36 Das Muster wird gewebt

Meister Gill führte sie an einen Ecktisch im Schankraum und ließ ihnen von einer der Bedienungen Essen bringen. Rand schüttelte den Kopf, als er die Teller sah. Ein paar dünne Scheiben Rindfleisch in Fleischsauce, ein Löffel voll Gemüse mit Senfsauce und auf jedem noch zwei Kartoffeln. Sein Kopfschütteln war enttäuscht und schicksalsergeben, aber nicht ärgerlich. Nicht genug von allem, hatte der Wirt gesagt. Er nahm Messer und Gabel zur Hand und fragte sich, was wohl geschähe, wenn nichts mehr übrig wäre. So gesehen wirkte sein halbvoller Teller wie ein Festmahl. Der Gedanke ließ ihn schaudern.

Meister Gill hatte einen Tisch gewählt, der sich ein gutes Stück von allen anderen Gästen entfernt befand, und er setzte sich mit dem Rücken zur Ecke, von wo aus er den ganzen Raum beobachten konnte. Niemand konnte ihnen nahe genug kommen, um zu hören, was sie sagten, ohne daß er es gesehen hätte. Als die Bedienung fortging, sagte er leise: »Also, warum erzählt ihr mir jetzt nicht von euren Schwierigkeiten? Wenn ich helfen soll, dann muß ich auch wissen, was da auf mich zukommt.«

Rand sah Mat an, aber der betrachtete ärgerlich seinen Teller, als sei er wütend auf die Kartoffel, die er gerade schnitt. Rand holte tief Luft. »Ich verstehe es eigentlich selbst nicht«, begann er.

Er hielt die Geschichte bewußt einfach und ließ die Trollocs und die Blassen aus. Wenn ihm jemand Hilfe anbot, konnte er ihm schlecht erzählen, daß es eigentlich um Legenden ging. Aber er hielt es auch nicht für fair, die Gefahr zu untertreiben und jemanden hineinzuziehen, wenn sie selbst keine Ahnung hatten, auf was sie sich da einließen. Einige Männer waren hinter ihm und Mat her und auch hinter ein paar ihrer Freunde. Diese Männer erschienen, wenn man sie am wenigsten erwartete, und sie waren von tödlicher Gefährlichkeit und wollten ihn und seine Freunde töten oder noch Schlimmeres... Moiraine behauptete, einige von ihnen seien Schattenfreunde. Thom traute Moiraine nicht ganz, blieb aber bei ihnen, wie er sagte, wegen seines Neffen. Sie waren während eines Angriffs getrennt worden, als sie versucht hatten, Weißbrücke zu erreichen, und dann, in Weißbrücke, starb Thom und rettete sie dabei vor einem weiteren Angriff. Und es hatte noch mehr Versuche gegeben. Er wußte, daß seine Erzählung Lücken hatte, aber er tat sein Bestes, nicht mehr zu sagen, als ungefährlich war.

»Wir sind einfach weitergegangen, bis wir Caemlyn erreichten«, erklärte er. »Das hatten wir ursprünglich so geplant. Caemlyn und dann Tar Valon.« Er rutschte unruhig auf der Stuhlkante hin und her. Nachdem sie das alles so lange geheimgehalten hatten, war es schon eigenartig, jemandem auch nur soviel zu erzählen. »Wenn wir auf diesem Kurs bleiben, werden uns die anderen früher oder später auch finden können.«

»Falls sie noch leben«, murmelte Mat in seinen Teller hinein.

Rand sah Mat nicht einmal an. Irgend etwas brachte ihn dazu hinzuzufügen: »Es könnte Euch in Schwierigkeiten bringen, wenn Ihr uns helft.«

Meister Gill winkte mit einer fetten Hand ab. »Ich kann nicht behaupten, daß ich mich nach Schwierigkeiten sehne, aber es wären auch nicht gerade die ersten. Kein verdammter Schattenfreund wird es fertigbringen, daß ich Thoms Freunden den Rücken zukehre. Eure Freundin aus dem Norden — nun, wenn sie nach Caemlyn kommt, werde ich das erfahren. Es gibt Leute hier, die genau beobachten, wer kommt oder geht, und das spricht sich dann herum.«

Rand zögerte und fragte dann: »Was ist mit Elaida?«

Auch der Wirt zögerte und schüttelte schließlich den Kopf. »Ich glaube nicht. Vielleicht, wenn es zwischen euch und Thom keinen Zusammenhang gäbe. Sie bekäme es heraus, und was geschähe dann mit euch? Kann man nicht sagen. Vielleicht würdet ihr euch in einer Zelle wiederfinden, vielleicht in einer noch schlimmeren Lage. Man sagt, sie könne Dinge fühlen, die geschehen sind, die noch geschehen werden. Man sagt, sie könne erkennen, was ein Mann zu verbergen versucht. Ich weiß es nicht, aber ich würde es nicht riskieren. Wenn Thom nicht wäre, könntet ihr euch an die Garde wenden. Sie würden schnell genug mit Schattenfreunden fertigwerden. Aber selbst wenn ihr das mit Thom den Gardesoldaten verschweigen könntet, würde Elaida davon erfahren, sobald ihr nur Schattenfreunde erwähnt, na ja, und dann seid ihr wieder am gleichen Punkt angelangt.«

»Nicht die Garde«, stimmte ihm Rand zu. Mat nickte lebhaft, während er eine volle Gabel in den Mund steckte und ihm die Sauce das Kinn hinunterlief.

