33 Die Dunkelheit wartet

Der hochrädrige Karren rumpelte unter einem bleiernen Himmel die Straße nach Caemlyn entlang. Rand erhob sich aus dem Stroh, das hintendrauf lag, und blickte über die Seitenwand. Die Bewegung fiel ihm leichter als noch eine Stunde zuvor. Seine Arme fühlten sich an, als wollten sie sich strecken, anstatt ihn hochzuziehen, und eine kleine Weile lang wollte sein Kopf die Bewegung fortsetzen und wegfliegen, aber es war trotzdem leichter. Er hängte sich mit den Armen über den niedrigen Seitenbrettern ein und beobachtete das vorbeirollende Land. Die immer noch hinter stumpfbleiernen Wolken verborgene Sonne stand hoch am Himmel, aber der Karren rumpelte bereits in ein weiteres Dorf mit Häusern aus rotem Backstein, deren Wände von Ranken überwuchert wurden. Seit Vier Könige lagen die Ortschaften immer näher beieinander.

Einige der Menschen hier winkten Hyam Kinch zu oder riefen dem Bauern, auf dessen Karren sie lagen, etwas nach. Meister Kinch, wortkarg und mit ledernem Gesicht, rief jedesmal ein paar Worte zurück, was er eben mit dem Pfeifenstiel im Mund herausbringen konnte. Der um die Pfeife herum zugeklemmte Mund ließ die Worte fast unverständlich werden, aber sie klangen leutselig, und die Menschen waren es zufrieden. Sie kehrten zu ihrer Tätigkeit zurück, ohne den Karren eines zweiten Blickes zu würdigen. Keiner schien die beiden Passagiere des Bauern zu beachten.

Die Dorfschenke bewegte sich durch Rands Gesichtsfeld. Sie war weiß getüncht und hatte ein graues Schieferdach. Leute traten ein oder kamen heraus, nickten sich beiläufig zu oder winkten einander. Einige davon blieben stehen, um sich zu unterhalten. Sie kannten sich eben. Die meisten waren Dorfbewohner, nach ihrer Kleidung zu urteilen. Die Stiefel und Hosen und Mäntel unterschieden sich nicht sehr von dem, was er trug; allerdings liebten die Leute hier bunte Streifen sehr. Die Frauen trugen Hüte mit breiten Rändern, die ihre Gesichter verbargen, und weiße — gestreifte — Schürzen. Vielleicht waren alle Ortsansässige und Bauern aus dem Umland. Spielt das irgendeine Rolle?

Er ließ sich auf das Stroh zurückfallen und beobachtete, wie das Dorf zwischen seinen Füßen immer kleiner wurde. Eingezäunte Felder und beschnittene Hecken rahmten die Straße ein, und er sah kleine Bauernhäuser, aus deren roten Backsteinkaminen Rauch quoll. Die einzigen Bäume in der Nähe der Straße bildeten eine Art von Niederwald, stark ausgeforstet — man hatte wohl Brennholz geschlagen — und gartenähnlich. Aber die Äste streckten sich kahl dem Himmel entgegen, genauso kahl wie die in den wildwachsenden Wäldern im Westen.

Ein Wagenzug auf der gegenüberliegenden Seite rumpelte die Straße herunter und drängte den Karren zum Straßenrand hinüber. Meister Kinch schob seine Pfeife in den Mundwinkel und spuckte aus. Er behielt das Rad an der Außenseite im Auge, um sicher zu gehen, daß es sich nicht in der Hecke verfing, hielt aber nicht an. Sein Mund verzog sich, als er den Wagenzug der Kaufleute betrachtete.

Keiner der Fahrer, die ihre langen Peitschen in der Luft über den jeweils acht Pferden ihrer Gespanne knallen ließen, und keiner der Wachsoldaten mit ihren harten Gesichtern, die neben den Wagen einherritten, sah den Karren an. Rand beobachtete, wie sie weiterfuhren. In seiner Brust hatte sich etwas verkrampft. Seine Hand steckte unter dem Umhang und umklammerte den Griff seines Schwertes, bis der letzte Wagen vorbeigepoltert war.

Als der letzte Wagen in Richtung des Dorfes wegratterte, das sie gerade verlassen hatten, drehte sich Mat auf seinem Sitz neben dem Bauern um und lehnte sich zurück, bis er Rand in die Augen sehen konnte. Der Schal, mit dem er sich, wenn es notwendig war, gegen den Staub schützte, war tief und mehrmals gefaltet um seine Stirn gebunden. Er rutschte ihm fast in die Augen. Selbst so geschützt blinzelte er noch in das graue Tageslicht hinein. »Hast du da hinten irgendwas gesehen?« fragte er ruhig. »Was war mit dem Wagen?«

Rand schüttelte den Kopf, und Mat nickte. Er hatte ebenfalls nichts gesehen.

Meister Kinch beobachtete sie aus den Augenwinkeln, verschob dann wieder seine Pfeife im Mund und schüttelte die Zügel. Das war alles, aber es entging den beiden nicht. Das Pferd ging ein wenig schneller.

»Tun deine Augen immer noch weh?« fragte Rand.

Mat berührte den Schal an seinem Kopf. »Nein. Nicht sehr. Jedenfalls nicht, wenn ich nicht gerade in die Sonne schaue. Wie steht's mit dir? Fühlst du dich etwas besser?«

»Ein bißchen.« Er fühlte sich wirklich besser, merkte er zu seiner Überraschung. Es war ein Wunder, daß er die Folgen so schnell überwunden hatte. Mehr als nur das: Es war ein Geschenk des Lichts. Es mußte das Licht gewesen sein. Ganz bestimmt.

Plötzlich kam eine Gruppe von Reitern vorbei, die wie die Wagen der Kaufleute nach Westen zogen. Lange weiße Krägen hingen über ihre Kettenpanzer und Schulterplatten herab, und ihre Umhänge und Untermäntel waren rot wie die Uniformen der Torwächter in Weißbrücke, jedoch von feinerem Schnitt, und sie paßten auch besser. Der kegelförmige Helm eines jeden Mannes schimmerte wie Silber. Sie saßen hoch aufgerichtet auf ihren Pferden. Schmale rote Bänder flatterten gleich unterhalb ihrer Lanzenspitzen, und sie hielten ihre Lanzen alle im gleichen Winkel.

Einige von ihnen sahen in den Karren hinein, als sie in zwei Reihen vorbeiritten. Jedes Gesicht war in einem Käfig aus Stahlgitter eingesperrt. Rand war froh, daß sein Schwert von dem Umhang bedeckt war. Ein paar nickten Meister Kinch zu. Nicht, daß sie ihn kannten — es war eine Art neutraler Begrüßung. Meister Kinch nickte auf die gleiche Art zurück, aber obwohl sein Gesichtsausdruck sich nicht änderte, lag in seinem Nicken etwas von wohlwollender Zustimmung.

Sie ritten nur im Schrittempo, aber durch die zusätzliche Geschwindigkeit des Karrens waren sie schnell vorbei. Mit einem Teil seines Gehirns zählte Rand sie. Zehn... zwanzig... dreißig... zweiunddreißig. Er hob den Kopf und beobachtete, wie die beiden Reihen sich die Straße von Caemlyn hinunterbewegten. »Wer war das?« fragte Mat teils erstaunt, teils mißtrauisch.

»Die Garde der Königin«, sagte Meister Kinch um seinen Pfeifenstiel herum. Er behielt die Straße vor ihnen im Auge. »Kommen nicht mehr viel weiter als bis Breens Quelle, außer, man ruft sie herbei. Nicht so wie in den alten Tagen.« Er zog an seiner Pfeife und fügte dann hinzu: »Ich schätze, heutzutage gibt es Teile des Reiches, in denen man die Garde ein ganzes Jahr oder länger nicht zu sehen bekommt. Nicht wie in den alten Tagen.«

»Was machen sie?« fragte Rand.

Der Bauer blickte ihn an. »Den Frieden der Königin wahren und die Gesetze der Königin durchsetzen.« Er nickte vor sich hin, als gefalle ihm der Klang dieser Worte, und fügte hinzu: »Sie suchen nach Übeltätern und stellen sie vor Gericht. Mmmmmf!« Er ließ eine lange Rauchfahne aus dem Mund aufsteigen. »Ihr zwei müßt ja von ganz schön weit weg sein, wenn ihr nicht einmal die Garde der Königin erkennt. Wo kommt ihr denn her?«

»Von weit her«, sagte Mat im gleichen Augenblick, als Rand herausposaunte: »Von den Zwei Flüssen.« Er hätte es am liebsten zurückgenommen, kaum daß es gesagt war. Er konnte immer noch nicht klar denken. Versucht, sich zu verstecken, und gibt dann einen Namen preis, bei dem ein Blasser sofort hellhörig würde.

Meister Kinch sah Mat aus dem Augenwinkel an und paffte eine Weile schweigend seine Pfeife. »Das ist wirklich weit weg«, sagte er schließlich. »Beinahe an der Grenze des Reichs. Aber es muß schlimmer um das Reich stehen, als ich dachte, wenn es Gegenden darin gibt, deren Einwohner die Garde der Königin noch nicht einmal erkennen. Gar nicht wie in den alten Tagen.«

Rand fragte sich, was Meister al'Vere wohl dazu sagen würde, wenn jemand ihm gegenüber behauptete, die Zwei Flüsse gehörten zum Reich irgendeiner Königin. Der Königin von Andor wahrscheinlich. Vielleicht wußte der Bürgermeister Bescheid — er wußte eine Menge Dinge, die Rand überraschten -, und vielleicht auch andere, aber er hatte nie gehört, daß jemand das erwähnte. Die Zwei Flüsse waren die Zwei Flüsse. Jedes Dorf löste seine eigenen Probleme, und wenn etwas auftauchte, was mehr als ein Dorf betraf, dann wurde das von den Bürgermeistern und vielleicht noch den Gemeinderäten gemeinsam gelöst.

