7. KAPITEL

DAS SIEBTE GEBOT: DU SOLLST NICHT STEHLEN.

Er hieß Tom. Tom Warner. Er arbeitete als Angestellter in einer Bank, und sein Gehalt war hundertfünfzig Dollar die Woche. Wäre er Junggeselle gewesen und hätte allein gelebt, dann hätte das wohl zum Leben gereicht. Aber Tom war verheiratet und hatte drei Jungs. Wie soll man mit so einem Hungerlohn eine Frau und drei Söhne ernähren und kleiden, ihnen Schuhe kaufen und sie auf die Schule schicken? Völlig unmöglich.

Als Tom noch jünger war, dachte er an nichts anderes, als daß er einmal ungeheuer erfolgreich sein wollte und vielleicht sogar eines Tages seine eigene Bank haben würde. Als er dann seine Frau Mary kennenlernte, dachte er an nichts anderes, als daß er ihr ein wunderschönes Zuhause schaffen wollte. Und als seine Jungs auf die Welt kamen, dachte er an nichts anderes, als daß er mit ihnen später auf einer großen Jacht um die Welt reisen wollte.

Nun, mit fünfundvierzig, dachte er an nichts anderes als Geld. Der Stapel seiner unbezahlten Rechnungen wuchs immer weiter an, und es schien ihm, als verginge überhaupt kein Tag mehr, an dem nicht eine Rechnung kam. Wie sehr sie sich auch bemühten zu sparen, Tom und Mary kamen einfach nicht mehr nach mit dem Bezahlen.

Die lronie dabei war, daß Tom bei seiner Arbeit in der Bank jeden Tag mit Millionen umging. Sein Problem war nur, daß es halt nicht seine Millionen waren.

Eines Morgens beim Frühstück sagte Mary: „Liebling, die Kinder brauchen neue Schuhe."

„Wir haben ihnen doch erst vor zwei Monaten neue gekauft." „Ja, ich weiß. Aber sie gehen schnell kaputt. Außerdem ist der Fleischer noch nicht bezahlt. Ich habe versucht, erneut auf Kredit Fleisch von ihm zu bekommen, aber er sagte, es geht nicht mehr."

„Wieviel sind wir ihm denn schuldig?" „Zweihundert Dollar."

Was Tom betraf, hätten ihn auch zweitausend Dollar nicht mehr aus der Ruhe gebracht als zweihundert.

„Wir haben kein Geld, um Ihn zu bezahlen"., sagte er zu seiner Frau.

Es war ihr unangenehm, das auch noch zur Sprache bringen zu müssen, aber sie sagte es dennoch. „Und auch der Bäcker, Liebling, will sein Geld von uns haben."

„Schon wieder?" sagte Tom. Es waren ohnehin nicht nur der Fleischer und der Bäcker. Auch der Mann von der Versicherung wollte Geld haben und der Mechaniker und ein Elektriker, der einiges im Haus gerichtet hatte, und der Zahnarzt der Kinder und der Fernsehreparaturdienst und überhaupt am dringendsten ihr Hausherr. Toms Wohnung kostete dreihundert Dollar Miete im Monat, dabei war es nur eine winzige Wohnung, in der alle lebten. Aber jeden Monat hatte er Schwierigkeiten, die Miete zu bezahlen. Als sie eingezogen waren, hatte er noch geglaubt, er werde in seiner Bank bald befördert und bekomme ein höheres Gehalt. Mary sagte: „Warum gehst du nicht zu Mr. Gable und bittest ihn um Gehaltsaufbesserung?"

Mr. Gable gehörte die Bank, bei der Tom arbeitete. „Er hat sie dir schon seit Jahren versprochen."

„Ich weiß", sagte Tom. „Aber es ist mir unangenehm, ihn immer danach zu fragen."

In Wirklichkeit war es ihm nicht nur unangenehm, sondern er hatte richtig Angst vor Marvin Gable. Gable war hart und autoritär, ein richtiger Diktator, dem es Spaß machte, gemein zu seinen Angestellten zu sein. Er war sehr reich, hielt aber nichts davon, seinen Reichtum mit anderen zu teilen. Im Gegenteil, er bezahlte die schlechtesten Löhne in der ganzen Stadt und prahlte auch noch damit.

