4 Der Gaukler

Die Tür der Schenke schlug hinter dem weißhaarigen Mann zu, und er fuhr herum und funkelte sie an. Er war mager, und man konnte ihn an sich hochgewachsen nennen, wäre da nicht die leicht bucklige Haltung gewesen. Trotzdem — er bewegte sich so frisch, daß man ihm das Alter nicht anmerkte. Sein Umhang schien aus einer Unzahl von Flicken zu bestehen, in den eigenartigsten Formen und Größen, die in jedem Lufthauch flatterten, Flicken in hundert verschiedenen Farben. Der Umhang war in Wirklichkeit recht dick, sah Rand, obwohl Meister al'Vere ja anderes behauptet hatte, und die Flicken waren lediglich als Dekoration aufgenäht.

»Der Gaukler!« flüsterte Egwene aufgeregt.

Der weißhaarige Mann wirbelte herum, und der Umhang leuchtete auf.

Sein langer Mantel hatte seltsam aufgebauschte Ärmel und große Taschen. Ein kräftiger Schnurrbart, genauso weiß wie das Haar auf dem Kopf, zitterte über dem Mund, und das Gesicht war knorrig wie ein Baum, der schwere Zeiten hinter sich hatte. Mit einer langstieligen, mit Schnitzwerk verzierten Pfeife zeigte er gebieterisch auf Rand und die anderen. Ein dünner Rauchfaden erhob sich daraus. Blaue Augen spähten unter buschigen weißen Augenbrauen hervor und durchbohrten alles, worauf er blickte.

Rand betrachtete die Augen des Mannes genauso intensiv wie die ganze Gestalt. Jedermann von den Zwei Flüssen hatte dunkle Augen, und bei den meisten Kaufleuten und ihren Wächtern und jedem sonst, den er bisher gesehen hatte, war das auch der Fall. Die Congars und die Coplins hatten sich über seine grauen Augen lustig gemacht, jedenfalls bis zu dem Tag, da er endlich Ewal Coplin eins auf die Nase gegeben hatte. Die Seherin hatte ihn deshalb ganz schön ausgeschimpft. Er fragte sich, ob es einen Ort gab, an dem niemand dunkle Augen hatte. Vielleicht kommt auch Lan von dort.

»Was für ein Ort ist das hier eigentlich?« fragte der Gaukler mit tiefer Stimme, die irgendwie gewaltiger klang als die eines gewöhnlichen Mannes. Selbst draußen im Freien schien sie einen großen Saal zu füllen und von den Wänden widerzuhallen. »Die Bauerntrampel in diesem Dorf auf dem Hügel erzählen mir, ich könne noch vor Einbruch der Dunkelheit hier ankommen, vergessen aber, mir zu sagen, daß ich dazu früh am Vormittag bereits aufbrechen muß. Als ich dann endlich ankomme, bis auf die Knochen durchgefroren und reif für ein warmes Bett, meckert euer Wirt, daß es schon so spät sei, als sei ich ein wandernder Schweinehirt und als hätte mich nicht euer Gemeinderat gebeten, bei diesem Fest hier meine Kunst zu zeigen. Und er sagte mir noch nicht einmal, daß er der Bürgermeister ist!« Er holte erst einmal Luft, betrachtete alle finster und legte einen Moment später schon wieder los. »Als ich runterging, um meine Pfeife vor dem Kamin zu rauchen und einen Krug Bier zu trinken, sieht mich jedermann im Schankraum an, als sei ich sein bestgehaßter Schwager und versuche, mir von ihm Geld zu leihen. Irgendein alter Opa fängt an, mir Vorträge zu halten, welche Art von Geschichten ich erzählen soll und welche nicht, und dann schreit mich so ein kindisches kleines Mädchen an, ich solle abhauen, und bedroht mich mit einem Knüppel, als ich nicht schnell genug springe. Wo hat man denn so was schon gehört, daß man einen Gaukler derart behandelt?«

Es lohnte sich, Egwenes Gesicht zu studieren. Sie war hin- und hergerissen. Einerseits bestaunte sie den Gaukler mit großen Augen, und andererseits sah man, daß sie Nynaeve verteidigen wollte.

»Entschuldigt, Meister Gaukler«, sagte Rand. Er wußte, daß er dabei selbst idiotisch grinste. »Das war unsere Seherin, und... «

»Dieses hübsche kleine Ding von einem Mädchen?« rief der Gaukler. »Eine Dorfseherin? Na, in ihrem Alter sollte sie lieber mit jungen Männern flirten, als das Wetter vorherzusagen und Kranke zu heilen.«

Rand fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut. Hoffentlich hörte Nynaeve nicht, was der Mann von ihr hielt. Zumindest nicht, bevor er seine Vorstellung beendet hatte. Perrin fuhr bei den Worten des Gauklers zusammen, und Mat pfiff tonlos durch die Zähne, als gingen den beiden Freunden dieselben Gedanken durch den Kopf wie ihm.

»Die Männer, das war der Gemeinderat«, fuhr Rand fort. »Ich bin sicher, sie wollten nicht unhöflich sein. Seht Ihr, wir haben gerade erfahren, daß in Ghealdan Krieg ausgebrochen ist, und ein Mann behauptet, der Wiedergeborene Drache zu sein. Ein falscher Drache. Aes Sedai reiten aus Tar Valon dorthin. Der Gemeinderat versucht zu entscheiden, ob wir hier in Gefahr sind.«

»Das hat ja alles schon einen Bart, sogar in Baerlon«, mäkelte der Gaukler, »und das ist wirklich der letzte Ort auf der Welt, an dem man etwas Neues erfahren kann.« Er hielt inne, betrachtete die umliegenden Häuser des Dorfs und fügte trocken hinzu: »Vielleicht der vorletzte Ort.« Dann fiel sein Blick auf den Wagen vor der Schenke, der nun verlassen dastand, die Deichsel am Boden. »So. Ich dachte, ich hätte Padan Fain dort drinnen erkannt.« Seine Stimme klang immer noch tief, aber der Widerhall war nicht mehr zu hören und wurde durch Verachtung ersetzt. »Fain hat immer schon schlechte Nachrichten schnell überbracht — je schlechter, desto schneller. Es hat mehr von einem Raben als von einem Mann.«