»Das Problem ist nun mal, daß ihr euch im Netz der Politik verfangen habt, und Politik ist wie ein nebliger Sumpf voll Schlangen.«

»Wie ist es mit...«, begann Rand, aber der Wirt verzog plötzlich das Gesicht. Sein Stuhl knarrte unter seinem Gewicht, als er sich aufrichtete.

Die Köchin stand in der Küchentür und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Als sie sah, daß der Wirt aufmerksam geworden war, winkte sie ihn zu sich und verschwand dann wieder in der Küche.

»Ich könnte genausogut mit ihr verheiratet sein«, seufzte Meister Gill. »Sie findet Sachen zum Reparieren, bevor ich überhaupt weiß, daß etwas kaputt ist. Wenn nicht gerade der Abfluß verstopft ist oder der Wasserhahn tropft, dann sind es die Ratten. Ich halte meine Schenke sauber, müßt ihr wissen, aber da sich so viele Leute in der Stadt aufhalten, sind auch die Ratten überall. Bringt viele Menschen auf engem Raum zusammen, und ihr bekommt auch Ratten, und in Caemlyn sind sie plötzlich zu einer Landplage geworden. Ihr werdet kaum glauben, wieviel eine gute Katze, eine Spitzenjägerin, heutzutage kostet. Euer Zimmer ist oben im Speicher. Ich werde den Mädchen sagen, welches es ist. Jede von ihnen kann es euch zeigen. Und macht euch keine Sorgen wegen der Schattenfreunde. Ich kann nicht viel Gutes über die Weißmäntel sagen, aber sie und dazu die Garde sorgen dafür, daß diese Art von schmutzigen Gestalten sich hier in Caemlyn nicht zeigen wird.« Sein Stuhl knarrte wieder, als er ihn zurückschob und aufstand. »Ich hoffe nur, es ist nicht schon wieder der Abfluß.«

Rand wandte sich wieder seinem Teller zu, aber er sah, daß Mat aufgehört hatte zu essen. »Ich dachte, du hättest Hunger«, sagte er. Mat starrte weiter seinen Teller an und schob ein Stück Kartoffel mit der Gabel im Kreis herum. »Du mußt essen, Mat. Wir brauchen unsere Kraft, wenn wir Tar Valon erreichen wollen.«

Mat stieß ein leises, bitteres Lachen aus. »Tar Valon! Die ganze Zeit war es Caemlyn. Moiraine wird in Caemlyn auf uns warten. Wir werden Perrin und Egwene in Caemlyn finden. Alles wird gut, wenn wir nur Caemlyn erreichen. Also, hier wären wir, und nichts ist in Ordnung. Keine Moiraine, kein Perrin, niemand. Jetzt heißt es, alles wird gut, wenn wir nur Tar Valon erreichen.«

»Wir sind am Leben«, sagte Rand in schärferem Ton, als er beabsichtigt hatte. Er atmete tief durch und bemühte sich, seinen Ton zu mäßigen. »Wir sind am Leben. Soweit ist alles in Ordnung. Und ich gedenke, am Leben zu bleiben. Ich will herausfinden, warum wir so wichtig sind. Ich gebe nicht auf.«

»All diese Menschen, und jeder davon könnte ein Schattenfreund sein. Meister Gill versprach, uns ganz schnell zu helfen. Welche Art von Mann hat für Aes Sedai und Schattenfreunde nur ein Achselzucken übrig? Das ist nicht natürlich. Jeder normale Mensch wurde uns sagen, wir sollten abhauen, oder... oder... oder irgendwas.«

»Iß!« sagte Rand sanft und beobachtete Mat, bis dieser begann, auf einem Stück Rindfleisch herumzukauen.

Er ließ die Hände neben dem Teller auf dem Tisch ruhen. Er drückte sie auf die Tischplatte, um sie am Zittern zu hindern. Er hatte Angst. Nicht wegen Meister Gill natürlich, aber es gab auch ohne ihn schon genug Gründe. Diese hohe Stadtmauer wurde einen Blassen nicht aufhalten. Vielleicht sollte er dem Wirt doch davon berichten. Aber selbst wenn Gill es ihnen glaubte, wurde er immer noch bereit sein, ihnen zu helfen, wenn er dachte, ein Blasser könne sich in Der Königin Segen zeigen? Und die Ratten. Vielleicht fühlten sich Ratten dort besonders wohl, wo es viele Menschen gab, aber er erinnerte sich an den Traum, der keiner war, damals in Baerlon, und an das Brechen eines kleinen Rückgrats. Manchmal benützt der Dunkle König Aasfresser als Augen, hatte Lan gesagt. Raben, Krähen, Ratten...

Er aß, doch als er fertig war, konnte er sich nicht an den Geschmack auch nur eines Bissens erinnern.

Eine Serviererin — es war diejenige, die bei ihrem Eintreten die Leuchter poliert hatte — führte sie zu dem Zimmer am Dachboden hinauf. In der schrägen Außenwand befand sich ein vorgezogenes Mansardenfenster. Auf jeder Seite des Fensters stand ein Bett, und neben der Tür waren Haken zum Aufhängen von Kleidung angebracht. Das Serviermädchen mit den dunklen Augen zupfte ständig an ihrem Rock herum und kicherte jedesmal, wenn sie Rand ansah. Sie war hübsch, doch er wußte, wenn er irgend etwas in dieser Richtung zu ihr sagte, würde er sich nur zum Narren machen. Er wünschte, so wie Perrin mit Mädchen umgehen zu können und er war froh, als sie hinausging.