Meister Kinch zog die Zügel an, und der Karren blieb stehen. »Weiter fahre ich nicht.« Ein enger Pfad führte nach Norden. In dieser Richtung waren mehrere Bauernhäuser hinter Feldern sichtbar, die wohl gepflügt worden waren, auf denen sich aber noch keine Saat zeigte. »In zwei Tagen seid ihr in Caemlyn. Zumindest dann, wenn dein Freund wieder richtig laufen kann.«

Mat sprang herunter, hob seinen Bogen und die anderen Sachen vom Karren und half dann Rand, hinten abzusteigen. Rands Bündel lasteten schwer auf ihm, und seine Beine zitterten noch, aber er wehrte die helfende Hand seines Freundes ab und versuchte, ein paar Schritte weit allein zu laufen. Er fühlte sich noch unsicher, doch seine Beine trugen ihn. Sie schienen sogar kräftiger zu werden, je mehr er sie benützte.

Der Bauer fuhr nicht gleich weiter. Er betrachtete sie eine Weile und zog an seiner Pfeife. »Ihr könnt euch ein oder zwei Tage bei mir ausruhen, wenn ihr wollt. Werdet in der Zeit auch nichts versäumen, schätze ich. Von welcher Krankheit du dich auch erholen mußt, junger Bursche... na ja, die alte Frau und ich, wir hatten schon so ziemlich jede Krankheit, die du dir vorstellen kannst, und wir haben auch unsere Kinder durchgebracht. Ich denke, du bist über die ansteckende Phase hinweg.«

Mats Blick wurde mißtrauisch, und Rand ertappte sich dabei, daß er die Stirn runzelte. Nicht jeder gehört dazu. Es kann ja wohl nicht jeder verwickelt sein.

»Dankeschön«, sagte er, »aber ich bin schon in Ordnung. Wirklich. Wie weit ist es zum nächsten Dorf?«

»Carysfurt? Ihr könnt es zu Fuß noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.« Meister Kinch nahm die Pfeife aus dem Mund und schürzte nachdenklich die Lippen, bevor er fortfuhr: »Zuerst habe ich euch für weggelaufene Lehrburschen gehalten, aber jetzt glaube ich, daß ihr vor etwas Ernsthafterem wegrennt. Ich weiß nicht, wovor. Es geht mich nichts an. Ich kann durchaus beurteilen, daß ihr keine Schattenfreunde seid und wohl kaum jemanden ausrauben oder verletzen werdet. Nicht so, wie andere, die heutzutage durchs Land ziehen. Als ich noch in eurem Alter war, bin ich auch ein oder zweimal in Schwierigkeiten gekommen. Wenn ihr einen Fleck sucht, an dem ihr ein paar Tage lang untertauchen könnt... Mein Hof liegt fünf Meilen entfernt in dieser Richtung« — er nickte mit dem Kopf zu dem Pfad hinüber — »und da kommt niemals jemand hin. Was euch auch verfolgt, es wird euch dort wohl kaum finden.« Er räusperte sich verlegen, als schäme er sich, soviel auf einmal gesagt zu haben.

»Woher wollt ihr wissen, wie Schattenfreunde aussehen?« fragte Mat. Er schob sich rückwärts von dem Karren weg und seine Hand fuhr unter den Mantel. »Was wißt ihr von Schattenfreunden?«

Meister Kinchs Gesicht spannte sich. »Macht, was ihr wollt.« Er schnalzte mit der Zunge. Der Karren rollte den engen Pfad hinunter, und er sah sich nicht mehr um.

Mat sah Rand an, und sein finsteres Gesicht hellte sich auf. »Tut mir leid, Rand. Du brauchst einen Ort zum Ausruhen. Vielleicht, wenn wir ihm nachlaufen... « Er zuckte die Achseln. »Ich kann einfach das Gefühl nicht loswerden, daß jeder hinter uns her ist. Licht, ich wollte, ich wüßte warum. Ich wollte, es wäre alles vorbei. Ich wollte... « Mit gequältem Gesichtsausdruck brach er ab.

»Es gibt auch noch ein paar gute Menschen«, sagte Rand. Mat ging in Richtung des Pfades los. Er hatte die Zähne zusammengebissen, als sei es das allerletzte, was er tun wolle, aber Rand hielt ihn auf. »Wir können es uns nicht leisten, uns einfach auszuruhen, Mat. Außerdem glaube ich nicht, daß es irgendwo ein sicheres Versteck gibt.«

Mat nickte in offensichtlicher Erleichterung. Er versuchte, Rand etwas von seinen Lasten abzunehmen -die Satteltaschen und Thoms Umhang mit der darin eingewickelten Harfe -, aber Rand hielt sie fest. Seine Beine fühlten sich wirklich schon kräftiger an. Was uns auch verfolgt? dachte er, als sie die Straße entlanggingen.

Uns verfolgt nichts. Es wartet auf uns.

Der Regen hatte in dieser Nacht nicht aufgehört, als sie vom Tanzenden Fahrer weggetaumelt waren, sondern war in Strömen auf sie heruntergeprasselt, fast genauso schlimm wie der Donner, der aus dem von Blitzen zerrissenen Himmel auf sie herabdröhnte. Ihre Kleider waren nach wenigen Minuten völlig durchnäßt, und nach einer Stunde glaubte Rand, auch seine Haut sei mittlerweile aufgeweicht, doch wenigstens hatten sie Vier Könige inzwischen hinter sich gelassen. Mat war fast blind in dieser Dunkelheit. Er blinzelte unter Schmerzen in das harte Licht der Blitze, in dem sich für Momente die Umrisse der Bäume deutlich abhoben. Rand führte ihn an der Hand, aber Mat tastete sich trotzdem noch mit jedem Schritt unsicher voran. Rands Stirn war von Sorgenfalten durchfurcht. Wenn Mat nicht bald wieder sehen konnte, würde sie das zum langsamen Vorwärtskriechen verdammen. So könnten sie doch nie entkommen.

Mat schien seine Gedanken zu erraten. Trotz der Kapuze an seinem Umhang klebte Mats Haar regennaß an der Stirn. »Rand«, sagte er, »du verläßt mich doch nicht, oder? Wenn ich nicht mithalten kann?« Seine Stimme bebte.

»Ich werde dich doch nicht verlassen.« Rand faßte die Hand seines Freundes fester. »Ich verlasse dich nicht, gleich was geschieht.« Licht hilf uns! Über ihnen krachte der Donner, und Mat stolperte. Beinahe wäre er gestürzt und hätte Rand noch mitgerissen. »Wir müssen hierbleiben, Mat. Wenn wir weitergehen, brichst du dir noch ein Bein.«

»Gode.« Ein Blitz zerriß die Dunkelheit genau über ihnen, als Mat den Namen aussprach, und der Donnerknall rammte alle anderen Geräusche in den Boden hinein. Im Licht des Blitzes konnte Rand den Namen von Mats Lippen ablesen.

»Er ist tot.« Er muß tot sein. Licht, laß ihn tot sein.

Er führte Mat zu einigen Büschen hinüber, die er im Licht des Blitzes gesehen hatte. Sie hatten genug Blätter, um ihnen ein wenig Schutz vor dem strömenden Regen zu gewähren. Nicht so viel wie ein guter Baum, aber er wollte nicht riskieren, erneut von einem Blitz getroffen zu werden. Beim nächsten Mal hätten sie vielleicht nicht mehr soviel Glück.

Sie kauerten sich unter dem Busch eng zusammen und versuchten, ihre Umhänge so über die Zweige zu hängen, daß sie ein kleines Zelt bildeten. Es war viel zu spät, um auch nur daran zu denken, einen trockenen Fleck zu finden, aber es wäre schon gut, wenigstens das unaufhörliche Strömen des Regens aufzuhalten. Sie drückten sich aneinander, damit sie jedes bißchen Körperwärme, das noch in ihnen wart miteinander teilen konnten. Sie waren klatschnaß, und durch die Umhänge hindurch tropfte es weiter. So zitterten sie sich in den Schlaf.

Rand war sofort klar, daß es sich um einen Traum handelte. Er war wieder in Vier Könige, aber die Stadt war bis auf ihn ganz leer. Die Wagen waren da, aber keine Leute, keine Pferde, keine Hunde. Nichts lebte. Und doch wußte er, daß jemand auf ihn wartete.

Er schritt die zerfurchte Straße hinunter, und die Gebäude glitten verschwommen an ihm vorbei. Wenn er sich umdrehte, waren sie alle da, und zwar ganz erfaßbar, aber aus den Augenwinkeln betrachtet wurden sie undeutlich. Es war, als existiere nur das, was er sah, und auch nur, während er es sah. Er war sicher, sollte er sich ganz schnell umdrehen, dann würde er sehen... Er wußte selbst nicht genau, was, aber schon der Gedanke daran machte ihn nervös.

Vor ihm erschien der Tanzende Fahrer. Die grellen Farben wirkten irgendwie grau und leblos. Er ging hinein. Gode saß drinnen an einem Tisch.

Er erkannte den Mann nur an seiner Kleidung, der Seide und dem dunklen Samt. Godes Haut war rot, verbrannt und aufgerissen, und sie näßte. Sein Gesicht war fast nur noch ein Schädel. Die Lippen waren geschrumpft, so daß der blanke Kiefer mit gebleckten Zähnen sichtbar wurde. Als Gode den Kopf drehte, brach etwas von seinem Haar ab und fiel, zu Ruß zerbröckelt, auf seine Schulter. Die lidlosen Augen blickten Rand an.

»Also seid Ihr doch tot«, sagte Rand. Er war selbst davon überrascht, daß er keine Angst hatte. Vielleicht lag es daran, daß er diesmal wußte, es war ein Traum.

»Ja«, sagte Ba'alzamons Stimme, »aber er hat dich für mich aufgespürt. Dafür hat er eine Belohnung verdient, nicht wahr?«

Rand drehte sich um und entdeckte, daß er doch noch Angst empfinden konnte, obwohl er wußte, daß es ein Traum war. Ba'alzamons Kleidung hatte die Farbe getrockneten Blutes, und in seinem Gesicht stritten sich Wut und Haß und Triumph um die Vorherrschaft.