»Meister Fain ist schon oft nach Emondsfeld gekommen, Meister Gaukler«, sagte Egwene, bei der nun ein Hauch von Mißbilligung durch die Freude brach. »Er steckt immer voll von Humor und bringt viel mehr gute Nachrichten als schlechte.«

Der Gaukler betrachtete sie einen Augenblick lang und lächelte dann breit. »Also, du bist ja ein süßes Mädel. Du solltest Rosenknospen im Haar tragen. Unglücklicherweise kann ich keine Rosen aus der Luft zaubern, nicht dieses Jahr, aber würde es dir Spaß machen, morgen während eines Teils meiner Vorstellung neben mir zu stehen und mir zu assistieren? Du könntest mir eine Flöte reichen, wenn ich sie brauche, und bestimmte weitere Geräte. Ich wähle immer das hübscheste Mädchen aus, das ich finden kann.«

Perrin kicherte, und Mat, der vorher schon gegrinst hatte, lachte schallend los. Rand machte große Augen vor Überraschung; Egwene sah ihn böse an, und dabei hatte er noch nicht einmal gelächelt. Sie richtete sich auf und sagte mit etwas zu beherrschter Stimme: »Danke schön, Meister Gaukler. Ich werde mich glücklich schätzen, Euch zu assistieren.«

»Thom Merrilin«, sagte der Gaukler. Sie sahen ihn verständnislos an. »Ich heiße Thom Merrilin, nicht Meister Gaukler.« Er zog den vielfarbigen Umhang höher, und plötzlich schien seine Stimme wieder in einem großen Saal zu hallen. »Einst Barde am Hof, habe ich mich nun hochgearbeitet und den enormen Rang eines Meistergauklers erreicht, doch mein Name lautet einfach nur Thom Merrilin, und Gaukler ist der Titel, mit dem ich mich schmücke.« Und er verbeugte sich mit einem derart eleganten Schwung seines Umhangs, daß Mat klatschte und Egwene beifällig murmelte.

»Meister... äh... Meister Merrilin«, sagte Mat, der sich nicht sicher war, wie er ihn nun anreden sollte, »was geschieht denn wirklich in Ghealdan? Wißt Ihr irgend etwas über diesen falschen Drachen? Oder die Aes Sedai?«

»Sehe ich wie ein fahrender Händler aus, Junge?« brummte der Gaukler, während er seine Pfeife auf dem Handrücken ausklopfte. Er ließ die Pfeife irgendwo in seinem Umhang oder seinem Mantel verschwinden; Rand war sich nicht sicher, wo sie war oder wie sie dahin gekommen war. »Ich bin Gaukler und kein Dorfbüttel. Und ich bemühe mich, niemals etwas über die Aes Sedai zu wissen. Das ist viel sicherer.«

»Aber der Krieg«, begann Mat eifrig, doch Meister Merrilin schnitt ihm das Wort ab.

»Im Krieg, Junge, töten Narren andere Narren aus närrischen Gründen. Es genügt, wenn man soviel weiß. Ich bin meiner Künste wegen hier.« Plötzlich deutete sein Zeigefinger auf Rand. »Du, Bursche. Du bist großgewachsen. Noch nicht voll ausgewachsen, aber ich glaube kaum, daß es in der Region hier noch einen Mann deiner Größe gibt. Ich schätze auch, daß es im Dorf nicht viele Leute mit deiner Augenfarbe gibt. Auf jeden Fall hast du breite Schultern und bist so groß wie ein Aielmann. Wie heißt du, Bursche?«

Rand sagte zögernd seinen Namen. Er war sich nicht sicher, ob der Mann sich über ihn lustig machte, aber der Gaukler widmete seine Aufmerksamkeit bereits Perrin. »Und du hast schon beinahe die Maße eines Ogiers. Wie wirst du genannt?«

»Nur wenn ich mich auf die eigenen Schultern stelle«, lachte Perrin. »Ich fürchte, Rand und ich sind nur ganz normale Menschen, Meister Merrilin, und keine erfundenen Wesen aus Euren Geschichten. Ich bin Perrin Aybara.«

Thom Merrilin zupfte an einem Ende seines Schnurrbarts. »Na ja. Erfundene Wesen aus meinen Geschichten. Sind sie das? Es scheint, Ihr jungen Burschen seid schon weit in der Welt herumgekommen.«

Rand hielt den Mund, denn er war nun sicher, daß sie Ziel eines Scherzes waren, aber Perrin sagte etwas dazu.

»Wir waren alle schon bis Wachhügel und Devenritt. Nur wenige Leute aus dieser Gegend sind schon so weit weg gewesen.« Er gab nicht an; das tat Perrin selten. Er sagte einfach die Wahrheit.

»Wir haben auch alle den Schlammpfuhl gesehen«, fügte Mat hinzu, und bei ihm klang es nach Angabe. »Das ist der Sumpf am hinteren Ende des Wasserwalds. Dort geht sonst überhaupt niemand hin außer uns — da findet man Treibsand und Moorlöcher. Und genausowenig geht jemand bis zu den Verschleierten Bergen, aber wir waren schon einmal dort. Jedenfalls bis zu ihrem Fuß.«

»Tatsächlich so weit?« murmelte der Gaukler, der sich nun dauernd über den Schnurrbart strich. Rand glaubte, er verberge ein Lächeln, und beobachtete, wie Perrin die Stirn runzelte.