„Du hast dir eine Aufbesserung verdient", sagte Mary zu ihrem Mann. „Nun geh auch hin und stell dich auf die Hinterbeine. Kämpfe für dein Recht!"

Mary war stärker als ihr Mann. Tom war ein sehr schüchterner Mensch, der alles mögliche in Kauf nahm, nur um nicht irgend jemandem zu nahe zu treten. Mary liebte ihn sehr, aber sie hätte doch gern gesehen, wenn er etwas mehr Entschlußkraft und Mut besessen hätte.

„Versprich es mir", sagte sie.

„Gut, ich verspreche es", sagte Tom.

„Wann willst du es tun?"

„Gleich heute vormittag." .

Tom ging zu Mr. Gable in dessen Büro und bat um eine Gehaltserhöhung.

„Mr. Gable", sagte er, „ich arbeite jetzt seit zehn Jahren bei Ihnen und habe in dieser ganzen Zeit erst eine einzige Gehaltsaufbesserung bekommen. Ich arbeite sehr hart und fleißig und glaube, daß ich Anspruch auf mehr Gehalt habe." Gable war ein großer, fetter Mann, der nur für Essen und Frauen lebte. Für seine Angestellten hatte er überhaupt nichts übrig.

„Was bezahle ich Ihnen jetzt?"

„Hundertfünfzig die Woche", sagte Tom.

Mr. Gable zeigte sich überrascht. „Was denn, so viel? Da sollten Sie doch froh und glücklich sein, ein solches Gehalt zu beziehen."

„Sir, ich habe eine Frau und drei Kinder. Da habe ich große Schwierigkeiten, damit auszukommen."

Gable sagte: „Ach, wahrscheinlich werfen Sie ja doch das meiste Geld fürs Kino und für Vergnügen hinaus."

In Wirklichkeit war Tom schon seit zehn Jahren nicht mehr im Kino gewesen, und wann er zuletzt auf einer Party war, daran konnte er sich überhaupt nicht mehr erinnern.

„Nein, Sir", sagte er nervös, „so ist das nicht. Ich gehe überaus sparsam mit meinem Geld um, und doch reicht es hinten und vorne nicht."

„Ja, also jedenfalls muß es bis auf weiteres reichen; da kann ich Ihnen auch nicht helfen", sagte Gable. „Die Zeiten sind schwierig, Tom. Geld ist rar. Aber Sie sind ja fleißig und ordentlich und da wollen wir mal nächstes Jahr sehen, ob wir Ihnen eine Gehaltserhöhung geben können." „Entschuldigung, Mr. Gable", sagte Tom, „aber genau dasselbe haben Sie mir auch schon voriges Jahr gesagt, und im Jahr zuvor auch schon."

„Was denn, soll das heißen, Sie belästigen mich regelmäßig jedes Jahr mit Ihren Wünschen nach mehr Geld?" sagte Gable. „Nein, also das wollen wir dann doch abstellen. Wenn Ihnen Ihr Posten nicht gefällt, dann stelle ich jemand anderen dafür ein."

Tom geriet in Panik. Der Gedanke, seine Stellung zu verlieren, war denn doch zuviel. Dann blieb ihm und Mary und den Kindern nicht mehr viel übrig, als zu verhungern. „Nein, ich liebe meine Arbeit", sagte er. „Wirklich, Sir. Dann lassen wir das mit der Gehaltsaufbesserung vorerst eben. Vielleicht können wir später einmal wieder darüber reden." „Aber sicher doch", sagte Mr. Gable. „Und jetzt zurück an die Arbeit!"

Und Tom ging zurück an seine Arbeit.

Es war ein sehr geschäftiger Vormittag in der Bank. Zu deren Kunden gehörten auch große Firmen, reiche Investoren und sogar ein paar kleine Länder. Die Bank verlieh täglich mehrere Millionen. Und viel von diesem Geld ging durch Toms Hände. Er dachte über die reichen Leute nach. Die mußten sich keine Sorgen wegen einer Rechnung des Zahnarztes oder des Fleischers machen. Auch nicht, ob sie sich die Reparatur ihres Autos leisten konnten. Und sie hatten erst recht nicht zu fürchten, ob sie demnächst noch ein Dach über dem Kopf hatten. Die Sorgen dieser Leute bestanden einzig darin, wo sie denn den nächsten Urlaub verbringen, welchen Pelzmantel sie ihrer Frau kaufen und in welche der teuren Schulen sie ihre Kinder schicken sollten.