»Du siehst, Jüngling, du kannst dich nicht immer vor mir verbergen. Auf die eine oder andere Art finde ich dich. Was dich schützt, macht dich gleichzeitig auch verwundbar. Einmal versteckst du dich, und dann wieder entzündest du ein Signalfeuer. Komm zu mir, Jüngling.« Er hielt Rand die Hand hin. »Falls meine Jagdhunde dich auf die Knie zwingen müssen, gehen sie vielleicht nicht sehr sanft mit dir um. Sie sind eifersüchtig darauf, was du einst sein wirst, wenn du erst zu meinen Füßen gekniet hast. Das ist dein Schicksal. Du gehörst mir.« Godes verbrannte Zunge gab einen bösen, eifriglallenden Laut von sich.

Rand versuchte, seine Lippen zu befeuchten, doch ihm war der Speichel ausgegangen. »Nein«, brachte er heraus, und dann gingen ihm die Worte leichter von der Zunge. »Ich gehöre mir selbst. Nicht Euch. Niemals. Nur mir selbst. Wenn Eure Schattenfreunde mich töten, bekommt Ihr mich nie.«

Die Feuer in Ba'alzamons Augen erhitzten den Raum, bis die Luft flimmerte. »Tot oder lebendig, Jüngling, gehörst du doch mir. Das Grab ist mein. Leichter tot, aber besser lebendig. Besser für dich, Jüngling. Die Lebenden haben in den meisten Fällen mehr Macht.« Gode gab wieder einen erstickten Laut von sich. »Ja, mein guter Hund. Hier ist deine Belohnung.«

Rand sah gerade noch im rechten Moment zu Gode hinüber, um zu sehen, wie der Körper des Mannes zu Staub zerfiel. Einen Augenblick lang zeigte sich auf dem verbrannten Gesicht ein Ausdruck erhabenen Glücks, der sich im letzten Moment in Entsetzen verwandelte, als habe er etwas völlig Unerwartetes auf sich zukommen gesehen. Godes leere Samtkleider sanken inmitten der Asche auf den Stuhl und zu Boden.

Als er sich wieder zurückwandte, war Ba'alzamons ausgestreckte Hand zur Faust geballt. »Du bist mein, Jüngling, tot oder lebendig. Das Auge der Welt wird dir niemals dienen. Ich zeichne dich als mein eigen.« Seine Faust öffnete sich, und ein Feuerball schoß daraus hervor. Er traf Rand ins Gesicht, explodierte, brannte.

Rand fuhr erwachend im Dunkel hoch. Wasser tropfte durch die Umhänge auf sein Gesicht. Seine Hand zitterte, als er seine Wangen berührte. Die Haut war überempfindlich wie bei einem Sonnenbrand.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß Mat sich im Schlaf herumwälzte und stöhnte. Er schüttelte ihn, und Mat erwachte wimmernd. »Meine Augen! Oh, Licht, meine Augen! Er hat mir meine Augen genommen!«

Rand drückte ihn an seine Brust, als sei er ein Kind. »Du bist in Ordnung, Mat. Es ist alles gut. Er kann uns nicht verletzen. Wir lassen das nicht zu.« Er fühlte, wie Mat zitterte und in seinen Mantel hineinschluchzte. »Er kann uns nicht verletzen«, flüsterte er und hätte es selbst gern geglaubt. Was dich schützt, macht dich verwundbar. Ich werde langsam wirklich verrückt.

Kurz vor der ersten Dämmerung ließ der Regen nach, und als der Morgen anbrach, verging auch das letzte Nieseln. Die Wolken blieben und drohten bis in den Vormittag hinein mit neuem Regen. Dann kam ein Wind auf, der die Wolken nach Süden verjagte, eine Sonne freilegte, die keine Wärme verbreitete, und mit Eisfingern durch ihre tropfnasse Kleidung griff. Sie hatten nicht mehr geschlafen, und nun hängten sie sich erschöpft die Umhänge um und brachen Richtung Osten auf. Rand führte Mat an der Hand. Nach einer Weile fühlte sich Mat sogar wieder gut genug, um sich darüber zu beklagen, was der Regen seiner Bogensehne angetan habe. Rand ließ ihn allerdings nicht anhalten und sie gegen eine trockene Sehne aus seiner Tasche austauschen — noch nicht.

Kurz nach Mittag erreichten sie ein anderes Dorf. Rand zitterte noch stärker beim Anblick der gemütlichen Backsteinhäuser und des Rauchs, der aus den Schornsteinen quoll, aber er machte einen Bogen um das Dorf und führte Mat durch Wälder und über Felder nach Süden. Ein einsamer Bauer, der in einem matschigen Feld mit einer Gabelhacke arbeitete, war der einzige Mensch, den er sah, und er bemühte sich, nicht von dem Mann gesehen zu werden. Geduckt schlichen sie zwischen den Bäumen hindurch. Der Bauer konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit, aber Rand behielt ihn im Auge, bis er außer Sicht war. Falls noch welche von Godes Männern am Leben waren, würden sie vielleicht glauben, Rand und Mat hätten die Straße nach Süden von Vier Könige aus gewählt, jedenfalls wenn niemand sie in diesem Dorf gesehen hatte. Sie kehrten außer Sichtweite vom Dorf auf die Straße zurück und wanderten weiter, bis ihre Kleidung, wenn nicht gerade trocken, so doch wenigstens nur noch etwas feucht war.

Eine Stunde vor Anbruch der Abenddämmerung ließ ein Bauer sie auf seinem halbleeren Heuwagen mitfahren. Rand war von dem Wagen überrascht worden. Er war ganz in seine Sorgen um Mat versunken gewesen. Mat schützte sich mit der Hand vor der Sonne, so schwach sie diesen Nachmittag auch war, und blinzelte mit zusammengekniffenen Augen. Ständig beklagte er sich, wie hell die Sonne schiene. Als Rand das Poltern des Heuwagens hörte, war es zum Verstecken bereits zu spät. Die aufgeweichte Straße dämpfte alle Geräusche, und der Wagen mit seinem Zweiergespann befand sich nur noch etwa fünfzig Schritte hinter ihnen. Der Fahrer blickte sie bereits neugierig an.

Zu Rands Überraschung hielt er neben ihnen an und bot ihnen an, sie mitzunehmen. Rand zögerte, aber es war ja schon zu spät, um noch zu vermeiden, daß man sie sah, und falls sie nicht mitfuhren, würde das dem Mann um so mehr auffallen. Er half Mat auf den Sitz neben dem Bauern und kletterte hinten hinauf.

Alpert Mull war ein stämmiger Mann mit einem breiten Gesicht und breiten Händen, beides gealtert und von harter Arbeit und Sorgen zerfurcht. Er brauchte jemanden, mit dem er sich unterhalten konnte. Seine Kühe gaben keine Milch mehr, seine Hühner hatten das Eierlegen eingestellt, und es gab keine Weide mehr, die diesen Namen verdient hätte. Zum erstenmal seit Menschengedenken hatte er Heu kaufen müssen, und die halbe Wagenladung war alles, was ihm der ›alte Bain‹ zugestanden hatte. Er fragte sich, ob er wohl dieses Jahr überhaupt noch auf seinem eigenen Land Heu oder irgendein anderes Produkt ernten könne.

»Die Königin sollte etwas dagegen tun, das Licht erleuchte sie«, äußerte er sich, wobei er respektvoll, aber abwesend die Stirn mit dem Handgelenk berührte.

Er sah Rand und Mat kaum an, aber als er sie an dem tief durchfurchten Feldweg absetzte, der zu seinem Hof führte, zögerte er und sagte dann beinahe so, als führe er ein Selbstgespräch: »Ich weiß nicht, wovor ihr davonrennt, und ich will es auch nicht wissen. Ich habe Frau und Kinder. Versteht ihr? Meine Familie. Es ist eine schlechte Zeit, Fremden zu helfen.«

Mat versuchte, die Hand schon wieder unter seinen Mantel zu stecken, aber Rand hielt sein Handgelenk fest. Er stand auf der Straße und blickte den Mann wortlos an.

»Wenn ich ein guter Mensch wäre«, sagte Mull, »würde ich zwei Burschen, die bis auf die Haut naß sind, einen Platz zum Trocknen und Aufwärmen vor meinem Kamin anbieten. Aber die Zeiten sind schwer, und Fremde... Versteht ihr?«

»Ihr seid ein guter Mensch. Der beste, den wir in den letzten Tagen getroffen haben.«

Der Bauer blickte überrascht und dann dankbar drein. Er nahm seine Zügel auf und lenkte sein Gespann auf den engen Feldweg. Bevor er noch die Kurve genommen hatte, führte Rand Mat bereits wieder die Straße nach Caemlyn hinunter. Der Wind wurde schärfer, als die Dämmerung niedersank. Mat begann zu nörgeln, wann sie endlich anhielten, aber Rand ging weiter und zog Mat hinter sich her. Er suchte einen besseren Unterschlupf als einen Platz unter einem Busch. Ihre Kleidung war immer noch klamm, und der Wind wurde von Minute zu Minute kälter. Er war nicht sicher, ob sie eine weitere Nacht im Freien überleben könnten. Die Nacht brach herein, ohne daß er etwas Brauchbares entdeckte. Der Wind wurde eisig. Sein Umhang flatterte. Dann erblickte er in der Dunkelheit vor ihnen Lichter. Ein Dorf.

Seine Hand glitt in eine Tasche und fühlte nach den Münzen, die sich drin befanden. Mehr als genug für eine Mahlzeit und ein Zimmer für sie beide. Ein warmes Zimmer statt der kalten Nacht. Wenn sie im Freien blieben und in ihren feuchten Kleidern dem Wind und der Kälte ausgesetzt waren, würde jemand, der sie fand, vermutlich nur auf zwei Leichen stoßen. Sie mußten eben versuchen, nicht mehr Aufmerksamkeit zu erregen, als notwendig. Kein Flötenspiel, und bei seinen Augenschmerzen konnte Mat ganz gewiß nicht jonglieren. Er nahm wieder Mats Hand in seine und ging auf die lockenden Lichter zu.

»Wann werden wir uns endlich zur Nacht niederlassen?« fragte Mat wieder. So, wie er mit vorgeschobenem Kopf voranspähte, war sich Rand nicht sicher, ob Mat ihn überhaupt sehen konnte, geschweige denn die Lichter des Dorfes.

»Wenn wir an einem warmen Ort sind«, antwortete er.