»Es bringt Pech, wenn man sich in die Berge hineinwagt«, sagte Mat, als müsse er sich verteidigen, weil er nicht weiter gegangen war. »Das weiß doch jeder.«

»Das ist doch närrisch, Matrim Cauthon«, mischte sich Egwene ärgerlich ein. »Nynaeve sagt... « Sie sprach nicht weiter. Ihre Wangen färbten sich rot, und der Blick, mit dem sie Thom Merrilin musterte, war nicht so freundlich wie zuvor. »Es ist nicht anständig... Es ist nicht... « Ihr Gesicht wurde noch roter, und sie schwieg. Mat zwinkerte, als komme ihm jetzt der Verdacht, daß etwas nicht stimme.

»Du hast recht, Kind«, sagte der Gaukler reumütig. »Ich entschuldige mich demütigst. Ich bin hier, um Menschen zu unterhalten. Äh, meine Zunge hat mich schon oft in Schwierigkeiten gebracht.«

»Vielleicht sind wir nicht so weit herumgekommen wie Ihr«, sagte Perrin tonlos, »aber was hat eigentlich Rands Größe mit all dem zu tun?«

»Nur mein, Junge, ihr sollt später versuchen, mich hochzuheben, aber Ihr werdet nicht in der Lage sein, meine Füße auch nur vom Boden wegzubringen. Ihr nicht und Euer großer Freund nicht — Rand, nicht wahr? — und auch niemand anders. Was haltet Ihr davon?«

Perrin schnaubte und lachte gleichzeitig. »Ich schätze, ich kann Euch jetzt gleich hochheben.« Aber als er vortrat, winkte ihn Thom Merrilin zurück. »Später, Bursche, später! Wenn mehr Zuschauer da sind. Ein Künstler braucht sein Publikum.«

Ein paar Leuten hatten sich auf dem Grün versammelt, seit der Gaukler aus der Schenke gekommen war; von jungen Männern und Frauen bis zu Kindern, die schweigend und mit großen Augen hinter den älteren Zuschauern hervorlugten. Alle wirkten, als erwarteten sie wahre Wunder von dem Gaukler. Der weißhaarige Mann betrachtete sie — er schien sie zu zählen -, schüttelte leicht den Kopf und seufzte.

»Ich denke, ich muß wohl ein kleines Beispiel meiner Künste zum besten geben, damit Ihr heimlaufen und es den anderen erzählen könnt. Eh? Nur ein Vorgeschmack dessen, was Ihr morgen bei Eurem Fest sehen werdet.«

Er trat einen Schritt zurück und sprang plötzlich hoch in die Luft, drehte sich in einem Schraubensalto und landete mit dem Gesicht ihnen zugewandt auf der alten Mauer. Und noch mehr: Drei Bälle — rot, weiß und schwarz — begannen zwischen seinen Händen zu tanzen, und zwar bereits in dem Moment, als er auf der Mauer landete.

Ein leises Stöhnen war von den Zuschauern zu hören; halb Erstaunen, halb Genugtuung. Sogar Rand vergaß seine Nervosität. Er grinste Egwene zu und erhielt dafür ein vergnügtes Lächeln, und dann wandten sich beide wieder dem Gaukler zu und sahen ihm mit großen Augen zu.

»Ihr möchtet Geschichten hören?« rief Thom Merrilin. »Ich habe Geschichten, und ich werde sie Euch erzählen. Ich werde sie vor Euren Augen zum Leben erwecken.« Ein blauer Ball von irgendwoher gesellte sich zu den anderen, dann ein grüner und ein gelber. »Geschichten über große Kriege und große Helden für die Männer und die Jungen. Für die Frauen und Mädchen den ganzen Aptarigine-Zyklus. Geschichten von Artur Falkenflügel, Artur, dem großen König, der einst alle Länder von der Aiel-Wüste bis zum Aryth-Meer und noch weiter regierte. Erstaunliche Geschichten über fremde Völker und fremde Länder, über den Grünen Mann, über Behüter und Trollocs, Ogier und Aiel. ›Die tausend Erzählungen Anlas, der weisen Ratgeberin‹, ›Jaem, der Riesentöter‹, ›Wie Susa Jain Fernstreicher zähmte‹, ›Mara und die drei törichten Könige‹.«

»Erzählt uns von Lenn!« rief Egwene. »Wie er im Bauch eines Adlers aus Feuer auf den Mond flog. Erzählt uns von seiner Tochter Salya, die zwischen den Sternen einhergeht.«

Rand betrachtete sie aus den Augenwinkeln, doch sie schien sich nur auf den Gaukler zu konzentrieren. Sie hatte Geschichten über Abenteuer und lange Reisen noch nie gemocht. Ihre Lieblingsgeschichten waren immer die lustigen oder solche über Frauen gewesen, die schlauer waren als angeblich besonders kluge Leute. Rand war sicher, daß sie nach den Geschichten von Lenn und Salya verlange, um ihm eins auszuwischen. Sicher war auch ihr klar, daß die Welt dort draußen für die Leute von den Zwei Flüssen kein Thema war. Sich Abenteuergeschichten anzuhören und vielleicht davon zu träumen, war eine Sache; aber mittendrin zu stehen und sie selbst zu erleben, war eine ganz andere. »Das sind alte Geschichten«, sagte Thom Merrilin, und plötzlich jonglierte er mit jeder Hand drei farbige Bälle. »Manche behaupten, das seien Geschichten aus dem Zeitalter vor dem Zeitalter der Legenden. Oder vielleicht noch älter. Aber, seht ihr, ich habe alle Geschichten von Zeitaltern, die vergingen und von solchen, die kommen werden. Zeitalter, in denen die Menschen Himmel und Sterne beherrschten, und Zeitalter, da die Menschen den Tieren gleich umherzogen. Zeitalter zum Staunen und Zeitalter zum Fürchten. Zeitalter, die damit endeten, daß Feuer vom Himmel fiel, und andere, deren Ende in Eis und Schnee begraben wurde. Ich kenne alle Geschichten, und ich werde alle Geschichten erzählen. Geschichten von Mosk, dem Riesen, mit seiner Feuerlanze, die er um die ganze Welt werfen konnte, und von seinen Kriegen mit Alsbet, der All-Königin. Geschichten von Materese, der Heilerin und Mutter des Erstaunlichen Ind.«

