ACHTES KAPITEL Im Gewölbe

Die Baronin hatte sich nämlich gerade angeschickt, Nachttoilette zu machen, als sich der Kapitän bei ihr anmelden ließ. Erstaunt über einen so ungewöhnlichen Besuch, hatte sie ihn empfangen.

„Sind wir allein und unbelauscht?“

„Sie sehen, daß wir allein sind“, antwortete sie. „Zu lauschen wagt bei mir kein Mensch.“

„Dann habe ich Ihnen eine wichtige Neuigkeit mitzuteilen.“

Sie war seine Freundin nicht; sie haßte ihn, und nur in ihrem Haß gegen andere waren sie einig. Darum vermutete sie auch jetzt nichts Gutes.

„Eine Neuigkeit?“ fragte sie. „Ich glaube nicht, daß sie mich erfreuen wird.“

„Sie irren. Es ist eine sehr gute Botschaft. Sie werden nämlich verreisen, Frau Baronin.“

„Ich? Verreisen? Wann?“

„Noch während dieser Nacht.“

„Was fällt Ihnen ein! Wohin?“

„Bis vor das Schloßtor.“

Sie begann zornig zu werden.

„Herr Kapitän!“ rief sie.

Er musterte sie mit überlegenem Blick und fragte:

„Was beliebt?“

„Soll ich etwa annehmen, daß ich der Gegenstand irgendeines Ihrer schlechten Witze sein soll?“

„Nein, obgleich es ein besonderer Spaß ist, den ich heute entrieren werde. Sie sollen nämlich an Stelle Marions verreisen.“

„Ich verstehe Sie nicht!“

„Ich bin es leider längst gewöhnt, bei Ihnen kein Verständnis zu finden. Dieses Mal aber wird es Ihnen hoffentlich nicht schwer werden, mich zu begreifen. Sie wissen, daß Marion sich weigert, dem Obersten Rallion ihre Hand zu geben –“

„Ich habe ihr leider nichts zu befehlen, würde ihren Widerstand aber schon zu brechen wissen.“

„Wirklich? Was würden Sie tun?“

„Sie zwingen! Sehr einfach!“

Der Alte ließ ein kurzes, verächtliches Lachen hören und fragte:

„Darf ich wohl erfahren, welcher Art der Zwang sein würde, den Sie in Anwendung zu bringen gedächten?“

„Ich habe jetzt noch nicht an etwas Spezielles gedacht, bin aber sicher, daß ich ein passendes Mittel finden würde.“

„Nun, während Sie noch gar nicht nachdenken, bin ich bereits beim Handeln. Ich werde Marion so lange bei Wasser und Brot einsperren, bis sie gefügig wird.“

Diese Nachricht war der Baronin hoch willkommen.

„Das wäre allerdings das klügste“, sagte sie, „aber ich glaube nicht, daß Sie diesen guten Vorsatz auch wirklich zur Ausführung bringen!“

„Sie irren abermals. Heute nacht wird Marion eingesperrt.“

„Wohin?“

„Das ist meine Sache. Soviel ist aber gewiß, daß kein Mensch den Ort entdecken wird, dafür haben eben Sie zu sorgen! Marion wird verreisen. Es ist eine Nachricht gekommen. Es wird angespannt, und ich bringe sie nach dem Bahnhof, ich selbst, nicht der Kutscher. An ihrer Statt aber steigen Sie ein. Man wird diese Verwechslung gar nicht bemerken, da es finster ist. Es genügt, daß eine Dame einsteigt. Sie nehmen den großen Schlüssel mit. Draußen lasse ich Sie absteigen, und Sie kehren mit Hilfe des Schlüssels möglichst unbemerkt in Ihre Wohnung zurück. Später komme ich natürlich ohne Marion vom Bahnhof.“

Sie nickte ihm beistimmend zu.

„Gut ausgedacht!“ sagte sie. „Aber wird Marion sich gutwillig einsperren lassen?“

„Das ist abermals meine Sache. Hat sie sich in meinen Befehl gefügt, so werde ich dafür sorgen, daß sie von ihrer Reise zurückkehrt. Sind Sie bereit, zu helfen?“

„Gewiß! Wann werden Sie anspannen lassen?“

„Der Zug geht kurz nach vier. Sie werden um drei bereit sein müssen.“

„Schön. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.“

Man sah ihr die Freude an, welche sie über diesen Streich fühlte, der ihrer verhaßten Stieftochter gespielt werden sollte. Der Kapitän machte ihr eine ironisch-achtungsvolle Verbeugung und sagte:

„Ich bin Ihnen sehr verbunden, würde mich aber glücklich fühlen, wenn die Frau Baronin die Güte haben wollte, auch in anderen Angelegenheiten von so harmonischer Gesinnung mit mir zu sein.“

Er ging und wartete bei sich, bis alles zur Ruhe war; sodann begab er sich durch den geheimen Gang zu Rallion, der ihn bereits mit Ungeduld erwartete. Der Gedanke, nun mit Sicherheit auf Marions Besitz rechnen zu können, ließ ihn das Verwerfliche der geplanten Tat vollständig übersehen.

„Endlich!“ sagte er. „Ich dachte, Sie würden viel früher kommen, Herr Kapitän.“

„Wir haben noch nichts versäumt. Vielleicht kommen wir sogar noch zu früh. Hier, nehmen Sie!“

Er gab dem Grafen ein Paar Filzschuhe, wie er selbst auch welche angezogen hatte.

„Wozu das?“ fragte Rallion verwundert.

„Um das Geräusch unserer Schritte zu dämpfen. Es darf uns natürlich niemand hören. Ziehen Sie die Schuhe an, und dann wollen wir gehen.“

Der Graf kam dieser Aufforderung nach und folgte dann dem Alten durch die geheime Tür hinaus nach den verborgenen Treppengängen. So gelangten sie beim Schein der Laterne, welche der Alte trug, nach dem Wohnzimmer Marions. Vor der Täfelung blieb der Alte halten, schloß die Blendlaterne und steckte sie ein.

„Jetzt nicht das geringste Geräusch!“ sagte er. „Ich werde erst nachsehen, ob sie vielleicht noch wach ist.“

„Wo befinden wir uns?“ fragte der Oberst.

