11. KAPITEL

ELFTES GEBOT: DU SOLLST NICHT LÜGEN.

Er hieß David und war wahrscheinlich der ehrlichste Mensch auf der ganzen Welt. Als er noch sehr klein war, hatte sein Vater ihm die Geschichte von George Washington und dem Kirschbaum erzählt.

„George Washington war der erste Präsident der Vereinigten Staaten. Als George acht Jahre alt war, ging sein Vater hinaus in den Garten und mußte feststellen, daß sein Lieblingskirschbaum umgeschlagen worden war. >Habt ihr den Kirschbaum umgeschlagen?< fragte er seine Dienstboten. >Nein<, sagten diese. >Hast du den Kirschbaum umgehackt?< fragte er seine Frau. >Nein<, sagte sie. Und schließlich schickte er auch noch nach dem kleinen George. >Hast du den Kirschbaum niedergehackt?< >Ja, Vater. Ich kann nicht lügen.<„

Diese Geschichte beeindruckte David so sehr, daß auch er beschloß, niemals zu lügen, nie und nimmer. Als er in die Schule kam, stellte er fest, daß alle anderen Kinder bei den Prüfungen spickten und mogelten. In einem Moment der Schwäche spickte auch David einmal bei seinem Banknachbarn. Er bekam die Note A dafür, das war die beste Note, die man bekommen konnte.

David ging aber dann zu seinem Lehrer und sagte: „Sir, ich kann nicht lügen. Ich habe bei der Prüfung gespickt." Der Lehrer gab David daraufhin eine Null und ließ ihn zur Strafe nachsitzen.

Als David mit der Schule fertig war, ging er zusammen mit einigen Freunden zu einer Fabrik, um dort Arbeit zu suchen.

„Habt ihr Erfahrung?" fragte der Fabrikleiter.

„Selbstverständlich", sagte einer von den anderen. „Eine ganze Menge", sagte ein zweiter.

David wußte natürlich, daß sie alle beide logen.

Der Werkleiter wandte sich nun auch an ihn. „Und du, hast du Erfahrungen?"

„Nein", sagte David.

Die anderen wurden eingestellt, David nicht.

Als David älter wurde, begann er bei einer Versicherung zu arbeiten. Eines Abends nahm er einige Büroklammern und etwas Schreibmaschinenpapier mit nach Hause.

Am nächsten Tag sagte er zu seinem Chef: „Sir, ich kann nicht lügen. Ich habe etwas Papier und Büroklammern gestohlen."

Der Chef zog ihm, was es wert war, von seinem Lohn ab.

Die anderen Angestellten nahmen ständig irgendwelche Sachen mit, aber meldeten es natürlich nicht. Sie hielten David für einen Narren.

„Warum nimmst du die Sachen nicht einfach und hältst den Mund?" fragten sie ihn.

Aber David schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht machen. Ich will wie George Washington sein. Ich habe mir vorgenommen, niemals zu lügen." Das konnten sie alle nicht verstehen.

David hatte eine Freundin. Sie hieß Kathy, und er liebte sie sehr.

„Ich möchte dich heiraten", sagte er.

Sie umarmte ihn und antwortete: „Auch ich möchte dich heiraten, Liebling."

David war darüber sehr glücklich. Er hatte eine schöne Stellung und ein Mädchen, das er liebte. Wie man sieht, dachte er, zahlt es sich eben doch aus, wenn man immer nur die Wahrheit sagt.

Kathy hatte eine Freundin, Betty. Betty war schön und sexy und mochte David sehr gern. Doch David war nicht an ihr interessiert, weil er ja Kathy liebte.

Eines Abends, als Kathy zu tun hatte, rief Betty David an und sagte: „David, mein Fernseher ist kaputt. Könntest du nicht mal kommen und ihn mir reparieren?"

David hatte nämlich für solche Sachen Talent. „Aber gewiß doch", sagte er. „Gerne." Und er ging zu Betty.

Aber das einzige, was mit Bettys Fernseher nicht stimmte, war, daß der Netzstecker herausgezogen war.

„Sieh mal", sagte David, „du mußt einfach nur diesen Stecker in die Wand stecken."

Er schloß den Strom an, und der Fernseher funktionierte sofort einwandfrei.

„Du bist so geschickt", sagte Betty. „Ich kann mir gar nicht denken, wie so etwas möglich ist." Sie kam zu ihm und legte die Arme um ihn. „Ich möchte dir danken, David", sagte sie und küßte ihn.