Die Bälle tanzten nun in zwei ineinandergreifenden Ringen zwischen Thoms Händen. Seine Stimme klang beinahe, als singe er, und während er sprach, drehte er sich langsam, als wolle er seine Wirkung auf die Zuschauer beobachten. »Ich werde euch vom Ende des Zeitalters der Legenden berichten, vom Drachen und seinem Versuch, den Dunklen König zu befreien und in die Welt der Menschen zu lassen. Ich werde von der Zeit des Wahns erzählen, als Aes Sedai die Welt zerbrachen; von den Trolloc-Kriegen, als Menschen gegen Trollocs um die Herrschaft der Welt kämpften; vom Hundertjährigen Krieg, als Menschen gegen Menschen kämpften und die heutigen Staaten gegründet wurden. Ich werde von den Abenteuern von Männern und Frauen erzählen, Armen und Reichen, Großen und Kleinen, Stolzen und Demütigen. Die Belagerung der Säulen des Himmels‹, Wie Frau Karil ihren Mann vom Schnarchen befreite‹, König Darith und der Fall des Hauses der...‹«

Mit einem Schlag endeten der Wortschwall und auch das Jonglieren. Thom schnappte sich lediglich die Bälle aus der Luft und hörte mit Sprechen auf. Von Rand unbemerkt, hatte sich Moiraine zu den Zuschauern gesellt. Lan stand an ihrer Seite. Er mußte allerdings zweimal hinsehen, um den Mann zu erkennen. Einen Augenblick lang sah Thom Moiraine von der Seite an. Sein Gesicht und sein Körper bewegten sich nicht, und doch ließ er die Bälle in den weiten Manteltaschen verschwinden. Dann verbeugte er sich vor ihr, wobei er den Umhang weit ausbreitete. »Entschuldigt, aber Ihr kommt doch sicher nicht aus dieser Gegend.«

»Lady!« zischte Ewin aufgebracht. »Die Lady Moiraine.«

Thom blinzelte und verbeugte sich nochmals, diesmal tiefer. »Entschuldigt noch einmal... äh, Lady. Ich wollte nicht unhöflich sein.«

Moiraine tat es mit einer leichten Handbewegung ab. »Es wurde auch nicht so aufgefaßt, Meister Barde. Und mein Name lautet einfach Moiraine. Ich bin tatsächlich fremd hier, eine Reisende wie Ihr selbst, fern der Heimat und allein. Die Welt kann ein gefährlicher Ort sein, wenn man irgendwo in der Fremde weilt.«

»Die Lady Moiraine sammelt Geschichten«, warf Ewin ein. »Geschichten über Dinge, die sich bei den Zwei Flüssen abspielten. Obwohl ich nicht weiß, was hier Großes geschehen sein kann, daß man eine Geschichte darüber erzählt.«

»Ich hoffe, Euch werden meine Geschichten genausogut gefallen... Moiraine.« Thom betrachtete sie mit offensichtlichem Argwohn. Er sah nicht so aus, als gefalle ihm ihre Anwesenheit. Plötzlich fragte Rand sich, welche Art von Unterhaltung einer Dame wie ihr in einer Stadt wie Baerlon oder Caemlyn wohl geboten wurde. Es konnte doch kaum Besseres sein, als ein Gaukler zu bieten hatte.

»Das ist Geschmackssache, Meister Barde«, antwortete Moiraine. »Einige Geschichten gefallen mir, andere nicht.«

Thoms Verbeugung war seine bisher tiefste. Sein langer Körper beugte sich parallel zum Boden. »Ich versichere Euch, daß Euch keine meiner Geschichten mißfallen werden. Alle werden gefallen und unterhalten. Und Ihr laßt mir zuviel Ehre zuteil werden. Ich bin ein einfacher Gaukler — sonst nichts.«

Moiraine beantwortete seine Verbeugung mit einem dankbaren Nicken. In diesem Augenblick erschien sie noch mehr als die Lady, wie sie von Ewin bezeichnet worden war, die ein Geschenk eines ihrer Untertanen annahm. Dann ging sie, und Lan folgte ihr — ein Wolf auf den Spuren eines dahingleitenden Schwans. Thom sah ihnen nach. Er zupfte sich an den wild wuchernden Augenbrauen und strich sich mit den Knöcheln über den langen Schnurrbart, bis sie auf halbem Weg über das Grün waren. Es gefällt ihm überhaupt nicht, dachte Rand.

»Jongliert Ihr jetzt noch ein wenig?« wollte Ewin wissen.

»Schluckt Feuer!« rief Mat. »Ich will Euch Feuer schlucken sehen!«

»Die Harfe!« rief eine Stimme aus der Menge. »Spielt Harfe!« Jemand anders wollte, daß er Flöte spielte.

In diesem Moment öffnete sich die Tür der Schenke, und der Gemeinderat schob sich heraus, Nynaeve in der Mitte. Padan Fain befand sich nicht bei ihnen, bemerkte Rand. Offensichtlich hatte es der Händler vorgezogen, mit seinem Glühwein in der warmen Schankstube zu bleiben.

Etwas von einem ›starken Schnaps‹ vor sich hinmurmelnd, sprang Thom Merrilin plötzlich von der alten Grundmauer. Er überhörte die Rufe seiner Zuschauer und drückte sich am Gemeinderat vorbei, bevor die noch aus der Tür waren.

