30 Kinder des Schattens

Egwene blieb am Feuer sitzen und blickte zu dem Rest der Statue auf, doch Perrin ging hinunter zum Teich, um allein zu sein. Der Tag verblaßte, und im Osten erhob sich bereits der Nachtwind und kräuselte die Wasseroberfläche. Er nahm die Axt aus der Schlaufe an seinem Gürtel und drehte sie in den Händen um. Der Eschenholzschaft war so lang wie sein Arm und fühlte sich glatt und kühl an. Er haßte sie. Er schämte sich, daß er daheim in Emondsfeld so stolz auf die Axt gewesen war. Bevor er wußte, was er vielleicht einmal gewillt sei, mit ihr anzurichten.

»Haßt du sie so sehr?« sagte Elyas hinter ihm.

Überrascht sprang er auf und hob die Axt, bevor er sah, wer ihn angesprochen hatte. »Kannst... kannst du auch in meinen Gedanken lesen? Wie die Wölfe?«

Elyas hielt den Kopf schräg und betrachtete ihn abschätzend. »Deinen Gesichtsausdruck könnte auch ein Blinder deuten, Junge. Also red schon! Haßt du das Mädchen? Verachtest du sie? Das muß es sein. Du warst bereit, sie zu töten, weil du sie verachtest. Du schleifst sie immer hinterher, und sie hält dich mit ihrem weiblichen Getue auf.«

»Ich mußte Egwene noch nie hinterherschleifen«, widersprach er. »Sie leistet immer ihren Anteil. Ich verachte sie nicht, ich liebe sie.« Er funkelte Elyas an. Der sollte ja nicht lachen! »So war das wieder nicht gemeint. Also, sie ist nicht gerade wie eine Schwester für mich, aber sie und Rand — Blut und Asche! Wenn uns die Raben fingen — wenn — ich weiß nicht.«

»Natürlich weißt du's. Wenn sie wählen könnte, auf welche Art sie sterben will, wie glaubst du, würde sie sich entscheiden? Ein sauberer Schlag mit deiner Axt oder ein Tod wie der der Tiere, die wir heute gesehen haben? Ich weiß, wie sie sich entscheiden würde.«

»Ich habe kein Recht, für sie zu entscheiden. Du sagt es ihr doch nicht, oder? Wegen... « Seine Hände krampften sich um den Schaft der Axt; die Muskeln seiner Arme waren wie zu Seilen verknotet — starke Muskeln für sein Alter, aufgebaut in langen Stunden, während deren er in Meister Luhhans Schmiede den Hammer geschwungen hatte. Einen Moment lang glaubte er, der dicke Holzschaft werde brechen. »Ich hasse dieses blutige Ding«, murrte er. »Ich weiß nicht, was ich überhaupt damit anfange. Ich renne damit herum wie ein alter Narr. Weißt du, ich hätte es nicht fertiggebracht. Solange es nur darum geht, sich das vorzustellen und vielleicht und so, da gebe ich eben an und tue, als ob... « Er seufzte, und seine Stimme wurde schwächer. »Jetzt ist alles anders. Ich möchte sie nie mehr benutzen.«

»Du wirst sie benutzen.«

Perrin hob die Axt, um sie in den Teich zu werfen, doch Elyas hielt seinen Arm auf.

»Du wirst sie benutzen, Junge, und solange du es gegen deinen Willen tust, wirst du sie überlegter einsetzen als die meisten Männer. Warte ab! Wenn du sie nicht mehr haßt, dann ist es an der Zeit, sie so weit wie möglich wegzuwerfen und in entgegengesetzter Richtung davonzulaufen.«

Perrin wog die Axt in beiden Händen. Er war immer noch versucht, sie im Teich zurückzulassen. Leicht für ihn zu sagen, ich solle warten. Was ist, wenn ich warte und sie dann nicht mehr wegwerfen kann?

Er öffnete den Mund, um Elyas zu fragen, brachte aber kein Wort heraus. Statt dessen empfing er eine Botschaft der Wölfe. Sie war so dringend, daß seine Augen ganz glasig wurden. In diesem Augenblick vergaß er, was er hatte sagen wollen, daß er überhaupt etwas sagen wollte, ja, er vergaß sogar, wie man spricht und atmet. Auch Elyas Gesicht erschlaffte, und seine Augen schienen gleichzeitig nach innen hinein und in weite Ferne zu blicken. Dann war es vorüber, so schnell, wie es gekommen war. Es hatte nur einen Herzschlag lang gedauert, aber das war genug.

Perrin schüttelte sich und sog tief Luft ein. Elyas ließ sich keine Zeit; sobald sich der Schleier von seinen Augen gehoben hatte, eilte er ohne zu zögern ans Feuer. Perrin rannte schweigend hinter ihm her.

»Lösch das Feuer!« rief Elyas heiser Egwene zu. Er gestikulierte wild und bemühte sich, flüsternd zu schreien: »Mach's aus!«

Sie erhob sich, schaute ihn unsicher an und trat dann näher an das Feuer, aber eben langsam. Sie verstand offensichtlich nicht, was vorging.

Elyas schubste sie grob zur Seite, ergriff den Teekessel und fluchte, als er sich die Finger verbrannte. Er balancierte den heißen Kessel in den Händen und leerte ihn über dem Feuer aus. Einen Schritt hinter ihm kam Perrin gerade rechtzeitig, um Erde über die zischenden Kohlen zu treten, während noch der letzte Tee ins Feuer platschte. Es zischte, und Dampfwölkchen stiegen auf. Er hörte nicht auf, bis die letzten Überreste des Feuers begraben waren.

Elyas warf Perrin den Kessel zu, der ihn sofort mit einem unterdrückten Schrei fallen ließ. Perrin blies auf seine Hände und sah Elyas böse an, aber der fellgekleidete Mann war zu sehr damit beschäftigt, das Lager hastig zu überprüfen, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken.

»Keine Möglichkeit zu verbergen, daß sich jemand hier befunden hat«, sagte Elyas. »Wir müssen uns eben beeilen und hoffen. Vielleicht kümmern sie sich auch gar nicht darum. Blut und Asche, aber ich war so sicher, daß es die Raben sind.«

Hastig warf Perrin Bela den Sattel über und stützte die Axt gegen seine Hüfte, während er sich bückte, um den Gurt anzuziehen.

