wein, »werdet Ihr dies vielleicht endlich von mir annehmen.« Er bot Nynaeve den Becher an. Sie betrachtete ihn mißtrauisch. »Keine Angst«, sagte er geduldig. »Ihr habt gesehen, wie der Wirt den Wein brachte, und keiner von uns hatte Gelegenheit, etwas hineinzutun. Er ist ganz rein.«

Der Mund der Seherin verzog sich bei dem Wort Angst zornig, doch sie nahm den Becher und murmelte: »Danke.«

»Ich möchte gern wissen«, sagte er, »wie Ihr uns gefunden habt.«

»Ich auch.« Moiraine beugte sich gespannt vor. »Vielleicht seid Ihr jetzt gewillt zu sprechen, nachdem Egwene und die Jungen zu Euch gebracht wurden?«

Nynaeve nippte an dem Wein, bevor sie der Aes Sedai antwortete. »Ihr konntet nirgendwo anders als nach Baerlon hingehen. Um sicher zu gehen, folgte ich dann aber eurer Spur. Ihr seid ja ganz schön im Zickzack geritten. Aber ich schätze, ihr hattet kein Interesse daran, anständigen Leuten über den Weg zu laufen.«

»Ihr... seid unserer Spur gefolgt?« sagte Lan, der zum ersten Mal, seit Rand ihn kannte, wirklich überrascht wirkte. »Ich muß wohl leichtsinnig geworden sein.«

»Ihr habt nicht viele Spuren hinterlassen, aber ich kann mindestens ebensogut Spuren lesen wie jeder Mann in den Zwei Flüssen, vielleicht mit Ausnahme von Tam al'Thor.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Bis mein Vater starb, nahm er mich immer mit auf die Jagd und lehrte mich, was er sonst den Söhnen beigebracht hätte, die er nie hatte.« Sie sah Lan herausfordernd an, aber er nickte nur beifällig.

»Wenn Ihr einer Spur folgen könnt, die ich zu verbergen versucht habe, dann hat er Euch gut unterrichtet. Nur wenige schaffen das, selbst in den Grenzlanden.«

Plötzlich verbarg Nynaeve das Gesicht in ihrem Becher. Rands Augen weiteten sich. Sie errötete. Nynaeve zeigte sich niemals auch nur im geringsten verwirrt. Zornig, ja, oftmals auch wütend, aber niemals aus der Fassung gebracht. Doch nun waren ihre Wangen deutlich gerötet, und sie bemühte sich, das durch den Becher zu verdecken.

»Vielleicht«, sagte Moiraine ruhig, »werdet Ihr nun einige meiner Fragen beantworten. Ich habe Eure ehrlich genug beantwortet.«

»Mit einem Haufen Gaukler-Märchen«, schoß Nynaeve zurück. »Die einzige Tatsache, die ich feststellen kann, ist, daß vier junge Leute aus einem unerfindlichen Grund von einer Aes Sedai entführt wurden.«

»Man hat Euch gesagt, daß das hier niemand weiß«, sagte Lan scharf. »Ihr müßt lernen, Eure Zunge zu hüten.«

»Warum sollte ich?« wollte Nynaeve wissen. »Warum sollte ich Euch helfen, Euch oder das, was Ihr seid, zu verbergen? Ich bin gekommen, um Egwene und die Jungen nach Emondsfeld zurückzubringen, und nicht, um Euch zu helfen, sie wegzulocken.«

Thom mischte sich mit Verachtung in der Stimme ein: »Wenn Ihr wollt, daß sie ihr Dorf wiedersehen — und Ihr selbst auch -, dann solltet Ihr vorsichtiger sein. Es gibt in Bearlon solche, die sie« — er machte eine schnelle Kopfbewegung auf Moiraine zu — »töten würden für das, was sie darstellt. Ihn auch!« Er zeigte auf Lan, und dann trat er plötzlich vor und stemmte die Fäuste auf den Tisch. Er ragte über Nynaeve auf, und sein langer Schnurrbart und die dichten Augenbrauen wirkten mit einemmal bedrohlich.