„Vor dem Wohnzimmer. Aus diesem geht es durch Portieren nach der Schlafstube. Warten Sie.“

Er schob die Täfelung ganz leise zurück. Der Raum, in den er blickte, war vollständig dunkel. Er trat ein und schlich sich nach der Portiere. Auch das Schlafzimmer war ohne Licht. Er huschte lautlos nach dem Bett und horchte. Die leisen, regelmäßigen Atemzüge, welche er deutlich hörte, bewiesen ihm, daß der Schlaf seines Opfers ein fester sei. Er brachte das Chloroform in Anwendung. Dies nahm eine ziemliche Zeit in Anspruch, so daß der Graf ungeduldig wurde. Er sah und hörte nichts, und so lag ihm der Gedanke nahe, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei. Endlich hörte er das leise Heranschleichen des Alten.

„Wo haben Sie nur gesteckt?“ flüsterte er diesem zu.

„Bei Marion natürlich! Denken Sie etwa, das Chloroform wirkt bereits nach einigen Sekunden?“

„Nein, aber mir scheint, es sind mehrere Viertelstunden vergangen. Ich dachte bereits, daß Ihnen etwas geschehen sei.“

„Pah! Mir geschieht nichts.“

„So ist alles in Ordnung?“

„Alles.“

„Dann will ich mit hinein ins Zimmer.“

„Halt, warten Sie noch. Wir müssen uns erst sagen, auf welche Weise wir das Mädchen fortschaffen.“

„Nun, tragen müssen wir es natürlich.“

„Das versteht sich ganz von selbst. Die Anwendung des Chloroforms ist nicht ganz ungefährlich. Darum habe ich mit der Dosis gespart. Es ist möglich, daß Marion unterwegs erwacht.“

„Das schadet nichts.“

„Mir nicht, aber Ihnen.“

„Wieso?“

„Wollen Sie etwa, daß sie bemerkt, wer es ist, dem sie ihre Gefangenschaft zu verdanken hat?“

„Hm. Sie haben recht. Sie soll wenigstens nicht wissen, daß ich auch bei dieser Ortsveränderung mitgewirkt habe.“

„Ja. Wir müssen Ihnen vorerst die Chance offenhalten, als ihr Retter aufzutreten. Darum dürfen wir während der kurzen Zeit kein Licht brennen.“

„Aber ich kenne die Örtlichkeit gar nicht, und es ist ja so finster, daß ich unbedingt Licht brauche.“

„Sie brauchen keins. Ich werde Ihnen genau sagen, wie wir zu gehen haben.“

„Aber Marion ist doch – hm.“

„Nun, was ist sie denn?“

„Entkleidet.“

„Das kann uns nicht stören. – Die Kleider liegen auf dem Sofa; die nehmen Sie, während ich das Mädchen nehme. Ich binde Marion ganz einfach in das Bettuch. Vorerst kann ich sie allein tragen. Später werden Sie freilich mit zuzugreifen haben. Jetzt vorwärts.“

Sie schlichen sich nach dem Schlafzimmer, wo der Graf bald die zurückgelassenen Kleidungsstücke der Zofe fand. Er brauchte nicht lange zu warten, so raunte der Alte ihm zu:

„Fort. Ich habe sie.“

Von der Möglichkeit, belauscht zu werden, hatten sie keine Ahnung. Draußen angekommen, schob der Alte die Täfelung mit dem Fuß zu und dann stiegen sie langsam die Treppe hinab.

Es war das keineswegs leicht, da der Raum außerordentlich schmal war. Aber der Kapitän besaß trotz seines Alters so viel Körperkraft, daß ihm die Last, welche er trug, nicht übermäßig schwer wurde. Sie gelangten hinunter in den Hauptgang, da, wo die verborgenen Treppen ihren Ausgang nahmen.

„So“, sagte der Alte. „Hier muß ich ein wenig ausruhen.“

„Wohin denn?“

„Es geht jetzt stets zu ebener Erde fort. Gehen Sie hinter mir, und nehmen Sie ein wenig Fühlung, dann können Sie keinen einzigen Fehltritt tun.“

Sie begannen nun die Wanderung, immer in das tiefe Dunkel hinein. Es wurden einige Türen geöffnet. Später fühlte der Graf hölzerne Wände, wie von aufeinanderstehenden Kisten zu seiner Rechten und Linken. Dann blieb der Alte halten.

„Am Ziel“, sagte er.

„Schön! Das war ein verdammtes Avancieren. Wo befinden wir uns jetzt?“

„Das werden Sie nachher sehen.“

„Ist Marion noch betäubt?“

„Ja! Sie hat sich noch nicht bewegt.“

Er legte seine Last zu Boden und öffnete dann eine Tür. Sie drehte sich laut kreischend in den verrosteten Angeln.

„Das ist die Einzelhaftzelle“, sagte er. „Fühlen Sie den Eingang?“

„Ja.“

„Werfen Sie die Kleider hinein. Ich werde unsere Gefangene darauf betten.“

Der Graf gehorchte diesem Gebot. Die Angeln kreischten wieder; mehrere Riegel wurden vorgeschoben, und dann nahm der Alte die Laterne heraus.

„So, jetzt sollen Sie sehen, wo Sie sich befinden“, sagte er, indem er das Licht auf die Umgebung fallen ließ. Es war ganz dasselbe Gewölbe, in welchem Müller sich des Schlüssels bemächtigt hatte.

Dem Grafen war doch ein wenig bange um Marion geworden.

„Sie wird doch nicht etwa erstickt sein?“ sagte er.

„Nein. Sie atmete. Ich bin überzeugt, daß sie in kurzer Zeit zu sich kommen wird.“

„Ich möchte doch sehen, wie sie sich benimmt.“

„Das ist unmöglich. Übrigens können Sie sich leicht denken, wie freudig überrascht sie sein wird, sich in so sicherer Verwahrung zu befinden.“

„Hat sie Essen und Trinken?“

„Nein. Das würde ja ganz und gar gegen unsere Absichten sein.“

„Und wann gehe ich zu ihr?“

„Nicht vor morgen abend. Sie soll ihre jetzige Lage wenigstens vierundzwanzig Stunden lang empfinden. Ich werde übrigens dabeisein, wenn ich mich auch nicht sehen lasse. Kommen Sie jetzt, wir kehren zurück.“

Er führte Rallion denselben Weg zurück, auf welchem sie gekommen waren, und verriegelte dann die Täfelung von außen, um seinem Verbündeten die Möglichkeit eines selbständigen Handelns abzuschneiden. In seinem Zimmer angekommen, war er mit sich selbst sehr zufrieden.