»Ist er eigentlich Gaukler oder König?« fragte Cenn Buie in ärgerlichem Tonfall. »Reine Geldverschwendung, wenn Ihr mich fragt.«

Bran al'Vere drehte sich halb nach dem Gaukler um, schüttelte dann aber den Kopf. »Dieser Mann macht uns vielleicht mehr Schwierigkeiten, als er wert ist.«

Nynaeve, die alle Hände voll zu tun hatte, ihren flatternden Umhang festzuhalten, schnaubte vernehmlich. »Macht Euch ruhig Kopfzerbrechen des Gauklers wegen, Brandelwyn al'Vere. Zumindest ist er hier in Emondsfeld, was man von dem falschen Drachen nicht behaupten kann. Aber wenn Ihr Euch schon Sorgen machen wollt: Es gibt andere hier, deren Anwesenheit Euch mehr Ärger bereiten wird.«

»Seherin«, sagte Bran steif, »überlaßt es freundlicherweise bitte mir, über wen ich mir den Kopf zerbreche. Frau Moiraine und Meister Lan sind Gäste meiner Herberge und, so möchte ich behaupten, anständige und ehrenwerte Leute. Sie haben mich nicht vor dem versammelten Gemeinderat als Narren bezeichnet. Sie haben dem Gemeinderat nicht vorgeworfen, daß keiner von uns seine fünf Sinne beisammen habe.«

»Es scheint, als habe ich Euch noch zu gut bewertet«, schoß Nynaeve zurück. Sie schritt ohne einen Blick zurück einfach davon. Brans Kinn bewegte sich, als formuliere er eine passende Antwort.

Egwene sah Rand an, als wolle sie etwas sagen, aber statt dessen eilte sie der Seherin hinterher. Rand war sich klar darüber, daß es irgendeinen Weg geben mußte, sie davon abzuhalten, die Zwei Flüsse zu verlassen, doch der einzige Weg, der ihm gerade einfiel, war keiner, den er zur Zeit bereits gehen konnte, selbst wenn sie zustimmte. Und sie hatte ja mehr oder weniger angedeutet, daß sie nicht wollte. Das machte alles für ihn noch schlimmer.

»Diese junge Frau braucht einen Mann«, grollte Cenn Buie, der auf Zehenspitzen umherhüpfte. Sein Gesicht hatte sich puterrot gefärbt und wurde noch dunkler. »Ihr fehlt der Respekt. Wie sind der Gemeinderat und keine kleinen Jungen, die ihr den Hof machen und... «

Der Bürgermeister atmete schwer durch die Nase und fuhr dann plötzlich den alten Dachdecker an: »Sei ruhig, Cenn! Hör auf, dich wie ein Aiel mit schwarzem Schleier aufzuführen!« Der knochige Mann erstarrte vor Überraschung. Der Bürgermeister verlor sonst nie die Beherrschung. Bran funkelte ihn an. »Versengen soll mich das Licht, aber wir haben wirklich Besseres zu tun, als uns wie Narren zu benehmen. Oder willst du beweisen, daß Nynaeve recht hat?« Damit stampfte er zurück in die Schenke und knallte die Tür hinter sich zu.

Die anderen Mitglieder des Gemeinderats sahen Cenn an und gingen dann jeder in seine Richtung nach Hause. Alle außer Haral Luhhan, der den Dachdecker begleitete und leise auf ihn einredete. Cenn Buies Gesicht war wie versteinert. Der Schmied aber war der einzige, der Cenn jemals wieder zur Vernunft bringen konnte.

Rand ging zu seinem Vater hinüber, und seine Freunde kamen hinterher. »Ich habe Meister al'Vere noch nie so wütend gesehen«, war das erste, was Rand sagte. Das brachte ihm einen angewiderten Blick Mats ein.

»Der Bürgermeister und die Seherin sind sich selten einig«, sagte Tam, »und heute noch weniger als sonst. Das ist alles. Das ist in jedem Dorf dasselbe.«

»Was ist mit dem falschen Drachen?« fragte Mat, und Perrin murmelte eifrig: »Was ist mit den Aes Sedai?«

Tam schüttelte langsam den Kopf. »Meister Fain wußte nicht viel mehr, als er bereits sagte. Jedenfalls nicht viel, was für uns wichtig ist. Gewonnene oder verlorene Schlachten. Eroberte und rückeroberte Städte. Dank dem Licht spielt sich das alles in Ghealdan ab. Es hat sich nicht weiter ausgebreitet, jedenfalls nicht, soweit uns das Meister Fain berichten konnte.«

»Schlachten interessieren mich«, sagte Mat, und Perrin fügte hinzu: »Was hat er davon erzählt?«

»Mich interessieren Schlachten nicht, Matrim«, sagte Tam. »Doch ich bin sicher, er wird sich glücklich schätzen, dir später alles darüber zu erzählen. Was mich interessiert, ist die Tatsache, daß wir uns hier nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen, soweit es der Gemeinderat beurteilen kann. Wir sehen keinen Grund für die Aes Sedai, auf ihrem Weg nach Süden hier durchzukommen. Und was die Rückreise betrifft, werden sie wohl kaum den Wald der Schatten durchqueren und den Weißen Fluß durchschwimmen.«

Rand und die anderen schmunzelten bei dem Gedanken daran. Es gab drei Gründe, warum niemand ins Gebiet der Zwei Flüsse kam, außer eben vom Norden her von Taren-Fähre. Der erste, das waren natürlich die Verschleierten Berge, und genauso erfolgreich blockierte der Schlammpfuhl die Wege aus dem Osten. Im Süden lag der Weiße Fluß, der seinen Namen der vielen Steine und Felsen wegen erhalten hatte, die seinen schnellen Strom aufschäumen ließen. Und jenseits des Weißen lag der Wald der Schatten. Wenige Leute der Zwei Flüsse hatten jemals den Weißen überquert, und noch weniger kehrten von dorther zurück. Man war sich jedoch allgemein darin einig, daß sich der Wald der Schatten etwa hundert Meilen oder weiter nach Süden erstreckte. Es gab dort keine Straße und kein Dorf, wohl aber genügend Wölfe und Bären.