Ihre Augen weiteten sich und sie wollte sich schon von ihm wegdrehen, doch dann versteifte sie trotzig den Rücken. Thom schien es gar nicht zu bemerken; er fuhr mit unheilverheißend sanfter Stimme fort: »Nur ein Gerücht, ein Flüstern in ein falsches Ohr, würde genügen, und sie würden diese Schenke wie ein Schwarm vor Kriegerameisen überschwemmen. Ihr Haß ist so stark, ihr Wunsch, jeden von der Sorte dieser beiden gefangenzunehmen oder zu töten. Und das Mädchen? Die Jungen? Ihr? Ihr hängt alle mit ihnen zusammen. Jedenfalls wäre es genug für die Weißmäntel. Es würde Euch nicht gefallen, wie sie ihre Fragen stellen, besonders wenn es irgendwie um den Weißen Turm geht. Die Folterknechte der Weißmäntel nehmen von vornherein an, daß Ihr schuldig seid, und für diese Art von Schuld gibt es nur ein Urteil. Sie haben kein Interesse daran, die Wahrheit herauszufinden; sie glauben, diese ohnehin bereits zu kennen. Alles, was sie mit ihren Brandeisen und Zangen erreichen wollen, ist ein Geständnis. Also erinnert Euch besser daran, daß manche Geheimnisse zu gefährlich sind, sie laut auszusprechen, selbst wenn Ihr glaubt zu wissen, wer zuhört.« Er richtete sich auf und murmelte noch: »Wie es scheint, muß ich das in letzter Zeit viel zu oft sagen.«

»Das war gut gesprochen, Gaukler«, sagte Lan. Der Behüter blickte wieder abwägend drein. »Ich bin überrascht, daß Ihr so besorgt seid.«

Thom zuckte die Achseln. »Es ist auch bekannt, daß ich mit Euch gekommen bin. Ich lege keinen Wert darauf, daß mir ein Folterknecht mit einem Brandeisen sagt, ich solle meinen Sünden bereuen und im Licht wandeln.«

»Das«, warf Nynaeve mit beißender Stimme ein, »ist noch ein Grund mehr, warum sie morgen mit mir heimkehren sollten. Oder schon heute nachmittag. Je eher wir weg sind von Euch und auf dem Rückweg nach Emondsfeld, desto besser.«

»Das können wir nicht«, sagte Rand und war froh, daß seine Freunde alle zur gleichen Zeit protestierten. Nynaeves böser Blick mußte nun wenigstens allen gleichermaßen gelten, und sie bekamen ihn auch prompt zu spüren. Doch da er zuerst gesprochen hatte, schwiegen alle anderen und sahen ihn an. Selbst Moiraine lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah ihn über die verschränkten Finger hinweg an. Es kostete ihn einige Mühe, der Seherin ins Auge zu blicken. »Wenn wir nach Emondsfeld zurückgehen, dann kommen auch die Trollocs zurück. Sie... sie jagen uns. Ich weiß nicht, warum, aber es stimmt. Vielleicht werden wir in Tar Valon herausfinden, warum. Vielleicht finden wir auch heraus, wie wir das beenden können. Es ist der einzige Weg.«

Nynaeve hob verzweifelt die Hände. »Du hörst dich genau wie Tam an. Er ließ sich in die Dorfversammlung tragen und versuchte, alle zu überzeugen. Zuvor hatte er das schon beim Gemeinderat probiert. Das Licht weiß, wie eure... Frau Alys« — ihre Stimme schüttete eine Wagenladung Verachtung über den Namen aus — »es geschafft hat, ihn zu überzeugen. Normalerweise verfügt er über gesunden Menschenverstand, mehr als die meisten anderen Männer. Jedenfalls besteht der Gemeinderat auch sonst aus einem Haufen alter Narren. Aber dafür waren selbst sie nicht närrisch genug, und die anderen auch nicht. Sie stimmten zu, daß man euch suchen müsse. Dann wollte Tam derjenige sein, der euch folgt, dabei konnte er sich noch nicht einmal auf den Beinen halten. Eure Familie muß aus lauter Narren bestehen.«

Mat räusperte sich und nuschelte dann: »Wie steht's mit meinem Pa? Was hat er gesagt?«

»Er hat Angst, daß du deine Streiche an Ausländern versuchst und dafür eins über den Kopf kriegst. Er schien davor mehr Angst zu haben, als vor... Frau Alys hier. Aber er war noch nie viel schlauer als du.«

Mat schien sich nicht sicher zu sein, wie er das verstehen sollte oder was er antworten sollte oder ob überhaupt eine Antwort fällig war.