»Was ist los?« fragte Egwene. Ihre Stimme zitterte. »Trollocs? Ein Blasser?«

»Geht entweder nach Osten oder Westen«, sagte Elyas zu Perrin. »Sucht euch ein Versteck; ich stoße zu euch, sobald ich kann. Wenn sie einen Wolf bemerken... « Er hastete weg, gebückt, als wolle er auf allen vieren laufen, und verschwand in den länger werdenden Schatten des Abends.

Egwene suchte schnell ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, aber sie wollte trotzdem noch eine Erklärung von Perrin. Ihre Stimme klang eindringlich, und je mehr er sich ausschwieg, desto ängstlicher wurde sie. Auch er hatte Angst, doch die Angst ließ sie schneller vorwärtskommen. Er wartete, bis sie in Richtung der untergehenden Sonne unterwegs waren. Er lief vor Bela her und hielt die Axt in beiden Händen vor der Brust. Nun erzählte er ihr in kurzen Zügen über die Schulter hinweg alles, was er wußte, und dabei sah er sich ständig um und suchte nach einem Ort, wo sie sich niederlassen und auf Elyas warten konnten.

»Es kommen eine Menge berittener Männer. Sie sind hinter den Wölfen hergekommen, haben sie aber nicht bemerkt. Sie reiten auf den Teich zu. Vielleicht haben sie gar nichts mit uns zu tun — es ist ja meilenweit die einzige Wasserstelle. Aber Scheckie sagt... « Er blickte sich um. Die Abendsonne warf eigenartige Schattenfiguren auf ihr Gesicht, Schatten, die ihren Gesichtsausdruck verbargen. Was denkt sie jetzt? Sieht sie dich an, als kenne sie dich nicht mehr? Kennt sie dich überhaupt? »Scheckie sagt, sie riechen irgendwie schlecht. So... so wie ein tollwütiger Hund.« Der Teich hinter ihnen war nicht mehr zu sehen. Er konnte immer noch Felsen in der tiefer werdenden Dämmerung erkennen — Fragmente der Statue Artur Falkenflügels -, wußte aber nicht mehr zu sagen, neben welchem Stein sich das Feuer befunden hatte. »Wir werden uns von ihnen fernhalten und einen Ort finden, an dem wir auf Elyas warten können.«

»Warum sollten sie etwas von uns wollen?« fragte sie. »Wir sind doch angeblich hier sicher? Licht, es muß doch wenigstens einen sicheren Ort geben!«

Perrin sah sich noch intensiver nach einem Versteck um. Sie konnten sich noch nicht sehr weit von dem Teich entfernt haben, aber die Dämmerung verdichtete sich. Bald wurde es zu dunkel zum Weitergehen sein. Die Hügelkämme lagen noch unter erblassendem Sonnenschein. In den Niederungen — dort konnte man kaum noch etwas erkennen — erschien es hell. Zur Linken hob sich ein dunkler Umriß scharf vom Himmel ab, ein großer, flacher Felsblock, der aus einem Abhang herausragte und dessen unteren Teil die Dunkelheit einhüllte.

»Dorthin«, sagte er.

Er trabte auf den Hügel zu, wobei er sich umblickte, um zu sehen, ob er die ankommenden Männer entdecken konnte. Es war noch nichts von ihnen zu sehen. Mehr als einmal mußte er stehenbleiben und warten, daß ihm die beiden mühsam nachstolperten. Egwene saß tief über Belas Hals gekauert im Sattel, und die Stute suchte sich vorsichtig einen Weg durch das unebene Gelände. Perrin merkte, daß die beiden noch müder sein mußten, als er geglaubt hatte. Hoffentlich ist das ein gutes Versteck. Ich glaube kaum, daß wir noch mal ein anderes suchen können.

Vom Fuß des Hügels aus betrachtete er den sich vom Himmel deutlich abhebenden, massiven, flachen Felsvorsprung, der knapp unter dem Kamm aus dem Abhang ragte. Es kam ihm irgendwie bekannt vor, wie der obere Teil des großen Brockens unregelmäßige Stufen zu bilden schien — drei hinauf und eine hinunter. Er kletterte hinauf und tastete sich im Gehen an dem Stein entlang. Trotz der jahrhundertelangen Verwitterung konnte er immer noch vier verbundene Säulen ertasten. Er blickte hinauf zu dem stufengleichen Oberteil des Steins, der wie eine riesige Lehne über seinem Kopf aufragte. Finger. Wir machen unser Lager in der Hand Artur Falkenflügels. Vielleicht ist ein wenig von seiner Gerechtigkeit hier übriggeblieben.

Er winkte Egwene zu, sie solle herkommen. Sie rührte sich nicht, also rutschte er den Hügel zu ihr hinunter und sagte ihr, was er herausgefunden hatte. Egwene spähte mit vorgestrecktem Kopf hügelaufwärts. »Wie kannst du denn irgendwas erkennen?« fragte sie ihn.

Perrin öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Er leckte sich über die Lippen, während er sich umsah. Zum erstenmal war ihm wirklich klar, was er da sah. Die Sonne war gesunken. Sie war nun vollständig untergegangen, und der Mond wurde von Wolken verdeckt. Trotzdem erschien es ihm, als erhellten die Purpurfransen der Dämmerung die Nacht. »Ich habe den Felsen betastet«, sagte er schließlich. »Das muß es wohl sein. Sie werden nicht in der Lage sein, uns in diesem Schatten zu erkennen, selbst wenn sie hierher kommen.«

Er nahm Bela am Zaumzeug und führte sie in den Schutz der Hand. Er fühlte Egwenes Blick im Rücken.

Als er ihr gerade aus dem Sattel half, hörten sie Schreie vom Teich her. Sie legte eine Hand auf Perrins Arm, und er verstand ihre unausgesprochene Frage.