Als er nach Hause kam, fragte ihn Mary: „Nun, Liebling, hast du deine Gehaltserhöhung bekommen?" Er wollte schon Nein sagen, aber dann sah er den erwartungsvollen Blick in ihren Augen, und es war ihm klar, daß er es nicht über sich bringen würde, sie zu enttäuschen. „Ja", log er also, „habe ich."

Da warf sie die Arme um ihn. „Oh, Liebling, das ist wundervoll."

Tom fühlte sich elend. Wieso, fragte er sich, hatte er sie angelogen? Aber er kannte den Grund natürlich. Er ertrug es nicht, ihr gegenüber einzugestehen, daß er ein Versager war, zu schwach, um darauf zu bestehen, daß er das Gehalt bekam, das ihm zustand.

„Das feiern wir", sagte Mary. „Wir gehen mit den Kindern heute abend ins Restaurant aus. Wir waren schon so lange nicht mehr in einem Restaurant essen."

Tom geriet in Panik. Woher sollte er das Geld nehmen, um seine ganze Familie in ein Restaurant auszuführen? „Das ist eine gute Idee", sagte er aber, wenn auch schwach. Er suchte in seinen Taschen. „Ich habe keine Zigaretten mehr", sagte er. „Ich gehe mal schnell welche holen." „Ich mache inzwischen die Kinder fertig", sagte Mary. Tom war verzweifelt. Er ging aus dem Haus, aber statt Zigaretten zu kaufen, ging er in ein Leihhaus, wo man sich gegen ein Pfand Geld borgen kann.

Der Besitzer blickte auf, als Tom hereinkam. „Kann ich etwas für Sie tun?"

Tom nahm seine Armbanduhr ab. „Ich möchte mir etwas Geld auf diese Uhr leihen."

Der Leihhausbesitzer untersuchte die Uhr genau und sagte:

„Ich kann Ihnen zehn Dollar dafür geben."

„Zehn Dollar? Aber die Uhr ist hundert wert!"

„Tja", sagte der Mann achselzuckend, „allerhöchstens fünfzehn kann ich Ihnen geben."

Tom wußte, daß er übervorteilt wurde, aber er brauchte das Geld dringend. „Also gut", sagte er.

Der Mann nahm die Uhr und zählte Tom drei Fünfer hin. „Wenn Sie die Uhr nicht in einer Woche wieder einlösen", sagte der Mann, „habe ich das Recht, sie zu verkaufen." Tom war entsetzt,. Er brauchte die Uhr. Eine Woche! Wo sollte er in einer Woche diese extra-fünfzehn Dollar hernehmen?

„Könnten wir nicht einen Monat machen?"

„Absolut nicht! In einer Woche verkaufe ich die Uhr."

Und Tom dachte: Wie bin ich da nur hineingeraten?

Seine Lüge Mary gegenüber brachte ihn tiefer und tiefer in Schwierigkeiten.

Am Abend ging Tom mit Mary und seinen drei Söhnen in ein chinesisches Restaurant. Das hatte er ausgesucht, weil es billig war. Die Rechnung belief sich auf genau fünfzehn Dollar. Jetzt hatte er keine Uhr und auch kein Geld mehr. Auf dem Heimweg sagte Mary: „Das hat mir und den Kindern wirklich gut gefallen, Tom. Übrigens, wie hoch ist denn deine Gehaltserhöhung eigentlich?"

Jetzt war es längst zu spät, ihr noch die Wahrheit zu sagen. „Fünfzig Dollar pro Woche", sagte er. Wenn ich schon lüge, dachte er, kann ich auch gleich mächtig lügen. Mary umarmte ihn. „Das ist wunderbar, Liebling. Da verdienst du jetzt zweihundert die Woche."

„Stimmt", sagte Tom. Ja, im Traum. Zweihundert Dollar! Und wenn ich hundert Jahre alt werde, zahlt mir Mr. Gable keine zweihundert die Woche.

