10. Der lange Schlaf

Als ich aufwachte, brauchte ich einen Moment, bis ich wußte, wo ich war. Mein Rasierzeug und alles übrige war noch in der Kabine 334, und ich hätte es holen sollen, aber das Wispern, das von den Schrauben kam, sagte mir, daß etwas geschah. Es war anders als am Tag vorher.

Schnell zog ich mich an und ging in den Korridor hinaus. Ein Mann von der Besatzung sagte mir, wir seien dabei, in Black Camp anzudocken, und das war die erste Kuppelstadt von Ma-rinia. Ich hatte also nur Zeit für ein kurzes Frühstück und einen Gang zum Schiffsfriseur, um mich rasieren zu lassen. Den Besuch in meiner ersten Kabine schob ich auf.

Beim Friseur war ich schnell fertig, ich fühlte mich wesentlich wohler, als ich sauber rasiert in den Speisesaal kam.

Auf dem Weg begegnete mir der kleine Graue. Zum erstenmal schien er mich nun zu sehen. Mit seinen blassen Augen starrte er mich ungläubig an, dann holte er tief Luft und machte den Mund auf, als wolle er etwas sagen. Aus seinem Gesicht wich jede Spur Farbe. Er zitterte sichtlich, drehte sich um und lief davon.

Noch ein Rätsel...

Warum war er so verblüfft, als er mich sah? Ich hatte keine Ahnung. Deshalb schob ich die Frage von mir und ging zum Frühstücken.

Eben war ich fertig mit dem Essen, als wir in Black Camp andockten. Die Strecke von zweitausend Meilen und ein wenig darüber hatten wir in dreiunddreißig Stunden zurückgelegt. Ich eilte zur Promenade und spähte durch ein tief eingelassenes Bullauge hinaus.

Mein erster Blick auf eine Stadt der Tiefsee! Es war auf spukhafte Art seltsam und wunderbar, und fast vergaß ich darüber das Geheimnis, das mein Leben umwob.

Die riesige Ebene radiolaren Schlicks schimmerte in einem kalten, blaß phosphoreszierenden Licht. Irgendein optischer Trick schuf hier den Eindruck einer unglaublichen Weite, aber durch die seltsamen Brechungsverhältnisse des Wassers beschränkte sich hier die Sichtweite auf nur wenige hundert Meter.

Der kalte Ozean über uns war undurchdringlich schwarz. Merkwürdige Welt der schimmernden Ebenen und glimmenden Berge unter einem tiefschwarzen »Himmel«.

Aber das alles war mir ja vertraut. Neu war nur Black Camp selbst, die riesige, halbkugelige Kuppel aus Edenit, die sich geisterhaft aus einer in sich schwach leuchtenden Ebene erhob. Die massive Blase aus einer Metallpanzerung schützte die Stadt vor dem ungeheuren Druck der See.

Die Dockvorrichtungen waren hier wie in den übrigen Tiefsee-Städten. Aus der Stadt heraus liefen Röhren unter dem Fels des Seebodens, darüber waren die Docks. Die Docks selbst waren magnetische Metallplattformen, auf die sich die Tiefseeschiffe niederließen; im Bauch öffnete sich eine Schleuse, die eine Verbindung mit den Röhren unten herstellte.

Von meinem Platz an der Promenade konnte ich nur die Stadtkuppel und die immer gleichbleibende Tiefsee erkennen. Ich wanderte hinab zu den Salons, um die Passagiere von Bord gehen zu sehen. Wir nahmen auch etwa wieder so viele Passagiere auf, wie das Schiff verließen.

Unter jenen, die von Bord gingen, war der kleine Graue. Er wußte, daß ich da war. Einmal bemerkte ich seine Augen, die an mir hingen. Aus dem Augenwinkel heraus erkannte ich seine Verblüffung, die fast Angst war. Dann schaute er weg und sah mich nicht wieder an.

Innerhalb weniger Minuten waren die Schleusen wieder geschlossen, und wir waren wieder unterwegs.

Ich eilte in meine alte Kabine. Da der kleine Graue nicht mehr da war, sah ich keinen Grund, nicht dorthin zu gehen. Wenn ich jetzt meine Karten richtig ausspielte, konnte ich vielleicht etwas über den Mann erfahren, der in der Kabine nebenan gewesen war.