»Die Männer haben Wind gesehen«, sagte er zögernd. Es war schwierig, die richtige Bedeutung der Wolfsgedanken herauszulesen. Etwas über Feuer. »Sie haben Fackeln.« Er drückte sie am Fuß der Finger zu Boden und kauerte sich neben sie. »Sie teilen sich in Suchtrupps auf. Sehr viele, und die Wölfe sind alle verwundet.« Er bemühte sich, seine Stimme voller klingen zu lassen. »Aber Scheckie und die anderen sollten trotz ihrer Verwundungen in der Lage sein, ihnen zu entgehen, und mit uns rechnen sie sowieso nicht. Die Menschen sehen nicht, womit sie nicht rechnen. Sie werden bald aufgeben und ein Lager errichten.« Elyas war bei den Wölfen, und er würde sie nicht verlassen, solange sie gejagt wurden. So viele Reiter. So hartnäckig. Warum sind sie so hartnäckig?

Er sah, wie Egwene nickte. »Es wird schon alles gutgehen, Perrin.«

Licht, dachte er staunend, sie versucht ja, mich zu beruhigen!

Die Schreie hörten nicht auf. Kleine Gruppen von Fackeln bewegten sich in einiger Entfernung — flackernde Lichtpunkte in der Dunkelheit.

»Perrin«, sagte Egwene sanft. »Wirst du am Sonntag mit mir tanzen? Wenn wir bis dahin zu Hause sind?«

Seine Schultern bebten. Er machte kein Geräusch und war sich selbst nicht klar darüber, ob er lachte oder weinte. »Das werde ich. Versprochen.« Gegen seinen Willen umklammerten seine Hände die Axt kräftiger, was ihn daran erinnerte, daß er sie immer noch festhielt. Seine Stimme sank zu einem Flüstern ab. »Versprochen«, wiederholte er, und er hoffte.

Gruppen von Fackelträgern ritten nun zwischen den Hügeln hindurch; immer zehn oder zwölf Mann. Perrin konnte nicht abschätzen, wie viele Gruppen es waren. Manchmal sah man drei oder vier gleichzeitig, die hin-und zurückritten. Sie verständigten sich weiterhin rufend, und gelegentlich war die Nacht von Schreien erfüllt — vom Wiehern der Pferde und von menschlichen Schreien.

Er sah alles von mehr als einem Standpunkt aus. Er kauerte mit Egwene am Abhang, beobachtete, wie die Fackeln glühwürmchengleich durch die Dunkelheit flimmerten, und in seinem Geist rannte er mit Scheckie und Wind und Springer durch die Nacht. Die Wölfe waren durch die Raben zu schwer verwundet worden, um sehr weit oder sehr schnell zu rennen, also planten sie, die Menschen aus der Dunkelheit in den Schutz ihrer Feuer zurückzutreiben. Menschen suchten schließlich immer am Feuer Zuflucht, wenn Wölfe die Nacht durchstrichen. Einige der Berittenen führten Gruppen reiterloser Pferde hinter sich her. Die Pferde wieherten und bäumten sich mit weit aufgerissenen Augen auf, wenn zwischen ihnen graue Gestalten auftauchten. Sie wieherten und rissen sich von den Leitriemen los und zerstreuten sich in alle Richtungen, so schnell sie galoppieren konnten. Auch die Pferde mit Reitern auf dem Rücken wieherten, wenn graue Schatten mit grauenerregenden Reißzähnen aus der Dunkelheit heranjagten, und manchmal schrien auch die Reiter, bevor ihre Kehlen von den mächtigen Gebissen zerfetzt wurden. Elyas war ebenfalls dort draußen, auch wenn er seine Anwesenheit nicht so deutlich spüren konnte, und schlich mit seinem langen Messer durch die Nacht — ein zweibeiniger Wolf mit einem scharfen Stahlzahn. Meistens wurde aus den Rufen bald Flüche, aber die Jäger gaben nicht auf.

Plötzlich wurde Perrin klar, daß die Männer mit den Fackeln einem Muster folgten. Jedesmal, wenn einer der Suchtrupps in Sicht kam, befand sich zumindest einer von ihnen wieder etwas näher an dem Abhang, der ihn und Egwene verbarg. Elyas hatte gesagt, sie sollten sich verstecken, aber... Was geschieht, wenn wir weglaufen? Vielleicht können wir uns in der Dunkelheit verstecken, wenn wir ständig in Bewegung bleiben. Vielleicht. Dazu muß es dunkel genug sein.

Er drehte sich zu Egwene um, doch in dem Moment wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Gebündelte Fackeln, vielleicht ein Dutzend, kamen um den Fuß des Hügels herum und schwankten im Schritt der Pferde. Lanzenspitzen schimmerten im Fackelschein. Er erstarrte und hielt die Luft an. Seine Hände umklammerten den Schaft der Axt.

Die Reiter ritten am Hügel vorbei, doch einer der Männer rief etwas, und die Fackeln bewegten sich zurück. Er überlegte krampfhaft; suchte nach einem Ausweg. Aber sobald sie sich bewegten, würde man sie sehen, falls das nicht schon geschehen war. Einmal erkannt, hätten sie keine Chance. Nicht einmal die Dunkelheit könnte ihnen dann helfen.

Die Reiter versammelten sich am Fuß des Hügels. Jeder trug in einer Hand eine Fackel und in der anderen eine lange Lanze. Sie lenkten ihre Pferde durch Schenkeldruck. Im Fackelschein konnte Perrin die weißen Mäntel der Kinder des Lichts erkennen. Sie hielten ihre Fackeln hoch und beugten sich in den Sätteln vor, um besser in die tiefen Schatten unter Artur Falkenflügels Fingern spähen zu können.

»Dort oben ist doch irgendwas«, sagte einer von ihnen. Seine Stimme klang zu laut, als habe er Angst vor dem, was sich außerhalb des Scheins seiner Fackel befinden mochte. »Ich habe euch gesagt, daß sich dort jemand verbergen könnte. Ist das nicht ein Pferd?«

Egwene legte eine Hand auf Perrins Arm. Ihre Augen waren in der Dunkelheit weit aufgerissen. Trotz des Schattens, der ihre Gesichtszüge verbarg, war ihre stumme Frage klar. Was tun? Elyas und die Wölfe schlichen noch immer durch die Nacht. Die Pferde unter ihnen tänzelten nervös. Wenn wir wegrennen, jagen sie uns, bis wir nicht mehr können.