»Ich erwarte«, begann Perrin zögernd, »ich meine, ich denke, Meister Luhhan war auch nicht gerade glücklich über meine Abreise.«

»Hast du erwartet, daß er sich freut?« Nynaeve schüttelte angewidert den Kopf und sah Egwene an. »Ich sollte mich eigentlich bei diesen drei nicht über solche idiotischen Einfälle wundern, aber ich dachte, andere hätten etwas mehr Urteilsvermögen.«

Egwene lehnte sich zurück, damit sie von Perrin verdeckt wurde. »Ich habe eine Nachricht hinterlassen«, sagte sie schwach. Sie zupfte an ihrer Kapuze herum, als habe sie Angst, ihr loses Haar könne sich zeigen. »Ich habe alles erklärt.« Nynaeves Gesicht lief dunkel an.

Rand seufzte. Die Seherin war drauf und dran, einen ihrer Wutanfälle zu bekommen und es sah nach einem ganz hochkarätigen aus. Wenn sie sich in ihrem Zorn auf etwas versteifte — wenn sie zum Beispiel sagte, sie werde sie nach Emondsfeld zurückschicken, ganz gleich, was irgend jemand behauptete -, dann wäre es fast unmöglich, sich dem zu entziehen. Er öffnete den Mund.

»Eine Nachricht!« begann Nynaeve, gerade als Moiraine sagte: »Ihr und ich, wir müssen uns immer noch unterhalten, Seherin.«

Hätte Rand sich selbst noch am Sprechen hindern können, dann wäre es in diesem Augenblick angebracht gewesen, doch seine Worte strömten heraus, als habe er statt seines Mundes ein Wehr geöffnet. »Alles schön und gut, aber es ändert nichts an der Lage. Wir können nicht zurück. Wir müssen weiter.« Das letztere sagte er etwas langsamer, und seine Stimme sank zu einem Flüstern ab. Die Seherin und die Aes Sedai sahen ihn an. Es war die Art von Blick, wie er ihn kannte, wenn er auf Frauen traf, die über Angelegenheiten des Frauenzirkels sprachen — die Art, die ihm sagte, er solle seine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer stecken. Er lehnte sich zurück und wünschte sich, er sei irgendwo anders.

»Seherin«, sagte Moiraine, »Ihr müßt mir glauben, daß sie bei mir sicherer sind als in den Zwei Flüssen.«

»Sicherer!« Nynaeve schüttelte verächtlich den Kopf. »Ihr seid diejenige, die sie hierher gebracht hat, wo sich die Weißmäntel aufhalten. Dieselben Weißmäntel, wenn der Gaukler die Wahrheit gesagt hat, die ihnen Euretwegen etwas antun könnten. Sagt mir, wieso sie hier sicherer sind, Aes Sedai!«

»Es gibt viele Gefahren, vor denen ich sie nicht beschützen kann«, stimmte Moiraine zu, »genauso wie Ihr sie nicht vor dem Blitz beschützen könnt, wenn Ihr mit ihnen zurückkehrt. Aber es ist nicht der Blitz, vor dem sie sich fürchten müssen, und es sind auch nicht die Weißmäntel. Es sind der Dunkle König und seine Abgesandten. Und vor denen kann ich sie beschützen. Ich kann die Wahre Quelle berühren, kann Saidar benützen, und das gibt mir so wie jeder Aes Sedai die Macht, die zu ihrem Schutz notwendig ist.« Nynaeves Mund verzog sich zweifelnd. Auch Moiraines Lippen verzogen sich, aber vor Ärger, und doch fuhr sie fort, wenn auch ihre Stimme klang, als sei sie mit ihrer Geduld am Ende. »Selbst jene armen Männer, die für kurze Zeit über die Macht verfügen, genießen diesen Schutz. Obwohl Saidin nicht nur beschützt, denn gelegentlich werden sie durch das Verderben, das daran klebt, auch erst richtig verwundbar. Aber ich kann, wie jede andere Aes Sedai, meinen Schutz auf die ausdehnen, die sich in meiner Nähe befinden. Kein Blasser kann ihnen etwas antun, solange sie sich — so wie jetzt — dicht bei mir aufhalten. Kein Trolloc kann sich auf mehr als eine Viertelmeile nähern, ohne daß Lan es merkt, denn er fühlt das Böse an ihnen. Könnt Ihr ihnen halb soviel bieten, wenn sie mit Euch nach Emondsfeld zurückkehren?«

»Ihr traut Euch reichlich viel zu«, sagte Nynaeve. »Wir haben ein Sprichwort in den Zwei Flüssen, das heißt: ›Es ist gleich, wer gewinnt, der Wolf oder der Bär — das Kaninchen ist immer der Verlierer.‹ Tragt Euren Streit irgendwo anders aus, und laßt die Leute aus Emondsfeld in Frieden.«

»Egwene«, sagte Moiraine nach einem Moment des Schweigens, »geh mit den anderen weg, und laß die Seherin eine Weile mit mir allein.« Ihr Gesicht sagte nichts aus; Nynaeve machte sich am Tisch breit, als sei sie bereit, einen Ringkampf zu beginnen.

