LETZTES KAPITEL, in welchem unser Held von seiner Jugend Abschied nimmt

Fragen Sie einen beliebigen Einwohner unserer alten und ewigen Metropole, wann denn die beste Zeit sei, in den Stand der Ehe zu treten, und Sie werden selbstverständlich zur Antwort bekommen, daß ein vernünftiger und ernstzunehmender Mann, gewillt, sein Familienleben von allem Anfang an auf ein solides Fundament zu stellen, unbedingt gegen Ende September vor den Altar tritt, weil diese Jahreszeit nun einmal ideal dazu angetan ist, auf die lange und friedvolle Reise über den Ozean des Lebens zu gehen. Der September in Moskau ist satt und faul, mit goldenem Brokat und dem Purpurglanz des Ahorns geschmückt wie eine Kaufmannsfrau aus Samoskworetschje in ihrer schönsten Tracht. Legt man die Hochzeit auf den letzten Sonntag, so wird der Himmel gewiß blau sein, azurblau, und die Sonne wird mit Maß und Zartgefühl scheinen, so daß der Bräutigam nicht schwitzen muß unter seinem steifen, hochgeschlossenen Hemdkragen und dem engen schwarzen Frack, die Braut wiederum, in ihrem zauberhaften, luftig-ätherischen Gewand, für das kein passender Name zu denken ist, sich nicht etwa einen Schnupfen holt.

Für den Akt der Trauung die rechte Kirche zu finden ist eine wahre Wissenschaft. Gottlob hat, wer in der Stadt der tausend goldenen Kuppeln wohnt, die Qual der Wahl, wodurch die Verantwortung freilich nicht geringer wird. Alteingesessene Moskauer wissen zum Beispiel, daß es sich in

Maria Himmelfahrt an der Sretenka im alten Druckerviertel trefflich heiraten läßt: Die Vermählten leben lang, und sie sterben zuletzt am selben Tag. Wem freilich an einer vielköpfigen Nachkommenschaft liegt, der ist mit Sankt Nikolai am Großen Kreuz besser beraten, welch Gotteshaus sich in Kitai-Gorod über ein ganzes Geviert erstreckt. Wer Häuslichkeit und stilles Behagen über alles schätzt, der wähle Sankt Pimen im Wächterviertel, Staryje Worotniki. Ist er ein Mann des Militärs, der seine Tage jedoch mitnichten auf dem Feld der Ehre, sondern am heimischen Herd und nah den Seinen beschließen möchte, so sollte er sein Ehegelöbnis in Wspolje, Sankt Georg am Rain, ablegen. Und natürlich wird keine liebende Mutter ihrer Tochter gestatten, sich in Sankt Barbara an der Warwarka trauen zu lassen, um ihr restliches Leben in Qual und Pein, am Bettelstab zu verbringen.

Was indes die vornehmen und hochrangigen Herrschaften angeht, so schränkt sich die Auswahl für sie gehörig ein, denn die Kirche muß stattlich und geräumig genug sein, all die vielen Gäste unterzubringen, die man die Creme der Moskauer Gesellschaft nennt. Zu der Trauung nun, die eben in der pompösen Kirche von Slastoustino ihrem Ende zuging, hatte sich »ganz Moskau« eingefunden. Am Portal, vor der langen Kette von Equipagen drängten sich die Gaffer und zeigten einander die Kutsche Seiner Durchlaucht des Generalgouverneurs, Fürst Wladimir Andrejewitsch Dolgoruki, dessen Anwesenheit darauf schließen ließ, daß die Hochzeit ihrer Bedeutsamkeit nach ganz weit oben rangierte.