»Also, das wär's ja dann wohl für uns«, sagte Mat. Es hörte sich zumindest ein wenig enttäuscht an.

»Nicht ganz«, sagte Tam. »Übermorgen werden wir Männer nach Devenritt und Wachhügel schicken und auch nach Taren-Fähre, um gemeinsam Wachtposten aufzustellen. Berittene Posten am Weißen und am Taren und dazwischen Patrouillen. Es sollte eigentlich noch heute geschehen, aber nur der Bürgermeister hat mir zugestimmt. Der Rest war der Meinung, man könne nicht verlangen, daß jemand am Bel Tine zwischen den beiden Flüssen herumreitet.«

»Aber Ihr habt doch gesagt, wir müßten uns keine Sorgen machen«, murrte Perrin, und Tam schüttelte den Kopf.

»Ich sagte, wir sollten uns nicht sorgen, Junge, doch das heißt nicht, daß wir die Augen verschließen. Ich habe Männer sterben sehen, weil sie sicher waren, daß nichts geschehen werde, was nicht geschehen durfte. Außerdem werden die Kämpfe alle möglichen Leute aufscheuchen. Die meisten werden sich nur ein sicheres Fleckchen suchen, aber andere werden sich bemühen, aus der Verwirrung Profit zu schlagen. Den ersteren werden wir unsere Hilfe anbieten, aber wir müssen darauf vorbereitet sein, die anderen wieder zu verjagen.«

Unvermittelt äußerte sich Mat. »Können wir daran teilnehmen? Ich möchte schon! Ihr wißt, daß ich genausogut reiten kann wie die anderen Männer des Dorfs.«

»Du möchtest ein paar Wochen Kälte, Langeweile und Schlafen im Freien genießen?« schmunzelte Tam. »Darauf wird es wahrscheinlich hinauslaufen. Ich hoffe jedenfalls. Wir sind weit ab vom Schuß, sogar was Flüchtlinge betrifft. Aber wenn du dich entschlossen hast, kannst du ja mit Meister al'Vere sprechen. Rand, es ist Zeit für uns, zum Hof zurückzukehren.«

Rand riß überrascht die Augen auf. »Ich dachte, wir bleiben noch zur Winternacht!«

»Es gibt Dinge, die auf dem Hof getan werden müssen, und ich brauche dich dazu.«

»Trotzdem haben wir noch Stunden Zeit. Und ich möchte mich auch freiwillig für die Patrouillen melden.«

»Wir gehen jetzt«, antwortete der Vater in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Mit sanfterer Stimme fügte er hinzu: »Wir kommen morgen zeitig genug zurück, damit du mit dem Bürgermeister sprechen kannst. Und früh genug für das Fest. Wir treffen uns in fünf Minuten im Stall.«

»Wirst du dich mit Rand und mir zusammen für die Wache melden?« fragte Mat Perrin, als Tam ging. »Ich wette, so was hat es bei den Zwei Flüssen noch nie gegeben. Stellt Euch vor, wenn wir zum Taren kommen, sehen wir vielleicht sogar Soldaten oder wer weiß wen! Sogar Kesselflicker!«

»Ja, ich denke schon«, sagte Perrin langsam. »Das heißt, falls Meister Luhhan mich nicht braucht.«

»In Ghealdan ist Krieg, nicht hier!« brauste Rand auf. Mit Mühe senkte er die Stimme. »Der Krieg ist in Ghealdan, und die Aes Sedai sind das Licht wer weiß wo, aber keines davon ist hier. Dafür ist hier der Mann mit dem schwarzen Mantel, oder habt Ihr ihn schon vergessen?« Die anderen tauschten verlegene Blicke.

»Tut uns leid, Rand«, stotterte Mat. »Aber es gibt nicht oft eine Gelegenheit, etwas anderes zu tun, als die Kühe des Vaters zu melken.« Unter ihren erstaunten Blicken richtete er sich auf. »Na ja, ich melke sie eben, und das jeden Tag.«

»Der schwarze Reiter«, erinnerte sie Rand. »Was, wenn er jemanden verletzt?«

»Vielleicht ist er ein Kriegsflüchtling«, meinte Perrin zögernd.

»Wer er auch ist«, sagte Mat, »die Wachen werden ihn finden.«

»Vielleicht«, sagte Rand, »aber er scheint zu verschwinden, wann immer er will. Es wäre besser, wenn sie überhaupt wissen, daß sie nach ihm suchen sollen.«

»Wir erzählen es Meister al'Vere, wenn wir uns für die Patrouillen melden«, sagte Mat, »er wird es dem Gemeinderat sagen und die wieder der Wache.«

»Der Gemeinderat!« rief Perrin zweifelnd. »Wir haben Glück, wenn uns der Bürgermeister nicht auslacht! Meister Luhhan und Rands Vater glauben jetzt schon, daß wir zwei uns vor Geistern fürchten.«

Rand seufzte. »Wenn wir es erzählen wollen, dann können wir es genausogut jetzt tun. Er wird heute nicht lauter lachen als morgen.«

»Vielleicht«, meinte Perrin mit einem Seitenblick auf Mat, »sollten wir andere fragen, ob sie ihn auch gesehen haben. Heute abend treffen wir ja fast jeden aus dem Dorf.« Mats Miene verfinsterte sich noch mehr, aber immer noch hielt er den Mund. Sie alle wußten, daß Perrin der Meinung war, man solle zuverlässigere Zeugen als Mat finden. »Er wird morgen auch nicht lauter lachen«, fügte Perrin hinzu, als Rand zögerte. »Und mir wäre es lieber, wir hätten noch jemanden bei uns, wenn wir zu ihm gehen. Das halbe Dorf wäre mir am liebsten.«

Rand nickte bedächtig. Er konnte schon Meister al'Veres Lachen hören. Weitere Zeugen wären sicherlich nicht ungünstig. Und wenn schon sie drei den Burschen gesehen hatten, dann vielleicht auch andere. »Also dann morgen. Ihr zwei treibt heute abend weitere Zeugen auf, und morgen gehen wir zum Bürgermeister. Danach... « Sie sahen ihn schweigend an. Keiner fragte danach, was wäre, wenn sie niemanden fänden, der den schwarzgekleideten Mann gesehen hatte. Die Frage stand deutlich in ihren Augen, und er konnte sie nicht beantworten. Er seufzte tief auf. »Ich muß jetzt gehen. Mein Vater glaubt sonst, ich sei in ein Loch gefallen.«

Von ihren Abschiedsgrüßen gefolgt, schlenderte er hinüber zum Stallhof, wo der Karren mit den hohen Rädern stand, durch einige Stützen zusätzlich gehalten.