„Jetzt können wir endlich alle Rechnungen bezahlen", sagte Mary überglücklich.

Ich weiß, was ich mache, dachte Tom. Ich bringe mich um.

Dann kann Mary mit dem Geld von meiner Versicherung die Rechnungen bezahlen.

Es war der einzige Ausweg, der ihm einfiel.

„Wie spät ist es?" fragte Mary.

Tom wollte ganz automatisch auf die Uhr schauen, als ihm erst einfiel, daß er gar keine mehr hatte.

„Ich habe meine Uhr zu Hause gelassen", sagte er.

Tom lag die folgende Nacht wach und zermarterte sich den Kopf über einen Ausweg aus seiner verfahrenen Lage. Wenn er seine Stellung aufgab, mußte er woanders wieder ganz von vorne anfangen, ganz unten. Wenn er sie aber behielt und dazu vielleicht eine zweite Abendarbeit annahm, dann sah er Mary und seine Jungs überhaupt nicht mehr und arbeitete nur noch und sonst nichts. Er liebte aber seine Familie sehr und konnte die Vorstellung, überhaupt nicht mehr mit ihr zusammen zu sein, nicht ertragen.

Es gab nur eine Lösung: Selbstmord. Er hatte eine Lebensversicherung auf zehntausend Dollar. Damit hätte Mary genug Geld, um alle Rechnungen zu bezahlen und die Kinder auf eine Schule zu schicken. Und sie konnte sie dazu sogar noch in Restaurants ausführen und ins Kino. Ja, das ist die Lösung, dachte er. Ich muß mich umbringen, da hilft nichts.

Dann aber fiel ihm plötzlich ein, daß die Versicherung bei Selbstmord nicht galt. Viel besser, es mußte ein Unfalltod sein. Wenn er eines natürlichen Todes starb, wurden die zehntausend Dollar fällig. Bei einem Unfalltod verdoppelte die Summe sich sogar!

Ich muß es also so machen, dachte er, daß es wie ein Unfall aussieht.

Und er begann seinen Unfalltod zu planen.

Ich laufe einem schnellfahrenden Bus in den Weg, dachte er.

Da können sie nie beweisen, daß es Selbstmord war. Oder ich fahre mit dem Auto in einen Abgrund. Genau, das tue ich. Ich nehme das Auto und verunglücke an einem Abgrund.

Er sah hinüber zu Mary, die tief schlief, und dachte: Sie wird mich vermissen, und die Jungs auch. Aber in ein paar Jahren findet sie wieder einen anderen und heiratet noch einmal.

Und da begann er sich selbst so leid zu tun, daß er weinte, aber lautlos, damit er seine Frau nicht aufweckte.

Am Morgen fühlte er sich schon wieder sehr viel besser. Er wußte jetzt, was er zu tun hatte, um seine Familie zu retten. Es war entschieden, und er hatte die Absicht, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Er liebte seine Familie genug, um sein Leben für sie hinzugeben.

Beim Frühstück sagte Mary: „Du bist heute aber sehr guter Laune, Liebling, sicher wegen der Gehaltserhöhung, nicht?" „Ja", sagte Tom. „Ich war schon lange nicht mehr so guter Laune."

Und das stimmte sogar. Der Gedanke an den Tod schreckte ihn nicht mehr, wenn er damit das Glück seiner Familie erkaufen konnte.

Nun, da er seine Entscheidung getroffen hatte, begann Tom, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Er vergewisserte sich, daß seine Versicherungspolice in Ordnung war. Er machte eine sorgfältige Liste aller unbezahlten Rechnungen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit. Zuerst kam die Miete, dann der Fleischer, dann erst alle übrigen. Und er wollte Mary eine Liste mit Anweisungen hinterlassen. Halt, nein, fiel ihm dann aber ein. Das geht ja nicht. Dann wissen sie, daß ich meinen Tod geplant habe. Er sah sich in der Bank um und dachte: Das ist heute mein letzter Tag hier. Alle diese Leute sehe ich nie wieder. „Gehen wir zusammen essen?" fragte jemand hinter ihm. Es war Gregory, einer der anderen Angestellten der Bank. „Ja, gern", sagte Tom. Es sollte schließlich sein letztes Mittagessen werden.