David küßte sie wieder und begriff dann erst, was er da tat. Er machte sich frei und schob sie weg.

„Das können wir nicht tun", sagte er. „Wo ich doch Kathy heirate."

„Das weiß ich doch", flüsterte Betty. Und sie küßte ihn noch einmal.

David sagte: „Ich gehe besser."

Wäre David nun einer wie alle gewesen, dann hätte er den Vorfall gar nicht erst erwähnt. Aber mit seiner Ehrlichkeit beschloß er, er müsse die Sache Kathy mitteilen.

Beim Essen am nächsten Tag in einem Lokal sagte er also zu Kathy: „Ich muß dir etwas sagen, Kathy."

„Ja, Liebling?"

„Gestern abend war ich in Bettys Wohnung, und wir haben uns geküßt."

Kathy starrte ihn an. „Was habt ihr?"

„Ich wollte sie eigentlich nicht küssen. Es ist einfach so passiert. Das verstehst du doch, oder?"

„Selbstverständlich", sagte Kathy und schüttete ihm ein Glas Wasser ins Gesicht. „Aber Kathy ..."

Doch Kathy war schon aus dem Lokal davon gerannt.

David rief sie noch am selben Tag an und am Tag darauf ebenfalls und in der nächsten Woche und im nächsten Monat.

Aber sie antwortete niemals.

Das hatte David nun von seiner Ehrlichkeit.

Aber entmutigte ihn das? Kein bißchen.

Alle sagten, er sei ein Narr, weil er ständig so unbedingt ehrlich sein wolle, und daß man nun einmal ab und zu einfach lügen müsse.

Doch daran glaubte David nicht. „Nein, ich werde niemals, unter keinen Umständen, über irgend etwas lügen", beharrte er. Und er gedachte dies auch einzuhalten, was auch komme.

Eines Abends ging er an einem Juwelierladen vorbei, als er das Geräusch von brechendem Glas hörte. Er sah sich um, was da passierte. Ein Mann kam angerannt und an ihm vorbei. David konnte sein Gesicht gut erkennen. Der Mann sah verängstigt aus. Gleich darauf kam ein Polizeiauto mit heulender Sirene daher. Es hielt bei David an. In dem Juwelierladen war die Schaufensterscheibe eingeschlagen, und alle Schmuckstücke in der Auslage waren gestohlen.

Ein Polizist stieg aus dem Auto und sagte zu David: „Haben Sie gesehen, was passiert ist?"

„Nein", sagte David. „Ich habe nur gehört, wie die Schaufensterscheibe eingeschlagen wurde. Und dann rannte ein Mann vorbei."

„Haben Sie ihn deutlich gesehen?" „Ja", sagte David.

Das Gesicht des Polizisten hellte sich auf. „Sie könnten ihn also identifizieren?"

„Natürlich", sagte David. „Ich habe ihn ziemlich gut sehen können."

Der Polizist schrieb Davids Namen, Adresse und Telefonnummer auf und sagte: „Wenn wir den Räuber finden, hören Sie von uns. Dann brauchen wir Sie, um ihn zu identifizieren."

„Das tue ich dann gerne", sagte David.

Es verging eine Woche, ohne daß etwas passierte. Dann aber bekam David am Montagmorgen einen Anruf. „Wir glauben, den Mann zu haben, der den Juwelierladen ausraubte. Könnten Sie vorbeikommen und ihn identifizieren?" „Ich bin sofort da", sagte David.

Als er in das Polizeigebäude kam, sagte einer der Kriminalbeamten zu ihm: „Das ist sehr gut, daß Sie den Mann so genau gesehen haben, denn Sie sind der einzige Zeuge, den wir haben. Sie sind sich ganz sicher, daß sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ihn sehen?" „Absolut", sagte David. „Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis." „Also gut, dann kommen Sie." .

Und man geleitete ihn in ein Zimmer, wo der Mann saß.

„Ist das der Mann, den Sie von dem Juwelierladen weglaufen sahen?"

David nickte. „Ja, das ist er." „Kein Zweifel?"

„Nicht der geringste", sagte David. „Vielen Dank."

Und der Beamte sagte zu einem Aufseher: „Abführen."

Der Mann starrte David an, und da tat er David leid.

Er war verantwortlich dafür, daß er nun ins Gefängnis kam.

Aber David konnte nun einmal nicht lügen.

Eine Woche später bekam David einen seltsamen Anruf.

