FÜNFZEHNTES KAPITEL, in welchem die Nützlichkeit richtigen Atmens auf das Eindringlichste bewiesen wird

In Gesellschaft Lisankas (an »Lizzy« mochte Fandorin sich nicht gewöhnen) war es gleich angenehm zu reden und zu schweigen.

Rhythmisch schaukelte der Waggon über die Schienenstöße; der Zug fegte in atemberaubendem Tempo, mit einem gelegentlichen Fauchen aus seiner Dampfpfeife, über die verschlafenen, im Morgennebel schwimmenden Waldaihöhen; Lisanka und Erast saßen im Coupe N° 1 auf ihren weichen Stühlen und schwiegen. Zumeist sahen sie aus dem Fenster, von Zeit zu Zeit jedoch schauten sie einander an, und wenn die Blicke sich zufällig kreuzten, war ihnen das nicht etwa peinlich, im Gegenteil, es war lustig und schön. Fandorin gab sich am Ende Mühe, den Kopf so schnell herumzudrehen, daß er den Blick von Lisanka noch erhaschte; wenn es ihm gelang, prustete sie leise.

Reden mußte man schon deswegen nicht, weil man den Herrn Baron hätte wecken können, der friedlich schlummernd auf dem Diwan saß. Noch vor kurzem hatten der Wirkliche Geheimrat und Fandorin eine angeregte Diskussion zur Balkanfrage geführt, doch dann, beinahe mitten im Satz, begann der alte Herr zu schnarchen, und der Kopf sank ihm auf die Brust. Dort hing er nun und schaukelte im Takt der ratternden Räder - ta-dam, ta-dam - hin und her.

Lisanka schien sich still über etwas zu freuen. »Sie sind so klug und wissen alles«, erklärte sie auf Fandorins fragenden

Blick. »Wie Sie Papa vorhin über Midhat Pascha und Abd ul- Hamid Bescheid gegeben haben . Ich dagegen bin schrecklich dumm, das können Sie sich nicht vorstellen.«

»Sie können gar nicht dumm sein«, flüsterte Fandorin aus tiefster Überzeugung.

»Ach, wenn es nicht so peinlich wäre, könnte ich Ihnen was erzählen ... Ach, ich tu’s einfach. Ich habe das Gefühl, Sie werden mich nicht auslachen. Oder höchstens mit mir zusammen. Stimmt’s?«

»Stimmt!« rief Fandorin, und da der Baron im Schlaf mit den Brauen zuckte, fand der junge Mann zum Flüsterton zurück. »Ich werde Sie niemals auslachen.«

»Also gut, versprochen! Damals, nach Ihrem Besuch, hab ich mir so allerlei ausgemalt, wissen Sie . Ein hübsches Märchen, mit viel Gefühl und tragischem Ende, wie sich’s gehört. Das Ende der >Armen Lisa< von Karamsin, entsinnen Sie sich? Lisa und Erast? Den Namen fand ich schon immer wunderschön. Jedenfalls hab ich mir vorgestellt, wie ich im Sarg liege, ertrunken oder an der Schwindsucht gestorben, bleich und schön anzusehen, gebettet auf weißen Rosen, und Sie stehen am Sarg und schluchzen, Papa und Mama genauso, und Emma schneuzt sich in ihr Taschentuch. Kurios, nicht wahr?«

Fandorin bestätigte es ihr.

»Was für ein Zufall, daß wir uns auf dem Bahnsteig begegnet sind. Wir waren ma tante besuchen und sollten eigentlich schon gestern zurückfahren, aber Papa hatte noch dienstlich im Ministerium zu tun, und wir haben die Billetts umgetauscht. Ist das nicht ein erstaunlicher Zufall?«

»Wieso Zufall?« Fandorin tat verwundert. »Das war ein Fingerzeig des Schicksals.«

Draußen vor dem Fenster gab es einen seltsamen Himmel zu sehen: tiefschwarz mit rotem Saum am Horizont. An die Depeschen, die fahl schimmernd auf dem Tisch herumlagen, dachte Fandorin in diesem Moment nicht mehr.