Aus den Häusern fiel heller Lichtschein auf die Dorfstraße, und die Menschen schritten durch den Ort, ohne daran zu denken, was sich draußen im Dunkel befinden mochte. Die einzige Schenke war ein mächtiges Gebäude — alles auf einer Ebene -, das den Eindruck machte, als habe man im Laufe der Jahre planlos ganze Gruppen von Räumen einfach angebaut. Die Vordertür öffnete sich, um jemanden herauszulassen, und eine Welle des Gelächters schwappte ihm nach.

Rand erstarrte draußen auf der Straße. Das betrunkene Gelächter aus dem Tanzenden Fahrer klang in seinem Kopf nach. Er beobachtete den Mann, der mit nicht mehr ganz sicheren Schritten die Straße hinunterging, atmete tief ein und stieß die Tür auf. Er achtete darauf, daß der Umhang sein Schwert verbarg. Gelächter und Lärm umgaben ihn.

Der Raum wurde durch Lampen erhellt, die von der Decke herabhingen, und vom ersten Moment an konnte er den Unterschied zu Saml Hakes Schenke sehen und fühlen. Zum einen gab es hier keine Betrunkenen. Der Raum war mit Menschen angefüllt, die wie Bauern oder Stadtbewohner aussahen. Sie waren vielleicht nicht ganz nüchtern, aber auch nicht weit davon entfernt. Das Gelächter wirkte echt, wenn auch manchmal etwas gezwungen. Diese Menschen lachten, um ihre Sorgen zu vergessen, aber ein wenig echte Heiterkeit lag auch darin. Der Schankraum selbst sah ordentlich und sauber aus, und er war warm. Am anderen Ende prasselte ein Feuer in einem großen Kamin. Das Lächeln der Kellnerinnen war genauso warm wie das Feuer, und wenn sie lachten, dann merkte Rand, daß es ungezwungen und fröhlich war.

Der Wirt war so sauber wie seine ganze Schenke. Er hatte eine leuchtendweiße Schürze umgebunden. Rand war froh, als er sah, daß er ein molliger Mann war; er bezweifelte, jemals wieder einem mageren Wirt trauen zu können. Er hieß Rulan Allwine. Das war ein gutes Omen, dachte Rand, denn der Name klang so sehr nach Emondsfeld. Er musterte sie von oben bis unten und machte sie höflich darauf aufmerksam, daß sie im voraus zu zahlen hätten. »Ich will damit nicht sagen, daß ihr zu der zweifelhaften Sorte gehört, aber heutzutage befinden sich doch einige auf der Wanderschaft, die nicht gerade scharf darauf sind, am nächsten Morgen zu bezahlen. Es scheint, daß eine Menge junger Leute auf dem Weg nach Caemlyn sind.«

Rand nahm keinen Anstoß an seinen Worten, so feucht und abgerissen, wie sie aussahen. Als Meister Allwine den Preis nannte, riß er allerdings die Augen auf, und Mat gab einen erstickten Laut von sich. Die fetten Backen des Wirts wackelten, als er bedauernd den Kopf schüttelte, aber er schien daran gewöhnt zu sein. »Die Zeiten sind schwer«, sagte er in bedauerndem Tonfall.

»Es gibt nicht viel, und das bißchen, was man bekommen kann, kostet fünfmal soviel wie früher. Nächsten Monat wird es wieder mehr kosten, darauf könnte ich wetten.«

Rand holte sein Geld heraus und sah Mat an. Mats Mund verzog sich unwillig. »Willst du unter einem Busch schlafen?« fragte Rand. Mat seufzte und leerte zögernd seine Taschen. Als er bezahlt hatte, schnitt Rand eine Grimasse. Es war so wenig übrig, was er mit Mat teilen konnte. Aber zehn Minuten später aßen sie Eintopf an einem Tisch in einer Ecke in der Nähe des Kamins. Sie schoben das Essen mit Brotstücken auf ihre Löffel. Die Portionen waren nicht so groß, wie Rand es gern gesehen hätte, aber sie waren heiß und nahrhaft. Langsam durchdrang ihn die Wärme vom Kamin her. Er gab vor, nur Augen für seinen Teller zu haben, aber er behielt die Tür ständig ganz genau im Auge. Diejenigen, die eintraten oder hinausgingen, sahen ausnahmslos wie Bauern aus, aber das reichte nicht, um ihm alle Angst zu nehmen.

Mat aß langsam und genoß jeden Bissen, obwohl er sich über die hellen Lampen beklagte. Nach einer Weile holte er den Schal heraus, den der Bauer ihm gegeben hatte, und wickelte ihn um die Stirn. Er zog ihn so weit herunter, daß seine Augen fast verborgen waren. Das zog einige Blicke nach sich, die Rand lieber vermieden hätte. Er leerte seinen Teller hastig, forderte Mat auf, es ihm gleichzutun, und bat dann Meister Allwine, ihnen ihr Zimmer zu zeigen.

Der Wirt schien überrascht, daß sie sich so früh zurückziehen wollten, aber er sagte nichts weiter dazu. Er holte eine Kerze und führte sie durch ein Labyrinth von Korridoren zu einem kleinen Zimmer mit zwei engen Betten, ganz hinten in einer Ecke des Gasthofes. Nachdem der Wirt sich entfernt hatte, ließ Rand sein Bündel neben das Bett fallen, warf seinen Umhang über einen Stuhl und sackte, angezogen, wie er war, auf die Bettdecke. Seine Kleider waren noch feucht, und er fühlte sich nicht wohl darin, aber er wollte vorbereitet sein, falls sie fliehen mußten. Er behielt auch den Schwertgürtel an und schlief mit einer Hand am Knauf.

Am Morgen wurde er von einem krähenden Hahn aus dem Schlaf gerissen. Er lag da, beobachtete, wie die Dämmerung das Fenster erhellte, und überlegte, ob er es wagen sollte, noch ein Weilchen zu schlafen. Am Tag zu schlafen, wenn sie eigentlich unterwegs sein sollten! Er gähnte, daß seine Kiefer knackten.

»He«, rief Mat, »ich kann ja sehen!« Er setzte sich in seinem Bett auf und blickte sich blinzelnd im Zimmer um. »Jedenfalls ein wenig. Dein Gesicht ist immer noch verschwommen, aber ich kann erkennen, wer du bist. Ich wußte, es würde wieder gut werden. Heute abend sehe ich besser als du, wart's nur ab.«

Rand sprang aus dem Bett und kratzte sich, als er seinen Umhang aufhob. Seine Kleidung war ganz zerknittert, nachdem er sie am Körper hatte trocknen lassen, und alles kratzte. »Wir verschwenden Tageslicht«, sagte er. Mat stand genauso schnell auf wie er, und auch er kratzte sich.

Rand fühlte sich wohl. Sie waren eine Tagesreise weit von Vier Könige entfernt, und es hatte sich noch keiner von Godes Männern gezeigt. Ein Tag weniger nach Caemlyn, wo Moiraine auf sie warten würde. Bestimmt würde sie warten. Wenn sie nur endlich wieder bei der Aes Sedai und dem Behüter wären, dann brauchten sie sich keine Sorgen wegen der Schattenfreunde mehr zu machen. Es war eigenartig, daß er sich so darauf freute, bei einer Aes Sedai zu sein. Licht, wenn ich Moiraine wiedersehe, werde ich sie küssen! Er lachte über seine Idee. Er fühlte sich so gut, daß er ein paar der Münzen aus ihrem schwindenden Vorrat in ein Frühstück investieren wollte — einen großen Laib Brot und eine Kanne Milch, kalt, direkt aus dem Kühlhaus.

Sie aßen im hinteren Teil des Schankraums, als ein junger Mann eintrat. Von seinem Aussehen her wirkte er wie ein Junge aus dem Dorf. Sein Gang war federnd und ein wenig geckenhaft, und an einem Finger wirbelte er eine Stoffmütze mit einer Feder daran herum. Der einzige Mensch ansonsten im Raum war ein alter Mann, der den Boden fegte. Er blickte nicht von seinem Besen auf. Der Blick des jungen Mannes wanderte unbekümmert durch den Raum, doch als er Rand und Mat sah, fiel ihm die Mütze vom Finger. Er starrte sie eine volle Minute lang an, bevor er die Mütze vom Boden aufhob. Dann starrte er noch ein bißchen weiter und fuhr sich mit den Fingern durch das dichte, dunkle, lockige Haar. Schließlich kam er mit zögerndem Schritt herüber an ihren Tisch.

Er war älter als Rand, stand aber schüchtern da und blickte auf sie herunter. »Habt ihr was dagegen, wenn ich mich zu euch setze?« fragte er und schluckte sofort, als fürchte er, etwas Falsches gesagt zu haben.

Rand dachte, er wolle vielleicht ein Frühstück schnorren, obwohl er so aussah, als könne er sich selbst eines kaufen. Sein blaugestreiftes Hemd hatte einen bestickten Kragen, und auch der Saum seines dunkelblauen Umhangs war rundherum bestickt. Seine Lederstiefel waren nie einer Arbeit zu nahe gekommen, bei der sie hätten abgestoßen werden können, jedenfalls soweit Rand das beurteilen konnte. Er nickte in Richtung eines Stuhls.

Mat starrte den Burschen angestrengt an, als er einen Stuhl zu ihrem Tisch herüberzog. Rand wußte nicht, ob Mat ihn böse ansah oder sich nur bemühte, ihn besser zu sehen. Jedenfalls tat Mats gerunzelte Stirn ihre Wirkung.

Der junge Mann erstarrte in der Bewegung, und er setzte sich nicht hin, bevor Rand ihm nicht noch einmal zugenickt hatte. »Wie heißt du?« fragte Rand.

»Wie ich heiße? Mein Name? Äh... nennt mich Paitr.« Sein Blick huschte nervös von einem zum anderen. »Äh... ich wollte das nicht, versteht ihr? Ich muß es tun. Ich wollte nicht, aber sie haben mich gezwungen. Das müßt ihr verstehen. Ich... «

Rand wurde allmählich nervös, und Mat zischte: »Schattenfreund!«

Paitr zuckte zusammen und erhob sich beinahe von seinem Stuhl. Er blickte sich verängstigt im Raum um, als wären da fünfzig Leute, die lauschen könnten. Der Kopf des alten Mannes war noch über seinen Besen gebeugt, und seine Aufmerksamkeit galt dem Fußboden. Paitr setzte sich wieder hin und sah erst Rand, dann Mat und dann wieder Rand unsicher an. Auf seiner Oberlippe bildeten sich Schweißtröpfchen. Die Beschuldigung reichte, um jeden zum Schwitzen zu bringen, aber er wehrte sich mit keinem Wort dagegen.