In die Kirche war man nur auf besondere Einladung gelangt - nichtsdestoweniger waren an die zweihundert Gäste zusammengekommen. Viele blitzende Uniformen gab es zu bestaunen, militärische ebenso wie zivile Ränge, viele entblößte Damenschultern, hochaufgetürmte Frisuren,

Ordensbänder, Sterne und Brillanten. In sämtlichen Kronleuchtern und Kandelabern brannten Kerzen. Das Ritual zog sich schon geraume Zeit hin, und die Anwesenden wurden allmählich müde. Zwar zeigte sich die Weiblichkeit, gleich welchen Alters und Familienstandes, ausnahmslos entzückt und ergriffen, die Herren indes, sichtlich leidend, waren bereits in halblaute Gespräche vertieft, deren Inhalt wenig hierher gehörte. Man hatte das junge Ehepaar schon zur Genüge diskutiert. Den Brautvater Alexander Apollodorowitsch von Ewert-Kolokolzew, seines Zeichens Wirklicher Geheimrat, kannte in Moskau ein jeder, und seine liebreizende Tochter Jelisaweta Alexandrowna war seit dem vorigen Jahr wiederholt auf Bällen gesichtet worden; so war es vor allem der Bräutigam, Erast Petrowitsch Fandorin, welcher Neugier erregte. Über ihn wußte man kaum etwas. Kein Hiesiger, soviel war sicher, ein Sprößling aus der Hauptstadt und in Moskau nur hin und wieder auf Grund höherer Mission zugange, ein Karrierist also, der vor dem Altar an Staatsmacht hinzugewann. Dem Range nach einstweilen bescheiden, doch sehr jung noch und rasch aufwärts strebend. In seinem Alter den Wladimir-Orden am Revers, das hatte schon etwas zu sagen. Klug war der alte Ewert-Kolokolzew, er investierte in die Zukunft.

Die Damen hingegen hatten eher den Blick für die Zartheit und Schönheit des jungen Paares, und sie konnten sich nicht satt sehen. Rührend der Bräutigam in seiner Aufregung, wurde abwechselnd rot und blaß, stotterte sich durch das Gelöbnis - mit einem Wort, allerliebst. Und erst die Braut, Lisanka Ewert-Kolokolzewa, sie erschien als ein ganz und gar überirdisches Geschöpf, das Herz schlug einem bis zum Halse, wenn man sie nur sah: das weiße, wolkige Kleid, der schwerelose Schleier, der Brautkranz aus sächsischen Moosröslein - alles genau so, wie es sein mußte. Im entscheidenden Moment, da die Brautleute aus dem Kelch mit dem Wein nippten und den Kuß tauschten, schien die Braut nicht im geringsten verlegen, im Gegenteil: Ein Strahlen ging ihr über das Gesicht, und sie flüsterte dem Bräutigam etwas zu, wovon ihm gleichfalls ein Lächeln auf die Lippen trat.

Was Lisanka Erast ins Ohr flüsterte, war dies: »Die arme Lisa hat sich’s überlegt. Sie geht doch nicht ins Wasser und heiratet lieber.«

Für Fandorin war der bisherige Tag eine Strapaze gewesen: er stand im Blickpunkt der Öffentlichkeit und war den Übergriffen seiner Umgebung hilflos ausgeliefert. Scharen ehemaliger Schulkameraden waren aufgetaucht sowie »alte Freunde« des Vaters (die sich das ganze letzte Jahr nicht hatten blicken lassen, nun waren sie plötzlich wieder da). Zuerst schleppten sie Fandorin zum Junggesellenfrühstück ins »Prag«, eine Kneipe am Arbat, wo er viele derbe Rippenstöße bekam, man zwinkerte ihm zu und bekundete aus unerfindlichen Gründen Beileid. Dann ging es zurück ins Hotel, ein Friseur namens Pierre erschien und zerrte ihn lange und schmerzhaft an den Haaren, bis sie eine schwungvolle Tolle ergaben. Lisanka durfte er vor dem Kirchgang nicht mehr sehen, was gleichfalls äußerst peinigend war. In den drei Tagen seit seiner Ankunft aus Petersburg, wo der Bräutigam nunmehr Dienst tat, hatte er sie ohnehin kaum gesehen - immerzu war sie von Hochzeitsvorbereitungen in Anspruch genommen.