Eine Droschke beförderte Fandorin vom Bahnhof Nikola- jewskaja quer durch das morgendliche Moskau nach Cha- mowniki. Der Tag versprach klar und freundlich zu werden; Lisankas jauchzende Abschiedsworte (»Sie kommen doch ganz gewiß heute abend? Versprochen?«) klangen ihm noch süß in den Ohren.

Vom Zeitplan her fügte sich alles ganz prächtig. Zuerst einmal ins Asternat, zur Lady. In die Gendarmerieverwaltung, zum Gespräch mit dem Vorsteher, besser hinterher - dann konnte er, falls er von Lady Aster etwas Wichtiges erfuhr, dem Generaladjutanten Misinow gleich telegrafieren. Andererseits könnten während der Nacht die restlichen Depeschen aus den Gesandtschaften eingetroffen sein. Fandorin entnahm seinem neuen silbernen Zigarettenetui eine Papirossa und zündete sie sich ungeschickt an. Sollte er vielleicht doch lieber erst zur Gendarmerie fahren? Aber das Pferdchen trabte ja schon fröhlich Richtung Ostoshenka, jetzt noch umzudrehen wäre töricht gewesen. Sei’s drum: Erst die Lady, dann das Amt, dann nach Hause, ein paar Sachen zusammenpacken und in einem ordentlichen Hotel Quartier nehmen, umziehen, Blumen kaufen - und dann, so gegen sechs, auf in die Malaja Nikitskaja, zu den Ewert-Ko- lokolzews! Erast Fandorin lächelte selig und sang: »Er war leider nur Titularrat und sie Generals liebstes Kind. Er tat ihr die Liebe erklären, doch sie war vor Hochmut ganz blind .«

Da war auch schon das Haus mit dem eisernen Tor, dem gestreiften Pförtnerhäuschen und dem blau uniformierten Bediensteten darin.

Fandorin beugte sich etwas nach vorn und rief: »Wo finde ich Lady Aster? Im Asternat oder drüben?«

»Um die Tageszeit pflegt sie drüben in der Direktion zu sein«, rapportierte der Torwächter brav, und die Kutsche ratterte weiter, in die stille Seitenstraße hinein.

Vor dem zweistöckigen Direktionsgebäude hieß Fando- rin den Kutscher warten, wobei er ihm geduldig zu sein empfahl: Das Gespräch konnte sich hinziehen.

Der nämliche aufgeblasene Türhüter, den die Lady mit Timothy angesprochen hatte, lungerte vor der Tür herum, diesmal ließ er sich allerdings nicht die Sonne auf den Pelz scheinen, sondern war in den Schatten gerückt; die Junisonne stach um einiges heftiger als jene im Mai.

Doch verhielt sich dieser »Timothy« deutlich anders als damals, bewies geradezu psychologisches Feingefühl: Er nahm die Mütze ab, verbeugte sich und fragte mit reichlich Zucker in der Stimme, wen zu melden genehm sei. Irgend etwas an Fandorins Erscheinung mußte sich in den letzten vier Wochen so verändert haben, daß der im Stamme der Türhüter tief verwurzelte Instinkt, zuzuschnappen und den Einlaß zu verwehren, nicht mehr ansprang.

»Nicht nötig, ich kenne den Weg.«

Timothy dienerte, sperrte anstandslos die Tür auf und ließ den Besucher an sich vorbei in das mit Leinwand tapezierte Foyer, von wo Fandorin den im hellen Sonnenlicht liegenden Korridor entlang zu der bekannten weißgoldenen Tür gelangte. Sie ging auf, noch bevor er angeklopft hatte, ein hochaufgeschossenes Subjekt in gleicher blauer Livree und weißen Strümpfen, wie Timothy sie trug, sah den Gast fragend an.

»Staatsbeamter Fandorin, Dritte Abteilung, in dringender Angelegenheit«, sagte Fandorin streng, doch das Pferdegesicht des Lakaien blieb ungerührt, Fandorin mußte sich noch einmal auf englisch erklären: »State police, inspector Fandorin, on urgent officialBusiness.«

Wieder zuckte kein Muskel in dem versteinerten Gesicht, doch schien der Sinn des Gesagten angekommen zu sein: Affektiert zog der Lakai das Kinn zur Brust und verschwand hinter der Tür, die er fest hinter sich zuzog.