Rand schüttelte bedächtig den Kopf. Nach Gode war ihm klar, daß Schattenfreunde nicht unbedingt den Drachenfang auf der Stirn trugen, aber von seiner Kleidung abgesehen hätte Paitr auch gut nach Emondsfeld gepaßt. Nichts an ihm deutete auf Mord oder Schlimmeres hin. Niemand würde ihm gesteigerte Beachtung schenken. Gode war doch immerhin... anders gewesen.

»Laß uns in Ruhe«, sagte Rand. »Und sag deinen Freunden, sie sollen uns in Ruhe lassen. Wir wollen nichts von ihnen, und sie werden nichts von uns bekommen.«

»Wenn nicht«, fügte Mat leidenschaftlich hinzu, »werde ich dich als das entlarven, was du bist. Paß auf, was deine Freunde aus dem Dorf davon halten!«

Rand hoffte, daß er das nicht ernst gemeint hatte. Das könnte sie genauso in Schwierigkeiten bringen wie Paitr.

Paitr schien die Drohung ernst zu nehmen. Sein Gesicht wurde bleich. »Ich... ich hörte, was in Vier Könige geschehen ist. Zumindest einiges darüber. Es spricht sich herum. Wir haben unsere eigenen Quellen. Aber hier will euch niemand eine Falle stellen. Ich bin allein und... und ich will nur mit euch reden.«

»Worüber?« fragte Mat zur gleichen Zeit, als Rand sagte: »Wir interessieren uns nicht dafür.« Sie sahen sich an und Mat zuckte die Achseln. »Wir sind nicht interessiert«, sagte auch er.

Rand schluckte den Rest der Milch hinunter und stopfte sich den Rest seiner Brothälfte in die Manteltasche. Da ihr Geld beinahe verbraucht war, könnte das ihre nächste Mahlzeit werden.

Wie sollten sie die Schenke verlassen? Wenn Paitr bemerkte, daß Mat fast blind war, würde er es den anderen erzählen... anderen Schattenfreunden. Einmal hatte Rand beobachtet, wie ein Wolf ein verkrüppeltes Schaf von der Herde trennte. Es waren noch andere Wölfe da, und er konnte weder die Herde verlassen, noch hatte er freies Schußfeld mit dem Bogen. Sobald das Schaf allein war und angsterfüllt blökte, während es verzweifelt auf drei Beinen einherhumpelte, wurden aus dem einen verfolgenden Wolf wie durch Zauberei zehn. Die Erinnerung daran drehte ihm den Magen herum. Sie konnten nicht hierbleiben. Selbst wenn Paitr die Wahrheit sagte, daß er allein war: Wie lange würde das so bleiben?

»Es ist Zeit zum Aufbruch, Mat«, sagte er und hielt den Atem an. Als Mat aufstand, lenkte er Paitrs Aufmerksamkeit auf sich, beugte sich vor und sagte: »Laß uns in Ruhe, Schattenfreund. Ich sage es dir ein letztes Mal. Laß uns in Ruhe!«

Paitr schluckte und kauerte sich auf seinem Stuhl zusammen. Sein Gesicht schien völlig blutleer. Rand mußte an einen Myrddraal denken. Als er sich wieder nach Mat umsah, stand dieser bereits, und seine Hilflosigkeit war nicht zu sehen. Rand hängte sich hastig die eigenen Satteltaschen und anderen Bündel um, wobei er sich bemühte, den Umhang über das Schwert zu ziehen. Vielleicht wußte Paitr bereits davon; vielleicht hatte Gode Ba'alzamon davon erzählt, und Ba'alzamon hatte es Paitr gesagt, aber er glaubte das eigentlich nicht. Er glaubte, Paitr habe nur eine ganz blasse Ahnung davon, was in Vier Könige geschehen war. Deshalb hatte er solche Angst.

Der relativ helle Umriß der Tür half Mat, in einer geraden Linie daraufzuzugehen, wenn auch nicht schnell, so doch auch nicht langsam genug, um unnatürlich zu wirken. Rand folgte dicht hinter ihm und betete, er möge nicht stolpern. Er war dankbar dafür, daß in Mats Weg keine Hindernisse wie Tische oder Stühle standen.

Hinter ihm sprang Paitr plötzlich auf. »Wartet«, sagte er verzweifelt. »Ihr müßt warten.«

»Laß uns in Ruhe«, sagte Rand, ohne sich umzuschauen. Sie waren schon fast an der Tür, und Mat hatte noch keinen falschen Schritt getan.

»Hört doch auf mich«, sagte Paitr und legte eine Hand auf Rands Schulter, um ihn aufzuhalten.

Bilder wirbelten ihm durch den Kopf. Der Trolloc, Narg, der in seinem eigenen Haus auf ihn losging. Der drohende Myrddraal im Hirsch und Löwen in Baerlon. Überall Halbmenschen, Blasse, die sie bis Shadar Logoth hetzten und sie in Weißbrücke einfangen wollten. Überall Schattenfreunde. Er fuhr herum und ballte eine Hand zur Faust. »Ich sagte, du sollst uns in Ruhe lassen!« Seine Faust erwischte Paitr genau auf der Nase. Der Schattenfreund fiel auf den Hosenboden, saß da und blickte zu Rand hoch. Aus seiner Nase rann Blut. »Ihr könnt nicht entkommen«, fuhr er sie wütend an. »Ganz gleich, wie stark ihr seid, der Große Herr der Dunkelheit ist stärker. Der Schatten wird euch verschlingen!«

Aus dem Inneren des Schankraums hörte man ein Keuchen und das Geklapper eines zu Boden fallenden Besenstiels. Der alte Mann mit dem Besen hatte ihre Auseinandersetzung schließlich doch gehört. Er stand da und starrte Paitr mit weit aufgerissenen Augen an. Sein runzliges Gesicht erbleichte, und sein Mund bewegte sich, doch es kam kein Laut heraus. Paitr schaute ihn einen Moment lang ebenfalls an, fluchte dann wild, sprang auf die Füße und hetzte aus der Schenke und die Straße hinunter, als seien ihm hungrige Wölfe auf den Fersen. Der alte Mann wandte seine Aufmerksamkeit Rand und Mat zu, wobei er kein bißchen weniger verängstigt wirkte.

Rand schob Mat aus der Schenke hinaus, und sie verließen das Dorf, so schnell sie nur konnten. Die ganze Zeit über lauschte Mat, ob sich Geschrei erheben werde, doch auch wenn ein Dröhnen in seinen Ohren hallte, es kam nichts.

»Blut und Asche«, grollte Mat, »sie sind immer da, immer dicht auf unseren Fersen. So entkommen wir nie.« »Nein, sind sie nicht«, sagte Rand. »Wenn Ba'alzamon wüßte, daß wir hier waren, glaubst du, er hätte das diesem Burschen überlassen? Da wäre eher ein anderer Gode gekommen, mit zwanzig oder dreißig Schlägern. Sie jagen uns noch, doch sie werden nichts erfahren, bis Paitr es ihnen erzählt, und vielleicht ist er ja auch wirklich allein. Er muß möglicherweise den ganzen Weg nach Vier Könige zurücklaufen, denke ich mir.« »Aber er sagte... «

»Es ist mir gleich.« Er war nicht sicher, wen Mat mit ›er‹ meinte, aber es änderte auch nichts. »Wir werden nicht stillhalten und uns von ihnen fangen lassen.«

Im Laufe des Tages wurden sie sechsmal mitgenommen, wenn auch immer nur für ein kurzes Stück. Ein Bauer erzählte ihnen, daß ein verrückter alter Mann in der Schenke von Markt Scheran erzähle, es gebe Schattenfreunde im Dorf. Der Bauer konnte sich vor Lachen kaum halten. Er wischte sich immer wieder Tränen von den Wangen. Schattenfreunde in Markt Scheran! Das war die beste Geschichte, die er gehört hatte, seit Ackley Farren sich hatte vollaufen lassen und dann die Nacht auf dem Dach der Schenke verbringen mußte.

Ein anderer Mann — er war Wagner von Beruf, und an den Seitenwänden seines Karrens hingen Werkzeuge und hinten drauf lagen zwei Wagenräder — erzählte eine ganz andere Geschichte. Zwanzig Schattenfreunde hatten sich in Markt Scheran versammelt. Die Körper der Männer hatten ganz mißgestaltet ausgesehen, und die der Frauen noch schlimmer, und sie seien alle schmutzig gewesen und in Lumpen einhergegangen. Wenn sie einen nur anschauten, wurde man schwach in den Knien und der Magen drehte sich einem um, und wenn sie lachten, hallte einem das dreckige Gegackere noch stundenlang in den Ohren nach und der Kopf schien einem zu zerspringen. Er hatte sie selbst gesehen, wenn auch nur auf einige Entfernung, weit genug, um in Sicherheit zu sein. Wenn die Königin nicht bald etwas unternehme, sollte man eben die Kinder des Lichts um Hilfe bitten. Irgend jemand müßte unbedingt etwas dagegen tun.

Sie waren erleichtert, als der Wagner sie heruntersteigen ließ.

Mit der tiefstehenden Sonne im Rücken gelangten sie in ein kleines Dorf, das Markt Scheran sehr ähnlich sah. Die Straße nach Caemlyn teilte den Ort sauber in zwei Hälften, aber auf beiden Seiten der breiten Straße standen Reihen kleiner Backsteinhäuser mit strohgedeckten Dächern. Die Steine waren von Ranken überwuchert, doch nur wenige Blätter hingen daran. Das Dorf wies eine Schenke auf, ein kleines Gebäude, nicht größer als die Weinquellenschenke, von deren Vorderseite ein Schild herabhing, das im Wind hin- und herknarrte. Der Königin Diener.