„So“, sagte er zu sich, „was wird sie denken, wenn sie beim Erwachen bemerkt, wo sie sich befindet? Sie wird natürlich sofort ahnen, wer ihr diesen Streich gespielt hat. Das ist der Anfang der Strafe für den Widerstand, den sie mir zu leisten wagte.“

Jetzt nun endlich wechselte er den Anzug und begab sich zum Kutscher hinab, welchen er natürlich zu wecken hatte.

„Das Coupé heraus“, sagte er. „Die gnädige Baronesse wird verreisen.“

Der Mann war einigermaßen verwundert und erkundigte sich:

„Nach dem Bahnhof, gnädiger Herr?“

„Ja. Ich fahre selbst. Du wirst schon hören, wenn ich zurückkehre.“

Der Kutscher führte den Befehl aus. Er schirrte die Pferde ein, spannte sie an und brannte auch die Wagenlaterne an. Der Alte brachte die Dame geführt. Sie war verschleiert. Der Kutscher zweifelte nicht im mindesten daran, daß es die Baronesse Marion sei. Er schloß das Tor auf und verschloß es dann hinter den Fortfahrenden wieder.

Dann kehrte er in seine Kammer zurück und brannte sich eine Pfeife an. Er konnte den nach Thionville führenden Weg von hier aus beobachten und mußte an den Wagenlaternen die Wiederkehr des Alten bemerken. Davon aber, daß nach einiger Zeit die im Tor befindliche kleine Pforte leise geöffnet wurde, bemerkte er nichts. Die Baronin kehrte heimlich in ihre Wohnung zurück. –

Am anderen Morgen sprach es sich sehr schnell herum, daß Baronesse Marion plötzlich habe verreisen müssen. Der Kapitän hielt es für ein Gebot der Klugheit, am Frühstückstisch zu erscheinen, um die Anwesenden mit der Abreise seiner Verwandten bekannt zu machen. Müller nahm die darauf bezügliche Bemerkung schweigend hin, konnte aber doch nicht umhin, einen erwartungsvollen Blick nach der Tür zu werfen.

Diese öffnete sich, als man soeben mit dem Frühstück begonnen hatte – Marion trat ein und grüßte ganz in herkömmlicher Weise.

Der Alte sprang bei ihrem Anblick vom Stuhl auf und starrte mit weitaufgerissenen Augen das Mädchen an.

„Marion. Alle Teufel!“ entfuhr es ihm.

Sie schritt in ruhiger Haltung nach ihrem gewöhnlichen Platz und fragte verwundert:

„Was ist's. Ist mein Erscheinen heute etwas so Auffälliges?“

„Ich denke – ah. Unbegreiflich.“

„Was ist unbegreiflich?“

Da nahm Müller das Wort, indem er sagte:

„Der Herr Kapitän sagte uns soeben, daß Sie während der vergangenen Nacht ganz unerwartet zu einer plötzlichen Abreise gezwungen worden seien.“

Da schüttelte Marion den Kopf und sagte im unbefangensten Ton:

„Da hat sich der Herr Kapitän sehr geirrt. Ich wüßte nicht, was mich jetzt zu einer Reise veranlassen könnte.“

Der Kapitän vermochte sich das Erscheinen Marions nicht zu erklären. Ihr Verhalten zeigte auch keineswegs etwas Feindseliges. Er beschloß also, einstweilen zu schweigen. Aber als er nach eingenommenem Frühstück für kurze Zeit am Fenster stand und Marion unter irgendeinem Vorwand sich ihm näherte, richtete er seine Augen stechenden Blicks auf ihr Gesicht und sagte:

„Was ist das für ein Rätsel? Man sagte mir, daß du nach dem Bahnhof gebracht worden seiest.“

„Von wem?“

„Danach habe ich nicht gefragt. Auch erfuhr ich, daß du dich während der Nacht nicht in deinem Zimmer befunden habest.“

„Wer sagte das?“

„Deine Zofe.“

„Sie hatte recht. Ich war allerdings nicht in meiner Wohnung.“

Der Kapitän öffnete die Augen womöglich noch weiter und fragte:

„Wo denn?“

„Interessiert dich das so sehr?“

„Natürlich. Man sagte mir, du seist verreist; du kommst trotzdem zum Frühstück; da muß ich allerdings sehr wißbegierig sein, wie das zusammenhängt.“

„Das möchte ich selbst gern wissen. Ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, zu verreisen.“

„Aber wo befandest du dich?“

„In Sicherheit, Herr Kapitän!“

Diese Antwort war scheinbar ganz leichthin gegeben, aber es traf ihn dabei ein Blick, welcher ihm sagte, daß diese Worte eine tiefere Bedeutung hätten.

„In Sicherheit?“ fragte er. „Ich begreife nicht, was du mit diesen Worten sagen willst. Ich denke, daß ein jeder hier in Ortry sich in Sicherheit befindet.“

„Vielleicht sind andere nicht ganz derselben Meinung.“

Sie wendete sich von ihm ab und verließ den Speisesaal. Darauf hatte die Baronin gewartet. Sie trat sofort zu dem Alten heran und fragte:

„Können Sie mir das erklären?“

„Nein“, antwortete er.

Es war ihm anzusehen, daß er sich in außerordentlicher Verlegenheit befand.

„Sie haben aber doch mit ihr gesprochen. Sie haben sich natürlich erkundigen müssen.“

„Freilich, freilich tat ich das.“

„Was antwortete sie?“

„Sie wich mir aus.“

Die Baronin räusperte sich und ließ ein Lächeln sehen, welches so ziemlich impertinent genannt werden konnte.

„Verehrtester Herr Kapitän“, sagte sie, „ich beginne zu ahnen, daß Sie heute nacht einen Streich begangen haben, welcher keine große Bewunderung verdient.“

„Danke für dieses Kompliment“, stieß er hervor.