Nach einer halben Minute ging sie von neuem auf. Lady Aster persönlich stand auf der Schwelle. Der Anblick des alten Bekannten malte ein freudiges Lächeln auf ihr Gesicht.

»Ach, Sie sind es, mein lieber Junge. Andrew meinte, irgendein hoher Herr von der Geheimpolizei. Treten Sie ein! Wie geht es Ihnen? Sie sehen erschöpft aus!«

»Ich komme eben aus Petersburg«, erklärte Fandorin, während er das Arbeitszimmer der Lady betrat. »Vom Bahnhof geradewegs zu Ihnen, die Sache pressiert.«

»Ach ja.« Die Baronesse nickte traurig, während sie sich in ihren Sessel setzte und den Gast mit einer Geste gegenüber Platz nehmen ließ. »Bestimmt wünschen Sie mit mir über den lieben Gerald Cunningham zu sprechen. Es ist wie ein böser Traum, ich kann es nicht begreifen. Andrew, nimm dem Herrn doch bitte den Polizeihut ab. Mein alter Diener, vor kurzem aus England gekommen. Der wackere Andrew, wie hatte ich ihn vermißt! Geh, Andrew, geh, mein Freund, ich brauche dich vorerst nicht mehr.«

Der knochige Andrew, der dem Gast weder wacker noch geheuer vorkam, tat eine Verbeugung und entfernte sich. Fandorin suchte in dem harten Lehnstuhl eine bequeme Sitzposition zu finden - die Unterhaltung versprach länger zu dauern.

»Mylady, ich bin tief betrübt ob des Vorgefallenen, doch leider mußten wir feststellen, daß Herr Cunningham, ihr Intimus und langjähriger Gehilfe, in kriminelle Geschichten größeren Ausmaßes verstrickt war.«

»Und jetzt wollen Sie vermutlich meine russischen Aster- nate schließen?« fragte die Lady leise. »Herrje, was soll aus den Kindern werden? Sie haben sich doch gerade erst an ein normales Leben zu gewöhnen begonnen. Und wie viele Talente in ihnen schlummern! Ich werde Seiner Majestät ein Bittschreiben senden. Vielleicht wird mir gestattet sein, meine Zöglinge mit ins Ausland zu nehmen.«

»Ihre Befürchtungen sind ganz umsonst«, sagte Fandorin milde. »Den Asternaten wird gewiß nichts geschehen. Es wäre doch der reinste Frevel. Nein, ich möchte Ihnen einige Fragen zu Cunningham stellen, weiter nichts.«

»Selbstverständlich! Fragen Sie, was Sie wollen. Gerald, der arme Teufel . Wissen Sie, er stammte aus bestem Hause, doch seine Eltern erlitten auf der Rückreise aus Indien Schiffbruch, und so wurde der Junge mit elf Jahren Waise. Bei uns in England herrschen unerbittliche Erbfolgegesetze, der älteste Sohn ist Alleinerbe, Titel und Vermögen fallen ausschließlich ihm zu, und die Jüngeren gehen häufig vollkommen leer aus. Gerald war der jüngste Sohn eines jüngsten Sohnes, mittellos und ohne Bleibe, die Verwandten scherten sich nicht um ihn. Hier, sehen Sie, ich schreibe gerade einen Beileidsbrief an seinen Onkel, ein nichtsnutziger Gentleman, der sich für Gerald nie interessiert hat. Aber was hilft es, wir Engländer legen nun einmal großen Wert auf Formalitäten!« Lady Aster ließ einen Briefbogen sehen, der mit engen, altmodischen Schriftzügen voller Schnörkel und Kringel gefüllt war. »Jedenfalls habe ich das Kind damals zu mir genommen. Gerald legte eine hervorragende mathematische Begabung an den Tag, ich meinte damals, er müßte