Er erwartete einen Kommentar von Mat, aber sobald sie draußen war, warf sich Mat auf eines der Betten, immer noch in den Stiefeln und mit Umhang, und wandte sein Gesicht der Wand zu. Rand hängte seine Sachen auf und beobachtete Mats Rücken. Er glaubte zu sehen, daß Mat die Hand unter dem Mantel hatte und wieder den Griff des Dolches umklammerte.

»Wirst du nur hier herumliegen und dich verstecken?« fragte er schließlich.

»Ich bin müde«, brummelte Mat.

»Wir müssen Meister Gill noch einiges fragen. Vielleicht kann er uns sogar sagen, wie wir Egwene und Perrin finden. Sie könnten bereits in Caemlyn sein, falls sie ihre Pferde nicht verloren haben.«

»Sie sind tot«, sagte Mat zu der Wand.

Rand zögerte und gab es dann auf. Er schloß leise die Tür hinter sich und hoffte, daß Mat auch wirklich schlafen würde.

Unten konnte er allerdings Meister Gill nirgendwo finden. Der Blick aus den Augen der Köchin sagte ihm, daß auch sie nach ihm suchte. Eine Weile lang setzte sich Rand in den Schankraum, aber er ertappte sich dabei, daß er jeden eintretenden Gast, jeden Fremden — der ja alles sein konnte — mißtrauisch anstarrte, besonders in dem Moment, da er ihn nur als in einen Umhang gehüllten, schwarzen Umriß im Lichtviereck der Tür erkennen konnte. Ein Blasser im Schankraum wäre wie ein Fuchs im Hühnerstall.

Ein Gardesoldat kam von der Straße aus herein. Der Mann in der roten Uniform blieb gleich an der Tür stehen und musterte kühl diejenigen im Raum, die offensichtlich von außerhalb kamen. Rand sah auf den Tisch hinunter, als der Blick des Gardesoldaten auf ihn fiel. Als er wieder aufblickte, war der Mann weg.

Das Stubenmädchen mit den dunklen Augen kam mit einem Arm voll Handtüchern an ihm vorbei. »Das machen sie gelegentlich«, sagte sie mit verschwörerischem Unterton im Vorübergehen. »Nur um aufzupassen, daß es keine Schlägereien und so gibt. Sie behüten die guten Untertanen der Königin, wirklich. Ihr müßt Euch keinerlei Sorgen machen.« Sie kicherte.

Rand schüttelte den Kopf. Nicht, weswegen er sich hätte Sorgen machen müssen. Na ja, der Gardesoldat war ja wenigstens nicht herübergekommen, um ihn zu fragen, ob er Thom Merrilin kenne. Ach, er war schon genauso schlimm wie Mat. Er schob seinen Stuhl zurück.

Ein anderes Stubenmädchen kümmerte sich um die Öllampen an der Wand.

»Gibt es einen anderen Raum, in den ich mich setzen kann?« fragte er sie. Er wollte nicht wieder hinaufgehen und mit Mat in seiner mürrischen Zurückgezogenheit allein sein. »Vielleicht ein privates Speisezimmer, das nicht benutzt wird?«

»Dort ist die Bibliothek.« Sie deutete auf eine Tür. »Dort hinaus und am Ende des Flurs nach rechts. Um diese Zeit dürfte sie leer sein.«

»Dankeschön. Wenn Ihr Meister Gill seht, würdet Ihr ihm dann bitte sagen, daß Rand al'Thor mit ihm sprechen muß, wenn er eine Minute Zeit haben sollte?«

»Ich richte es ihm aus«, sagte sie, und dann grinste sie. »Die Köchin will auch mit ihm reden.«

Der Wirt versteckte sich möglicherweise, dachte er, als er sich abwandte.

Als er in den Raum trat, zu dem sie ihn gewiesen hatte, blieb er zunächst stehen und blickte sich stumm um. Auf den Regalen mußten bestimmt drei- oder vierhundert Bücher stehen, mehr, als er je zuvor an einem Ort gesehen hatte. In Leinen oder in Leder gebunden und mit vergoldeten Buchrücken. Nur ein paar waren in Sperrholz gebunden. Seine Augen verschlangen die Titel. Er suchte nach seinen alten Lieblingsbüchern. Die Reisen des Jain Fernstreicher. Die Essays von William von Maneche. Sein Atem stockte, als er eine in Leder gebundene Ausgabe der Reisen zum Meervolk erblickte. Tam hatte das immer schon lesen wollen.

Er stellte sich Tam vor, wie er lächelnd das Buch in den Händen hielt und es umdrehte. Er wollte es fühlen, bevor er sich mit seiner Pfeife vor dem Kamin niederließ, um zu lesen. Seine Hand verkrampfte sich um den Schwertgriff, als er den Verlust und die innere Leere empfand, die seine Freude an all den Büchern dämpfte.

Hinter ihm räusperte sich jemand, und er bemerkte plötzlich, daß er nicht allein war. Er wollte sich für seine Unhöflichkeit entschuldigen und drehte sich um. Er war daran gewöhnt, größer zu sein als beinahe jeder, den er traf, aber diesmal mußte er den Blick heben und heben und heben, und der Mund blieb ihm offen stehen. Dann sah er den Kopf, der beinahe die zehn Fuß hohe Decke erreichte. Die Nase war so breit wie das ganze Gesicht. Bei der Breite konnte man sie schon eher als Rüssel bezeichnen denn als Nase. Die Augenbrauen hingen wie Schwänze herunter und rahmten blasse Augen von Teetassengröße ein. Die Ohren schoben sich mit ihren behaarten Spitzen durch eine zerzauste schwarze Mähne. Trolloc! Er stieß einen Schrei aus, versuchte zurückzutreten und gleichzeitig sein Schwert zu ziehen. Doch er blieb mit den Füßen hängen und setzte sich unversehens auf den Hosenboden.