„Es war jedenfalls ein verdientes. Sie haben sich überhaupt gestern nicht sehr lobenswert benommen.“

Er wußte, daß sie ihn haßte, aber in dieser Weise hatte sie noch nicht mit ihm zu sprechen gewagt. Die anderen Anwesenden hatten sich entfernt; er befand sich mit der Baronin jetzt allein, darum brauchte er nicht übermäßig leise zu sprechen. Er richtete sich möglichst stolz empor und sagte:

„Welche Sprache erlauben Sie sich, gnädige Frau?“

„Eine sehr deutliche.“

„Das aber verbitte ich mir. Was wollen Sie mit diesem ‚nicht sehr lobenswert benommen‘ bezeichnen?“

„Ihr gestriges Verhalten zu der Engländerin.“

„Darf ich Sie bitten, deutlicher zu sein?“

„Sie waren beim Anblick dieser Dame vollständig konsterniert.“

„Nur überrascht.“

„Oh, ich dachte, es wäre etwas mehr gewesen als eine bloße Überraschung. Sie waren nicht überrascht, erstaunt oder betreten, sondern förmlich erschrocken.“

Er ließ ein überlegenes, spöttisches Lachen hören, musterte sie mit einem höhnischen Blick und antwortete:

„Sie sprechen wie ein Gelehrter. Das hätte ich einer Schäfers- oder Hirtentochter keineswegs zugetraut.“

„Wohl ebensowenig, wie ich Ihnen einen solchen Mangel an Selbstbeherrschung zugetraut hätte. Die Engländerin scheint eine Ähnlichkeit mit einer Ihnen sehr bekannten Persönlichkeit zu besitzen.“

„Allerdings.“

„Und das brachte Sie so aus aller Fassung?“

„Pah! Es war mir nur auffallend.“

„Ich hörte aber, daß Sie mit dieser Dame bereits in der Nähe des verunglückten Zugs gesprochen haben.“

„Allerdings.“

„Ohne daß Ihnen bereits da diese Ähnlichkeit aufgefallen ist?“

„Ich muß das freilich zugestehen. Es mag dies daran liegen, daß es zweierlei ist, eine Person am Tag oder bei täuschendem Lampenlicht zu erblicken.“

„Mir aber dennoch unbegreiflich. Sie hielten sie für eine gewisse Margot. Trug nicht ihre Schwester diesen Namen?“

„Ja. Aber was bezwecken Sie mit diesen Erkundigungen? Ich habe Ihnen noch niemals die Erlaubnis gegeben, mich in dieser Weise ins Verhör zu nehmen.“

„Sie vergessen, daß wir jetzt Verbündete sind.“

Er zuckte die Achseln, warf ihr einen Blick nur so von der Seite her zu und fragte:

„Glauben Sie das wirklich?“

„Natürlich. Nach dem, was ich gestern auf Ihren Antrieb tun mußte, habe ich jedenfalls Veranlassung, mich Ihre Verbündete zu nennen.“

„Das waren Sie gestern, heute aber nicht mehr.“

„Und dennoch bin ich es. Oder soll ich nicht fragen dürfen, wie Marions Erscheinen mit ihrer angeblichen Abreise ungefähr zusammenhängt?“

„Das weiß ich ja selbst nicht.“

„Ich denke, sie ist Ihre Gefangene.“

„Ich dachte es auch; ich war überzeugt davon.“

„Sie hat sich also selbst befreit?“

„Das habe ich bisher für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten. Ich werde mir schleunigst Klarheit verschaffen.“

Er ging, aber nicht nach seiner Wohnung, sondern nach derjenigen des Grafen Rallion. Er fand denselben im Bett liegend.

„Ah, Herr Kapitän!“ meinte Rallion. „Das ist ein sehr unerwarteter Besuch.“

„Wohl auch ein unwillkommener?“

Er warf dabei einen höchst mißtrauischen Blick auf den Grafen.

„Unwillkommen?“ fragte dieser. „Was denken Sie? Zwar liege ich noch im Bett. Aber Sie erlauben mir, mich zu erheben. Ich wollte die heute nacht geopferte Ruhe nachholen.“

„Wann gingen Sie schlafen?“

„Sofort nach unserer Verabschiedung.“

„Sie haben geschlafen und bis jetzt das Bett nicht verlassen?“

„Keinen Augenblick. Aber warum diese Fragen? Sie kommen mir einigermaßen eigentümlich vor.“

„Das glaube ich Ihnen. Sie scheinen ja ganz fieberhaft erpicht auf Ihre Rolle zu sein.“

„Ich verstehe Sie nicht. Welche Rolle meinen Sie?“

„Die des Retters bei Marion.“

„Da haben Sie nicht Unrecht. Ich kann den Abend kaum erwarten.“

„Sie haben ihn nicht erwartet; ich weiß das bereits.“

„Ich verstehe Sie nicht, mein bester Freund.“

„O bitte. Wir wollen das Wort Freund nicht in Anwendung bringen. Ich mag es nicht zur Bezeichnung eines Mannes gebrauchen, auf den ich mich nicht verlassen kann.“

„Donnerwetter! Sie werden immer mystischer.“

„Und Sie zeigen eine Verstellungskunst, welche ich bei Ihnen bisher nicht gesucht habe.“

Da richtete sich der Graf empor.

„Herr Kapitän“, sagte er, „spielen Sie nicht Theater. Ich bemerke zu meinem Erstaunen, daß Sie irgend etwas gegen mich haben, obgleich ich mir keines Fehlers bewußt bin. Sagen Sie, was Sie mir vorzuwerfen haben.“

„Daß Sie meinen Befehl übertreten haben.“

„Befehl? Ah, ich möchte wissen, wer auf Ortry der Mann sein könnte, einem Grafen Rallion Befehle zu erteilen!“

„Ich.“

„Ah pah! Eine Weisung können Sie mir erteilen, aber keinen Befehl. Doch streiten wir uns nicht. Machen Sie es kurz. Was habe ich verbrochen?“

„Sie haben dort den geheimen Ausgang geöffnet.“

„Geöffnet? Ich?“

„Ja, trotzdem ich die Täfelung verriegelt hatte.“

„So, also das habe ich getan?“

„Ja, aber noch mehr.“

„Noch mehr? Darf ich das erfahren?“

„Sie haben sich in die geheimen Gänge begeben.“

„Darf ich fragen, zu welchem Zweck?“

„Um Marion zu befreien.“

„So, so. Also das habe ich getan? Wirklich?“

„Wollen Sie es etwa leugnen?“

„Gewiß leugne ich es.“

„Ich beweise es Ihnen aber.“

„Das wird Ihnen wohl schwerlich gelingen.“

„Sofort. Ich habe mit Marion gesprochen.“

„In dem Gefängnis?“

„Nein, sondern im Speisesaal, beim Frühstück.“

Jetzt sprang der Graf aus dem Bett, fuhr mit den Füßen in die Pantoffeln, griff zum Schlafrock und sagte:

„Da muß ich aufstehen; da kann ich freilich nicht liegenbleiben. Sie spielen ein wenig Komödie mit mir.“

„Das fällt mir gar nicht ein. Sie haben mir da einen Streich gespielt, der unseren ganzen Bau über den Haufen wirft.“

„Nun ist's genug! Jetzt darf ich nicht länger zuhören. Also, Sie haben Marion wirklich gesehen?“

„Ja.“

„Mit ihr gesprochen?“

„Ja.“

„Am Frühstückstisch?“

„Ja.“

„Das ist ja unmöglich, vollständig unmöglich!“

„Das ist sogar eine Wirklichkeit, welche Sie am allerbesten zu erklären vermögen.“

„Sie machen mir also alle die Vorwürfe wirklich im Ernst?“

„Wollen Sie etwa glauben, daß ich zum Scherz aufgelegt bin, nachdem ich durch das Erscheinen Marions so blamiert wurde?“

Da faßte Rallion ihn bei der Schulter und rief:

„Kapitän, ich muß fast glauben, daß Ihr Kopf auf einem falschen Platz steht. Wer hat den Schlüssel zu den sämtlichen Türen, durch welche wir heute nacht kamen?“

„Ich.“

„Und ich soll dann diese Türen geöffnet haben? Womit denn?“

„Natürlich auch mit Schlüsseln.“

„Woher soll ich diese haben?“

Da stieß der Alte ein höhnisches Lachen aus und antwortete:

„Halten Sie mich denn wirklich für so einen Schwachkopf? Ich glaubte bis vorhin allerdings, die verlorenen Schlüssel hinter den Kisten suchen zu müssen, jetzt aber weiß ich, daß sie in Ihre Hände gelangt sind.“

„Aber, Kapitän, Mensch, Freund. Sind Sie denn ganz und gar des Teufels? Ich habe keine Schlüssel!“

„Wirklich nicht?“

„Bei meiner Ehre. Und wenn ich sie hätte, was würden sie mir nützen? Ich kann doch nicht da hinaus!“

Er deutete dabei nach dem geheimen Ausgang.

„Sie sind nicht da hinaus?“

„Nein. Sie haben doch verriegelt.“

„Schön. Wollen sehen.“

Er trat zur Täfelung und untersuchte dieselbe. Er hatte vielleicht in seinem ganzen Leben kein so verblüfftes Gesicht sehen lassen wie jetzt.

„Donnerwetter!“ sagte er. „Es ist alles in Ordnung hier!“

„Nun, was weiter?“

„Ich dachte, Sie hätten die Täfelung aufgesprengt.“

„Wie könnte ich mir so etwas einfallen lassen!“

„Dann ist mir die Geschichte geradezu unbegreiflich.“

„Ich kann nicht nur die Geschichte, sondern auch Sie nicht begreifen, mein Lieber!“

Da schlug der Alte mit der Faust auf den Tisch und sagte:

„Soll ich dann etwa gar annehmen, daß ich geträumt habe? Sie waren ja dabei. Waren wir nicht heute nacht in Marions Zimmer?“

„Natürlich.“

„Und haben sie nach dem Gewölbe gebracht?“

„Freilich.“

„Und dort eingeriegelt?“

„Gewiß.“

„Da denken Sie sich nun meinen Schreck, als ich sie vorhin in das Speisezimmer eintreten sah!“

„Verdammt! Wir sind doch nicht verhext!“

„Das keinesfalls.“

„Aber wie kam sie frei?“

„Das weiß der Teufel!“

„Haben Sie sie denn nicht gefragt?“

„Konnte ich das? Sie verhielt sich ganz unbefangen, ganz so, als ob sie gar nichts wisse. Ein einziges Wort, welches sie sagte, könnte mich vermuten lassen, daß sie Komödie spielte.“

„Vermutungen können uns nichts nützen. Wir müssen Gewißheit haben. Wir können beide beschwören, daß wir Marion geholt und da unten eingesperrt haben. Auf welche Weise sie entkommen ist, können wir nur erfahren, wenn wir ihr Gefängnis untersuchen.“

„Ja. Ziehen Sie sich schnell an und kommen Sie. Ich habe Sie wirklich im Verdacht gehabt.“

„Ich bin sehr unschuldig, mein Lieber; aber wir werden den Schuldigen entdecken.“

„Ich hoffe es, und wehe ihm! Wer unsere Gefangene befreit hat, der muß in unsere Geheimnisse eingedrungen sein. Er wird auf alle Fälle unschädlich gemacht. Also, legen Sie Ihre Kleider an. Ich werde sogleich wieder hier sein.“

Er ging, öffnete aber bereits nach einigen Minuten von außen die Täfelung. Der Graf war eben mit seinem Anzug fertig geworden. Der Kapitän hatte die brennende Laterne bei sich. Sie begaben sich in den Gang hinab und eilten dann nach dem Ort, von welchem ihrer Meinung nach Marion entwichen war.

Sie fanden unterwegs nicht die leiseste Spur, daß ein menschliches Wesen hier gewesen sei. Als der Kapitän das Gewölbe öffnete, in dessen hinterem Teil sich das Gefängnis befand, war es ihm, als ob er ein Geräusch vernehme. Er blieb stehen, ergriff den Grafen beim Arm und fragte:

„Hören Sie etwas?“

„Ja. Man klopft.“

„Das ist da hinten, wo wir Marion eingesperrt hatten.“

„Es scheint so.“

„Donnerwetter! Da kommt mir ein Gedanke, ein ganz und gar miserabler Gedanke.“

„Mir auch.“

„Ihnen auch? Ah, was denken Sie?“

„Wir haben eine Falsche eingesperrt.“

„Es hat den Anschein ganz danach. Aber wie könnte das möglich gewesen sein?“

„Das frage ich auch.“

„Wir waren ja in Marions Zimmer!“

„Es war natürlich auch Marions Bett!“

„Ohne allen Zweifel.“

„Wer sollte denn in diesem Zimmer und in diesem Bett geschlafen haben? Wer anders als eben Marion?“

„Natürlich!“

Sie sahen einander ganz ratlos an. Hinten ließ das Pochen nicht nach. Der Kapitän meinte endlich:

„Es ist und wird nicht anders. Wir haben eine Unrechte erwischt und hier eingeschlossen.“

„Aber wie war das möglich?“

„Das wird sich sofort aufklären, sobald wir sehen, wer diese Unrechte eigentlich ist.“

„Ich bin verteufelt begierig, das zu erfahren.“

„Das wird sogleich geschehen. Wir müssen so tun, als ob wir von gar nichts wissen. Kommen Sie.“

Je weiter sie nach hinten kamen, desto lauter wurde das Klopfen. Endlich hörten sie eine rufende Stimme. Während einer Pause, welche die Zofe machte, hörte sie die Schritte der beiden Männer.