Sie gingen zu einem Restaurant in der Nähe der Bank. Gregory arbeitete in der Abteilung Fusionen der Bank und war sogar einer der Vizepräsidenten. Aber er haßte Mr. Gable genauso wie Tom.

„Haben Sie schon gehört", fragte er Tom, „was Gable für ein neues Geschäft gemacht hat?" „Nein", sagte Tom kopfschüttelnd.

„Er holt einen geheimen Kredit an die Goldene Kaffeegesellschaft von Venezuela zusammen. Wenn das an der Börse bekannt wird, steigen die Aktien dieser Firma wie eine Rakete hoch, tausend Prozent."

Er senkte die Stimme. „Wenn Sie schlau sind, kaufen Sie gleich jetzt ein paar von diesen Aktien. Die Sache wird wahrscheinlich erst am Montag bekanntgegeben."

Aktien kaufen, dachte Tom verbittert, womit denn?

Er hatte doch nicht einmal mehr eine Armbanduhr zum Versetzen.

„Danke für den Tip", sagte er aber. „Das will ich tun."

Sie aßen fertig und Gregory sagte: „Tja, Zeit, zurück zur Arbeit zu gehen."

Zeit, sich zum Sterben fertig zu machen, dachte Tom jedoch. Sein Plan stand fest. Morgen war Samstag, da wollte er dann Mary sagen, er fahre mal kurz weg, um eine Besorgung zu machen. Die kleine Stadt, in der sie lebten, war ringsherum von Bergen umgeben. Da gab es genug Stellen, wo man einen Unfall an einem Abgrund haben konnte, ohne daß jemand sagen konnte, es sei keiner gewesen, sondern Absicht.

Er kehrte in die Bank zurück, für den letzten Nachmittag, seiner Absicht nach. Auf der anderen Seite der Halle sah er Gregory ins Telefon flüstern, und es war ihm klar, daß Gregory heimlich diese Aktien kaufte, die bald tausend Prozent mehr wert sein sollten. Glücklicher Gregory! Eine Sekretärin kam zu Tom und reichte ihm ein Blatt Papier. „Dieser Transfer ist eben von unserer Bank in Schweden gekommen. Sie sollen es deren Konto gut- schreiben." „Geht in Ordnung", sagte Tom.

Er besah sich das Papier. Eine Million Dollar wurden da überwiesen. Er starrte die Zahl lange an. Heute war Freitag. Die Überweisung mußte also erst am Montag erfolgt sein. Das bedeutete: drei Tage...

Der ordentliche Ablauf wäre gewesen, die Gutschrift für das Konto der schwedischen Bank sofort zu buchen. Doch da dachte Tom auf einmal: Ach zum Teufel mit dem ordentlichen Ablauf!

Mit einem Schlag sah er Licht am Ende des Tunnels. Ganz einfach, dachte er, ich buche die Überweisung auf das allgemeine Konto der Bank und schreibe dafür einen Scheck über eine Million aus. Vor Montag wird das nicht entdeckt. Bis dahin aber kann ich bereits den Gewinn auf diese Kaffeeaktien einkassieren und das Geld wieder ersetzen, kein Mensch merkt etwas. Wenn ich mir, dachte er, dieses Geld bis Montag nur ausleihe, dann ist das nicht gestohlen. Sobald der Kurs dieser Aktien steigt, zahle ich alles zurück und bin mit dem verdienten Rest reich. Dann brauche ich mich auch nicht umzubringen. Er saß lange da und grübelte, was er nun tatsächlich tun sollte. Schließlich entschloß er sich.

Er rief einen Aktienmakler an. „Ich kaufe für eine Million Aktien der Goldenen Kaffeegesellschaft von Venezuela." Als er wieder auflegte, zitterten ihm die Hände. Jetzt habe ich gerade, dachte er, eine Million Dollar gestohlen. Wenn das aufkommt, wandere ich für den Rest meines Lebens hinter Gitter.

Am nächsten Morgen sagte Mary zu ihm: „Hast du nicht gesagt, du mußt heute wegfahren, über die Berge, wegen einer Besorgung?"