Der Stall war ein langer enger Bau mit einem spitzgiebligen strohgedeckten Dach. Boxen mit strohbedecktem Boden waren an beiden Seiten des dämmrigen Innenraums untergebracht, der nur von den geöffneten Doppeltüren an beiden Seiten des Gebäudes Licht erhielt. Die Gespannpferde des Händlers kauten in insgesamt acht Boxen Hafer, und Meister al'Veres kräftige Dhurraner, ein Gespann, das er vermietete, wenn Bauern mehr zu ziehen hatten, als ihre eigenen Pferde schafften, füllten sechs weitere Boxen. Von den übrigen Boxen waren nur drei besetzt. Rand fand, daß die zu den Pferden passenden Reiter leicht zu bestimmen waren. Der hohe, kräftige schwarze Hengst, der den Kopf so wild hochwarf, mußte Lan gehören. Die schlanke weiße Stute mit dem edel gekrümmten Hals, deren schnelle Schritte so graziös wirkten wie die eines tanzenden Mädchens, sogar hier im Stall, konnte nur Moiraine gehören. Und das dritte unbekannte Pferd, ein dürrer Wallach mit schmutzigen Flanken, paßte perfekt zu Thom Merrilin.

Tam stand ganz hinten im Stall, hielt Bela an einem Führseil und sprach ruhig mit Hu und Tad. Bevor Rand noch zwei Schritte in den Stall hinein tun konnte, nickte sein Vater schon den Stallburschen zu und führte Bela hinaus. Wortlos winkte er Rand, mitzukommen.

Schweigend spannten sie die struppige Stute an. Tam schien so tief in Gedanken versunken, daß Rand den Mund hielt. Er freute sich nicht gerade darauf, seinen Vater von der Existenz des schwarzgekleideten Reiters überzeugen zu müssen, und dann auch noch den Bürgermeister! Morgen war es früh genug dafür, wenn Mat und Perrin weitere Zeugen fänden, die den Mann gesehen hatten. Falls sie sie fanden...

Als der Karren sich ruckartig in Bewegung setzte, hatte Rand Bogen und Köcher von hinten heraus. Ungeschickt hängte er den Köcher an den Gürtel, während er nebenhertrabte. Als sie die letzte Häuserreihe des Dorfs erreichten, legte er einen Pfeil ein und trug den Bogen halb erhoben, die Sehne leicht gespannt. Es gab außer den zumeist kahlen Bäumen nichts zu sehen, doch seine Schultern spannten sich. Der schwarze Reiter konnte sie erreichen, bevor sie es überhaupt merkten. Vielleicht bliebe dann keine Zeit mehr, den Bogen zu spannen; also tat er es lieber jetzt schon.

Er wußte, daß er die Sehne nicht lange gespannt halten durfte. Er hatte den Bogen selbst gemacht, und Tam war außer ihm einer der wenigen in der Gegend, die ihn überhaupt bis zur Wange spannen konnten. Er sah sich um, denn er wollte nicht die ganze Zeit über an den dunklen Reiter denken. Das war allerdings nicht einfach, so vom Wald umgeben und mit im Wind flatternden Umhängen. »Vater«, sagte er schließlich, »ich verstehe nicht, wieso der Gemeinderat Padan Fain verhören mußte.« Mit Mühe riß er den Blick vom Wald los und sah Tam über Bela hinweg an. »Mir scheint, euer Entschluß hätte auch gleich an Ort und Stelle fallen können. Der Bürgermeister hat allen eine Riesenangst eingejagt, als er über Aes Sedai und den falschen Drachen im Zusammenhang mit den Zwei Flüssen sprach.«

»Die Menschen sind merkwürdig, Rand. Sogar die besten. Nimm Haral Luhhan. Meister Luhhan ist ein starker Mann, und ein tapferer noch dazu, aber er kann nicht beim Schlachten zusehen. Er wird dabei weiß wie ein Bettlaken.«

»Was hat denn das damit zu tun? Jeder weiß, daß Meister Luhhan kein Blut sehen kann, und keiner außer den Coplins und den Congars denkt sich etwas dabei.«

»Nur soviel, mein Junge: Leute denken oder benehmen sich nicht immer so, wie du glaubst. Die Leute im Dorf... Laß den Hagel ihre Ernte plattschlagen, laß den Wind jedes Dach in der Gegend wegpusten und die Wölfe die Hälfte ihres Viehs reißen, und sie krempeln ihre Ärmel hoch und fangen von vorn an. Sie maulen vielleicht, lassen sich aber nicht aufhalten. Aber laß sie nur an die Aes Sedai und einen falschen Drachen in Ghealdan denken, dann kommen sie bald darauf, daß Ghealdan nicht so weit vom Rand des Walds der Schatten entfernt ist und daß eine gerade Linie von Tar Valon nach Ghealdan gar nicht so weit östlich von uns verlaufen würde. Als ob die Aes Sedai nicht die Straße über Caemlyn und Lugard nähmen, anstatt querfeldein zu reiten! Bis morgen früh wäre das halbe Dorf überzeugt gewesen, daß der Krieg vor unserer Tür steht. Es hätte Wochen gedauert, das wiedergutzumachen. Das hätte ein schönes Bel Tine gegeben! Also sagte Bran es ihnen, bevor sie selbst darauf kamen.