Einer der Weißmäntel ließ sein Pferd vortreten und schrie den Hügel hinauf: »Wenn Ihr die menschliche Sprache verstehen könnt, dann kommt herunter und ergebt Euch. Euch geschieht kein Leid, wenn Ihr im Licht wandelt. Wenn Ihr Euch nicht ergebt, werdet Ihr alle getötet. Ihr habt eine Minute!« Die Lanzen wurden gesenkt, ihre langen Stahlspitzen glänzten im Fackelschein.

»Perrin«, flüsterte Egwene. »Wir können ihnen nicht davonlaufen. Wenn wir nicht aufgeben, töten sie uns. Perrin?«

Elyas und die Wölfe waren noch frei. Ein weiterer röchelnder Aufschrei in der Ferne verriet einen Weißmantel, der Scheckie zu nahe gekommen war. Wenn wir wegrennen... Egwene blickte ihn an und wartete auf seine Entscheidung. Wenn wir rennen... Er schüttelte müde den Kopf und stand auf wie in Trance. Er stolperte den Hügel hinunter auf die Kinder des Lichts zu. Er hörte, wie Egwene seufzte und ihm mit zögernden Schritten folgte. Warum jagen die Weißmäntel die Wölfe so hartnäckig, als haßten sie sie besonders? Warum riechen sie schlecht? Er hatte beinahe das Gefühl, er könne selbst etwas Ungutes, Gefährliches riechen, wenn der Wind von den Reitern herkam. »Laß die Axt fallen!« schnauzte ihn der Anführer an.

Perrin stolperte auf ihn zu und rümpfte die Nase, um den Geruch loszuwerden, den er sich einbildete.

»Laß sie fallen, Bauer!« Die Lanze des Anführers richtete sich auf Perrins Brustkorb.

Einen Augenblick lang starrte er die Lanzenspitze an. Da war genug scharfer Stahl, um ihn vollständig zu durchbohren. Plötzlich schrie er: »Nein!« Der Schrei galt nicht dem Reiter.

Aus der Nacht flog Springer heran, und Perrin war eins mit dem Wolf. Springer, der Welpe, der einst die Adler im Flug bewundert hatte und genauso über den Himmel segeln wollte wie ein Adler. Der Welpe, der gehüpft und gesprungen war, bis er sie höher als jeder andere Wolf springen konnte, und der niemals die Sehnsucht der eigenen Jugend vergessen hatte. Aus der Nacht heraus erschien Springer und sprang in einem fliegenden Satz hoch. Den Weißmänteln blieb nur ein Moment zum Fluchen, dann schloß sich Springers Gebiß um die Kehle des Mannes, der seine Lanze auf Perrin gerichtet hatte. Der Schwung des großen Wolfes ließ sie beide auf der anderen Seite des Pferdes herabstürzen. Perrin spürte, wie der Hals aufgerissen wurde, schmeckte das Blut.

Springer landete leicht auf den Füßen, bereits ein Stück von dem Mann entfernt, den er getötet hatte. Sein Fell war blutverkrustet — mit seinem Blut und dem anderer. Ein Riß an seinem Kopf ging durch die leere Augenhöhle, in der sich sein linkes Auge befunden hatte. Er blickte einen Moment lang Perrin mit dem übriggebliebenen Auge an. Renn, Bruder! Er wirbelte herum, um erneut ein letztes Mal zu springen, und eine Lanze nagelte ihn am Boden fest. Eine zweite Stahlspitze durchdrang seinen Brustkorb und bohrte sich unter ihm in den Boden. Seine Beine zuckten, als er nach den Lanzenschäften schnappte, die ihn am Aufstehen hinderten. Fliegen!

Schmerz erfüllte Perrin, und er schrie auf. Es war ein wortloser Schrei, der etwas vom Heulen eines Wolfs an sich hatte. Ohne zu denken sprang er vor. Er schrie immer noch. Alle Überlegung war dahin. Die Reiter befanden sich zu dicht beieinander, um ihre Lanzen benützen zu können, und die Axt lag wie eine Feder in seiner Hand, der Stahlzahn eines riesigen Wolfs. Etwas krachte auf seinen Kopf herab, und im Fallen wußte er nicht, ob es Springer war oder er selbst, der in dem Moment starb.

»... fliegen wie ein Adler.« Vor sich hinmurmelnd und benebelt öffnete Perrin die Augen. Sein Kopf schmerzte, und er erinnerte sich nicht, warum. Er blinzelte in das Licht und sah sich um. Egwene kniete an seiner Seite und beobachtete ihn. Sie befanden sich in einem quadratischen Zelt von etwa der Größe eines durchschnittlichen Zimmers in einem Bauernhaus. Der Boden war mit Segeltuch ausgelegt. Öllampen auf hohen Ständern in allen vier Ecken warfen helles Licht in den Raum.

»Dem Licht sei Dank, Perrin«, hauchte sie. »Ich hatte gefürchtet, sie hätten dich umgebracht.«

Statt zu antworten, sah er den grauhaarigen Mann an, der auf dem einzigen Stuhl im Zelt saß. Aus einem großväterlichen Gesicht blickten ihn dunkle Augen an. Das Gesicht paßte gar nicht zu dem weiß und goldfarbenen Uniformrock, den der Mann trug, und zu dem glänzenden Brustpanzer, der über sein reinweißes Unterhemd geschnallt war. Es schien ein freundliches Gesicht zu sein, gutmütig und ehrwürdig, und etwas an ihm paßte doch zu der eleganten Strenge der Einrichtungsgegenstände im Zelt: ein Tisch und ein klappbares Feldbett, ein Waschtischchen mit einer einfachen weißen Schüssel und einem Krug, eine einzige Holztruhe, die mit schlichten geometrischen Mustern verziert war. Wo immer Holz verwandt worden war, da hatte man es poliert, bis es matt schimmerte. Auch die Metallgegenstände glänzten, aber nicht zu stark. Nichts davon wirkte protzig. Alles im Zelt sah nach guter handwerklicher Arbeit aus, aber nur jemand, der wirklich erstklassige Handwerker bei der Arbeit beobachtet hatte -Leute wie Meister Luhhan oder Meister Aydaer, den Tischler — konnte das ermessen.