Schließlich hatte der gute alte Xaveri Gruschin als Hochzeitsmarschall in Frack und weißer Schärpe, puterrot im Gesicht von den Anstrengungen des Junggesellenfrühstücks, den Bräutigam neben sich in eine offene Kutsche gesetzt und war mit ihm zur Kirche gefahren. Während Fandorin auf den Stufen gestanden und auf die Braut gewartet hatte, erschollen Rufe aus der Menge, ein Fräulein warf eine Rose nach ihm, die ihm die Wange zerkratzte. Endlich wurde Lisanka gebracht, kaum zu erkennen unter den wogenden Schleiern. Seite an Seite standen sie vor dem Analogion, der Chor sang, der Priester sprach sein »Denn ein barmherziger und menschenliebender Gott bist Du« und noch einiges andere, die Ringe wurden getauscht, sie nahmen Aufstellung auf dem Teppich, und endlich sprach Lisanka diese Worte über die arme Lisa, welche Wunder bewirkten: Ruhe kehrte in ihn ein, er sah um sich, erkannte Gesichter, schaute in die hohe Kirchenkuppel, und ihm wurde wohl.

Das Wohlgefühl hielt an, während alle kamen und mit herzlichen, innigen Worten gratulierten. Besonders gefiel ihm der Generalgouverneur, ein dicker, gutmütiger Mann mit rundem Gesicht und Hängeschnauzer. Er habe schon viel Schmeichelhaftes über Fandorin gehört, sagte er, und wünsche von Herzen eine glückliche Ehe.

Sie traten vor die Kirche, allgemeiner Jubel empfing sie, doch man sah kaum etwas, da die helle Sonne blendete. Er nahm mit Lisanka in der offenen Kutsche Platz, es duftete nach Blumen.

Lisanka streifte den langen weißen Handschuh ab und drückte kräftig seine Hand. Verstohlen näherte er das Gesicht ihrem Schleier und sog schnell den Geruch ihrer Haare, ihres Parfüms und ihrer frischen Haut ein. In diesem Moment (sie fuhren gerade durch das Nikitskije- Tor) ging Fandorins Blick zufällig über die Treppe der Auferstehungskirche - und sein Herz krampfte sich jäh zusammen.

Fandorin sah zwei Knirpse von acht, neun Jahren dort sitzen. Verloren hockten sie in ihren abgerissenen blauen Uniformen zwischen den übrigen Almosensammlern, ihre dünnen Stimmchen intonierten irgendeinen Bittgesang. Neugierig drehten die kleinen Bettelbrüder ihre Hälse nach dem prächtigen Hochzeitskonvoi.

»Was hast du, mein Lieber?« fragte Lisanka erschrocken, als sie sah, wie bleich ihr Angetrauter geworden war.

Fandorin antwortete nicht.

Die Inspektion des Geheimkellers unter dem Seitenflügel des Asternats hatte keinerlei Resultate erbracht. Die Bombe unbekannter Bauart war so heftig und dabei so kompakt detoniert, daß das Haus kaum beschädigt, von dem Kellergelaß jedoch so gut wie nichts übrig war. Das Archiv war vollständig vernichtet. Keine Spur von Lady Asters Leiche, außer einem Fetzen Seidenstoff.

Seines Hauptes (und hauptsächlichen Geldgebers) beraubt, war das weltweite Asternatssystem dem schnellen Verfall preisgegeben. In einigen Ländern waren die Waisenheime vom Staat oder von wohltätigen Gesellschaften übernommen worden, die meisten Institute jedoch hörten schlicht auf zu existieren. Die beiden russischen Asternate wurden per Erlaß des Bildungsministeriums als Brutstätten der Gottlosigkeit und schädlicher Ideen angeprangert und geschlossen. Die Lehrer suchten schleunigst das Weite, ein Großteil der Kinder zerstreute sich in alle Winde.