Eine Stimme am Telefon sagte: „Hier spricht der Mann, den Sie als den Räuber identifiziert haben."

David war sehr überrascht. „Ach ja? Und Was wollen. Sie?"

„Ich bin gegen Kaution frei", sagte der Mann, „und die Verhandlung gegen mich ist nächste Woche. Ich muß mit Ihnen reden."

David wußte nicht, was das bedeuten sollte. „Worüber wollen Sie denn mit mir reden?"

„Sie haben einen schrecklichen Fehler gemacht" sagte der Mann.

„Wieso, was denn für einen Fehler?"

„Wo können wir uns treffen?" sagte der Mann und nannte gleich darauf ein Restaurant. „Kommen Sie morgen um eins dorthin."

David hielt das für keine so besonders gute Idee, aber falls er wirklich einen Fehler gemacht haben sollte, wollte er ihn korrigieren.

„Na gut", sagte er, „ich komme."

Am nächsten Tag um eins wartete er wie verabredet in dem Restaurant. Und gleich danach kam auch der Mann, den er als den Dieb identifiziert hatte.. Er setzte sich David gegenüber. „Ich heiße Henry", sagte der Mann. „Ich bin David."

„Ich weiß schon, wer Sie sind. Sie sind der, der versucht, mein Leben zu ruinieren."

„Nur, weil ich die Wahrheit gesagt habe?" Der kleine Mann beugte sich zu ihm vor. „Genau darum geht es. Was Sie gesagt haben, war nicht die Wahrheit. Sie haben gelogen. Sie haben der Polizei gesagt, ich hätte den Juwelierladen ausgeraubt." „Aber ich war es nicht."

„Ich habe Sie doch davonlaufen sehen", sagte David. „Daß ich wegrannte, weiß ich selber", sagte Henry, aber ich habe den Juwelierladen nicht ausgeraubt." David war verwirrt. „Warum sind Sie dann davongerannt?" Der kleine Mann sagte: „Schauen Sie, fast würde ich lieber ins Gefängnis gehen, als daß die Wahrheit herauskommt." Er zögerte ein wenig, bevor er weitersprach. „Ich bin verheiratet, wissen Sie. Sind Sie verheiratet?"

David dachte an Kathy und wie er fast mit ihr verheiratet gewesen wäre. „Nein", sagte er. „Sehen Sie, meine Frau ist furchtbar eifersüchtig. Ihre beste Freundin heißt Elsie. Elsie und ich fühlten uns sehr zueinander hingezogen, und eines führte zum anderen, und im Handumdrehen hatten wir eine Affäre miteinander. Sie wissen hoffentlich, daß so etwas immer mal vorkommt."

David dachte an den Abend mit Betty und nickte.. „Ja." „Wenn meine Frau erfahren würde, daß ich eine Affäre mit EIsie habe, würde sie uns beide umbringen. Also jedenfalls, als Sie mich vorbeirennen sahen, kam ich gerade aus Elsies Wohnung. Ich hörte, wie jemand eine Scheibe in dem Juwelierladen einschlug, und es war mir klar, daß gleich die Polizei da sein würde. Ich wollte aber nicht, daß sie auch mich befragte, weil dann, mein Name in die Zeitungen käme und meine Frau daraus erfahren hätte, was los war. Also rannte ich weg. Dabei haben Sie mich gesehen." David war verwundert. „Und das ist die Wahrheit?" „So wahr mir Gott helfe. Sie können Elsie anrufen und fragen. Nachdem Sie mich identifiziert haben, hat die Polizei ein Geständnis aus mir herausgeprügelt. Man zwang mich, das Protokoll zu unterschreiben, daß ich den Laden ausgeraubt hätte. Aber es ist eine Lüge. Ich bin unschuldig. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts gestohlen."

Da hätte ich den Mann ja um ein Haar ins Gefängnis gebracht, dachte David. „Das tut mir furchtbar leid", sagte er, „das konnte ich nicht wissen."

„Wenn Sie gegen mich aussagen, bekomme ich zehn Jahre Gefängnis. Mein ganzes Leben ist dann zerstört. Ich kann aber nicht sagen, wie es wirklich war, weil es dann auch meine Frau erfährt und sich scheiden läßt." „Was soll ich tun?" fragte David.

„Sie könnten aussagen, daß Sie doch nicht sicher seien, ob ich der Mann wäre, den Sie gesehen haben."

„Aber das wäre eine Lüge", sagte David.