„Macht auf!“ rief sie. „Laßt mich heraus.“

„Gleich, gleich!“ antwortete der Kapitän.

Der Kapitän schob den Riegel zurück und öffnete. Die so unfreiwillig Gefangene trat ihnen entgegen. Sie hatte ihre Kleider angelegt. Ihr Gesicht war leichenblaß; man sah ihr die Angst, welche sie ausgestanden hatte, deutlich an. Der Alte leuchtete ihr in das Gesicht.

„Sapperment, Sie sind es?“ fragte er. „Wie kommen Sie denn in diesen Keller?“



„Mein Gott, ich weiß es nicht!“ antwortete sie.

„Sie wissen es nicht? Das klingt ja fabelhaft! Sie müssen doch wissen, wann und wie Sie hierher gekommen sind?“

„Ich habe keine Ahnung davon, Herr Kapitän. O Gott, welche Angst ich ausgestanden habe!“

„Sie sind also nicht freiwillig hier?“

„Nein, nein! Ganz und gar nicht!“

„Das verstehe der Teufel, aber ich nicht! Was haben Sie denn eigentlich hier unten zu suchen? Wer hat Ihnen erlaubt hier einzudringen?“

Sie schlug ganz bestürzt die Hände zusammen und antwortete:

„Herr Kapitän, ich bin unschuldig, vollkommen unschuldig!“

„Das kann kein Mensch glauben! Wer hat Sie denn hierher begleitet?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hören Sie, wenn Sie nicht ein freiwilliges Geständnis ablegen, werde ich Mittel finden, Sie zum Sprechen zu bringen!“

Die arme Zofe zitterte vor Aufregung und Furcht.

„Ich schwöre Ihnen bei allen Heiligen, daß ich nicht einmal weiß, wo ich bin!“ beteuerte sie.

„Aber erklären Sie mir doch Ihre Anwesenheit!“

„Das bin ich ja selbst nicht imstande! Ich ging gestern abend schlafen, und als ich erwachte, befand ich mich hier.“

„Das klingt ganz wie ein Märchen, welches Sie sich ausgesonnen haben. Wo legten Sie sich schlafen?“

„Beim gnädigen Fräulein.“

„Bei Baronesse Marion? Im Zimmer derselben?“

„Ja.“

„Was! Sie haben im Bett des gnädigen Fräuleins geschlafen, und wo befand Marion sich inzwischen?“

„Das weiß ich nicht.“

„Hat sie selbst Ihnen erlaubt, in ihrem Zimmer zu schlafen?“

„Sie hat es mir sogar befohlen.“

„Weshalb?“

„Das weiß ich nicht.“

„Sie muß doch einen Grund angegeben haben!“

Die Zofe wollte das, was Marion mit ihr gesprochen hatte, nicht verraten, darum antwortete sie:

„Ich bin die Dienerin und habe zu gehorchen, ohne nach Gründen zu fragen.“

„Hm! So sind Sie das Opfer irgendeines dummen Spaßes geworden. Ich werde die Sache untersuchen und den Schuldigen sehr streng bestrafen. Also Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden?“

„Nein. Ich habe keine Ahnung davon.“

„Nun, so wollen wir sehen, wie sich die Sache arrangieren läßt. Können Sie schweigen?“

„Oh, ich will gern kein Wort sagen, wenn ich nur wieder frei sein kann.“

„Das letztere soll geschehen. Aber wenn ich erfahre, daß Sie einem einzigen Menschen erzählen, was geschehen ist, so haben Sie es mit mir zu tun! Verstanden?“

„Ich kann die heiligsten Eide geben, daß ich schweigen werde.“

„Auch gegen die Baronesse?“

„Auch gegen diese.“

„Aber Sie sind jedenfalls von ihr vermißt worden. Auf welche Weise werden Sie sich entschuldigen?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Hm! Nicht wahr, Sie haben im nahen Dorf Ihre Eltern?“

„Ja.“

„Nun, Sie haben heute früh gehört, daß Ihr Vater oder Ihre Mutter krank geworden sei, und sind hingegangen. Sie kehren erst jetzt zurück. Verstanden?“

„Ja, das werde ich sagen.“

„Und mir werden Sie alles wieder sagen, was Marion spricht – jedes Wort?“

„Sehr gern!“

„Nun, ich will es glauben. Kommen Sie einmal her!“

Er zog sein Taschentuch hervor und verband ihr die Augen.

„Haben Sie keine Angst, es geschieht Ihnen nichts“, sagte er dabei. „Sie brauchen nicht zu sehen, welchen Weg wir gehen. Das ist die einzige Ursache, daß ich Ihnen die Augen verbinde. Kommen Sie jetzt! Ich führe Sie.“

Er verriegelte die Tür und faßte die Zofe bei der Hand. Sein Weg führte ihn jetzt nach dem Gartenhäuschen, aus welchem er sie in das Freie brachte. Dort führte er sie zwischen den Büschen einige Male im Kreis und nahm ihr dann das Tuch wieder von den Augen weg.

„So“, sagte er. „Jetzt sind Sie frei. Gehen Sie an Ihre Arbeit und schweigen Sie.“

Sie entfernte sich, so schnell es nur möglich war. Der Graf war natürlich mit ihnen gegangen. An ihn wendete sich der alte Kapitän:

„Was sagen Sie dazu?“

„Eine Dummheit von uns, sogar eine sehr große.“

„Wieso?“

„Wir hätten uns überzeugen sollen, ob wir auch wirklich Marion hatten. Aber Sie bestanden ja darauf, kein Licht sehen zu lassen. Ich bin nicht schuld.“

„Ich auch nicht. Wer konnte ahnen, daß Marion auf die ganz und gar ungewöhnliche Idee kommt, die Zofe in ihrem Zimmer schlafen zu lassen!“

„Mir auch ganz unbegreiflich.“

„Oh, nicht nur unbegreiflich, sondern sogar verdächtig.“

„Verdächtig? Wieso?“

„Hm! Eine Baronesse pflegt ihr Lager nicht ohne ganz besondere Gründe ihrer Dienerin zu überlassen.“