Mit Hilfe der bei Cunningham gefundenen Liste gelang es, achtzehn vormalige Asternats-Zöglinge zu identifizieren, was jedoch wenig einbrachte, da sich nicht nachweisen ließ, wer von ihnen der Organisation »Asasel« angehörte und wer nicht. Immerhin führten die Nachforschungen dazu, daß fünf von ihnen (darunter der portugiesische

Minister) ihre Ämter niederlegten, zwei verübten Selbstmord, einer (nämlich der brasilianische Leibwächter) wurde gar hingerichtet. Aufgrund umfangreicher, grenzüberschreitender Ermittlungen entdeckte man in der Folge noch eine Vielzahl weiterer honorabler Persönlichkeiten, die früher eine Asternatsschule besucht hatten. Etliche von ihnen machten überhaupt keinen Hehl daraus, waren stolz auf die dort genossene Erziehung. Gut, es gab auch »Kinder der Lady Aster«, die lieber untertauchten, um den Argusaugen von Polizei und Geheimdiensten zu entfliehen, die meisten jedoch blieben, denn ihnen war nichts anzulasten. Dennoch war ihnen der Zugang zu höheren Staatsämtern von nun an verwehrt - wie in feudalen Zeiten begann man auf Herkunft und Stammbaum wieder peinlich genau achtzugeben, damit bloß kein »Findelkind« (so der Terminus, den man in kompetenten Kreisen für Lady Asters Zöglinge pflegte) die Karriereleiter emporgekrochen kam. Im übrigen verhinderten sorgfältige, zwischen den einzelnen Regierungen abgestimmte Maßregeln der Diskretion und Konspiration, daß die Öffentlichkeit von den Säuberungen erfuhr. Eine Zeitlang hielten sich Gerüchte über eine Weltverschwörung von Freimaurern oder Juden beziehungsweise beiden zusammen, es fiel der Name Disraeli, doch bald wurde es darum wieder still, zumal auf dem Balkan jene ernsthafte Krise heranreifte, die zu Erschütterungen in ganz Europa führen sollte.

Die Dienstpflichten zwangen Fandorin, an den Ermittlungen in der Sache Asasel teilzuhaben - wobei er jedoch so wenig Eifer an den Tag legte, daß es General Misinow für geraten hielt, den jungen, fähigen Mitarbeiter mit anderen Aufgaben zu betrauen, die Fandorin um so bereitwilliger erfüllte. Dennoch war ihm bewußt, daß sein Gewissen in dieser Angelegenheit nicht ganz rein und seine Rolle einigermaßen zwiespältig war. Der Schwur, den er vor der Baronesse geleistet und zu brechen nicht umhin gekonnt hatte, trübte ihm die Vorfreude auf das ersehnte große Ereignis beträchtlich.

Und nun geschah es also, daß die Opfer von »Selbstlosigkeit, Heldenmut und löblichem Eifer« eines Erast Fandorin (so hatte es im Erlaß Seiner Majestät zur Ordensverleihung geheißen) ihm just am Tage seiner Hochzeit unter die Augen traten.

Fandorin ließ den Kopf hängen, wurde mißmutig, so daß Lisanka nach Eintreffen im elterlichen Haus an der Malaja Nikitskaja entschlossene Maßnahmen ergriff: Sie zog sich mit ihrem übellaunigen Gemahl in die gleich hinter der Diele gelegene Ankleidekammer zurück, verbot ihren Angehörigen und dem Personal strengstens den unaufgeforderten Zutritt - was diese nicht weiter kümmerte, da sie alle Hände voll zu tun hatten, die eintreffenden Gäste bis zum Beginn des Banketts bei Laune zu halten. Aus der Küche, wo seit dem Morgengrauen die eigens verpflichteten Meisterköche aus dem »Slawjanski Basar« am Wirken waren, drangen himmlische Wohlgerüche; hinter den fest verschlossenen Türen des Tanzsaals probte das Orchester ein letztes Mal den Wiener Walzer - es ging also alles seinen Gang. Nur der demoralisierte Bräutigam mußte wieder aufgerichtet werden.