„Es liegt bei Ihnen", sagte Henry. „Sie können entweder die Wahrheit sagen und damit einen Unschuldigen ins Gefängnis bringen, oder mit einer kleinen harmlosen Lüge meinen Ruf und meine Ehe retten. Es ruht auf Ihrem Gewissen."

Henry stand auf und ging.

Zwei Tage vor dem Prozeß wurde Henry noch einmal von einem Kriminalbeamten befragt.

„Also, hören Sie", sagte der Beamte, „Sie haben Schmuck im Wert von hunderttausend Dollar gestohlen. Seien Sie doch klug! Sie sagen uns, was Sie damit gemacht haben, und wir üben Nachsicht. Wir schlagen dem Richter ein mildes Urteil vor. „

„Ich kann Ihnen aber nichts sagen", rief Henry, „weil ich den Schmuck nicht gestohlen habe!"

„Ach, kommen Sie. Halten Sie uns doch nicht zum Narren. Sie haben die Beute natürlich irgendwo versteckt. Wenn Sie nicht reden; könnten Sie zehn Jahre kriegen. Wenn Sie es uns aber sagen, ist es vielleicht mit einem oder zwei Jahren getan. Also was meinen Sie?" Doch Henry wiederholte nur: „Wirklich, ich kann nichts sagen, weil ich nicht der Dieb dieses Schmucks bin."

Der Kriminalbeamte meinte kopfschüttelnd: „Na gut, wie Sie wollen. Aber Sie sind dumm, Sie machen es sich nur selbst schwer. Wir werden dem Richter raten, Sie ins tiefste Gefängnis schaffen und den Schlüssel dazu wegwerfen zu lassen."

Der Prozeß begann am Mittwochmorgen. David war als Zeuge für die Anklage geladen und erschienen. Er war sogar der einzige Zeuge überhaupt.

Der Richter kam herein und setzte sich auf seinen Platz. „Die Sitzung ist eröffnet!" rief der Saalwachtmeister. Es trat Stille ein.

Die Verhandlung begann. Der Staatsanwalt beschrieb den Hergang des Verbrechens und wie das Schaufenster des Juwelierladens eingeschlagen wurde, woraufhin der Dieb aus der Auslage Schmuck im Wert von hunderttausend Dollar raubte und davonrannte.

Henrys Anwalt hob dagegen als Verteidiger hervor, daß es keinen schlüssigen Beweis dafür gebe, sein Mandant, der Angeklagte, habe dieses Verbrechen begangen.

„Wir haben aber einen Zeugen", sagte der Staatsanwalt, „der gesehen hat, wie der Angeklagte vom Tatort wegrannte. Ich rufe ihn hiermit auf."

Davids Name wurde ausgerufen.

David begab sich in den Zeugenstand.

„Also", sagte der Staatsanwalt, „würden Sie dem Gericht zunächst Ihren Namen sagen?" David sagte ihn.

„Und was für eine Berufstätigkeit üben Sie aus?" „Im Augenblick bin ich arbeitslos", sagte David. Tatsache war, David war vor einer Woche entlassen worden, weil er entdeckt hatte, daß sein Vorgesetzter Geld von der Firma unterschlug. Aber als er das dem Firmenchef gemeldet hatte, hatte dieser ihn entlassen.

„Was taten Sie an dem fraglichen Abend der Tat?" fragte er Staatsanwalt.

„Ich hatte eine Stellenanzeige für eine Abendtätigkeit gelesen", sagte David, „und war dabei, mich dort zu bewerben." „Haben Sie die Stelle bekommen?" „Nein."

Die Stelle war bei einer Bäckerei gewesen. Er war hineingegangen und hatte dem Bäcker gesagt, hier in seiner Bäckerei sei es aber ziemlich schmutzig. Daraufhin hatte ihn der Bäcker gleich wieder hinausgeworfen.

„Sie waren also gerade bei diesem Juwelierladen, als dessen Schaufensterscheibe eingeworfen wurde?"

„Ja."

„Wenn Sie den Geschworenen den fraglichen Mann bitte zeigen wollen."

David wandte sich um und sah Henry an. Wenn Sie gegen mich aussagen, bekomme ich zehn Jahre Gefängnis. „Ich...", stotterte er. „Ja, was?"

„Ich..." Mein ganzes Leben ist dann zerstört.

„Wir können Sie nicht hören, Herr Zeuge! Würden Sie bitte auf den Mann zeigen, den Sie weglaufen sahen ?"

