2 Das Wörterbuch

»Das Buch ist hier«, sagte ich, »auf dem unteren Regal.«

»Nimm es.« sagte er.

Natürlich hatte ich es niemals wieder gewagt, das winzige seidene Gewand anzuziehen. Ich würde mich zu sehr erschrecken, wenn ich es noch einmal gewagt hätte. Es brachte Dinge aus mir hervor, zu tief und wunderbar, zu beschämend und schrecklich, zu kostbar und schön. Aber das Gewand blieb zwischen meinen Sachen in der Frisierkommode. Trotzdem hatte diese Nacht mein Leben in Perspektive oder Verständnis verändert, nicht so sehr in offenen Taten oder nahe liegenden Fakten, als ich mich im Spiegel gesehen hatte, wie ich wirklich war oder sein könnte, als ich meine wahre Natur kennen lernte, eine Natur, die für immer verborgen bleiben musste, vereitelt und frustriert, eine Natur, die keinen Platz in meiner Welt hatte.

»Ja?« hatte ich gefragt und hinter dem Schreibtisch hochgesehen.

Mein Herz war fast stehen geblieben. Er war groß und geschmeidig. Seine Hände und seine langen Arme sahen kraftvoll aus. Er hatte einen dunklen Anzug mit Krawatte an. Aber irgendwie schien dieser Aufzug eine Winzigkeit falsch zu sein. Er schien sich nicht wohlzufühlen in dieser Kleidung. Es war etwas Fremdes an ihm, etwas Ausländisches. Ich glaube, am meisten erschreckten mich seine Augen und wie er mich ansah. Ich war nicht sicher, ob ich diesen Blick verstehen konnte, aber er erschreckte mich. Ich hatte das unerklärliche Gefühl, als ob seine Augen durch meine Kleidung hindurch sehen könnten.

›Vielleicht‹, dachte ich, ›hat solch ein Mann schon auf viele Frauen gesehen und könnte Schwierigkeiten haben, die Natur meiner intimsten Charakterzüge zu ergründen.‹

In einen Moment lang fühlte ich mich, als stünde ich nackt vor ihm, dann hob er seinen Kopf und schaute sich im Zimmer um, als würde er meine Befürchtungen ahnen, die sein Blick hervorrief.

»Ja?« wiederholte ich, so freundlich wie ich konnte, mit angehaltenem Atem.

Er sah mich scharf an. Er hatte kein Interesse an meinen Täuschungen, meinen Spielchen. Ich senkte schnell meinen Kopf, außerstande, diesem Blick standzuhalten. Das ist schwer zu erklären, aber wenn du einem solchen Mann begegnest, verstehst du es. Vor einem solchen Mann fühlt eine Frau sich plötzlich als Nichts. Dann nahm ich ihn wieder wahr, als ich ihm die Seite zudrehte. Zum Glück hatte mich sein Blick losgelassen. Ich hob meinen Blick ein wenig, aber nicht so weit, dass ich das Risiko eingehen würde, dem seinen wieder zu begegnen.

»Haben Sie Harpers ›Wörterbuch klassischer Literatur und Altertümer‹?« fragte er.

»Natürlich.« sagte ich erleichtert.

Plötzlich wurde unsere Beziehung erklärbar.

»Seine Nummer ist im Katalog.« sagte ich. Ich bemerkte, dass er mich ansah. »Sie können die Nummer im Katalog finden.«

Er bewegte sich nicht in Richtung des Katalogs.

»Wissen Sie, wo er sich befindet?« fragte ich.

Er blieb stumm. Ich erkannte, dass er ärgerlich werden könnte. Dachte er, ich würde ihn bedienen?

»Wenn Sie nicht wissen, wo er ist«, sagte ich, »kann ich es Ihnen sagen. Es ist diesen Gang hinunter bis zum Ende, auf dem unteren Regal.«

»Zeigen Sie es mir.« verlangte er.

»Ich bin beschäftigt.« wehrte ich ab.

»Nein, sind Sie nicht.« parierte er.

Sicher, er hatte recht. Ich war nicht wirklich beschäftigt. Vielleicht hatte er das schon bemerkt, bevor er zu meinem Schreibtisch gekommen war. Ich hatte ein deutliches, banges Gefühl, dass er mein Zögern in Erinnerung behalten würde.

Ich stand auf und kam hinter den Schreibtisch hervor. Er trat zurück. Ich ging vor ihm her. Das war natürlich angebracht, weil ich wusste, wo das Buch zu finden war. Trotzdem beunruhigte es mich, vor ihm zu laufen.

Soweit ich wusste, hatte niemand oder kaum jemand jemals Interesse an diesem Buch gezeigt. Als Bibliothekare hörten wir natürlich von ihm in unserer Ausbildung. Es ist ein Standardwerk. Ich wusste wegen der Regalmarkierungen wo es stand. Und natürlich kannte ich den Nummernbereich, in den es gehörte. Ich hatte solche Dinge einmal für meine Prüfungen auswendig lernen müssen.

Ich ging dem Mann voran bis zum Gang und ihn dann weiter entlang. Die Regale an beiden Seiten standen eng beieinander. Der Raum zwischen ihnen schien irgendwie beengter als gewöhnlich. Die Bibliothek ist gut beleuchtet. Ich war mir des Mannes hinter mir sehr bewusst. Ich glaubte nicht, dass er ein Altphilologe war.

»Vielleicht wollen Sie etwas wegen eines Kreuzworträtsels nachschlagen.« sagte ich leichthin.

Dann bekam ich wieder, zweifellos törichterweise, Angst, dass er für meine Bemerkung mit mir abrechnen würde. Vielleicht hatte sie ihn nicht erfreut. Aber was machte es schon, ob er erfreut war oder nicht?