„Das habe ich verschoben", sagte Tom. Er war stark in Versuchung, ihr zu erzählen, wie reich sie nun bald sein würden, aber er ließ es dann doch bleiben. Sobald am Montag die Neuigkeit über diese Kaffeefirma heraus und der Aktienkurs in die Höhe geschossen war, wollte er seinem Börsenmakler die Anweisung geben, sofort wieder zu verkaufen, die ausgeliehene Million wieder in die Bank zurücküberweisen, seine Stellung kündigen und mit Mary und den Jungs auf eine Ferienreise nach Europa fahren. Vielleicht kaufe ich sogar eine Jacht, dachte er.

Unnötig zu sagen, daß Tom an diesem ganzen Wochenende kein Auge zutat. Die Stunden schlichen ihm nur so dahin. Endlich war es Montagmorgen. Sehr früh schon rief Tom seinen Börsenmakler an.

„Wie steht es mit der Goldenen Kaffeegesellschaft von Venezuela?" fragte er.

„Was soll damit sein?" fragte der Makler dagegen.

„Naja, um wieviel ist der Kurs gestiegen?"

„Um gar nichts", sagte der Makler. „Im Gegenteil, er ist einen

Punkt runter."

Tom sank das Herz in die Hose. „Was?"

„Ja. Wieso, haben Sie erwartet, daß er steigt?"

„N-ein", sagte Tom. „Ich meine, ja ... ich ... Ach, nichts."

Er warf den Telefonhörer hin. In seinem ganzen Leben war er noch nie so deprimiert gewesen. Sein Arbeitskonto hatte einen

Fehlbetrag von einer Million.

Was mache ich jetzt? fragte er sich.

Am Ende des Tages wurden immer alle Arbeitskonten der Bank überprüft und ausgeglichen. Er saß ausweglos in der Falle.

Um zehn Uhr rief er den Makler noch einmal an. „Etwas Neues mit dem Kurs?"

„Ja."

Tom hüpfte das Herz im Leibe schon."

„Er ist noch einmal einen Punkt runtergegangen."

Tom knallte den Hörer noch wütender auf die Gabel als beim erstenmal.

Also gut, dachte er. Dann gehe ich jetzt schnurstracks zu Mr. Gable ins Büro hinein und sage ihm, was ich getan habe. Sollen Sie mich doch verhaften und mich ins Gefängnis werfen. Sollen doch Mary und die Kinder entehrt sein... Nein, das kann ich nicht machen. Ich warte lieber, bis sie mich selbst abholen. Darauf mußte er ohnehin nicht lange warten, das war ihm klar. Es war Mittag. Um drei Uhr nachmittags gingen die Kontenprüfungen an, und da flog er unweigerlich auf. Er ging zu Gregorys Schreibtisch hinüber. „Sagen Sie mal", sagte er, „nur ganz nebenbei, erinnern Sie sich noch, daß Sie mir von dieser Geschichte mit dem Kaffee aus Venezuela erzählt haben? Gibt es da irgendwelche Neuigkeiten?" Gregory sagte: „Es sieht so aus, als wäre die Sache geplatzt."

Tom hätte sich am liebsten gleich auf der Stelle umgebracht.

Gregory fragte: „Kommen Sie mit zum Essen?"

Tom schüttelte den Kopf. Ihm war der Appetit vergangen. Das war nun wohl endgültig der letzte Tag seiner Freiheit.

Er beschloß, daß er nicht extra warten wollte, bis sie seinen Unterschleif entdeckten. Er wollte jetzt gleich wie ein Mann zu Mr. Gable gehen und sich selbst stellen. Er sah bei einem Blick über die Schalterhalle hin, daß Gable in seinem Büro saß. Er holte tief Luft und ging hinein.

Mr. Gable war in einige Papiere vertieft.

Jetzt ist es soweit, dachte Tom. Das ist das Ende meiner Ehe und meines Lebens.. Vermutlich kriege ich zwanzig Jahre.

„Mr. Gable", begann er.

„Sehen Sie nicht, daß ich beschäftigt bin?"

„Aber ich -"

„Kommen Sie später."

„Aber ich-"

„Später, habe ich gesagt!"