Egwene sprang auf die Beine. Ihr Wunsch, sich würdevoll zu bewegen, stand offenbar mit ihrem Wunsch auf dem Kriegsfuß, eine Auseinandersetzung mit der Seherin wegen ihres offen getragenen Haares zu vermeiden. Sie hatte keinerlei Schwierigkeiten; durch einen Blick die anderen um sich zu versammeln. Mat und Perrin schoben ihre Stühle hastig nach hinten, murmelten irgendwelche Höflichkeitsfloskeln und bemühten sich, nicht gleich hinauszurennen. Selbst Lan ging auf ein Zeichen Moiraines zur Tür und zog Thom mit sich.

Rand folgte, und der Behüter schloß die Tür hinter ihnen. Dann stand er auf der anderen Seite des Flurs Wache. Unter Lans argwöhnischen Blicken gingen die anderen ein kleines Stück weiter den Korridor hinunter. Es durfte auch nicht die geringste Gelegenheit für jemanden geben, sie zu belauschen. Als sie gerade weit genug entfernt waren, daß es ihm paßte, lehnte sich der Behüter entspannt gegen die Wand. Auch ohne seinen farbverändernden Umhang wirkte er so bewegungslos, daß er nur schwer zu bemerken war, außer man stand direkt vor ihm.

Der Gaukler äußerte, daß er Besseres zu tun habe, und verließ sie mit einem ernsten: »Erinnert Euch daran, was ich gesagt habe!« über seine Schulter hinweg. Kein anderer schien das Bedürfnis zu haben, sich wegzustehlen.

»Was hat er gemeint?« fragte Egwene abwesend. Ihre Augen waren auf die Tür gerichtet, hinter der Moiraine und Nynaeve miteinander sprachen. Sie spielte an ihren Haaren herum, als sei sie innerlich gespalten: Sollte sie weiterhin die Tatsache verbergen, daß sie die Haare offen trug oder die Kapuze einfach zurückschlagen?

»Er hat uns einige Ratschläge erteilt«, sagte Mat.

Perrin sah ihn warnend an. »Er sagte, wir sollten den Mund nicht aufmachen, bevor wir sicher seien, was wir eigentlich sagen wollten.«

»Das klingt nach einem guten Ratschlag«, sagte Egwene, doch sie wirkte dabei ganz eindeutig desinteressiert. Rand stand in Gedanken versunken da. Wie konnte denn Nynaeve Teil dieses Ganzen sein? Wie konnte irgendeiner von ihnen überhaupt mit Trollocs und Blassen und einem in den Träumen erscheinenden Ba'alzamon zu tun haben? Es war verrückt. Er fragte sich, ob Min Moiraine von Nynaeve berichtet hatte. Was sagen sie dort drinnen?

Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort gestanden hatte, als sich die Tür endlich öffnete. Nynaeve trat heraus und erschrak, als sie Lan bemerkte. Der Behüter sagte ihr leise etwas, was sie ihren Kopf ärgerlich in den Nacken werfen ließ, und dann schlüpfte er an ihr vorbei durch die Tür.

Sie wandte sich Rand zu, und nun wurde ihm erst bewußt, daß die anderen alle heimlich verschwunden waren. Er wollte der Seherin nicht allein gegenüberstehen, doch jetzt, da sie ihn erblickt hatte, gab es kein Entrinnen mehr. Ein forschender Blick, dachte er erstaunt. Was haben sie nur gesprochen? Er richtete sich auf, als sie sich ihm näherte.