»Ich wünschte, ihr Menschen würdet sowas nicht machen«, grollte eine Stimme, so tief wie eine Baßtrommel. Die Ohren mit den Haarbüscheln an den Spitzen zuckten heftig, und die Stimme wurde traurig. »So wenige von euch erinnern sich an uns. Ich schätze, es liegt wohl an uns. Nicht viele von uns sind in die Welt der Menschen hinausgegangen, seit der Schatten auf die Wege fiel. Das ist nun... oh, sechs Generationen her. Gleich nach den Trolloc-Kriegen geschah es.« Der zerzauste Kopf wurde geschüttelt, und dann erklang ein Seufzen, das auch einem ausgewachsenen Bullen Ehre eingelegt hätte. »Zu lang her, zu lang, und nur so wenige reisen umher und sehen — es könnten genausogut gar keine sein.«

Rand saß eine volle Minute mit offenem Mund da und starrte hinauf zu der Gestalt in breiten, kniehohen Stiefeln und dunkelblauem Mantel, der vom Hals bis zur Taille zugeknöpft war und sich dann bis zu den Stiefelschäften weit ausbreitete wie ein Kilt über Pumphosen. In einer Hand hielt sie ein Buch, das im Vergleich winzig wirkte, da schon einer dieser Finger so breit war wie drei normale.

»Ich dachte, du bist...«, begann er und fing sich dann rechtzeitig. »Wer bist...?« Das klang auch nicht besser. Er stand auf und bot ihm vorsichtig die Hand. »Ich heiße Rand al'Thor.«

Eine Hand — groß wie ein mächtiger Schinken -umschloß die seine, begleitet von einer höflichen Verbeugung. »Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan. Dein Name singt in meinen Ohren, Rand al'Thor.«

Das klang für Rand nach einer rituellen Begrüßungsformel. Er erwiderte die Verbeugung. »Euer Name singt in meinen Ohren, Loial, Sohn des Arent... äh... Sohn des Halan.«

Alles klang ein wenig unwirklich. Er wußte immer noch nicht, was Loial eigentlich war. Der Griff der riesigen Hand Loials war überraschend sanft, aber er war trotzdem erleichtert, seine Hand unversehrt zurückzubekommen.

»Ihr Menschen regt euch immer so schnell auf«, sagte Loial in seinem Baßgrollen. »Ich hatte wohl all die Geschichten gehört und natürlich die entsprechenden Bücher gelesen, aber das war mir einfach nicht bewußt. An meinem ersten Tag in Caemlyn konnte ich all den Aufruhr kaum glauben. Kinder weinten, und Frauen kreischten, und ein Mob jagte mich quer durch die ganze Stadt. Die schwenkten doch tatsächlich Knüppel und Messer und Fackeln und schrien: ›Trolloc!‹ Ich fürchte, ich regte mich wirklich ein wenig auf. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn nicht eine Einheit der Königlichen Garde mitgekommen wäre.«

»Ein Glücksfall«, sagte Rand mit schwacher Stimme.

»Ja, schon, aber selbst die Gardesoldaten schienen sich vor mir genauso zu fürchten wie die anderen. Vier Tage lang bin ich nun in Caemlyn, und ich habe meine Nase nicht aus dieser Schenke hinausstrecken können. Der gute Meister Gill hat mich sogar gebeten, nicht in den Schankraum zu gehen.« Seine Ohren zuckten. »Nicht, daß er nicht gastfreundlich gewesen sei — versteht mich da nicht falsch. Aber am ersten Abend gab es nun mal ein paar Probleme. Alle Menschen schienen zur gleichen Zeit die Schenke verlassen zu wollen. Ein solches Gekreische und Schreien, und alle versuchten, sich gleichzeitig durch die Tür zu zwängen. Ein paar hätten sich verletzen können!«

Rand blickte fasziniert diese zuckenden Ohren an.

»Ich kann dir sagen, daß ich mein Stedding nicht gerade zu diesem Zweck verlassen habe.«

»Du bist ein Ogier!« rief Rand. »Warte. Sechs Generationen? Du sprachst von den Trolloc-Kriegen! Wie alt bist du?« Er wußte, sobald er das ausgesprochen hatte, daß es unhöflich war, aber anstatt beleidigt zu sein, ging Loial in Verteidigungsstellung.

»Neunzig Jahre«, sagte der Ogier förmlich. »In nur zehn weiteren Jahren werde ich in der Lage sein, den Stumpf direkt anzusprechen. Ich glaube, die Ältesten hätten mich anhören sollen, da sie ja entschieden, ob ich abreisen durfte oder nicht. Aber letzten Endes machen sie sich ja über jeden Sorgen, der nach draußen geht, gleich, welchen Alters er ist. Ihr Menschen seid so hektisch, so sprunghaft.« Er blinzelte und verbeugte sich dann kurz. »Bitte vergib mir. Ich hätte das nicht sagen sollen. Aber ihr streitet euch eben die ganze Zeit, selbst wenn es keinen Grund dafür gibt.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Rand. Er bemühte sich immer noch, Loials Alter zu begreifen. Älter als der alte Cenn Buie, und doch nicht alt genug, um... Er setzte sich auf einen der Stühle mit hoher Lehne. Loial nahm einen weiteren ein — groß genug für zwei, doch er füllte ihn. Im Sitzen war er so groß wie die meisten Männer im Stehen. »Zumindest ließen sie euch gehen.«