Professor werden, doch sein unsteter Geist und sein Ehrgeiz standen einer Gelehrtenlaufbahn entgegen. Bald bemerkte ich, daß der Junge bei den anderen Kindern große Autorität genoß, es gefiel ihm, Anstifter zu sein. Er war eine Führernatur: mit seltener Willenskraft, Disziplin, einem untrüglichen Gespür für die Stärken und Schwächen von Menschen. Im Asternat von Manchester wurde er zum Sprecher gewählt. Ich hatte erwartet, daß Gerald in den Staatsdienst eintreten oder sich mit Politik befassen würde - aus ihm wäre ein hervorragender Kolonialbeamter geworden, später vielleicht sogar ein Generalgouverneur. Wie groß war mein Erstaunen, als er den Wunsch äußerte, bei mir zu bleiben und Erziehungsarbeit zu leisten!«

»Ja, freilich!« nickte Fandorin. »So bekam er Gelegenheit, auf die ungefestigten kindlichen Naturen Einfluß zu nehmen und später Kontakte zu den Absolventen aufzubauen.« Fandorin hielt inne, ihm war plötzlich ein Einfall gekommen. Aber ja! Unbegreiflich, daß er das nicht früher erkannt hatte!

»Schon bald war Gerald für mich unersetzlich geworden«, fuhr die Lady fort; den veränderten Gesichtsausdruck ihres Gegenüber schien sie nicht zu bemerken. »Wie selbstlos und unermüdlich er tätig war! Und dazu dieses einzigartige linguistische Talent: Ohne ihn wäre ich über die Arbeit der Filialen in so vielen Ländern nie und nimmer auf dem laufenden geblieben. Daß ihm dieser unmäßige Ehrgeiz zusetzte war mir klar. Das ist ein Kindheitstrauma: den Anverwandten beweisen zu wollen, daß man es auch ohne sie zu etwas bringt. Ich fühlte diesen seltsamen Zwiespalt, fühlte ihn sehr genau: Bei seinen Fähigkeiten und Ambitionen mochte er sich mit der bescheidenen Rolle eines Pädagogen nie zufriedengeben, da konnte das Gehalt noch so anständig sein.«

Fandorin hörte nicht mehr zu. Als wäre in seinem Kopf eine Glühbirne angegangen - alles, was zuvor im Dunkeln gewesen, lag nun im hellen Licht. Alles paßte zusammen! Der wer weiß woher aufgetauchte Senator Dobbs, der französische Admiral »ohne Gedächtnis«, der türkische Effendi ungewisser Abkunft, na, und der tote Brilling auch, jawohl! Überirdische Wesen? Marsmenschen? Invasoren aus dem Jenseits? Pustekuchen! Alle waren sie Asternatszöglinge! Findelkinder! Ausgesetzte! Wohlgemerkt nicht in dem Sinne, daß sie heimlich vor die Asternatstür gelegt worden wären, nein, umgekehrt: Von hier hatte man sie ausgesetzt - in alle Welt! Jeder war in trefflicher Weise ausgebildet worden, jeder verfügte über ein geschickt hervorgekitzeltes, sorgfältig gehegtes Talent! Gewiß nicht zufällig hatte man den kleinen Jean ins Fahrwasser einer französischen Fregatte geschoben - der Knabe mochte die Anlagen zu einem überdurchschnittlichen Seemann gehabt haben. Es mußte allerdings Gründe geben, weshalb man darauf bedacht war, die Herkunft des Wunderkinds zu verschleiern. Und diese lagen auf der Hand. Hätte die Welt erfahren, wieviel glänzende Karrieristen aus den Brutkästen der Lady Aster hervorgingen, sie wäre auf der Hut gewesen! So aber schien sich alles ganz von selbst zu ergeben. Ein sanfter Stoß in die richtige Richtung - und das Talent kam zum Vorschein. Darum also errang jedes einzelne Exemplar aus der Kohorte der »Waisen« in seiner Laufbahn so durchschlagende Erfolge! Und darum war ihnen allen so viel daran gelegen, Cunningham von ihren Karrieresprüngen zu berichten - so attestierten sie ihre Prosperität und daß die richtige Wahl getroffen war!