Sie zeigte auf Tams Schwert. »Das scheint heutzutage zu dir zu passen, obwohl es mir lieber wäre, das wäre nicht der Fall. Du bist gewachsen, Rand.«

»In einer Woche?« Er lachte, doch es klang gezwungen und sie schüttelte den Kopf, als verstehe sie nicht. »Hat sie dich überzeugt?« fragte er. »Es ist wirklich die einzige Möglichkeit.« Er unterbrach sich und dachte an Mins Funken. »Kommst du mit uns?«

Nynaeve machte große Augen. »Mit euch kommen? Warum sollte ich? Mavra Mallen ist von Devenritt herübergekommen, um mich zu vertreten, bis ich zurückkehre, aber sie wird zurückkehren wollen, sobald sie nur kann. Ich hoffe immer noch, daß ich euch zum Einlenken bringe und ihr mit mir heimkommt.«

»Das können wir nicht.« Er glaubte, an der immer noch geöffneten Tür eine Bewegung zu sehen, aber sie waren allein im Flur.

»Das hast du mir schon einmal gesagt, und sie auch.« Nynaeve zog die Stirn in Falten. »Wenn sie nicht darin verwickelt wäre... Aes Sedai kann man nicht trauen, Rand.«

»Du hörst dich an, als ob du uns in Wirklichkeit glaubst«, sagte er bedächtig. »Was ist bei der Dorfversammlung geschehen?«

Nynaeve blickte zur Tür zurück, bevor sie antwortete. Dort bewegte sich jetzt nichts. »Es war ein totales Durcheinander, aber sie muß nicht unbedingt wissen, daß wir unsere eigenen Angelegenheiten nicht besser regeln können. Und ich glaube nur eine Sache: Ihr seid alle in Gefahr, solange ihr euch bei ihr befindet.«

»Es ist etwas geschehen«, beharrte er. »Warum willst du, daß wir zurückkommen, wenn du glaubst, es bestünde eine Möglichkeit, daß wir doch recht haben? Und warum überhaupt du? Man könnte dann genausogut den Bürgermeister schicken wie die Seherin.«

»Du bist gewachsen.« Sie lächelte, und das ließ ihn einen Augenblick lang unruhig von einem Fuß auf den anderen treten. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da hättest du nicht in Frage gestellt, wohin ich zu gehen beschließe oder was ich tun will, gleich, worum es ging. Das ist gerade eine Woche her.«

Er räusperte sich und fragte stur weiter. »Es ergibt sonst keinen Sinn. Warum bist du wirklich hier?«

Sie sah so halb zu der leeren Türöffnung hinüber und nahm dann seinen Arm. »Laufen wir ein Stück weiter, während wir sprechen.« Er ließ sich von ihr wegführen, und als sie sich weit genug von der Tür entfernt hatten, um nicht mehr belauscht zu werden, begann sie wieder. »Wie ich schon sagte: Die Versammlung war ein einziges Durcheinander. Alle waren sich einig, daß euch jemand nachgeschickt werden mußte, aber das Dorf war in zwei Gruppen gespalten. Die einen wollten, daß ihr gerettet werdet, obwohl es kräftigen Streit darüber gab, wie das bewerkstelligt werden könne, wenn man bedenkt, daß ihr bei einer... bei einer von diesen seid.«

Er war froh, daß sie bei der Wahl ihrer Worte sehr vorsichtig war. »Die anderen glaubten Tam?« fragte er.

»Nicht unbedingt, aber sie dachten, ihr solltet euch nicht bei Fremden aufhalten, besonders nicht bei einer wie ihr. Was auch immer — beinahe jeder Mann wollte bei der Suchaktion dabei sein. Tam und Bran al'Vere mit den Waagschalen seines Amtes um den Hals, und Haral Luhhan, bis Alsbet es fertigbrachte, daß er sich wieder hinsetzte. Sogar Cenn Buie! Das Licht bewahre mich vor Männern, die mit dem Haar auf ihrer Brust zu denken versuchen! Obwohl ich nicht weiß, ob es überhaupt andere gibt.« Sie schniefte kräftig und blickte anklagend zu ihm auf. »Jedenfalls wurde mir klar, daß es noch einen geschlagenen Tag dauern würde, bis sie zu einer Entscheidung kämen, und irgendwie... irgendwie war ich sicher, daß wir nicht so lange warten durften. Also berief ich den Frauenzirkel ein und sagte ihnen, was geschehen müsse. Ich kann nicht behaupten, daß es ihnen gefiel, aber sie sahen ein: Ich hatte recht. Und deshalb bin ich hier. Die Männer aus Emondsfeld sind sture Wollköpfe. Sie streiten sich vermutlich immer noch darüber, wen sie schicken sollen, obwohl ich hinterließ, daß ich mich darum kümmern werde.«

Nynaeves Geschichte erklärte ihre Anwesenheit, aber sie konnte ihn nicht beruhigen. Sie war immer noch entschlossen, mit ihnen zusammen nach Hause zu gehen.