Loial blickte zu Boden, rümpfte die Nase und rieb sie mit einem dicken Finger. »Na ja, was das betrifft, also... Siehst du, der Stumpf hatte sich nicht lange zuvor erst getroffen, es lag nicht einmal ein Jahr zurück, aber ich wußte vom Hörensagen, daß ich alt genug sein würde, um auch ohne ihre Erlaubnis zu gehen, wenn ich auf ihre Entscheidung wartete. Ich fürchte, sie werden sagen, ich steckte meine Axt auf einen langen Schaft, aber ich... ging einfach. Die Ältesten haben schon immer behauptet, ich sei zu hitzköpfig, und ich fürchte, ich habe bewiesen, daß sie recht hatten. Ich frage mich nur, ob sie schon begriffen haben, daß ich weg bin? Aber ich mußte einfach gehen.«

Rand biß sich auf die Lippe, um nicht loszulachen. Wenn Loial schon ein hitzköpfiger Ogier war, dann konnte er sich vorstellen, wie sich die meisten Ogier verhielten. Hatten sich erst vor kurzem getroffen, noch nicht einmal vor einem Jahr? Meister al'Vere hätte wohl staunend den Kopf geschüttelt. Wenn eine Sitzung des Gemeinderats einen halben Tag lang dauerte, dann würde jeder schon nervös hin und her rutschen, selbst Haral Luhhan. Eine Welle von Heimweh überkam ihn. Der Gedanke an Tam, an Egwene und die Weinquellenschenke und an Bel Tine in glücklicheren Zeiten raubte ihm den Atem. Er verdrängte die Gedanken aus seinem Kopf.

»Wenn du nichts dagegen hast, daß ich frage«, sagte er und räusperte sich dabei, »warum willst du denn... äh, so sehr nach draußen gehen? Ich selbst wünschte, ich hätte nie meine Heimat verlassen.«

»Natürlich, um alles zu sehen«, sagte Loial, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Ich las die Bücher, all die Berichte der Reisenden, und in mir begann es zu brennen. Ich mußte das alles selbst sehen und nicht nur davon lesen.« Seine blassen Augen leuchteten auf, und die Ohren stellten sich auf. »Ich habe jeden Fetzen über das Reisen studiert, den ich finden konnte — über die Kurzen Wege und die Gebräuche in den Ländern der Menschen und über die Städte, die wir nach der Zerstörung der Welt für euch Menschen bauten. Und je mehr ich las, desto sicherer wußte ich, daß ich nach draußen mußte, an die Orte, wo wir einst gewesen waren, und ich mußte die Haine einmal selbst sehen.« Rand blinzelte. »Die Haine?«

»Ja, die Haine. Die Bäume. Nur einige der Großen Bäume, die in den Himmel ragen, um die Erinnerungen des Stedding frisch zu halten.« Sein Stuhl ächzte, als er nach vorn rutschte und mit den Händen gestikulierte. In einer hielt er noch immer das Buch. Seine Augen leuchteten noch mehr als zuvor, und die Ohren zitterten beinahe. »Meist benutzten sie die Bäume, die in dem jeweiligen Land und an dem Ort wuchsen. Man kann das Land nicht gegen sich selbst zwingen. Nicht lange jedenfalls, und das Land wird sich dagegen auflehnen. Man muß die Vision dem Land anpassen, nicht das Land der Vision. In jedem Hain wurden alle Arten von Bäumen gepflanzt, die an jenem Ort wuchsen und gediehen, alles sorgfältig abgewogen und jeder von ihnen so gepflanzt, daß er die anderen ergänzte, um auf diese Art das beste Wachstum zu erreichen, aber auch, damit die Ausgewogenheit in Auge und Herz singt. Ah, das Buch erzählte von Hainen, die unsere Ältesten gleichzeitig zum Lachen und Weinen brachten, Haine, die in der Erinnerung auf ewig grünen werden.«

»Was war mit den Städten?« fragte Rand. Loial warf ihm einen fragenden Blick zu. »Die Städte. Die von den Ogiern gebaut wurden. Hier, zum Beispiel. Caemlyn. Ogier haben doch Caemlyn gebaut, nicht wahr? Die Geschichten behaupten es.«

»Den Stein bearbeiten... « Seine Schultern hoben sich in einem massiven Achselzucken. »Das war nur etwas, das wir in den Jahren nach der Zerstörung lernten, im Exil, als wir immer noch versuchten, das Stedding wiederzufinden. Es ist eine schöne Sache, glaube ich, aber trotzdem nicht das Wahre. Man kann versuchen, was man will — und ich habe gehört, daß die Ogier, die diese Städte bauten, sich wirklich alle erdenkliche Mühe gaben -, aber man kann Stein nicht zum Leben erwecken. Ein paar arbeiten immer noch mit Stein, aber nur, weil ihr Menschen die Gebäude so oft in euren Kriegen beschädigt. Es gab eine Handvoll Ogier in... äh... Cairhien wird es jetzt genannt... , als ich durchkam. Glücklicherweise kamen sie von einem anderen Stedding, also wußten sie nichts von mir, aber sie mißtrauten mir trotzdem, weil ich noch so jung und doch schon allein draußen war. Ich denke, es war gut, daß ich keinen Grund hatte, mich dort weiter aufzuhalten. Siehst du: Auf jeden Fall war das Bearbeiten von Stein etwas, daß uns von Gewebe des Großen Musters aufgezwungen wurde, während die Haine uns aus den Herzen erwuchsen.«