Seltsam, nun auf einmal die Weinquellenschenke als klein zu betrachten. Rand konnte sich an Zeiten erinnern, als er geglaubt hatte, sie sei so groß, wie ein Gebäude überhaupt nur sein konnte. Jedes größere müsse bereits ein Palast sein. Aber mittlerweile hatte er ein paar Dinge gesehen, und so wurde ihm plötzlich klar, daß für ihn nichts mehr so sein würde wie früher, wenn er nach Hause käme. Falls das jemals geschieht.

Er zögerte, als sie vor der Schenke standen, aber selbst wenn die Preise in Der Königin Diener nicht so hoch waren wie in Markt Scheran, konnten sie sich doch keine Mahlzeit oder kein Zimmer leisten, weder beides zusammen noch eines davon.

Mat bemerkte seine Blickrichtung und klopfte sich auf die Tasche, in der er Thoms farbige Bälle aufbewahrte. »Ich kann gut genug sehen, solange ich nichts ganz Ausgefallenes versuche.« Seine Augen waren wieder besser geworden, doch er trug noch den Schal um die Stirn und hatte während des Tages immer blinzeln müssen, wenn er zum Himmel aufsah. Als Rand schwieg, fuhr Mat fort: »Es kann doch nicht in jeder Schenke bis Caemlyn Schattenfreunde geben. Außerdem will ich nicht unter einem Busch schlafen, wenn ich ein Bett haben kann.« Er machte allerdings keine Anstalten, zur Schenke zu gehen, sondern stand nur da und wartete auf Rand.

Nach einem Augenblick nickte Rand. Er war so müde wie nie zuvor, seit er die Heimat verlassen hatte. Wenn er nur an eine Nacht im Freien dachte, schmerzten schon seine Knochen. Das wirkt sich alles jetzt erst aus. Die ganze Rennerei, das ständige Nach-hinten-Ausschauen. »Sie können nicht überall sein«, stimmte er zu.

Beim ersten Schritt in den Schankraum hinein fragte er sich, ob er einen Fehler begangen hatte. Es war sauber hier, aber voll. Jeder Tisch war besetzt, und einige Männer lehnten an der Wand, weil sie keinen Sitzplatz gefunden hatten. An der Art, wie sich die Kellnerinnen mit gehetztem Blick zwischen den Tischen durchzwängten — und auch der Wirt — sah man, daß die Menge größer war als gewohnt. Zu viele Leute für dieses kleine Dorf. Es war leicht, die Leute herauszupicken, die nicht von hier waren. Sie waren nicht anders als die anderen gekleidet, aber sie konzentrierten sich aufs Essen und Trinken. Die Einheimischen beobachteten dagegen vor allem die Fremden.

Die Luft war erfüllt vom Lärm unzähliger Gespräche, so daß der Wirt sie in die Küche mitnahm, nachdem Rand ihm klargemacht hatte, daß sie mit ihm sprechen mußten. Der Lärm war dort fast genauso schlimm. Der Koch und seine Helfer hantierten mit klappernden Töpfen, und alle rannten durcheinander.

Der Wirt wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht ab. »Ich schätze, ihr seid auf dem Weg nach Caemlyn, um genau wie jeder andere Narr in der Gegend den falschen Drachen zu sehen. Also, es schlafen immer sechs in einem Zimmer und zwei oder drei in einem Bett, und wenn euch das nicht paßt, habe ich nichts für euch.«

Rand zog seine Nummer mit einem unangenehmen Gefühl im Magen ab. Wenn so viele Menschen unterwegs waren, konnte ja jeder zweite ein Schattenfreund sein, und es gab keine Möglichkeit, sie von den anderen zu unterscheiden. Mat führte seine Jongleurkunststücke vor -er gebrauchte nur drei Bälle und war auch damit besonders vorsichtig -, und Rand holte Thoms Flöte heraus. Nach nur wenigen Noten von ›Der alte Schwarzbär‹ nickte der Wirt ungeduldig.

»Das reicht schon. Ich brauche etwas, um die Idioten von diesem Logain abzulenken. Es hat schon drei Raufereien gegeben, weil sich welche stritten, ob er nun wirklich der Drache ist oder nicht. Stellt eure Sachen in die Ecke, und ich schaffe euch drin etwas Platz, falls das irgendwo möglich ist. Die Welt ist voll von Narren, die nicht genug Hirn haben, um dort zu bleiben, wo sie sind. Deswegen gibt es einen solchen Wirbel. Leute, die nicht dort bleiben, wo sie hingehören.« Er wischte sich wieder die Stirn ab und eilte, leise vor sich hin brummend, aus der Küche.

Der Koch und seine Helfer beachteten Rand und Mat nicht. Mat rückte immer wieder an dem Schal um seine Stirn, schob ihn hoch, blinzelte ins Licht und zog ihn dann wieder runter. Rand fragte sich, ob er wirklich gut genug sehen konnte, um etwas Komplizierteres zu jonglieren als nur drei Bälle. Was ihn selbst betraf...

Das flaue Gefühl in seinem Magen wurde stärker. Er ließ sich auf einen niedrigen Hocker fallen und hielt den Kopf in beiden Händen. Die Küche erschien ihm kalt. Er zitterte. Dampf erfüllte die Luft; Herde und Öfen strahlten knackend Wärme ab. Sein Zittern wurde stärker; die Zähne klapperten. Er schlang die Arme um seinen Körper, aber es half nichts. Seine Knochen schienen einzufrieren.

Undeutlich bemerkte er, daß Mat ihn etwas fragte, seine Schulter rüttelte und daß jemand fluchte und aus dem Raum rannte. Dann war der Wirt da und an seiner Seite mit düsterer Miene der Koch, und Mat stritt sich lauthals mit beiden. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten; die Worte verschwammen in seinen Ohren zu einem Summen, und dann konnte er überhaupt nicht mehr denken.

Plötzlich packte ihn Mat am Arm und zog ihn auf die Beine. Alle ihre Sachen — Satteltaschen, Deckenrollen, Thoms gebündelter Umhang und die Instrumentenkästen -hingen zusammen mit seinem Bogen an Mats Schulter. Der Wirt beobachtete sie und wischte sich ängstlich übers Gesicht. Torkelnd, mehr von Mat gestützt als aus eigener Kraft, ließ sich Rand von seinem Freund zur Hintertür bugsieren.

»T-t-t-ut mmmir l-l-eid, Mmmat«, brachte er heraus. Er konnte sein Zähneklappern nicht unterdrücken. »Mm-muß der R-r-r-egen gewe-sen sssein. Nnnoch 'ne N-n-nacht drrrrau-ßen werddden wir a-a-auch nnnoch übers-st-stehen, dddenke ich.« Der Himmel verdunkelte sich in der Dämmerung. Eine Handvoll Sterne funkelten.

»Keine Rede davon«, sagte Mat. Er bemühte sich, ermutigend zu klingen, aber Rand konnte die versteckten Sorgen durchaus heraushören. »Er hatte Angst, die anderen Leute würden herausfinden, daß ein Kranker sich in seiner Schenke aufhält. Ich sagte ihm, wenn er uns hinauswerfe, würde ich dich in den Schankraum bringen. Dann wäre die Hälfte seiner Zimmer innerhalb von zehn Minuten leer. Auch wenn er immer von Narren spricht, will er das dann doch nicht.« »W-w-wohin gehen w-w-wir?«

»Hierher«, sagte Mat und zog mit einem lauten Knarren der Scharniere die Stalltür auf.

Innen war es dunkler als draußen, und es roch nach Heu und Getreide und Pferden und durch alles hindurch drang der Gestank von Pferdemist. Als Mat ihn auf den strohbedeckten Boden sinken ließ, kauerte er sich mit angezogenen Beinen zusammen, die Brust an den Knien und die Arme um die Beine geschlungen, und er zitterte von Kopf bis Fuß. Alle Kraft schien in dieses Zittern zu fließen. Er hörte, wie Mat stolperte und fluchte und noch mal stolperte, und dann ein metallisches Klappern. Plötzlich erglühte ein Licht. Mat hielt eine zerbeulte alte Laterne hoch.

Wenn die Schenke voll gewesen war, dann aber auch der Stall. In jeder Box stand ein Pferd. Einige davon hoben die Köpfe und blinzelten ins Licht. Mat sah überlegend die Leiter zum Heuboden an und dann Rand, der am Boden kauerte, doch dann schüttelte er den Kopf.

»Dich krieg' ich da nie hinauf«, murmelte Mat. Er hängte die Laterne an einen Nagel, kletterte die Leiter hinauf und warf einen Armvoll Heu nach dem anderen hinunter. Dann kletterte er eilig wieder runter, bereitete ein Bett am hinteren Ende des Stalles und legte Rand darauf. Mat bedeckte ihn mit beiden Umhängen, aber Rand schob sie sofort wieder von sich.

»Heiß«, stöhnte er. Es war ihm undeutlich bewußt, daß er einen Moment vorher noch gefroren hatte, aber nun fühlte er sich wie in einem Ofen. Er riß an seinem Kragen und warf den Kopf zurück. »Heiß!« Er fühlte Mats Hand auf seiner Stirn.

»Ich bin gleich zurück«, sagte Mat und verschwand.

Er wälzte sich krampfhaft auf dem Heu herum — er wußte nicht, wie lange -, bis Mat mit einem gefüllten Teller in einer Hand und einem Krug in der anderen zurückkehrte. Zwei weiße Tassen hingen an den Griffen von seinen Fingern herunter.

»Hier gibt es keine Seherin«, sagte er, als er neben Rand auf die Knie fiel. Er füllte eine der Tassen und hielt sie an Rands Mund. Rand stürzte das Wasser hinunter, als habe er tagelang nichts mehr getrunken; jedenfalls fühlte er sich so. »Sie wissen nicht einmal, was eine Seherin ist. Was sie haben, ist jemand namens Mutter Brune, aber sie steckt irgendwo und befördert ein Kind auf die Welt, und niemand weiß, wann sie zurück sein wird. Ich habe ein wenig Brot und Käse und Wurst bekommen. Der gute Meister Inlow wird uns alles geben, solange wir außer Sicht seiner Gäste bleiben. Hier, versuch mal.«

Rand drehte den Kopf von dem Essen weg. Der bloße Anblick, ja schon der Gedanke an Essen brachte ihn zum Würgen. Nach einer Minute seufzte Mat und setzte sich, um selbst zu essen. Rand hielt den Blick abgewandt und bemühte sich, nicht hinzuhören.