Und es verstand sich von selbst, daß all diese Genies ihrer alten Kommune gegenüber absolute Loyalität bewiesen, es war ihre Familie, die einzige, die sie je hatten - sie war es gewesen, die sie vor der grausamen Welt in Schutz genommen, gehegt und gepflegt und ihnen ihr unverwechselbares Ich entdeckt hatte. Fast viertausend in alle Welt verstreute Genies - fürwahr eine stattliche Familie! Es lebe Cunning- ham, es lebe die »Führernatur«! Aber nein, Moment .

»Wie alt war Cunningham eigentlich, Mylady?« fragte Fandorin mit gerunzelter Stirn.

»Dreiunddreißig«, gab die Lady, ohne zu zögern, Auskunft. »Am 16. Oktober wäre er vierunddreißig geworden. An seinem Geburtstag pflegte Gerald eine Feier für die Kinder zu veranstalten, und nicht er bekam Geschenke, sondern die Kinder wurden von ihm beschenkt. Das muß ihn fast sein ganzes Gehalt gekostet haben .«

»Nein, das haut nicht hin!« rief Fandorin aufs höchste bestürzt.

»Was haut nicht hin, mein Junge?« fragte die Lady erstaunt.

»Entrepide ist vor zwanzig Jahren aus dem Meer gefischt worden! Da war Cunningham gerade dreizehn. Und Dobbs scheffelte sein Vermögen vor einem viertel Jahrhundert, als Cunningham noch nicht einmal Waise war! Er kann es nicht sein!«

»Wovon reden Sie?« Die Engländerin konnte Fandorins Gedanken nicht folgen, zwinkerte irritiert mit ihren blauen Augen.

Fandorin starrte die Lady an, wortlos, von einem furchtbaren Verdacht erfüllt.

»Also nicht Cunningham«, flüsterte er. »Sondern . Sie! Sie waren vor zwanzig und fünfundzwanzig und vierzig Jahren auf der Welt! Wer, wenn nicht Sie! Cunningham ist in der Tat nur Ihre rechte Hand gewesen. Vierzigtausend Zöglinge - wenn man es recht bedenkt, alles Ihre Kinder! >Sie hat mehr für uns beide getan als jede Mutter<, habe ich Morbid und Franz sagen hören, und jetzt wird mir klar, daß Sie gemeint waren und nicht Amalia! Einem jedem verhalfen Sie zum Lebensziel, einen jeden brachten Sie >auf den richtigen Weg!< Unglaublich ist das, ganz unglaublich!« Fandorin stöhnte wie unter Schmerzen. »Sie haben Ihre pädagogische Theorie von Anfang an dazu mißbraucht, eine Weltverschwörung anzuzetteln!«

»Na! Nun nicht von Anfang an«, entgegnete Lady Aster seelenruhig; mit ihr war eine Wandlung vor sich gegangen, die schwer zu beschreiben, doch nicht zu übersehen war. Nicht mehr die sanfte, friedvolle Alte saß Fandorin gegenüber. Ihre Augen sprühten vor Esprit, Selbstgerechtigkeit und unbeugsamer Kraft. »Zuerst wollte ich wirklich nichts anderes, als die armen, obdachlosen Menschenkinder zu retten. Ich wollte sie glücklich machen - so viele, wie ich konnte. Hundert oder tausend, gleichviel. Doch meine Bemühungen waren wie ein Tropfen Wasser auf den heißen Stein. Während ich ein Kind rettete, wurden Tausende und Abertausende dieser kleinen, mit Gottes Funken beseelten Menschen vom grausamen Moloch der Gesellschaft verschlungen. Ich begriff, daß meine Arbeit sinnlos war. Man kann das Meer nicht mit dem Löffel ausschöpfen.« Lady Asters Stimme gewann immer mehr an Festigkeit, die gebeugten Schultern strafften sich. »Und außerdem verstand ich, daß der Herrgott mich zu mehr befugt hat. Ich kann nicht nur eine Handvoll Waisenkinder retten, ich kann die Welt retten. Vielleicht nicht zu Lebzeiten, vielleicht erst zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre nach meinem Tod. Das ist meine Berufung, meine Mission. Jedes meiner Kinder ist ein Juwel, ist die Krone der Schöpfung, ein Ritter des neuen Menschentums. Jedes erbringt unermeßlichen Nutzen, wird mit seinem Leben die Welt zum Besseren wenden. Sie verfassen weise Gesetze, entlocken der Natur ihre Geheimnisse, schaffen erlesene Kunstwerke. Von Jahr zu Jahr werden es mehr, und es kommt der Tag, da haben sie diese garstige, ungerechte, verbrecherische Welt verwandelt!«