Und zum erstenmal in seinem Leben log David nun. „Er ist nicht hier", sagte er.

Der Staatsanwalt starrte ihn verblüfft an. „Wie war das?" „Er ist nicht hier", bekräftigte David.

Der Staatsanwalt fiel fast vom Stuhl. „Was, bitte, soll das heißen, er ist nicht hier? Sie haben ihn doch bereits identifiziert! Bei der Polizei haben Sie doch ausgesagt, daß dies dort der Mann war!" Und er deutete auf Henry. „Ich könnte mich geirrt haben", sagte David. Der Staatsanwalt traute seinen Ohren nicht. ganze Anklage hing von Davids Aussage ab.

„Wollen Sie dem Gericht weismachen, daß Sie noch vor einer Woche den Angeklagten einwandfrei als den Mann identifizierten, der von dem Juwelierladen weggerannt ist, ihn aber heute nicht mehr erkennen?"

„Richtig", sagte David. Sie können entweder die Wahrheit sagen und damit einen Unschuldigen ins Gefängnis bringen, oder mit einer kleinen harmlosen Lüge meinen Ruf und meine Ehe retten. „Nein, ich erkenne ihn nicht wieder."

Der Verteidiger war bereits aufgesprungen. „Euer Ehren, Einspruch! Der Staatsanwalt bedrängt den Zeugen. Wenn dieser erklärt, er kann den Angeklagten nicht identifizieren, dann kann er ihn eben nicht identifizieren."

„Einspruch stattgegeben", entschied der Richter und wandte sich an den Staatsanwalt. „Herr Staatsanwalt, der Zeuge hat bereits ausgesagt, daß er den Angeklagten nicht identifizieren kann. Fahren Sie also fort mit lhrem Fall."

Aber es gab ja nun keinen Fall mehr. Ohne Davids Aussage konnte Henry nicht einmal in die Nähe des Tatorts gebracht werden.

Der Staatsanwalt sah David böse an und erklärte angewidert: „Keine weiteren Fragen."

Der Verteidiger erhob sich. „Euer Ehren, noch niemals habe ich einen so unverfrorenen Versuch erlebt, einen Unschuldigen ins Gefängnis zu bringen. Der Staatsanwalt hat keinen Hauch von Beweis und will meinen Mandanten dessen ungeachtet verurteilt sehen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich wundere mich, wie er überhaupt die Stirn hatte, den Fall vor Gericht zu bringen. Ich beantrage die Einstellung des Verfahrens." Der Richter klopfte mit seinem Hammer. „Dem Antrag wird stattgegeben. Der Angeklagte ist hiermit frei. Meine Damen und Herren Geschworenen, das Gericht dankt Ihnen für Ihre Zeit. Die Sitzung ist geschlossen." Henry strahlte. Er sah dankbar zu David hinüber. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich gelogen, dachte David. Aber damit habe ich immerhin einem Mann seinen Ruf und seine Ehe gerettet. Das war es wert. Selbst George Washington hätte mir vergeben.

Er saß in seiner Wohnung und las die Stellenanzeigen. Er brauchte dringend Arbeit und hatte kein Geld mehr für die Miete.

Da klopfte es an der Tür. „Herein", rief er.

Die Tür ging auf und herein kam Henry.

„Hallo. Ich wollte mich nur noch kurz bedanken."

„Ich habe getan, was richtig war", sagte David. „Ich konnte doch keinen Unschuldigen ins Gefängnis schicken."

Henry schüttelte David die Hand. „Sie haben wirklich das Richtige getan. Und ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich das schätze."

„Ach, es war doch das mindeste, was ich tun konnte", meinte David. „Ich meine, wenn man an Sie und Ihre Ehe und Elsie denkt... da konnte ich das doch nicht zulassen." „Ich will mich auch erkenntlich zeigen", sagte Henry. Und er griff in die Tasche und holte zwei große Diamantarmbänder hervor. „Hier ist Ihr Anteil", sagte er. „Sie sind mindestens zwanzigtausend wert."

David starrte ungläubig auf die Schmuckstücke.

„Augenblick mal", sagte er, „soll das heißen, Sie haben den Schmuck tatsächlich gestohlen?"

Aber da war Henry schon wieder verschwunden.

David stand da und sah auf den Schmuck. Ich müßte das zur Polizei tragen, dachte er. So hätte es George Washington gemacht.

Doch dann dachte er: Ach, zum Teufel mit George Washington!

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