Der Schüttelfrost kehrte wieder und dann das Fieber, das wieder durch den Schüttelfrost ersetzt wurde, den das Fieber erneut ablöste. Mat deckte ihn zu, wenn er zitterte, und gab ihm Wasser zu trinken, wenn er über Durst klagte. Die Nacht dehnte sich, und der Stall schien sich im flackernden Laternenschein ständig zu verändern. Schatten nahmen Gestalt an und bewegten sich selbständig. Dann sah er Ba'alzamon durch den Stall schreiten. Seine Augen brannten, und an jeder Seite schritt ein Myrddraal. Ihre Gesichter waren in den Tiefen ihrer schwarzen Kapuzen verborgen.

Seine Finger griffen nach dem Schwertgriff, und er versuchte, auf die Beine zu kommen, wobei er schrie: »Mat! Mat, sie sind hier! Licht, sie sind hier!«

Mat erwachte und fuhr hoch. Er hatte mit überschlagenen Beinen an der Wand gelehnt. »Was? Schattenfreunde? Wo?«

Rand schwankte auf den Knien und zeigte verzweifelt auf etwas im Stall... dann riß er den Mund vor Erstaunen auf. Schatten bewegten sich, und ein Pferd stampfte im Schlaf auf. Sonst nichts. Er fiel auf das Heu zurück.

»Es ist niemand da außer uns«, sagte Mat. »Hier, laß mich das nehmen.« Er griff nach Rands Schwertgürtel, aber Rand hielt den Griff krampfhaft fest.

»Nein. Nein. Ich muß es behalten. Er ist mein Vater. Verstehst du? Er ist m-mein V-vater!« Der Schüttelfrost überkam ihn wieder, aber er klammerte sich an das Schwert wie an einen Rettungsring. »M-m-mein Vater!« Mat gab den Versuch auf und zog die Umhänge wieder über ihn.

Rand hatte diese Nacht noch weitere Visionen, während Mat döste. Er war nie sicher, ob sie wirklich vorhanden waren oder nicht. Manchmal sah er Mat an, dessen Kopf auf die Brust heruntergesunken war, und fragte sich, ob er sie auch sehen würde, falls er erwachte.

Egwene trat aus den Schatten hervor, das Haar zu einem langen, dunklen Zopf gebunden wie zuvor in Emondsfeld, das Gesicht bemalt und voller Trauer. »Warum hast du uns verlassen?« fragte sie. »Wir sind tot, weil du uns verlassen hast.«

Rand schüttelte schwach den Kopf auf dem Heu. »Nein, Egwene. Ich wollte euch nicht verlassen. Bitte.«

»Wir sind alle tot«, sagte sie traurig, »und der Tod ist das Reich des Dunklen Königs. Der Dunkle König hat uns, weil du uns verlassen hast.«

»Nein. Ich hatte keine andere Wahl, Egwene. Bitte. Egwene, geh nicht! Komm zurück! Egwene!«

Doch sie wandte sich den Schatten zu und war ein Schatten.

Moiraines Ausdruck war ruhig, doch ihr Gesicht war blaß und blutleer. Ihr Umhang hätte gut als Leichentuch dienen können, und ihre Stimme klang wie eine Peitsche. »Das stimmt, Rand al'Thor. Du hast keine Wahl. Du mußt nach Tar Valon gehen, oder der Dunkle König wird dich sein eigen nennen. Die Ewigkeit, im Schatten angekettet. Nur die Aes Sedai können dich jetzt noch retten. Nur die Aes Sedai.«

Thom grinste ihn boshaft an. Die Kleidung des Gauklers hing in verkohlten Lumpen herunter, so daß er die Lichtblitze vor Augen sah, als Thom mit dem Blassen gekämpft hatte, um ihnen Gelegenheit zur Flucht zu verschaffen. Das Fleisch unter den Lumpen war geschwärzt und verbrannt. »Vertraue den Aes Sedai, Junge, und du wirst dir wünschen, tot zu sein. Denk daran, der Preis für die Hilfe der Aes Sedai ist immer geringer, als du glauben kannst, und immer größer, als du dir vorstellen kannst. Und welche Ajah werden dich zuerst finden, he? Rote? Vielleicht schwarze. Am besten, du läufst weg, Junge. Renn!«

Lans Blick war hart wie Granit, und sein Gesicht blutverschmiert. »Eigenartig, eine Klinge mit dem Reiherzeichen in den Händen eines Schafhirten zu entdecken. Bist du sie wert? Es wäre besser, du wärst ihrer würdig. Jetzt bist du allein. Nichts hinter dir, woran du dich halten kannst, und nichts vor dir. Jeder kann ein Schattenfreund sein.« Er lächelte das Lächeln eines Wolfs, und Blut strömte aus seinem Mund. »Jeder.«

Perrin kam, brachte Anschuldigungen vor, bat um Hilfe. Frau al'Vere weinte um ihre Tochter, und Bayle Domon verfluchte ihn, weil er Blasse zum Angriff auf sein Schiff verleitet hatte. Meister Fitch stand händeringend in der Asche seiner Schenke, und Min schrie in den Klauen eines Trollocs. Menschen, die er kannte, und Menschen, die er nur kurz kennengelernt hatte. Am schlimmsten war es bei Tam. Tam stand über ihm, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, doch er sagte kein Wort.

»Du mußt es mir sagen«, bat Rand ihn. »Wer bin ich? Sag es mir, bitte! Wer bin ich? Wer bin ich?« schrie er. »Beruhige dich, Rand!«

Einen Augenblick lang glaubte er, Tam habe geantwortet, aber dann sah er, daß Tam weg war. Mat beugte sich über ihn und hielt ihm eine Tasse Wasser an die Lippen. »Ruhe dich nur einfach aus. Du bist Rand al'Thor, ganz gewiß, und hast das häßlichste Gesicht und den größten Dickschädel von ganz Zwei Flüssen. He, du schwitzt ja! Das Fieber ist weg.«

»Rand al'Thor?« flüsterte Rand. Mat nickte, und darin lag etwas so Beruhigendes, daß Rand einschlief, ohne das Wasser auch nur zu berühren.

Es war ein von Träumen unbelästigter Schlaf -jedenfalls erinnerte er sich später an keine -, aber leicht genug, daß er immer die Augen ein wenig öffnete, wenn Mat nach ihm sah. Einmal fragte er sich, ob Mat überhaupt keinen Schlaf bekäme, aber er schlief selbst wieder ein, bevor der Gedanke weit ausgesponnen war.

Das Quietschen der Türangeln weckte ihn auf, doch er lag einen Augenblick lang nur still im Heu und wünschte sich, noch schlafen zu können. Im Schlaf könnte er seinen Körper nicht fühlen. Seine Muskeln schmerzten höllisch und verliehen ihm ungefähr die Kraft eines ausgewrungenen Lumpens. Er unternahm den schwachen Versuch, den Kopf zu heben. Es gelang ihm beim zweiten Mal.

Mat saß an seinem gewohnten Platz an die Wand gelehnt und so nah, daß er Rand mit einem Griff erreichen konnte. Sein Kinn ruhte auf der Brust, und die hob und senkte sich im sanften Rhythmus tiefen Schlafes. Der Schal war ihm über die Augen gerutscht. Rand sah zur Tür hinüber.

Dort stand eine Frau und hielt die Tür mit einer Hand auf. Einen Moment lang erschien sie ihm nur als dunkle Gestalt in einem Kleid, die sich im schwachen Licht des frühen Morgens abhob, dann aber trat sie ein und ließ die Tür hinter sich zufallen. Er konnte sie nun im Laternenschein besser sehen. Er glaubte, sie müsse ungefähr so alt sein wie Nynaeve, aber sie war kein Dorfmädchen.

Die blaßgrüne Seide ihres Kleids schimmerte bei jeder Bewegung. Ihr Umhang glänzte sanftgrau, und ihr Haar wurde von einem feinen Spitzennetz zusammengehalten. Sie strich mit den Fingern über eine schwere goldene Halskette, während sie Mat und ihn nachdenklich anblickte.

»Mat«, sagte Rand, und dann lauter: »Mat!«

Mat schnaubte und kippte beinahe um, als er erwachte. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah die Frau an.

»Ich bin gekommen, um nach meinem Pferd zu sehen«, sagte sie und deutete unbestimmt in Richtung der Boxen. Sie wandte den Blick nicht von den beiden. »Bist du krank?«

»Er ist schon in Ordnung«, sagte Mat steif. »Er hat sich lediglich bei diesem Regen eine Erkältung geholt, das ist alles.«

»Vielleicht sollte ich ihn mir ansehen«, sagte sie. »Ich habe einige Kenntnisse... «

Rand fragte sich, ob sie eine Aes Sedai sei. Noch mehr als ihre Kleidung zeigte ihm ihr selbstsicheres Auftreten, die Art, wie sie den Kopf hielt, als wolle sie gerade einen Befehl erteilen, daß sie nicht hierher gehörte. Und falls sie eine Aes Sedai ist, welcher Ajah gehört sie dann an?

»Ich fühle mich schon wieder gut«, versicherte er ihr. »Es ist wirklich nicht nötig.«

Aber sie kam durch den Stall auf sie zu, hielt den Rock hoch und setzte vorsichtig einen in einen grauen Stoffschuh gehüllten Fuß vor den anderen. Sie verzog das Gesicht, als sie das Heu sah, kniete sich neben ihn und fühlte seine Stirn.

»Kein Fieber«, sagte sie und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Sie war hübsch, mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen, aber in ihrem Gesicht lag keine Wärme. Es wirkte auch nicht direkt kalt; lediglich schien alles Gefühl darin zu fehlen. »Aber du warst auf jeden Fall krank. Ja. Ja. Und du bist jetzt noch schwach wie ein neugeborenes Kätzchen. Ich glaube...« Sie griff unter ihren Umhang, und dann geschah alles so schnell, daß Rand nur einen erstickten Schrei von sich geben konnte. Ihre Hand schoß unter dem Umhang hervor. Etwas glitzerte darin, als sie über Rand hinweg auf Mat lossprang.