»Erzählen Sie mir doch nichts von Geheimnissen der Natur und erlesenen Kunstwerken!« versetzte Fandorin sarkastisch. »Ihnen geht es einzig um Macht. Ich habe doch die Listen gesehen: Da waren nichts als Generäle und künftige Minister.«

Die Lady lächelte herablassend.

»Mein Lieber, Sie müssen wissen, daß Cunningham bei mir lediglich für die Kategorie F zuständig war - eine von vielen. F bedeutet Force, also das, was die Mechanismen der Machtausübung im engen Sinne betrifft: Politik, Staatsapparat, Militär, Polizei und so weiter. Daneben gibt es die Kategorie S - Science, die Kategorie A - Arts, die Kategorie B - Business. Und andere. Ich habe in den vierzig Jahren meiner pädagogischen Tätigkeit sechszehntausendachthundertdreiundneunzig Menschen auf den richtigen Weg geführt. Sehen Sie denn nicht, welch rasanten Aufschwung Wissenschaft, Technik, Kunst, Jurisprudenz und Industrie in den letzten Jahrzehnten genommen haben? Sehen Sie nicht, daß die Welt seit Mitte unseres neunzehnten Jahrhunderts besser, vernünftiger, schöner geworden ist? Es vollzieht sich eine wahrhaftige, friedliche Revolution! Und sie ist absolut notwendig, andernfalls wird die Welt, so ungerecht, wie sie eingerichtet ist, von einer anderen, blutigen Revolution heimgesucht werden, die die Menschheit um Jahrhunderte zurückwürfe. Tag für Tag tun meine Kinder das Ihre, die Welt zu retten. Und warten Sie ab, was erst in kommenden Jahren passieren wird. Sie hatten mich übrigens gefragt, warum ich keine Mädchen aufnehme. Ich gestehe, Sie damals belogen zu haben. Ich nehme Mädchen. Allerdings nur wenige. In der Schweiz gibt es ein spezielles Asternat, an dem meine teuren Töchter erzogen werden. Ein ganz exquisites Material, womöglich kostbarer als meine Söhne. Mit einer von ihnen hatten Sie bereits das Vergnügen.« Die Lady zeigte ein verschlagenes Lächeln. »Derzeit führt sie sich freilich etwas unvernünftig auf, hat ihre Pflicht vorübergehend aus den Augen verloren. Das kommt vor bei jungen Frauen. Doch sie wird zu mir zurückfinden, dessen bin ich gewiß. Ich kenne meine Mädchen.«

Fandorin entnahm diesen Worten, daß Surow Amalia wohl doch nicht erschossen, sondern irgendwohin entführt hatte; dennoch rührte die Erwähnung dieser Person an alte Wunden und dämpfte vorübergehend die - allerdings gehörige - Bestürzung, die die Ausführungen der Baronesse bei ihm ausgelöst hatten.

»Ein edler Zweck ist freilich aller Ehren wert!« brauste er auf. »Aber wie steht es um die Mittel? Einen Menschen zu töten ist für Sie dasselbe, wie eine Mücke zu erschlagen!«

»Das ist nicht wahr!« entrüstete sich die Lady. »Jedes vergeudete Leben bedauere ich zutiefst. Doch man kann die Augiasställe nicht ausmisten, ohne sich schmutzig zu machen. Ein Toter läßt tausend, ach, eine Million andere leben.«

»Kokorin zum Beispiel, wen hat der leben lassen?« erkundigte sich Fandorin bissig.