Sie haben gesehen, daß der Gemeinderat das Problem diskutiert, und mittlerweile werden sie wissen, wie wir uns entschieden haben. Sie haben uns in den Gemeinderat gewählt, weil sie darauf vertrauen, daß wir uns zum Besten für alle beraten. Sie vertrauen unseren Ansichten. Sogar der Ansicht von Cenn, was nicht viel über uns andere aussagt, schätze ich. Jedenfalls werden sie hören, daß wir uns keine Sorgen machen müssen, und das werden sie glauben. Nicht, daß sie nicht auch von allein darauf kommen könnten oder schließlich kommen würden, aber auf diese Weise ruinieren wir das Fest nicht, und keiner muß sich wochenlang über etwas Gedanken machen, was wahrscheinlich sowieso nicht geschieht. Wenn es aber, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, doch geschieht... Nun, dann werden uns die Patrouillen früh genug warnen, damit wir Gegenmaßnahmen ergreifen können. Ich glaube aber wirklich nicht, daß es dazu kommen wird.«

Rand blies die Wangen auf. Offensichtlich war es komplizierter, als er gedacht hatte, Mitglied im Gemeinderat zu sein. Der Karren rumpelte weiter die Haldenstraße entlang.

»Hat noch irgend jemand außer Perrin diesen seltsamen Reiter gesehen?« fragte Tam.

»Ja, Mat, aber...« Rand blinzelte und blickte über Belas Rücken hinweg seinen Vater an. »Du glaubst mir? Ich muß zurückkehren. Ich muß es ihnen erzählen.« Tams Ruf hielt ihn auf, bevor er zum Dorf zurückrennen konnte.

»Halt, Junge, halt! Hast du gedacht, daß ich ohne Grund so lange warte, um mit dir darüber zu sprechen?«

Zögernd ging Rand weiter neben dem Wagen her, der quietschend der geduldigen Bela folgte. »Warum hast du deine Meinung geändert? Warum soll ich es den anderen nicht erzählen?«

»Sie werden es früh genug erfahren. Perrin zumindest. Bei Mat bin ich mir nicht so sicher. Man muß die Bauern auf ihren Höfen warnen, so gut es geht, aber ansonsten wird es in einer Stunde in Emondsfeld niemand über sechzehn geben oder jedenfalls keinen vertrauenswürdigen Erwachsenen, der nicht weiß, daß sich ein Fremder hier herumtreibt, und zwar ein Kerl von der Sorte, die man nicht zum Fest einlädt. Der Winter war ohnehin schon schlimm genug. Man sollte die Kinder nicht auch noch ängstigen.«

»Fest?« sagte Rand. »Wenn du ihn gesehen hättest, würdest du ihn dir mehr als zehn Meilen wegwünschen. Vielleicht sogar hundert.«

»Ja, vielleicht«, sagte Tam gelassen. »Er kann ja durchaus vor den Unruhen in Ghealdan geflohen sein, oder er ist ein Dieb, der denkt, er könne hier leichter als in Baerlon oder Taren-Fähre Beute machen. Aber niemand besitzt hier etwas, das er sich so ohne weiteres stehlen läßt. Falls der Mann versucht, vor dem Krieg davonzurennen... Na ja, das ist keine Entschuldigung dafür, Leuten Angst einzujagen. Wenn die Wache einmal steht, wird sie ihn entweder finden oder gleich verjagen.«

»Ich hoffe, man verjagt ihn. Aber weshalb glaubst du mir jetzt, während du mir heute morgen nicht geglaubt hast?«

»Zu der Zeit war ich auf meine eigenen Augen angewiesen, Junge, und ich sah nichts.« Tam schüttelte den ergrauten Kopf. »Es scheint, nur junge Männer sehen diesen Burschen. Als dann aber Haral Luhhan erwähnte, daß Perrin Geister sehe, da kam alles heraus. Jon Thanes ältester Sohn sah ihn auch, genau wie Samel Crawes Junge Bandry. Also, wenn vier von euch behaupten, sie hätten etwas gesehen — alles ordentliche junge Leute -, dann glauben wir allmählich, daß jemand da ist, ob wir ihn nun sehen können oder nicht. Alle außer Cenn natürlich. Jedenfalls ist das der Grund, weshalb wir nach Hause zurückkehren. Wenn wir beide abwesend sind, könnte der Fremde dort alles mögliche anstellen. Wenn es nicht des Festes wegen wäre, käme ich morgen auch nicht ins Dorf zurück. Aber wir können uns nicht in den eigenen vier Wänden einsperren, nur weil so ein Bursche hier herumlungert.«

»Ich habe das mit Ban und Lem nicht gewußt«, sagte Rand. »Wir anderen wollten morgen zum Bürgermeister gehen, aber wir fürchteten, er werde uns nicht glauben.«

»Graue Haare bedeuten nicht, daß unser Hirn geschrumpft ist«, meinte Tam trocken. »Also halte gut Ausschau. Vielleicht bekomme ich ihn auch zu Gesicht, falls er wieder auftaucht.«

Rand beschloß, sich daran zu halten. Zu seiner Überraschung merkte er, wie sein Schritt leichter wurde. Die Knoten waren aus seinen Schultern verschwunden. Er fürchtete sich immer noch, aber es war nicht so schlimm wie vorher. Tam und er befanden sich genauso allein und verlassen auf der Haldenstraße wie am Morgen, aber irgendwie fühlte er sich, als sei das ganze Dorf bei ihnen. Der Unterschied lag darin, daß nun andere Bescheid wußten und ihm glaubten. Was immer der schwarze Reiter anstellen mochte, die Leute von Emondsfeld würden gemeinsam mit ihm fertig werden.

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