Mit gerunzelter Stirn stocherte der Mann mit einem Finger in zwei kleinen Stapeln von Gegenständen herum, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Perrin erkannte in einem der beiden Häufchen den Inhalt seiner Taschen und sein Messer. Die Silbermünze, die ihm Moiraine gegeben hatte, fiel heraus, und der Mann schob sie in Gedanken zurück. Er schürzte die Lippen und wandte sich von den Häufchen weg Perrins Axt zu. Er hob sie vom Tisch auf und wog sie in der Hand. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit zu den Emondsfeldern zurück.

Perrin versuchte, sich aufzusetzen. Die Anstrengung war vergebens — seine Arme und Beine schmerzten höllisch. Nun erst wurde ihm bewußt, daß er an Händen und Füßen gefesselt war. Sein Blick wanderte zu Egwene. Sie zuckte bedauernd die Achseln und drehte sich ein wenig, so daß er ihren Rücken sehen konnte. Ein halbes Dutzend Lederschnüre fesselten ihre Handgelenke und Knöchel. Die Schnüre schnitten ihr tief ins Fleisch. Die Schnüre an ihren Knöcheln und an den Handgelenken waren durch ein Seil verbunden. Es war so kurz, daß sie sich nicht zu mehr als einer gebückten Haltung aufrichten konnte, falls sie auf die Beine kam. Perrin machte große Augen. Es war schon erschreckend genug, daß man sie gefesselt hatte, aber man hatte so viele Stricke benützt, daß sie auch ein Pferd gehalten hätten. Was glauben die denn, wer wir sind?

Der grauhaarige Mann beobachtete sie neugierig und nachdenklich, so wie Meister al'Vere, wenn er nach der Lösung eines Problems suchte. Er hielt die Axt gedankenverloren in den Händen.

Der Zelteingang wurde zur Seite geschoben, und ein hochgewachsener Mann trat ein. Sein Gesicht war schmal und hager; die Augen lagen so tief, daß sie aus Höhlen hervorzublicken schienen. Er hatte kein bißchen überflüssiges Fleisch auf den Knochen, kein bißchen Fett. Die Haut spannte sich straff über den Muskeln und Knochen.

Perrin konnte kurz in die Nacht draußen blicken, sah Lagerfeuer und zwei in weiße Mäntel gehüllte Wächter am Zelteingang, und dann war das Zelt wieder geschlossen. Sobald der Ankömmling eingetreten war, blieb er stehen, stand stocksteif da und blickte geradeaus auf die hintere Zeltwand. Sein aus Metallplatten auf einem Kettenhemd bestehender Panzer schimmerte wie Silber zwischen dem schneeweißen Mantel und dem weißen Unterhemd. »Mein Lordhauptmann.« Seine Stimme klang so steif, wie seine Haltung war, und knarrte irgendwie völlig ausdruckslos. Der grauhaarige Mann machte eine lockere Handbewegung. »Steht bequem, Kind Byar. Ihr habt unsere Verluste bei diesem... Zusammentreffen überprüft?«

Der hochgewachsene Mann stellte sich breitbeiniger hin, aber ansonsten sah Perrin nichts Bequemes in seiner Haltung. »Neun Mann tot, mein Lordhauptmann, und dreiundzwanzig verwundet, sieben davon schwer. Es können jedoch alle reiten. Dreißig Pferde mußten getötet werden. Ihre Sehnen waren durchgebissen.« Das betonte er mit seiner gefühllosen Stimme besonders, als sei das, was den Pferden geschehen war, schlimmer als tote und verwundete Menschen. »Viele der Ersatzpferde sind weggelaufen. Wir finden möglicherweise einige bei Tagesanbruch wieder, aber da Wölfe in der Nähe sind und sie ängstigen, kann es Tage dauern, sie alle wieder einzufangen. Die Männer, die sie eigentlich hätten bewachen sollen, sind bis zum Erreichen von Caemlyn zum Nachtdienst eingeteilt.«

»Wir haben nicht tagelang Zeit, Kind Byar«, sagte der grauhaarige Mann sanft. »Wir reiten bei Sonnenaufgang. Dabei bleibt es. Wir müssen rechtzeitig in Caemlyn sein, ja?«

»Wie Ihr befehlt, mein Lordhauptmann.«

Der grauhaarige Mann blickte zu Perrin und Egwene hinüber und dann wieder weg. »Und was haben wir vorzuweisen, von diesen beiden Jugendlichen abgesehen?«

Byar atmete tief ein und zögerte. »Ich habe den Wolf abhäuten lassen, der sich bei denen befand, mein Lordhauptmann. Das Fell sollte einen schönen Bettvorleger für das Zelt meines Lordhauptmanns ergeben.«

Springer! Perrin knurrte und stemmte sich gegen seine Bande. Dabei war ihm nicht einmal bewußt, was er tat. Die Seile schnitten ihm in die Haut — seine Handgelenke waren schlüpfrig von Blut -, aber sie gaben nicht nach.

Zum ersten Mal sah Byar die Gefangenen an. Egwene schreckte vor ihm zurück. Sein Gesicht war genauso ausdruckslos wie seine Stimme, aber in den eingesunkenen Augen glimmte ein grausames Licht, ebenso eindeutig wie in Ba'alzamons Augen Flammen loderten. Byar haßte sie, als seien sie langjährige Feinde und nicht Menschen, die er vor dem heutigen Abend noch nie gesehen hatte. Perrin blickte trotzig zurück. Sein Mund verzog sich zu einem angespannten Lächeln, als er sich ausmalte, die Zähne in die Kehle dieses Mannes zu schlagen.

Plötzlich verging ihm das Lächeln, und er schüttelte sich. Meine Zähne? Ich bin ein Mensch und kein Wolf! Licht, dem muß ein Ende gemacht werden! Aber er widerstand Byars haßerfülltem Blick und gab ihn in gleicher Münze zurück.