»Mit dem Geld dieses nichtsnutzigen jungen Lebemannes forme ich Tausende helle Köpfe für Rußland und die Welt. Nein, mein Lieber, da kann man nichts machen. Nicht ich habe die Welt so grausam eingerichtet, alles in ihr hat seinen Preis, und im konkreten Fall halte ich ihn für durchaus angemessen.«

»Und wofür mußte Achtyrzew sterben?«

»Erstens war er viel zu geschwätzig. Zweitens hat er Ama- lia über die Maßen zugesetzt. Und drittens haben Sie Iwan Brilling doch selbst auf das Erdöl in Baku hingewiesen. Niemand wird Achtyrzews Testament anfechten können, es bleibt in Kraft.«

»Polizeiliche Ermittlungen fürchteten Sie nicht?«

»Ach wo!« sagte die Lady schulterzuckend. »Ich wußte, mein lieber Brilling würde alles in rechte Bahnen lenken. Ihm war diese glänzende analytische und organisatorische Begabung in die Wiege gelegt. Was für eine Tragödie, daß er nicht mehr unter uns weilt. Brilling hätte es ideal hinbekommen, wäre da nicht ein überaus eifriger junger Gentleman gewesen. Da haben wir alle großes, großes Pech gehabt.«

An dieser Stelle fiel es Fandorin endlich ein, mißtrauisch zu werden.

»Mylady, sagen Sie mal ... Warum sind Sie eigentlich so offenherzig zu mir? Sie glauben doch nicht etwa, mich für Ihren Orden missionieren zu können? Liebend gern wäre ich auf Ihrer Seite, Mylady, doch bei diesen Methoden, bei all dem vergossenen Blut .«

»Nein, mein Freund«, unterbrach ihn die Lady mit einem milden Lächeln, »ich mache mir keine Hoffnungen, daß meine Propaganda bei Ihnen auf fruchtbaren Boden fallen könnte. Leider sind wir uns allzu spät begegnet: Ihr Geist, Ihr Charakter, Ihr ganzes moralisches Wertesystem sind bereits so festgefügt, daß sich kaum noch etwas ändern läßt. Meine Offenherzigkeit Ihnen gegenüber hat dreierlei Gründe. Erstens sind Sie ein blitzgescheiter junger Mann und mir ausgesprochen sympathisch. Ich möchte keinesfalls, daß Sie ein Monster in mir sehen. Zweitens waren Sie so leichtsinnig, vom Bahnhof direkt hierherzufahren, ohne erst

Ihre Vorgesetzten in Kenntnis zu setzen. Na, und drittens habe ich Sie nicht umsonst in diesem schrecklich unbequemen Sessel mit so seltsam geschwungener Lehne plaziert.«

Sie tat eine winzige Handbewegung, und aus den hohen Armstützen sprangen zwei Stahlbänder hervor, die Fando- rin fest an die Sessellehne zogen. Ohne noch recht zu begreifen, wie ihm geschah, versuchte er aufzuspringen, konnte sich jedoch überhaupt nicht mehr rühren; die Füße des Sessels schienen mit dem Fußboden verwachsen zu sein.

Die Lady schwang ein Glöckchen. Im selben Augenblick stand Andrew im Zimmer, so als hätte er mit gespitzten Ohren hinter der Tür gelauert.

»Andrew, mein Bester, hol bitte rasch Professor Blank«, trug die Lady ihm auf. »Du kannst ihm unterwegs die Sachlage erläutern. Ach ja, er soll Chloroform mitbringen. Und Timothy soll sich um den Kutscher kümmern.« Sie seufzte traurig. »Da kommen wir leider nicht drum herum.«

Andrew verbeugte sich wortlos und trat ab. Im Kabinett wurde nicht mehr gesprochen: Keuchend rutschte Fandorin in seiner stählernen Falle hin und her, versuchte sich zu drehen, um an die rettende Herstal hinter seinem Rücken zu gelangen, doch die verdammten Stahlbänder waren so fest gespannt, daß er die Idee getrost vergessen konnte. Teilnahmsvoll beobachtete die Lady ihren zappelnden Gast und schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf.