Rand schüttelte den Kopf. Die Hälfte der Geschichten, mit denen er aufgewachsen war, waren soeben auf den Kopf gestellt worden. »Ich wußte nicht, Loial, daß Ogier an das Muster glauben.«

»Natürlich glauben wir daran. Das Rad der Zeit webt das Muster der Zeitalter, und Leben sind die Fäden, aus denen es gewoben wird. Niemand kann sagen, wie der Faden des eigenen Lebens ins Muster hineingewoben wird oder wie der Faden eines Volkes verwoben wird. So erlebten wir die Zerstörung der Welt und das Exil und den Stein und die Sehnsucht, und schließlich gab es uns das Stedding zurück, bevor wir alle starben. Manchmal glaube ich, ihr Menschen seid so, weil eure Fäden so kurz sind. Sie müssen ja beim Weben richtig herumhüpfen. O nein, jetzt habe ich wieder etwas angerichtet. Die Ältesten sagten, ihr Menschen mögt es nicht, wenn man euch daran erinnert, welch kurze Zeit ihr lebt. Ich hoffe, ich habe deine Gefühle nicht verletzt.«

Rand lachte und schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Ich glaube, es würde Spaß machen, so lange wie du zu leben, aber ich habe noch nie wirklich darüber nachgedacht. Ich schätze, wenn ich so lange lebe wie der alte Cenn Buie, dann ist das genug für jedermann.«

»Ist er ein sehr alter Mann?«

Rand nickte nur. Er war nicht bereit, zu erklären, daß Cenn Buie nicht ganz so alt war wie Loial.

»Also«, sagte Loial, »vielleicht habt ihr Menschen ein so kurzes Leben, aber ihr fangt so viel damit an! Immer hüpft ihr herum und seid so umtriebig. Und ihr habt die ganze Welt dafür zur Verfügung. Wir Ogier sind an unser Stedding gebunden.«

»Du bist nun aber draußen.«

»Für eine Weile, Rand. Aber schließlich muß ich zurückkehren. Die Welt gehört euch, euch und eurer Art. Das Stedding gehört mir. Draußen geht es zu sehr drunter und drüber. Und so viel ist anders als das, wovon ich gelesen habe.«

»Na ja, die Dinge ändern sich mit den Jahren. Jedenfalls einige.«

»Einige? Die Hälfte der Städte, von denen ich gelesen habe, existiert nicht einmal mehr, und der größte Teil der übrigen trägt einen anderen Namen. Nehmt zum Beispiel Cairhien. Der richtige Name der Stadt lautet Al'cair'rahienallen, Hügel des Goldenen Sonnenaufgangs. Man erinnert sich dort nicht einmal mehr daran, trotz des Sonnenaufgangs auf ihrem Banner. Und der dortige Hain! Ich bezweifle, daß man sich seit den Trolloc-Kriegen überhaupt darum gekümmert hat. Jetzt stellt er nur irgendeinen weiteren Wald dar, in dem man Brennholz hackt. Die Großen Bäume sind alle weg, und niemand erinnert sich an sie. Und hier? Caemlyn ist immer noch Caemlyn, aber sie ließen die Stadt direkt über den Hain hinwegwachsen. Hier, wo wir sitzen, befinden wir uns nicht einmal eine Viertelmeile von seinem Mittelpunkt entfernt, oder von der Stelle, wo sich der Mittelpunkt befinden sollte. Kein einziger Baum ist übriggeblieben. Und ich war weder in Tear noch in Illian. Veränderte Namen und keine Erinnerungen. In Tear findet man nur eine Weide für die Pferde, wo sich der Hain einst befand, und in Illian ist der Hain nun ein Park des Königs, wo er seine Hirsche jagt, und keiner darf ihn ohne seine Erlaubnis betreten. Es hat sich alles geändert, Rand. Ich fürchte sehr, daß es überall das gleiche sein wird, wohin ich auch gehe. Alle Haine verschwunden, alle Erinnerungen vergangen, alle Träume gestorben.«

»Du darfst nicht aufgeben, Loial! Ihr könnt niemals aufgeben! Wenn ihr aufgebt, seid ihr schon so gut wie tot.« Rand sank auf seinen Stuhl zurück und schob sich ganz nach hinten, soweit er nur konnte, und sein Gesicht lief rot an. Er erwartete, daß ihn der Ogier auslachen würde, aber statt dessen nickte Loial ernst.

»Ja, so ist eure Rasse eingestellt, nicht wahr?« Die Stimme des Ogiers veränderte sich, als zitiere er etwas. »Bis der Schatten vergangen, bis das Wasser dahin, in den Schatten hinein mit gefletschten Zähnen, mit dem letzten Atemzug noch den Trotz hinausschreiend, am letzten Tag noch dem Sichtblender ins Angesicht spuckend.« Loial neigte erwartungsvoll den zerzausten Kopf, aber Rand hatte keine Ahnung, was er von ihm erwartete.

Eine Minute verging, während Loial wartete, dann eine weitere, und die langen Augenbrauen senkten sich verwundert. Aber er wartete weiter, und die Stille wurde Rand zur Qual.