»Ich bin nicht an Wolfspelz-Bettvorlegern interessiert, Kind Byar.« Die Zurechtweisung in der Stimme des Lordhauptmannes war sanft, aber Byar stand wieder stramm, die Augen stur auf die rückwärtige Zeltwand gerichtet. »Ihr wart dabei zu berichten, was wir heute nacht erreicht haben, oder? Falls wir etwas erreicht haben.«

»Ich schätze, das Rudel, das uns angriff, dürfte mindestens aus fünfzig Tieren bestanden haben, mein Lordhauptmann. Davon haben wir zumindest zwanzig, wenn nicht sogar dreißig, getötet. Ich habe es nicht für wert gehalten, den Verlust weiterer Pferde zu riskieren, um die Kadaver noch heute nacht herbeizuschleifen. Morgen früh werde ich sie einsammeln und verbrennen lassen, jedenfalls diejenigen, die nicht bis dahin im Dunklen weggeschleppt wurden. Neben diesen beiden waren mindestens noch ein Dutzend weiterer Männer beteiligt. Ich glaube, wir haben vier oder fünf davon erledigt, aber es ist unwahrscheinlich, daß wir ihre Leichen finden. Die Schattenfreunde haben ja die Angewohnheit, ihre Leichen verschwinden zu lassen, um so ihre Verluste zu vertuschen. Es scheint sich um einen wohlgeplanten Überfall gehandelt zu haben, aber das läßt natürlich die Frage offen... «

Perrins Kehle war wie zugeschnürt, als der hagere Mann fortfuhr. Elyas? Vorsichtig und zögernd tastete er in Gedanken nach Elyas, nach den Wölfen... und fand nichts. Es war, als sei er niemals in der Lage gewesen, die Gedanken und Gefühle eines Wolfs zu spüren. Entweder sind sie tot, oder sie haben dich verlassen. Er wollte lachen — ein bitteres Lachen. Jetzt hatte er endlich, was er wollte, doch der Preis dafür war hoch.

In dem Augenblick lachte der grauhaarige Mann. Es war ein volles, sarkastisches Lachen, das Byar die Röte in die Wangen trieb. »Also, Kind Byar, Ihr schätzt, daß wir in einem geplanten Angriff von mehr als fünfzig Wölfen und einem guten Dutzend Schattenfreunden überfallen wurden? Ja? Vielleicht, na ja, wenn Ihr noch ein paar Kampfhandlungen erlebt... «

»Aber, mein Lordhauptmann Bornhald... «

»Ich würde sagen, es waren sechs oder acht Wölfe, Kind Byar, und vielleicht überhaupt keine weiteren Menschen außer diesen beiden. Ihr legt den wahren Eifer an den Tag, habt aber keine Erfahrung außerhalb der Städte. Es ist etwas anderes, das Licht zu bringen, wenn Straßen und Häuser weit weg sind. Es scheinen bei Nacht oft mehr Wölfe und auch mehr Menschen beteiligt zu sein. Höchstens sechs oder acht, glaube ich.« Byars Röte wurde langsam kräftiger. »Ich hege auch die Vermutung, sie waren aus dem gleichen Grund hier wie wir: wegen des einzigen gut erreichbaren Wassers im Umkreis eines Tagesmarsches. Eine viel einfachere Erklärung als Spione oder Verräter unter den Kindern, und für gewöhnliche ist die einfachste Erklärung die richtige. Mit mehr Erfahrung werdet Ihr das auch noch lernen.«

Byars Gesicht wurde totenblaß, als der großväterliche Mann ausgeredet hatte, doch im Gegensatz dazu brannten die beiden Flecke auf seinen Wangen nun dunkelrot. Einen Moment lang blickte er zu den beiden Gefangenen hin.

Jetzt haßt er uns nur noch mehr, dachte Perrin, nachdem er das gehört hat. Aber warum hat er uns eigentlich von vornherein gehaßt?

»Was haltet Ihr davon?« sagte der Lordhauptmann und hielt Perrins Axt hoch.

Byar sah seinen Befehlshaber fragend an, und auf ein Kopfnicken hin gab er seine stramme Haltung auf und ergriff die Waffe. Er wog sie in der Hand und brummte überrascht. Dann wirbelte er sie in engem Bogen über seinem Kopf und verfehlte das Zeltdach nur ganz knapp. Er ging damit so gewandt um, als sei er mit einer Axt in der Hand geboren worden. Widerwillige Bewunderung zeigte sich einen Augenblick lang auf seinem Gesicht, aber als er die Axt senkte, war seine Miene bereits wieder ausdruckslos.

»Hervorragend ausbalanciert, mein Lordhauptmann. Aus einfacher Fertigung, aber von einem sehr guten Waffenschmied, vielleicht sogar einem Meister seines Fachs.« Seine Augen glühten die Gefangenen düster an. »Nicht die Waffe eines Dorfbewohners und schon gar nicht die eines Bauern.«

»Bestimmt nicht.« Der grauhaarige Mann wandte sich mit einem müden, leicht tadelnden Lächeln Perrin und Egwene zu: ein freundlicher Großvater, der wußte, daß seine Enkel etwas angestellt hatten. »Ich heiße Geofram Bornhald«, sagte er zu ihnen. »Du heißt Perrin, wie ich gehört habe. Aber du, junge Frau, wie heißt du?«

Perrin funkelte ihn an, doch Egwene schüttelte den Kopf. »Sei nicht dumm, Perrin. Ich heiße Egwene.«

»Einfach Perrin und einfach Egwene«, murmelte Bornhald. »Aber ich schätze, wenn ihr wirklich Schattenfreunde seid, dann werdet ihr nach Möglichkeit eure wahre Identität verbergen.«

Perrin erhob sich auf die Knie; höher ging es nicht, so wie er gefesselt war. »Wir sind keine Schattenfreunde«, protestierte er wütend.

Die Worte waren noch nicht ganz ausgesprochen, als Byar schon bei ihm war. Der Mann bewegte sich wie eine Schlange. Er sah den Schaft seiner eigenen Axt auf sich zukommen und versuchte, sich zu ducken, aber der dicke Stiel erwischte ihn über dem Ohr. Nur die Tatsache, daß er sich von dem Schlag wegbewegte, bewahrte seinen Schädel davor, gespalten zu werden. Auch so sah er erstmal Sterne. Die Luft blieb ihm weg, als er auf dem Boden aufschlug. Sein Kopf dröhnte, und Blut rann ihm über die Wange.

»Dazu habt Ihr kein Recht«, begann Egwene und schrie auf, als der Schaft der Axt auf sie zuschnellte. Sie warf sich zur Seite, und der Schlag traf nur die leere Luft, während sie auf die Segeltuchunterlage stürzte. »Du wirst dich höflich ausdrücken«, sagte Byar, »wenn du mit einem Gesalbten des Lichts sprichst, oder du hast bald keine Zunge mehr.« Das Schlimmste daran war, daß die Stimme immer noch völlig gefühllos klang. Ihre Zungen herauszuschneiden würde ihm weder Vergnügen bereiten, noch würde er es bedauern; es war eben einfach etwas, was er tun mußte.