Tom stand noch einen Augenblick da, dann drehte er sich um und ging.

Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und saß dort nachdenklich und dachte, wie dumm er gewesen war. Alles hatte mit dieser blöden Lüge angefangen, daß er die Gehaltserhöhung bekommen habe. Dann ging es weiter mit der Armbanduhr. Und dann mit der Idee vom Selbstmord. Mein ganzes Leben habe ich verpfuscht, dachte er. Er sah, daß Mr. Gable drüben auf der anderen Seite der Schalterhalle sich anschickte, wegzugehen. Schnell eilte er noch einmal hinüber, um jetzt sein Geständnis abzulegen. „Mr. Gable, ich -" „Ich gehe gerade zum Essen." „Aber-"

Doch da war Gable schon weg.

Nicht einmal mein Geständnis lassen sie mich loswerden, dachte Tom. Am besten gehe ich gleich zur Polizei und sage dort alles. Nein, doch nicht. Mr. Gable sollte es schon zuerst erfahren.

Schließlich dann - es war inzwischen zwei Uhr - stand Tom, als Mr. Gable vom Essen zurückkam und wieder in sein Büro ging, zum drittenmal auf und war wild entschlossen, sich diesmal von nichts mehr abhalten zu lassen. Er hatte sich genau zurechtgelegt, was er sagen wollte: Mr. Gable, ich habe eine Million Dollar von Ihrer Bank unterschlagen. Ich weiß, es war nicht recht, aber ich tat es für meine Familie. Ich bin bereit, vor der Polizei ein Geständnis abzulegen und ins Gefängnis zu gehen.

Und diesmal wollte er sich von Mr. Gable auch auf keinen Fall noch einmal unterbrechen und abweisen lassen. Er stand also auf, um zu Gable in dessen Büro zu gehen. In diesem Moment klingelte sein Telefon. Da er sein Geständnis im Kopf genau vorbereitet hatte, wollte er sich nun auch durch das Telefon nicht mehr abhalten lassen. Er setzte also seinen Weg zu Gables Büro zielstrebig fort. Aber das Telefon auf seinem Schreibtisch hörte nicht auf zu klingeln. Tom zögerte. Dann entschloß er sich, abzuheben - zum letzten Telefongespräch seines Lebens.

Er kehrte um, ging zurück zu seinem Schreibtisch, hob ab und meldete sich.

„Hallo?" sagte er ungeduldig.

„Tom?"

„Ja."

Es war der Börsenmakler, und er klang furchtbar aufgeregt. „Mein guter Mann, Sie haben den Haupttreffer gelandet!" „Was?"

„Die Kaffeeaktien! Die spielen verrückt!"

Tom spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß.

„Tatsächlich?"

„Der Kurs ist zehn Punkte gestiegen und steigt weiter. Was wollen Sie machen?"

„Verkaufen", sagte Tom, „verkaufen Sie."

„Gut, aber der Kurs steigt noch immer!"

„Macht nichts verkaufen!" Er schrie es richtig ins Telefon.

Als er auflegte, sank er entgeistert auf seinen Stuhl. Er hatte zehn Millionen Dollar verdient! Das Zehnfache! Es wurde ihm schwindlig. Zehn Millionen! Alles, was er jetzt noch tun mußte, war, die eine Leihmillion wieder zurückzutransferieren, und dann waren neun Millionen für ihn selbst übrig!

Gable kam auf seinen Schreibtisch zu. „Tom, Sie müssen heute abend mal wieder Überstunden machen. Ich habe da einige Verträgt, die ich -"

Tom stand auf und sagt er „Mr. Gable, stecken Sie sich Ihre Verträge in die Ohren!"

Und er ging davon. Gable starrte ihm mit offenem Mund hinterher.

Tom rücküberwies die eine Million, die er für sein Geschäft von der Bank genommen hatte, und kassierte seine neun Millionen Gewinn von dem Makler ein. Er zog mit Mary und seinen drei Jungs in ein schönes, großes Haus, kaufte Mary ein neues Auto und elegante Kleider und fuhr mit ihr und seinen Söhnen auf eine dreimonatige Reise nach Europa. Und alles, weil er das siebte Gebot gebrochen hatte.

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