Wenig später hallten eilige Schritte vom Korridor her, und zwei Männer traten ein: Professor Blank, das physikalische Genie, und der stumme Andrew.

Der Professor sah den Gefangenen kurz an und fragte die Lady auf englisch, ob »es« etwas Ernstes sei.

»Ja, ziemlich ernst«, sagte sie und seufzte. »Aber nicht hoffnungslos. Natürlich müssen wir ein paar Vorkehrungen treffen. Ich möchte nur nicht unnötig zum äußersten Mittel greifen. Und so entsann ich mich, mein lieber Junge, daß Sie schon lange von einem Experiment am Menschenmaterial träumen. Die Gelegenheit scheint günstig.«

»Eigentlich fühle ich mich für die Arbeit am menschlichen Hirn noch nicht vollends gewappnet«, sagte Blank unschlüssig und betrachtete Fandorin, der still geworden war. »Wobei es andererseits ein Frevel wäre, solch eine Chance ungenutzt zu lassen.«

»Betäubt werden muß er in jedem Fall«, bemerkte die Baronesse. »Haben Sie das Chloroform dabei?«

»Sehr wohl, das haben wir gleich.« Der Professor zog aus seiner geräumigen Kitteltasche ein Fläschchen und goß reichlich Flüssigkeit daraus auf sein Taschentuch. Sofort stieg der beißende medizinische Geruch in Fandorins Nase. Er wollte protestieren, doch Andrew war mit zwei Sätzen neben dem Sessel und packte den Gefangenen mit unerhörter Kraft bei der Kehle.

»Verzeihen Sie, mein armer Junge«, sagte die Lady und wandte sich ab.

Blank zog eine goldene Taschenuhr aus der Westentasche, sah über die Ränder seiner Brille hinweg auf das Zifferblatt und drückte Fandorin den weißen Lappen fest ins Gesicht. Nun war die Stunde gekommen, da ihm die lebensspendende Lehre des unvergleichlichen Chandra Johnson zum Nutzen gereichen sollte! Er beschloß, das tückische Aroma, dem so gar kein Prana innewohnte, nicht an sich heranzulassen. Eine Übung im Atemanhalten war ohnedies wieder einmal fällig.

»Eine Minute dürfte mehr als genug sein!« verkündete der Wissenschaftler, während er das Tuch auf Mund und Nase des Delinquenten gepreßt hielt.

Uuund acht, uuund neun, uuund zehn! zählte Erast Fan- dorin in Gedanken, wobei er nicht vergaß, krampfhaft den Mund aufzureißen, die Augen hervorquellen zu lassen und Krämpfe zu mimen. Übrigens wäre ihm, auch wenn er gewollt hätte, das Atmen schwergefallen, da Andrew seinen Hals mit eisernem Griff umklammerte.

Inzwischen war er schon über die Zahl achtzig hinausgelangt, die Lungen hielten der Gier einzuatmen heldenhaft stand, und immer noch kühlte der feuchte, widerliche Lappen sein glühendes Gesicht. Fünfachtzig, sechsachtzig, siebachtzig! schummelte Fandorin nun ein wenig beim Zählen, versuchte, den unerträglich langsam kriechenden Sekundenzeiger mit letzter Kraft anzuschieben. Und da erst fiel ihm ein, daß er nicht mehr zucken durfte - es war höchste Zeit, das Bewußtsein zu verlieren! Fandorin erschlaffte, hörte auf zu zappeln, ließ, um noch eins draufzugeben, den Unterkiefer hängen. Bei dreiundneunzig nahm Professor Blank den Lappen weg.

»Allerhand!« konstatierte er. »Dieser Organismus hat eine erstaunliche Widerstandskraft. Fast fünfundsiebzig Sekunden.«

Der »Ohnmächtige« ließ den Kopf zur Seite fallen und gab acht, daß sein Atem tief und gleichmäßig ging, obwohl der Sauerstoff begehrende Mund aufspringen und nach Luft schnappen wollte.

»Fertig, Mylady«, verkündete der Professor. »Wir können zum Experiment schreiten.«

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