»Die Großen Bäume«, sagte Rand schließlich, um das Schweigen endlich zu brechen. »Sind sie so wie Avendesora?«

Loial richtete sich ruckartig auf. Sein Stuhl quietschte und knackte so laut, daß Rand glaubte, er werde auseinanderbrechen. »Das weißt du doch wohl besser. Ausgerechnet du.«

»Ich? Wieso sollte ich etwas wissen?«

»Scherzt du mit mir? Manchmal haltet ihr Aielmänner die seltsamsten Sachen für lustig.«

»Was? Ich bin kein Aielmann! Ich komme von den Zwei Flüssen. Ich habe noch nicht einmal je einen Aielmann gesehen!«

Loial schüttelte den Kopf, und die Haarbüschel an seinen Ohren standen nach außen ab. »Siehst du? Alles ist verändert, und die Hälfte dessen, was ich weiß, ist nutzlos. Ich hoffe, ich habe dich nicht beleidigt. Ich bin sicher, deine Zwei Flüsse sind ein schöner Ort, gleich, wo er liegt.«

»Jemand hat mir gesagt«, antwortete Rand, »daß er einst Manetheren genannt wurde. Ich hatte noch nie davon gehört, aber vielleicht kennst du... «

Die Ohren des Ogier stellten sich fröhlich auf. »Ach ja, Manetheren.« Die Haarbüschel senkten sich wieder. »Dort gab es einen schönen Hain. Dein Schmerz singt in meinem Herzen, Rand al'Thor. Wir konnten nicht rechtzeitig hingelangen.«

Loial verbeugte sich im Sitzen, und Rand verbeugte sich ebenfalls. Er vermutete, Loial sei beleidigt, wenn er das nicht täte, und würde ihn zumindest für unhöflich halten. Er fragte sich, ob Loial glaube, er erinnere sich an die gleichen Dinge wie der Ogier. Die Mundwinkel und die Augen Loials zeigten gewiß nach unten, als teile er Rands Kummer über seinen Verlust, als habe die Zerstörung von Manetheren nicht vor zweitausend Jahren stattgefunden. Rand wußte ja auch nur durch Moiraines Erzählung davon.

Nach einer Weile seufzte Loial. »Das Rad dreht sich«, sagte er, »und niemand weiß, wohin. Aber du bist beinahe genausoweit von zu Hause entfernt wie ich. Eine gehörige Entfernung, wie die Dinge liegen. Als die Kurzen Wege noch für alle offenstanden — aber das ist lange her. Sag mir, was bringt dich von so weit her? Willst auch du etwas Bestimmtes sehen?«

Rand öffnete den Mund, um zu erzählen, daß sie gekommen waren, den falschen Drachen zu sehen — aber er brachte es nicht heraus. Vielleicht lag es daran, daß Loial ihn so behandelte, als sei er überhaupt nicht älter als Rand, neunzig Jahre alt oder nicht. Vielleicht waren neunzig Jahre für einen Ogier wirklich das gleiche Alter wie bei ihm. Es war schon lange her, daß es ihm möglich gewesen war, sich mit jemandem wirklich frei darüber zu unterhalten, was geschah. Immer mußte er fürchten, seine Gesprächspartner seien Schattenfreunde oder dächten dasselbe von ihm. Mat war so in sich selbst zurückgezogen und nährte seine Angst durch die eigenen Befürchtungen, daß man mit ihm praktisch nicht reden konnte. Rand wurde bewußt, daß er Loial von der Winternacht erzählte. Keine verschwommene Geschichte über Schattenfreunde, nein, die Wahrheit, wie die Trollocs die Tür niedergebrochen hatten und auf der Haldenstraße ein Blasser aufgetaucht war.

Ein Teil seiner selbst war entsetzt über das, was er da tat, aber er fühlte sich wie in zwei Persönlichkeiten gespalten. Die eine versuchte, den Mund zu halten, während die andere erleichtert darüber war, endlich alles erzählen zu können. Das Ergebnis führte dazu, daß er herumstotterte und in der Geschichte von einem Ende zum anderen übersprang. Shadar Logoth und wie sie in der Nacht ihre Freunde verloren hatten und nicht wußten, ob sie am Leben waren oder nicht. Der Blasse in Weißbrücke und Thoms Tod, damit sie entkommen konnten. Der Blasse in Baerlon. Später die Schattenfreunde und Howal Gode und der Junge, der sich vor ihnen fürchtete, und die Frau, die versucht hatte, Mat zu töten. Der Halbmensch vor der Gans und Krone.

Als er begann, über Träume zu plaudern, fühlte sogar der Teil in seinem Inneren, der sprechen wollte, wie sich ihm die Haare sträubten. Er klappte den Mund zu und biß sich auf die Zunge. Er atmete schwerfällig durch die Nase und beobachtete mißtrauisch den Ogier, wobei er hoffte, dieser werde glauben, er habe Alpträume gemeint. Das Licht wußte, daß es sich ja alles tatsächlich wie ein Alptraum anhörte oder daß es jedenfalls genügte, um einem Alpträume zu verschaffen. Vielleicht dachte Loial auch, er sei einfach dabei überzuschnappen. Vielleicht...

»Ta'veren«, sagte Loial.

Rand blinzelte. »Was?«

»Ta'veren.« Loial rieb sich mit einem dicken Finger einen Fleck hinter einem spitzen Ohr und zuckte die Achseln. »Der Älteste Haman behauptete immer, ich höre niemals zu, aber manchmal habe ich doch zugehört. Manchmal schon. Du weißt natürlich, wie das Muster gewoben wird?«

»Ich habe noch nie wirklich darüber nachgedacht«, sagte er bedächtig. »Es ist eben so.«

»Ah, ja, na gut. Nicht genau. Siehst du, das Rad der Zeit webt das Muster der Zeitalter und benutzt als Fäden unsere Leben. Das Muster ist nicht festgelegt, jedenfalls nicht immer. Wenn ein Mann versucht, sein Leben zu ändern, und es ist Platz genug im Muster dafür vorhanden, dann webt das Rad einfach weiter und schließt die Veränderung ein. Es gibt immer Raum für kleine Veränderungen, aber manchmal nimmt das Muster eine größere Veränderung einfach nicht an, ganz gleich, wie sehr man sich auch bemüht. Verstehst du?«

Rand nickte. »Ich könnte auf dem Hof oder auch in Emondsfeld wohnen, und das wäre eine kleine Veränderung. Aber falls ich König sein wollte... « Er lachte, und Loial grinste, daß sein Gesicht ganz breit wurde. Seine Zähne waren weiß und so breit wie Meißel.