»Sie tragen einen Rock.« bemerkte er.

Ich blieb erschrocken stehen, drehte mich um und sah ihn kurz an. Er war ein ziemlich großer Mann, aber an dieser engen Stelle, mit den Regalen an beiden Seiten, wirkte er riesenhaft. Ich fühlte mich winzig vor ihm. Seine Erscheinung, die in diesem Anzug und Krawatte irgendwie unbeholfen wirkte, schien den Platz zwischen den Regalen vollständig auszufüllen.

»Ist das Buch hier?« fragte er.

»Nein.« antwortete ich.

Doch plötzlich fühlte ich, und der Gedanke erschreckte mich, dass er wusste, sehr genau wusste, wo das Buch stand. Ich drehte mich um und lief den Gang weiter hinunter. Nach einem Moment hatte ich das Buch fast erreicht. Ich konnte es sehen, auf dem untersten Regal.

»Es ist dort«, zeigte ich, »auf dem untersten Brett, das große Buch. Sie können den Titel sehen.«

»Sind Sie eine Intellektuelle?« fragte er.

»Nein.« antwortete ich hastig.

»Aber Sie sind Bibliothekarin.«

»Ich bin nur eine einfache Bibliothekarin.«

»Wahrscheinlich haben Sie vieles gelesen.«

»Manches schon.«, antwortete ich vage und unruhig.

»Vielleicht sind Sie die Art Frau, die mehr liest, als sie lebt.« behauptete er.

»Das Buch ist auf dem unteren Brett.« wehrte ich ab.

»Aber vielleicht«, sagte er, »liegen Bücher bald hinter Ihnen.«

»Es steht dort unten«, beharrte ich, »im Regal, am Boden.«

»Sind Sie eine moderne Frau?« fragte er.

»Natürlich.« antwortete ich heftig.

Ich wusste nichts weiter zu sagen. In gewisser Hinsicht, vermutete ich, war das natürlich ein schrecklicher Fehler.

»Ja«, stellte er fest, »ich kann sehen, dass das stimmt. Sie sind verkrampft und zimperlich.«

Ich machte Anstalten zu gehen, doch seine Augen nagelten mich unverrückbar fest. Es war fast, als ob ich dort, vor ihm, festgehalten würde von einem festen Kragen, der an einen waagerechten Stab montiert war, der aus einer Wand ragte.

»Sind Sie eine der modernen Frauen, die mich zerstören wollen?« fragte er.

Ich sah ihn erschrocken an.

»Sind Sie eines solchen Verbrechens schuldig?« beharrte er.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« entgegnete ich eingeschüchtert.

Er lächelte.

»Kennen Sie das Buch auf dem unteren Brett?« fragte er.

»Nicht wirklich.« antwortete ich.

Es war ein Standardwerk, aber nur für ein eng begrenztes Gebiet. Ich hatte es noch nie benutzt.

»Es gibt mehrere solche Bücher«, bemerkte er, »aber dies ist sicher eines der Besten.«

»Ich bin sicher, es ist ein wertvolles, exzellentes Nachschlagewerk.« sagte ich.

»Es erzählt von einer Welt, die sich sehr von der heutigen unterscheidet.« sagte er. »Eine Welt, die sehr viel einfacher ist und viel elementarer, eine fundamentalere Welt, weniger heuchlerisch und auf ihre Weise viel frischer und sauberer, lebendiger und wilder als Ihre.«

»Als meine?« erwiderte ich.

Seine Stimme schien nun, bei längerer Rede, eine Spur eines Akzents zu haben. Aber ich konnte ihn nicht unterbringen.

»Es war eine Welt, in der Männer und Frauen dem Feuer des Lebens näher standen.« fuhr er fort. »Es war eine Welt der Zeiten und Götter, der Speere und Caesare, der Spiele und Lorbeerkränze, mit Zusammenstößen, die meilenweit zu hören waren, eine Welt der Schlachtenformationen, dem gemessenen Marschtritt von Legionen, der langen Straßen und befestigten Lager, dem Kommen und Gehen von Schiffen aus Eichenholz, dem Verströmen von Opfergaben, von Wein, Salz und Öl, ins Meer.«

Ich sagte nichts.

»Und in solch einer Welt wurden Frauen wie Sie als Sklavinnen gekauft und verkauft«, fuhr er fort.

»Diese Welt ist verschwunden.« sagte ich.

»Es gibt eine andere, ihr ähnliche.« hielt er entgegen.

»Das ist absurd.« konterte ich.

»Ich habe sie gesehen.« behauptete er.

»Das Buch ist hier«, versuchte ich abzulenken, »auf dem unteren Brett.«

Ich zitterte. Ich war furchtbar erschrocken.

»Hol es.« verlangte er.

Ich kniete nieder und zog das Buch hervor. Ich sah zu ihm auf. Ich kniete vor ihm.

»Öffne es.« befahl er.

Ich gehorchte. Innerhalb des Buches lag ein Stück zusammengefaltetes Papier. Ich faltete es auseinander.

»Lies es.« verlangte er.

Ich las: »Ich bin eine Sklavin.«

Dann sah ich auf. Er war verschwunden. Ich sank zurück auf meine Knie, beugte mich vor, das Papier festhaltend. Mir war schwindlig und ich fühlte mich schwach. Dann sah ich mich noch einmal nach ihm um. Der Gang war leer. Ich fragte mich, ob er zurückkommen würde. Dann fühlte ich mich plötzlich ängstlich, mir wurde schlecht und ich eilte zur Damentoilette.

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