»Laßt es gut sein, Kind Byar.« Bornhald sah die Gefangenen wieder an. »Ich denke, ihr wißt nicht viel über die Gesalbten oder über Lordhauptmänner der Kinder des Lichts, oder? Nein, das dachte ich mir. Also, um Kind Byars willen, versucht wenigstens nicht zu streiten oder zu schreien, ja? Ich will nicht mehr, als daß ihr im Licht wandelt, und die Beherrschung zu verlieren, hilft niemandem von uns.«

Perrin blickte zu dem Mann mit dem hageren Gesicht über ihm auf. Um Kind Byars willen? Ihm wurde klar, daß der Lordhauptmann Byar nicht befohlen hatte, sie ungeschoren zu lassen. Byar erwiderte seinen Blick und lächelte. Das Lächeln berührte lediglich seine Mundwinkel, aber die Haut seines Gesichtes spannte sich, bis es wie ein Totenschädel wirkte. Perrin schauderte.

»Ich habe davon gehört, daß Menschen bei den Wölfen leben«, sagte Bornhald nachdenklich, »obwohl ich es noch nicht selbst erlebt habe. Menschen, von denen man annimmt, daß sie mit Wölfen und anderen Kreaturen des Dunklen Königs sprechen. Eine schmutzige Sache. Es läßt mich fürchten, daß wirklich bald die Letzte Schlacht bevorsteht.«

»Wölfe sind keine... « Perrin stockte, als Byar den Fuß hob. Er atmete tief ein und fuhr dann ruhiger fort. Byar senkte den Fuß mit enttäuschter Miene. »Wölfe sind keine Kreaturen des Dunklen Königs. Sie hassen den Dunklen König. Zumindest hassen sie Trollocs und Blasse.« Er war überrascht, als er sah, daß der hagere Mann versonnen nickte.

Bornhald hob die Augenbrauen. »Wer hat euch das erzählt?«

»Ein Behüter«, sagte Egwene. Sie lehnte sich unter Byars glühendem Blick noch weiter zurück. »Er sagte, die Wölfe hassen Trollocs, und Trollocs haben Angst vor den Wölfen.« Perrin war froh, daß sie Elyas nicht erwähnt hatte.

»Ein Behüter«, seufzte der grauhaarige Mann. »Eine Kreatur der Hexen von Tar Valon. Was sonst würde euch einer von der Sorte schon erzählen, wo er doch selbst ein Schattenfreund ist und ein Diener von Schattenfreunden? Wißt ihr nicht, daß Trollocs die Schnauzen und Zähne von Wölfen haben und auch einen Wolfspelz?«

Perrin blinzelte und bemühte sich, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sein Hirn war immer noch eine wabbelige Masse von Schmerzen, aber hier stimmte irgend etwas nicht. Er konnte aber nicht klar genug denken, um darauf zu kommen.

»Nicht alle«, murmelte Egwene. Perrin sah Byar mißtrauisch an, aber der hagere Mann sah nur sie an. »Einige davon haben Hörner wie Widder oder Ziegenböcke oder Falkenschnäbel oder... alle möglichen Sachen.«

Bornhald schüttelte traurig den Kopf. »Ich gebe euch jede erdenkliche Chance, aber ihr verstrickt euch immer mehr.« Er hielt einen Finger hoch. »Ihr lebt bei Wölfen, also Kreaturen des Dunklen Königs.« Ein zweiter Finger. »Ihr gebt zu, einen Behüter zu kennen, eine weitere Kreatur des Dunklen Königs. Ich bezweifle, daß er euch all das gesagt hätte, wenn ihr nur flüchtige Bekannte gewesen wärt.« Ein dritter Finger. »Du, Junge, trägst ein Zeichen Tar Valons in der Tasche. Die meisten Menschen außerhalb Tar Valons versuchen, so was so schnell wie möglich loszuwerden. Außer eben, wenn sie den Hexen von Tar Valon dienen.« Ein vierter. »Du trägst die Waffe eines Kriegers, ziehst dich aber wie ein Bauernjunge an. Eine Verkleidung also.« Der Daumen hob sich. »Du kennst Trollocs und Myrddraal. So weit im Süden glauben nur ein paar Gelehrte und Leute, die die Grenzlande bereist haben, daß das mehr sind als nur Geschichten. Bist du vielleicht in den Grenzlanden gewesen? Falls ja, dann sag mir doch wo! Ich bin ein ganzes Stück weit in den Grenzlanden herumgekommen und kenne sie gut. Du willst nicht? Auch gut.« Er blickte seine gespreizten Finger an und ließ die Hand hart auf den Tisch hinunterfallen. Der großväterliche Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß die Enkel etwas sehr Schlimmes angestellt hatten. »Warum erzählt ihr mir nicht die Wahrheit darüber, wieso ihr mit den Wölfen zusammen die Nacht unsicher gemacht habt?«

Egwene öffnete den Mund, aber Perrin sah bereits an der verbissenen Haltung ihres Kinns, daß sie eine der abgesprochenen Geschichten erzählen wollte. Das wurde nicht ausreichen. Nicht jetzt, nicht hier. Sein Kopf schmerzte, und er wünschte, er hätte mehr Zeit, um sich das gründlich zu überlegen. Wer wußte schon, wo dieser Bornhald überall gewesen war und welche Länder und Städte ihm bekannt waren? Wenn er sie bei einer Lüge ertappte, gäbe es keine Rückkehr zur Wahrheit mehr. Dann wäre Bornhald endgültig überzeugt, daß sie Schattenfreunde waren.

»Wir kommen von den Zwei Flüssen«, sagte er schnell.