„So ist es unsere Aufgabe, die Gründe zu erfahren.“

„Das werden wir. Für jetzt freilich können wir nichts als nur Vermutungen hegen.“

„Ich habe keine Ahnung. Oder sollte Marion vielleicht eine Ahnung gehabt haben?“

„Wovon?“

„Von unserem Vorhaben.“

„Wie wäre das erklärlich?“

„Das weiß ich freilich nicht. Es wird Ihre Sache sein, das zu erfahren, lieber Kapitän.“

„Ich werde mich sofort erkundigen. Kommen Sie!“

„Wohin? Nach dem Schloß?“

„Ja. Natürlich.“

„Danke bestens! Ich habe keine Lust, mein zerfetztes Gesicht öffentlich sehen zu lassen, bevor es wenigstens einigermaßen wieder heil geworden ist.“

„Sie denken, wir kehren durch den unterirdischen Gang zurück.“

„Ja; ich bitte darum.“

„Gut; der Umweg ist ja nicht so groß.“

Sie verschwanden miteinander wieder im Gartenhäuschen. –

Marion befand sich auf ihrem Zimmer, als die Zofe zurückkehrte. Als sie das Mädchen erblickte, wußte sie sofort, daß der alte Kapitän sich nach dem Gewölbe begeben hatte, um eine Erklärung zu suchen.

„Ich habe nach dir geklingelt und dich gesucht“, sagte sie im Ton des Vorwurfs.

„Verzeihung“, antwortete die Zofe. „Ich erhielt kurz nach meinem Erwachen die Nachricht, daß meine Mutter unwohl sei.“

„So bist du jetzt zu Hause gewesen?“

„Ja.“

„Bis wann hast du hier geschlafen?“

„Bis ungefähr nach fünf Uhr.“

„Es ist gut. Du hast deine Pflicht als Kind tun müssen.“

Das Mädchen war außerordentlich froh, glimpflich davongekommen zu sein. Marion aber war weit entfernt, an die vorgebrachte Entschuldigung zu glauben. Nur befand sie sich über das einzuschlagende Verfahren im unklaren. Daher begab sie sich nach Müllers Wohnung. Es gelang ihr, unbemerkt dorthin zu kommen.

Müller saß an seinem Tisch und arbeitete. Er schrieb an einem fingierten militärischen Gutachten, welches er mit Hilfe seines Großvaters in die Hände des vermeintlichen Malers Haller zu spielen gedachte. Als Marion bei ihm eintrat, erhob er sich in sichtlicher Überraschung vom Stuhl.

„Sie, mein Fräulein?“ fragte er.

„Ja, ich. Ich muß mir Verhaltungsmaßregeln holen.“

„Wegen unseres Erlebnisses?“

„Ja.“

„Das ist gefährlich. Der Kapitän kann uns hier beobachten.“

„Kann er auch hören, was wir sprechen?“

„Deutlich vielleicht nicht.“

„Nun, so denke ich, daß wir es wagen können.“

„Wollen es versuchen. Bitte sich zu plazieren! Wir nehmen ein Buch in die Hand und geben uns den Anschein, als ob wir uns über den Inhalt desselben unterhalten.“

Er griff nach einem Buch, öffnete dasselbe und fragte, ohne das Auge von den Zeilen zu wenden:

„Welche Verhaltungsmaßregeln meinten Sie, gnädiges Fräulein?“

„Betreffs der Zofe, welche soeben zurückgekehrt ist.“

„Ah, er hat sie befreit.“

„Das war leicht zu denken.“

„Was sagte sie?“

„Sie gab vor, bis nach fünf Uhr geschlafen zu haben. Dann hat sie die Nachricht erhalten, daß ihre Mutter, welche im nahen Dorf wohnt, erkrankt sei. Dorthin sei sie gegangen.“

„Diese Aussage ist ihr vom Kapitän eingegeben worden.“

„Ganz gewiß.“

„Was haben Sie dazu gesagt?“

„Ich habe getan, als glaube ich es.“

„Das war vielleicht das richtige.“

„Sie meinen also nicht, daß ich merken lasse, daß ich weiß, wo sie sich befunden hat?“

„Man möchte allerdings gern erfahren, welcher Art ihre Unterhaltung mit dem Kapitän gewesen ist; aber es ist jedenfalls für uns vorteilhafter, so zu tun, als ob wir gar nichts wissen.“

„Auch wenn der Kapitän mich wieder fragt?“

„Er hat Sie bereits gefragt?“

„Ja. Er verlangte, zu wissen, wo ich mich während dieser Nacht befunden habe.“

„Welche Auskunft gaben Sie?“

„Ich antwortete: In Sicherheit.“

„Das war ein wenig zweideutig. Es erlaubt ihm, zu ahnen, daß Sie von seinem Plan gewußt haben.“

„So war es wohl ein Fehler?“

„Nein. Er befindet sich doch im Zweifel, und das ist gut für uns. Ein Mensch, der nicht weiß, woran er ist, wird auch nicht wissen, wie er sich zu verhalten hat. Übrigens war der Augenblick, an welchem Sie eintraten, für mich ein geradezu unbezahlbarer.“

„Für mich ebenso. Aber nun befinde ich mich doch wohl noch ganz in derselben Gefahr!“

„Für die nächsten drei Tage nicht; dafür werde ich Sorge tragen, gnädiges Fräulein. Ich hoffe, daß Sie dieser meiner Versicherung Glauben schenken.“

„Ganz gern, Monsieur. Ich habe Sie als einen Mann kennengelernt, welcher weiß, was er spricht. Jetzt aber muß ich mich zurückziehen. Ich möchte nicht weniger vorsichtig sein als Sie.“

Sie reichte ihm die Hand, welche er an seine Lippen führte; dann entfernte sie sich. Das geschah gerade zur richtigen Zeit; denn kaum hatte sie ihr Zimmer erreicht, so trat der Kapitän bei ihr ein. Das war um so auffälliger, als es außerordentlich selten zu geschehen pflegte, daß er sich persönlich zu ihr bemühte.

Sein Blick flog scharf und forschend im Zimmer umher. Dann setzte er sich nieder und fixierte sie mit finsterem, unfreundlichem Blick. Sie blieb stehen und hielt seinen Blick ruhig aus, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Du wunderst dich, mich hier zu sehen?“ begann er.

„Beinahe“, sagte sie.