Mat fiel zur Seite — die Bewegungen erfolgten zu schnell, als daß Rand ihnen hätte folgen können -, und man hörte ein sattes Tschank, als Metall in Holz getrieben wurde. Alles geschah in einem einzigen Augenblick, und dann war es ruhig.

Mat lag halb auf dem Rücken. Eine Hand hatte ihr Handgelenk gepackt, gleich oberhalb des Dolches, den sie in die Wand gestoßen hatte, wo seine Brust gewesen war, und die andere Hand hielt die Klinge aus Shadar Logoth an ihre Kehle.

Sie bewegte nur ihre Augen und versuchte, auf den Dolch hinunterzublicken, den Mat hielt. Ihre Augen weiteten sich; sie atmete röchelnd und versuchte, sich zurückzubeugen, weg von der Waffe. Doch er hielt die Schneide weiter an ihre Haut gedrückt. Danach war sie unbeweglich wie ein Stein.

Rand befeuchtete sich die Lippen und starrte die Szene über ihm an. Auch wenn er nicht so schwach gewesen wäre, hätte er sich wohl kaum bewegen können. Dann fiel sein Blick auf den Dolch, und sein Mund trocknete aus. Das Holz um die Schneide herum schwärzte sich; dünne Rauchfäden erhoben sich von den verkohlten Stellen.

»Mat! Mat, ihr Dolch!«

Mats Blick zuckte zu dem Dolch hinüber und dann zu der Frau zurück, doch sie hatte sich nicht bewegt. Nun leckte sie sich nervös die Lippen. Grob zerrte Mat ihre Hand vom Dolchgriff und gab ihr einen Stoß. Sie kippte nach hinten, weg von ihnen, und fing sich gerade noch mit den Händen hinter dem Körper ab. Sie beobachtete immer noch die Klinge in seiner Hand. »Nicht bewegen«, sagte er. »Ich werde das gebrauchen, wenn Ihr euch bewegt. Glaubt mir, ich werde nicht zögern.« Sie nickte mit langsamer Bewegung. Ihr Blick blieb an Mats Dolch haften. »Paß auf sie auf, Rand.«

Rand war sich nicht sicher, was Mat von ihm erwartete, wenn sie irgend etwas versuchte — vielleicht sollte er schreien, aber ganz sicher konnte er ihr nicht hinterherlaufen, wenn sie zu fliehen versuchte -, doch sie saß da, ohne auch nur zu zucken, während Mat ihren Dolch aus der Wand zog. Der schwarze Fleck wuchs nicht weiter, aber es stieg immer noch eine dünne Rauchfahne davon auf.

Mat sah sich nach einer Stelle um, an die er den Dolch legen konnte. Dann streckte er ihn Rand hin. Er nahm ihn vorsichtig in die Hand, als sei es eine lebendige Giftschlange. Er sah ganz gewöhnlich aus, freilich verziert, mit einem Griff aus bleichem Elfenbein und einer schmalen, schimmernden Schneide, die nicht länger war als seine Handfläche. Nur ein Dolch. Aber er hatte gesehen, wozu er fähig war. Der Griff war nicht einmal warm, doch in seiner Hand brach Schweiß aus. Er hoffte, er werde ihn nicht ins Heu fallenlassen.

Die Frau rührte sich nicht. Sie lag nur da und beobachtete Mat, der sich ihr langsam zuwandte. Sie betrachtete ihn, als frage sie sich, was er wohl als nächstes tun werde. Doch Rand sah, wie Mat plötzlich die Augen zusammenkniff und sich seine Hand um den Dolchgriff krampfte. »Mat, nein!«

»Sie versuchte, mich zu töten, Rand. Sie hätte dich auch getötet. Sie ist ein Schattenfreund.« Mat spuckte das Wort richtig aus.

»Aber wir sind keine«, sagte Rand. Die Frau keuchte, als habe sie gerade erst begriffen, was Mat vorgehabt hatte. »Wir sind keine, Mat.«

Einen Moment noch stand Mat wie erstarrt da. Der Laternenschein spiegelte sich auf der Klinge in seiner Hand. Dann nickte er. »Geht dort hinüber«, sagte er zu der Frau und zeigte mit dem Dolch auf die Tür zum Sattelraum.

Sie stand langsam auf und wischte sich das Heu vom Kleid. Selbst als sie in die Richtung ging, in die Mat gedeutet hatte, bewegte sie sich, als gebe es keinen Grund zur Eile. Aber Rand bemerkte, daß sie ganz wachsam den Dolch mit dem Rubingriff in Mats Hand beobachtete. »Ihr solltet wirklich aufhören, dagegen anzukämpfen«, sagte sie. »Es wäre schließlich das Beste. Ihr werdet ja sehen.«

»Das Beste?« sagte Mat trocken und rieb sich dort über die Brust, wo ihn ihr Dolch getroffen hätte, wenn er sich nicht bewegt hätte. »Dort rüber!«

Sie zuckte lässig die Achseln, als sie gehorchte. »Ein Fehler. Es herrschte eine beachtliche... Verwirrung, seit das mit diesem eingebildeten Narren Gode passierte. Ganz zu schweigen von dem Idioten, wer es auch immer gewesen sein mag, der die Panik in Markt Scheran auslöste. Niemand weiß genau, was dort geschah oder wie. Das macht es für euch noch gefährlicher; ist euch das nicht klar? Ihr werdet Ehrenplätze erhalten, wenn ihr aus freien Stücken zum Großen Herrn kommt, aber solange ihr wegrennt, werdet Ihr verfolgt, und wer weiß, was dann geschehen kann?«

Rand überlief es kalt. Meine Hunde sind eifersüchtig und werden mit euch vielleicht nicht sanft umspringen.

»Also habt Ihr Probleme mit ein paar Bauernjungen.« Mats Lachen klang grimmig. »Vielleicht seid Ihr Schattenfreunde doch nicht so gefährlich, wie ich immer gehört habe.« Er riß die Tür zum Sattelraum auf und trat zurück.

Sie blieb kurz stehen, als sie eingetreten war, und blickte ihn über die Schulter hinweg an. Ihr Blick war eisig und die Stimme noch kälter. »Ihr werdet noch herausfinden, wie gefährlich wir sind. Wenn der Myrddraal erst hier ist... «

Was immer sie noch zu sagen hatte, wurde abgeschnitten, als Mat die Tür zuknallte und den Riegel in seine Halterungen senkte. Als er sich umdrehte, war sein Blick besorgt. »Blasser«, sagte er mit angespannter Stimme. Er steckte den Dolch wieder unter seinen Mantel. »Und er kommt her, sagt sie. Wie steht es mit deinen Beinen?«

»Ich kann nicht tanzen«, murmelte Rand, »aber wenn du mir aufhilfst, kann ich gehen.« Er sah die Klinge in seiner Hand an und schauderte. »Blut und Asche, ich werde auch rennen.«

Mat hängte sich eilig all ihre Besitztümer über und zog Rand auf die Füße. Rands Beine gaben nach, und er mußte sich auf seinen Freund stützen, um nicht wegzusacken, doch er bemühte sich, Mat nicht aufzuhalten. Er hielt den Dolch der Frau ein Stück von sich weg. Vor der Tür draußen stand ein Eimer Wasser. Er warf den Dolch im Vorbeigehen hinein. Die Klinge traf zischend auf das Wasser; Dampf erhob sich von seiner Oberfläche. Er verzog das Gesicht und versuchte, schneller zu gehen.

Mit Anbruch des Tages hatten eine Menge Leute die Straßen betreten, auch wenn es noch so früh war. Aber sie gingen ihren eigenen Tätigkeiten nach und verschwendeten keinen Blick auf die beiden jungen Männer, die aus dem Dorf hinausgingen. Es waren ja so viele Fremde da. Trotzdem spannte Rand jeden Muskel an in dem Versuch, aufrecht zu gehen. Bei jedem Schritt fragte er sich, ob irgendwelche unter den vorbeihastenden Menschen Schattenfreunde waren. Warten welche davon auf die Frau mit dem Dolch? Auf den Blassen?

Eine Meile außerhalb des Dorfes war er mit der Kraft am Ende. Im einen Augenblick schleppte er sich noch schnaufend an Mats Arm voran, im nächsten lagen sie beide am Boden. Mat zog ihn hinüber an den Straßenrand.

»Wir müssen weiter«, sagte Mat. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und zog dann den Schal wieder über die Augen. »Früher oder später wird jemand sie herauslassen, und dann sind sie wieder hinter uns her.«

»Ich weiß«, keuchte Rand. »Ich weiß. Hilf mir mal hoch.«

Mat zog ihn wieder hoch, doch er schwankte und wußte, daß es nicht ging. Beim ersten Schritt, den er wagte, würde er wieder stürzen.

Mat stützte ihn und wartete ungeduldig darauf, daß ein Pferdekarren, der vom Dorf her auf sie zu kam, an ihnen vorbeifuhr. Er brummte überrascht, als der Karren langsamer wurde und vor ihnen anhielt. Ein Mann mit einem Gesicht wie aus Leder blickte vom Bock auf sie herunter. »Stimmt etwas nicht mit ihm?« fragte der Mann, ohne den Pfeifenstiel aus dem Mund zu nehmen. »Er ist nur müde«, sagte Mat.

Rand sah ein, daß diese Erklärung nicht reichen würde, nicht, wenn er sich so auf Mat stützen mußte. Er ließ Mat los und tat einen Schritt von ihm weg. Seine Beine zitterten, doch er hielt sich mit äußerster Willenskraft aufrecht. »Ich habe zwei Tage nicht geschlafen«, sagte er. »Habe etwas gegessen, von dem mir schlecht wurde. Jetzt fühle ich mich besser, aber ich habe nicht geschlafen.«

Der Mann blies eine Rauchfahne aus dem Mundwinkel. »Ihr geht nach Caemlyn, nicht wahr? In eurem Alter, schätze ich, würde ich mich auch aufmachen, um diesen falschen Drachen selbst zu sehen.«

»Ja.« Mat nickte. »Das stimmt. Wir wollen den falschen Drachen sehen.«

»Also, dann klettert mal herauf. Dein Freund kommt hinten hinein. Wenn er sich noch mal erbrechen muß, dann besser auf dem Stroh als hier oben. Heiße Hyam Kinch.«

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