»Was hat sie dir da drinnen gesagt?« fragte er. Moiraine hätte doch sicherlich jedes Argument benützt, aber sollte sie etwas vergessen haben, dann konnte er das ja nachholen.

»Praktisch das gleiche«, erwiderte Nynaeve. »Und sie wollte mehr über euch Jungen wissen. Um herauszufinden, warum ihr... diese Art von Aufmerksamkeit erregt habt... sagte sie jedenfalls.« Sie legte eine Pause ein und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. »Sie versuchte, es zu verschleiern, aber vor allem wollte sie herausfinden, ob einer von euch außerhalb der Zwei Flüsse geboren wurde.«

Sein Gesichtshaut spannte sich plötzlich wie ein Trommelfell. Er brachte es fertig, heiser zu lachen. »Sie hat aber eigenartige Ideen. Ich hoffe, du hast ihr versichert, daß wir alle in Emondsfeld geboren wurden.«

»Natürlich«, antwortete sie. Sie hatte nur einen Herzschlag lang gezögert, bevor sie sprach, so kurz, daß er es gar nicht bemerkt hätte, wenn er nicht darauf gewartet hätte.

Er versuchte krampfhaft, sich etwas einfallen zu lassen, was er sagen konnte, aber seine Zunge fühlte sich an wie ein Stück Leder. Sie weiß es. Sie war schließlich die Seherin, und von einer Seherin nahm man an, daß sie alles über jeden wußte. Wenn sie davon weiß, dann war es kein Fiebertraum. O Licht hilf mir, Vater!

»Ist alles in Ordnung?« fragte Nynaeve.

»Er sagte... sagte, daß ich... nicht sein Sohn sei. Als er im Delirium war... wegen des Fiebers. Er sagte, er habe mich gefunden. Ich dachte, es sei nur... « Seine Kehle begann zu brennen, und er mußte aufhören zu sprechen.

»O Rand!« Sie hielt inne und nahm sein Gesicht in ihre beiden Hände. Sie mußte ihre Hände dazu nach oben strecken. »Die Menschen sagen im Fieber die seltsamsten Sachen. Verdrehte Sachen. Sachen, die nicht wahr und wirklich sind. Hör auf mich! Tam al'Thor ist weggelaufen, um Abenteuer zu suchen, als er ein Junge war und nicht älter als du. Ich kann mich gerade noch daran erinnern, wie er zurück nach Emondsfeld kam; ein erwachsener Mann mit einer rothaarigen ausländischen Frau und einem Baby in Windeln. Ich erinnere mich daran, daß Kari al'Thor dieses Kind mit so viel Liebe und Freude in den Armen hielt, wie ich es nur jemals bei einer Mutter erlebt habe. Ihr Kind, Rand. Du. Nun reiß dich zusammen und höre auf mit solchen Verrücktheiten.«

»Natürlich«, sagte er. Ich wurde außerhalb der Zwei Flüsse geboren. »Natürlich.« Vielleicht hatte Tam einen Fiebertraum gehabt, und vielleicht hatte er nach einer Schlacht ein Baby gefunden. »Warum hast du es ihr nicht gesagt?«

»Das geht keinen Ausländer etwas an.«

»Sind auch noch andere außerhalb geboren?« Sobald er die Frage gestellt hatte, schüttelte er auch schon den Kopf. »Nein, antworte nicht. Es geht mich auch nichts an.« Aber es wäre gut, zu wissen, ob Moiraine an ihm ein besonderes Interesse hatte, das über das Interesse an ihnen als Gruppe hinausging. Wäre das wirklich gut?

»Nein, es geht dich nichts an«, stimmte Nynaeve zu. »Es braucht auch nichts zu bedeuten. Es kann sein, daß sie einfach blind nach einem Grund sucht, irgendeinem Grund, warum diese Wesen hinter dir her sind. Hinter euch allen.«

Rand brachte ein schwaches Grinsen fertig. »Dann glaubst du also schon, daß sie uns jagen.«

Nynaeve schüttelte ungerührt den Kopf. »Du hast ziemlich gut gelernt, einem das Wort im Mund zu verdrehen, seit du sie kennengelernt hast.«

»Was wirst du tun?« fragte er.

Sie betrachtete ihn. Er sah ihr standhaft in die Augen. »Heute werde ich ein Bad nehmen. Was das andere angeht, werden wir ja sehen.«

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