»Ja, genau. Aber manchmal ergreift einen die Veränderung oder das Rad wählt sie für einen aus. Und manchmal krümmt das Rad einen Lebensfaden oder mehrere davon so, daß alle umgebenden Fäden sich danach richten müssen, und diese zwingen wieder andere Fäden in das neue Muster, und diese wiederum andere und immer weiter. Diese erste Krümmung, um das Muster zu bestimmen, das nennt man ta'veren, und man kann nichts dagegen tun, ohne das gesamte Muster selbst zu verändern. Das Weben — ta'maral'ailen genannt — kann wochenlang dauern oder jahrelang. Es kann eine ganze Stadt mit einschließen oder sogar das gesamte Muster. Artur Falkenflügel war ta'veren, genauso wie Lews Therin Brudermörder auch, denke ich.« Er gab ein dröhnendes Lachen von sich. »Der Älteste Haman wäre stolz auf mich. Er redete immer weiter, und die Bücher über Reisen waren viel interessanter, aber manchmal habe ich doch zugehört.«

»Das ist alles gut und schön«, sagte Rand, »aber ich weiß nicht, was das mit mir zu tun hat. Ich bin Schäfer und kein neuer Artur Falkenflügel. Und Mat und Perrin sind das auch nicht. Es ist einfach... lächerlich.«

»Das habe ich auch nicht behauptet, aber als ich dir zuhörte, konnte ich schon beinahe das Muster um dich herumwirbeln fühlen, und ich habe an sich kein Talent für so etwas. Du bist schon wirklich ta'veren. Du, und deine Freunde vielleicht auch.« Der Ogier unterbrach sich und rieb sich gedankenverloren über den Nasenrücken.

Schließlich nickte er, als sei er zu einem Entschluß gekommen. »Ich möchte mit dir kommen, Rand.«

Rand blickte ihn eine Weile entgeistert an und fragte sich, ob er richtig gehört habe. »Mit mir?« rief er, als er seiner Stimme wieder mächtig war. »Hast du nicht gehört, was ich über...?« Er betrachtete plötzlich die Tür. Sie war fest geschlossen und so dick, daß jeder, der dort draußen das Ohr gegen die Holztäfelung gepreßt hatte, nur ein Murmeln gehört hätte. Trotzdem fuhr er mit gesenkter Stimme fort. »Darüber, was mich verfolgt? Außerdem dachte ich, du wolltest deine Bäume sehen.«

»Es gibt einen sehr schönen Hain in Tar Valon, und ich habe gehört, daß er von den Aes Sedai sorgfältig gepflegt wird. Außerdem will ich nicht nur die Haine sehen. Vielleicht bist du kein neuer Artur Falkenfügel, aber zumindest eine Zeitlang wird sich ein Teil der Welt um dich herum formen. Vielleicht tut sie das jetzt bereits. Selbst der Älteste Haman würde das sehen wollen.«

Rand zögerte. Es wäre schon gut, noch jemanden dabeizuhaben. So, wie Mat sich verhielt, könnte er genausogut allein sein. Die Gegenwart des Ogiers beruhigte ihn. Vielleicht war er nach der Zeitrechnung der Ogier jung, aber er schien so standhaft wie ein Fels zu sein, genauso wie Tam. Und Loial war an all diesen Orten bereits gewesen und wußte über weitere Bescheid. Er sah den Ogier an, wie er dasaß mit seinem breiten Gesicht, das beinahe wie ein Sinnbild der Geduld wirkte. Er saß da und war größer als die meisten Männer im Stehen. Wie kann man jemanden verbergen, der fast zehn Fuß groß ist? Er seufzte und schüttelte den Kopf.

»Ich halte das nicht für eine gute Idee, Loial. Selbst wenn uns Moiraine hier findet, werden wir uns den ganzen Weg nach Tar Valon über in Gefahr befinden. Wenn sie uns nicht findet... « Wenn nicht, dann ist sie tot, und die anderen auch. O Egwene. Er schüttelte das Gefühl ab. Egwene war nicht tot, und Moiraine würde sie finden.

Loial blickte ihn mitfühlend an und berührte seine Schulter. »Ich bin sicher, deinen Freunden geht es gut, Rand.«

Rand nickte zum Dank. Seine Kehle hatte sich zusammengezogen, und er konnte nicht sprechen.

»Wirst du wenigstens manchmal mit mir sprechen?« seufzte Loial in einem tiefen Baßton. »Und vielleicht auch mit mir ein Spielchen wagen? Ich habe seit Tagen niemanden zum Unterhalten gehabt außer dem guten Meister Gill, und er ist die meiste Zeit über beschäftigt. Die Köchin scheint ihn gnadenlos anzutreiben. Vielleicht gehört ihr in Wirklichkeit die Schenke?«

»Klar werde ich das.« Seine Stimme klang heiser. Er räusperte sich und versuchte zu grinsen. Und falls wir uns in Tar Valon treffen, kannst du mir den Hain dort zeigen.« Es muß ihnen gut gehen. Das Licht helfe uns, daß es ihnen gut geht.

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