Nachdem die Braut sich vergewissert hatte, daß keine zur Unzeit erinnerte Nebenbuhlerin den Grund für die plötzliche Melancholie ausmachte, war sie vollends beruhigt und ging in die Offensive. Direkten Fragen suchte sich Fan- dorin mit einem Brummen zu entziehen, so daß Lisanka ihre

Taktik ändern mußte. Sie strich ihrem Gemahl über die Wangen, küßte ihn zuerst auf die Stirn, dann auf die Lippen, dann auf die Augen - und der Gemahl ergab sich, schmolz unter ihren Händen, tat wieder alles, was und wie sie es von ihm wünschte. Was indes noch lange kein Grund war, allzubald in den Kreis der Gäste zurückzukehren. Einige Male schon war der Baron im Vestibül erschienen und vor die verriegelte Tür getreten, hatte sogar ein delikates Hüsteln von sich gegeben, jedoch nicht zu klopfen gewagt.

Schließlich aber mußte es sein.

»Erast!« rief Alexander Apollodorowitsch, der seinen Schwiegersohn seit dem Morgen duzte, »entschuldige, mein Freund, da verlangt ein Feldjäger aus Petersburg nach dir. In dringender Angelegenheit!«

Dabei schielte der Baron nach dem blutjungen Offizier mit Federbusch am Helm, der wie aus Erz gegossen bei der Haustür stand. Unter dessen Achsel klemmte ein kleines quadratisches Päckchen, eingewickelt in graues Kanzleipapier, das Siegel zeigte den imperialen Adler.

Das erhitzte Gesicht des jungen Ehemanns erschien im Türspalt.

»Zu mir, Oberleutnant?«

»Herr Fandorin? Erast Petrowitsch?« fragte der Offizier mit schneidig heller Gardistenstimme nach.

»Der bin ich.«

»Eilige Geheimsendung aus der Dritten Abteilung, zu eigenen Händen. Wo belieben Sie die Entgegennahme ...«

»Kommen Sie hier herein!« sagte Erast Fandorin und trat beiseite. »Sie entschuldigen mich, Alexander Apollodoro- witsch.« (Den Schwiegervater zu duzen hatte er sich noch nicht angewöhnt.)

»Verstehe. Dienst ist Dienst.« Der Schwiegervater nickte, schloß hinter dem Feldjäger die Tür und blieb davor stehen, damit kein Unbefugter eintrat.

Der Oberleutnant legte das Päckchen auf einem Stuhl ab und zog ein Papier aus dem Rockaufschlag.

»Wenn Sie so freundlich wären, mir den Erhalt zu quittieren?«

»Was ist denn drin?« fragte Fandorin, während er unterschrieb.

Auch Lisanka, die nicht die geringste Lust zeigte, ihren Mann mit dem Kurier allein zu lassen, schaute neugierig auf das Päckchen.

»Entzieht sich meiner Kenntnis«, sagte der Offizier achselzuckend. »Circa vier Pfund schwer. Besteht nicht ein freudiger Anlaß? Vielleicht in dem Zusammenhang? Jedenfalls meine ganz persönlichen Glückwünsche. Hier ist noch ein Brief, der wohl alles erklärt.«

Er zog ein kleines Kuvert aus der Manschette, das keinerlei Aufschrift trug.

»Gestatten Sie wegzutreten?«

Fandorin nickte, während er das Siegel auf dem Kuvert in Augenschein nahm.

Der Feldjäger grüßte, machte schneidig kehrt und verließ den Raum.

Der Vorhänge wegen war es in der Kammer duster; Fan- dorin erbrach das Kuvert und trat dabei vor das offene Fenster, das auf die Malaja Nikitskaja hinausging.

Lisanka umfaßte seine Schultern von hinten, hauchte ihm sanft ins Ohr.