Egwene starrte ihn überrascht an, fing sich dann aber wieder. Er machte mit der Wahrheit weiter — zumindest einer abgeänderten Fassung der Wahrheit. Sie beide hatten die Zwei Flüsse verlassen, um Caemlyn zu sehen. Auf dem Weg dorthin hatten sie von den Ruinen einer großen Stadt gehört, doch als sie Shadar Logoth fanden, trafen sie auf Trollocs. Sie brachten es fertig, über den Arinelle zu fliehen, hatten sich von da ab allerdings völlig verirrt. Sie schlossen sich einem Mann an, der ihnen angeboten hatte, sie nach Caemlyn zu führen. Er sagte, sein Name gehe sie nichts an, und er schien auch nicht gerade freundlich, aber sie brauchten eben einen Führer. Das erste Mal bekamen sie Wölfe zu sehen, nachdem die Kinder des Lichts erschienen. Sie hatten lediglich versucht, sich zu verstecken, damit sie weder von Wölfen aufgefressen noch von den Reitern getötet würden.

»... wenn wir gewußt hätten, daß Ihr Kinder des Lichts seid«, beendete er seine Erzählung, »dann hätten wir Euch um Hilfe gebeten.«

Byar schnaubte ungläubig. Das kümmerte Perrin aber kaum; falls der Lordhauptmann überzeugt werden konnte, würde Byar ihnen kein Leid zufügen. Es war klar, daß Byar zu atmen aufhören würde, sollte Lordhauptmann Bornhald es ihm befehlen.

»In dieser Geschichte kommt aber kein Behüter vor«, sagte der grauhaarige Mann einen Moment später.

Perrins Erfindergeist verließ ihn; er wußte, er hätte sich zum Ausdenken mehr Zeit nehmen sollen. Egwene sprang für ihn in die Bresche. »Wir trafen ihn in Baerlon. Die Stadt war voll von Männern, die nach dem Ende des Winters aus den Bergwerksdörfern heruntergekommen waren, und wir wurden in der Schenke an den gleichen Tisch gewiesen. Wir haben uns nur während des Essens mit ihm unterhalten.«

Perrin konnte wieder frei atmen. Danke, Egwene!

»Gebt ihnen ihre Habseligkeiten zurück, Kind Byar. Natürlich nicht die Waffen.« Als Byar ihn überrascht anblickte, fügte Bornhald hinzu: »Oder gehört Ihr zu denen, die Unerleuchtete auszuplündern pflegen, Kind Byar? Das ist eine schlimme Sache, nicht wahr? Niemand kann ein Dieb sein und trotzdem im Licht wandeln.« Byar nahm den Hinweis etwas ungläubig entgegen.

»Dann laßt Ihr uns gehen?« Egwene klang überrascht. Perrin hob den Kopf und sah den Lordhauptmann an.

»Natürlich nicht, Kind«, sagte Bornhald traurig. »Du sagst vielleicht die Wahrheit, daß du von den Zwei Flüssen kommst, denn du weißt gut über Baerlon und die Bergwerke Bescheid, aber Shadar Logoth... ? Das ist ein Name, den nur sehr, sehr wenige kennen, die meisten davon Schattenfreunde. Und jeder, der genug weiß, um diesen Namen zu kennen, der geht nicht dorthin. Ich schlage vor, du denkst dir auf dem Weg nach Amador eine bessere Geschichte aus. Du wirst Zeit genug haben, denn wir unterbrechen die Reise in Caemlyn. Möglichst aber die Wahrheit, Kind. In der Wahrheit und dem Licht liegt auch Freiheit.«

Byar vergaß einiges von seiner Unterwürfigkeit dem grauhaarigen Mann gegenüber. Er fuhr herum, weg von den Gefangenen, und in seinen Worten schwang Empörung mit: »Das könnt Ihr nicht! Das ist nicht erlaubt!« Bornhald hob fragend eine Augenbraue, und Byar riß sich zusammen. Er schluckte. »Vergebt mir, mein Lordhauptmann. Ich habe mich vergessen, und ich erbitte untertänigst Eure Vergebung und unterwerfe mich Eurer Gerechtigkeit. Aber, wie mein Lordhauptmann bereits festgestellt hat, müssen wir Caemlyn rechtzeitig erreichen, und da die meisten unserer Ersatzpferde weg sind, werden wir es schwer genug haben, auch ohne noch Gefangene mitzuschleppen.«

»Und was würdet Ihr vorschlagen?« fragte Bornhald ruhig.

»Die Strafe für Schattenfreunde ist der Tod.« Durch die ausdruckslose Stimme klang das noch erschreckender. Er hätte mit der gleichen Ruhe vorschlagen können, einen Käfer zu zertreten. »Es gibt keinen Waffenstillstand mit dem Schatten. Es gibt keine Gnade für Schattenfreunde.«

»Eifer ist begrüßenswert, Kind Byar, aber, wie ich auch oft meinem Sohn Dain sagen muß: Übereifer kann ein ernsthafter Fehler sein. Erinnert Euch daran, was das Dogma auch sagt: Niemand ist so verloren, daß er nicht zum Licht geführt werden könnte. Diese beiden sind jung. Sie können noch nicht so tief im Schatten verwoben sein. Sie können noch zum Licht geführt werden, wenn sie nur gestatten, daß der Schatten von ihren Augen gehoben werde. Wir müssen ihnen Gelegenheit dazu geben.«

Einen Augenblick lang mochte Perrin den großväterlichen Mann, der zwischen ihnen und Byar stand, direkt gut leiden. Dann drehte Bornhald sein Großvaterlächeln Egwene zu.

»Wenn du dich weigerst, zum Licht zu kommen, bis wir Amador erreichen, bin ich gezwungen, dich den Vernehmern zu überstellen, und denen gegenüber wirkt Byars Eifer wie eine Kerze neben der Sonne.« Der Grauhaarige klang wie ein Mensch, der bedauert, was er tun muß, der aber nicht die Absicht hatte, jemals etwas anderes als seine Pflicht zu tun, so, wie er sie sah. »Bereue, entsage dem Dunklen König, komme zum Licht, gestehe Eure Sünden, und sage alles, was du weißt, über diese schmutzige Sache mit den Wölfen, dann erspare ich dir das alles. Du wirst frei sein und im Licht wandeln.« Sein Blick kehrte zu Perrin zurück, und er seufzte traurig. Es lief Perrin eiskalt den Rücken hinunter. »Aber du, Perrin von den Zwei Flüssen. Du hast zwei der Kinder getötet.« Er berührte die immer noch in Byars Hand befindliche Axt. »Auf dich, fürchte ich, wartet in Amador der Galgen.«

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