Aber diese Chance bekam ich nie.

Sorglos sperrte ich meine Kabine auf und trat hinein.

Bläulicher Dampf wirbelte mir entgegen. Ich taumelte zurück, geblendet, keuchend, mit heftig tränenden Augen. Ich atmete nicht viel von diesem Gas ein, aber ich krümmte mich in einem fürchterlichen Erstickungsanfall.

Sofort war ein Steward neben mir. ,,Sir!« rief er. »Was ist los?« Dann erwischte er selbst einen Hauch von diesem Gas.

Wir taumelten beide weg. Er schlug auf irgendein Signalgerät in der Wand, und in der Ferne schrillte eine Alarmglocke. Ein Moment verging, dann erschienen etwa sechs Mann der Besatzung in Feuerwehruniform mit Masken und Helmen. Ohne Fragen zu stellen, rasten sie zur Kabine 334.

Zwei kamen einen Moment später heraus und schleppten mit sich einen steifen, wächsern aussehenden Körper, den Steward, der meine Kabine umgetauscht hatte.

Der Kapitän der Isle of Spain war ein taktvoller — und erbarmungsloser Mann.

Hätte ich etwas zu verbergen gehabt, so wäre ich bei ihm damit nicht durchgekommen. Ich war froh, daß ich ehrlich mit diesem bronzegesichtigen Mann reden konnte.

Ich erzählte ihm alles, angefangen von meinem erzwungenen Abgang von der Akademie, bis zum Tod meines Onkels, dem Mann im roten Hut und dem kleinen Grauen.

Ich hatte einen Blick auf den unglücklichen Steward geworfen, er war auf groteske Art steif und verbogen, und das Gas hatte sogar seine Haare gebleicht. Der Schiffsarzt nannte das Gas Lethine, und ich hatte schon davon gehört; es war absolut tödlich.

Wer auch immer hinter dem kleinen Grauen stand, er ging aufs Ganze.

Die Schiffsoffiziere handelten sofort. Als sie die ersten Worte meiner Geschichte gehört hatten, unterrichteten sie Black Camp über Radio, der kleine Graue müsse sofort festgenommen werden. Aber ich hatte meine Zweifel und meinte, der Mann ließe sich nicht leicht finden.

Unglücklicher Steward! Der Kapitän vermutete, daß er in die Kabine 334 zurückgekehrt war, weil er wissen wollte, wovor ich geflüchtet war und wofür ich sogar den doppelten Fahrpreis bezahlte. Seine Neugier war sein Verhängnis gewesen.

Endlich war die ganze Vernehmung vorbei. Der Kapitän nahm mir das Versprechen ab, daß ich bleiben sollte, wo ich war, wenn wir in Thetis ankamen, so daß die Polizei von Mari-nia mich ausfragen konnte, wenn sie das wollte, und danach konnte ich mich frei bewegen.

Ich kehrte nicht in die Kabine 334 zurück. Meine Sachen wurden in den neuen Raum gebracht, und ich hoffte inständig, daß damit die Möglichkeiten meiner unbekannten Feinde erschöpft seien.

In Seven Dome sollten wir spät nachts ankommen, aber ich war sehr müde und beschloß zu schlafen. Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir. Deshalb ging ich frühzeitig in meine Kabine. Aber zum Schlafen kam ich noch nicht.

Es klopfte an meiner Tür, ich machte sie auf. Ein Steward entschuldigte sich und reichte mir einen scharlachroten Umschlag auf einem Silbertablett. »Für Sie, Mr. Eden«, sagte er. »Entschuldigen Sie bitte die Störung.«

Ich riß den Umschlag auf und las:

Sehr geehrter Mister Eden,

es tut mir leid, von Ihren Schwierigkeiten zu hören. Sie wissen vielleicht, daß Ihr Vater, Ihr Onkel und ich einmal sehr eng verbunden waren. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.

Bitte, kommen Sie zu meiner Suite auf Deck A, wenn Sie diesen Brief erhalten haben.

Ich starrte den Brief ungläubig an, denn die Unterschrift lautete: Hallam Sperry.

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