»Na, was ist es? Ein Glückwunsch?« fragte sie ungeduldig. Als sie die glänzende Karte mit den zwei goldenen Ringlein erblickte, jubelte sie auf: »Tatsächlich! Ach, ist das hübsch!«

Im selben Moment hob Fandorin, dem irgendeine schnelle Bewegung draußen vor dem Fenster aufgefallen war, den Blick und sah den Feldjäger aus dem Haus kommen, der sich jedoch sonderbar verhielt. Er raste die Stufen herunter, sprang in vollem Lauf auf eine am Bordstein wartende Droschke und brüllte dem Kutscher zu: »Los! Neun! Acht! Sieben!«

Der Kutscher schwang die Peitsche, sah sich kurz um. Ein Kutschergesicht - hoher Hut, eisgrauer Bart. Nur die Augen waren seltsam: sehr hell, beinahe weiß.

»Halt!« brüllte Erast Fandorin wie von Sinnen und sprang, ohne zu überlegen, aus dem Fenster ins Freie.

Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, die zwei Rappen setzten sich in Trab.

»Halt! Ich schieße!« brüllte Fandorin, der gar keine Waffe bei sich trug - zur Feier des Tages hatte er seine treue Herstal im Hotel gelassen.

»Erast? Wo willst du hin?«

Im Laufen sah Fandorin zurück. Lisanka beugte sich hinter ihm aus dem Fenster, ihr liebes Gesicht schien vollkommen verdattert. Im nächsten Moment spuckte das Fenster Feuer und Qualm, die Scheiben barsten, und Fandorin wurde zu Boden geworfen.

Eine Zeitlang war es still um ihn her, dunkel und totenstill, doch dann drang grelles Tageslicht in seine Augen, die Ohren fingen an zu dröhnen, und Fandorin begriff, daß er am Leben war. Er sah vor sich die Pflastersteine, ohne erst einmal zu begreifen, warum sie so nahe waren. Es war widerwärtig, auf diese grauen Steine zu starren, er wandte den Blick zur Seite. Was um nichts besser war, im Gegenteil: Er blickte auf einen Haufen Pferdeäpfel. Daneben lag etwas unangenehm Weißglänzendes, mit zwei blitzenden goldenen

Kreisen. Fandorin fuhr in die Höhe und las die Zeile, die da in großer, altmodischer Schreibschrift mit viel Kringeln und Schnörkeln geschrieben stand:

My Sweet Boy, This is a Truly Glorious Day!

Der Sinn dieser Worte erreichte den getrübten Verstand des zu Boden geworfenen Mannes nicht sogleich, zumal seine Aufmerksamkeit durch einen anderen Gegenstand abgelenkt wurde, der lustig funkelnd mitten auf dem Pflaster lag.

Im ersten Moment begriff Fandorin nicht, worum es sich handelte. Er spürte nur, daß es etwas war, das auf Erden nicht sein konnte. Dann erkannte er ihn: den schmalen, im Ellbogen abgerissenen Mädchenarm mit dem goldenen Ringlein am vorletzten Finger der rechten Hand.

Da lief ein junger Mann mit schnellen, unsicheren Schritten den Twerskoi entlang. Vornehm gekleidet, jedoch in auffälliger Unordnung: der teure Frack zerknittert, die weiße Halsbinde schmutzig, eine staubige weiße Nelke im Knopfloch. Die flanierenden Herrschaften traten zur Seite und verfolgten das merkwürdige Subjekt mit neugierigen Blicken. Es war nicht die Totenblässe des Mannes, was sie so sonderbar berührte (Schwindsüchtige gab es allerorten), nicht seine offenkundige Trunkenheit (er schwankte von einer Seite zur anderen), das kannte man auch. Nein, es war ein anderes Detail seiner Physiognomie, das den Passanten, und hier insbesondere den Damen, höchst eigentümlich vorkam: Die Schläfen dieses jungen Lebemannes (daß er jung war, sah man) waren schlohweiß. Als wäre ein Reif darüber hinweggegangen.

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