„Es ist allerdings kein gutes Zeichen, wenn man gezwungen ist, denjenigen, welche zu gehorchen haben, nachzulaufen.“

„Oh, ich denke, daß ich zu jeder Zeit zur Verfügung stehe!“

„Ganz im Gegenteil! Warum gingst du so schnell, als ich im Speisesaal mit dir zu sprechen hatte?“

„Weil ich glaubte, daß unsere Unterredung zu Ende sei.“

„Sie sollte erst beginnen.“

„Davon hatte ich freilich keine Ahnung. Der Gegenstand schien erschöpft zu sein.“

„Mitnichten. Ich wollte wissen, wo du dich während dieser Nacht befunden hast.“

„Wer sagt dir, daß ich nicht hier gewesen bin?“

„Ich habe erfahren, daß deine Zofe bei dir geschlafen hat!“

„Ah. Du fragst die Zofe nach der Herrin aus? Das ist ein Verhalten, welches ich rügen muß. Nur im Bauernstand pflegt es vorzukommen, daß die Herrschaft sich auf diese Weise mit dem Gesinde ins Einvernehmen setzt.“

Seine Brauen zogen sich zusammen, und die Spitzen seines Schnurrbarts stiegen empor. Er zeigte die langen, gelben Zähne und stieß dann hervor:

„Was? Rügen? Rügen willst du mein Verhalten? Du?“

„Allerdings!“

„Mädchen, was fällt dir ein! Du überschätzest dich bedeutend. Du weißt nicht, mit wem du sprichst!“

„Ich kenne dich lange genug, um dies wissen zu können!“

„Und dennoch irrst du dich gewaltig. Du schlägst seit einiger Zeit einen Ton an, den ich mir sehr verbitten muß!“

„Weil du stets gewohnt warst, diesen Ton für dich als Monopol in Anspruch zu nehmen. Du sagst, daß ich mich überschätze? Vielleicht ist das bei dir in noch viel höherem Grad der Fall. Was hast du mir noch zu sagen?“

„Zunächst will ich wissen, wo du während der verflossenen Nacht gewesen bist.“

„Darüber bin ich dir nicht Rechenschaft schuldig.“

Da sprang er von seinem Sessel auf und rief:

„Donnerwetter! Das bietest du mir?“

„Ja“, antwortete sie ruhig.

„So? Ah! Schön! Weißt du, wer hier Herr und Meister ist?“

„Der Baron de Sainte-Marie, nicht aber der Kapitän Richemonte.“

„Ich bin der Vater des Barons, dein Großvater.“

„Beweise mir diese Verwandtschaft!“

Er war beinahe starr vor Erstaunen.

„Mädchen“, knirschte er, „bist du verrückt?“

Sie wendete sich mit einer unbeschreiblichen Handbewegung ab und sagte:

„Brechen wir ab. Ich sehe, daß du nicht einmal weißt, in welcher Weise man mit einer Dame zu verkehren hat. Du gefällst dir seit einiger Zeit ganz in dem Betragen eines Plebejers, den man nur bemitleiden kann.“

Da ergriff er sie beim Arm und sagte in einem Ton, welcher beinahe pfeifend erklang:

„Ja, ja, du bist verrückt, sonst könntest du so etwas nicht wagen. Aber ich bin der Mann, dich zu zähmen! Also du sagst nicht, wo du gewesen bist?“

„Nein.“

„Dein Bräutigam wird es wissen.“

„Ich habe keinen Bräutigam. Nimm deine Hand von meinem Arm!“

„Oh, nicht doch! Ich werde dich festhalten und sogar züchtigen, wenn du bei diesem Ton bleibst!“

„Gut, schlagen wir einen anderen Ton an!“

Ehe er es zu verhindern vermochte, ergriff sie den Glockenzug und läutete, daß man es fast durch alle Korridore zu hören vermochte. Man hörte sofort Türen öffnen.

„Ah, dieses Mal gelingt es dir noch“, sagte er. „Ich will den Eklat vermeiden, darum gehe ich; das nächste Mal aber bin ich der Sieger. Richte dich darauf ein!“

Er ging.

„Es ist nichts. Packt euch zum Teufel!“ herrschte er der durch das Läuten herbeigerufenen Dienerschaft entgegen.

Dann begab er sich nach seinem Zimmer, in einer Aufregung, welche er kaum zu meistern vermochte.

Unterdessen hatte Müller seine Arbeit beendet. Er war noch über dem Einsiegeln derselben, als sein Blick zufällig durch das Fenster fiel. Er gewahrte draußen an der Linde das mit dem Wachtmeister verabredete Zeichen.

„Fritz ist wieder da“, sagte er erfreut. „Er hat mit mir zu sprechen. Das ist schön. Er kann mir gleich diese Arbeit nach der Post bringen.“

Sein Auge glitt von der Linde nach dem Schloß zurück. Da gewahrte er einen Wagen, welcher sich dem Tor näherte. In demselben saßen Madelon und Nanon, die beiden Schwestern.

„Da kommen sie“, dachte er. „Die Gegenwart von dieser Madelon kann mir von Nachteil sein. Ich werde mich vorerst gar nicht von ihr sehen lassen.“

Er wartete, bis die beiden ausgestiegen und in das Gebäude getreten waren; dann begab er sich durch den Park in den Wald. An der verabredeten Stelle trat ihm Fritz entgegen.

„Grüß Gott, Herr Doktor!“ sagte er. „Ich komme, meine Wiederkehr pflichtschuldigst zu melden.“

„Schön. Ich dachte, du würdest länger bleiben. Wie ist es dir ergangen?“

„Sehr gut, mit Abenteuern.“

„Abenteuer? Das klingt verheißungsvoll. Komm und erzähle mir.“

Sie schritten miteinander tiefer in den Wald hinein, und Fritz berichtete seine Erlebnisse. Am Schluß langte er in die Tasche und zog einige Papiere hervor.

„Hier sind die Notizen, welche ich mir in der Pulvermühle bei Schloß Malineau gemacht habe.“

„Danke. Du denkst also, daß sie für uns wichtig sind?“

„Jedenfalls. Ich habe zum Beispiel daraus ersehen, daß es die letzte Pulverladung ist, welche der Kapitän empfängt.“

„Das beweist, daß er mit seinem Arrangement fast zu Ende ist. Wir müssen uns also sputen.“

„Gewiß. Ist er gesund?“

Der Sprecher blinzelte bei dieser Frage sehr bezeichnend mit den Augen.

„Ich habe nicht gehört, daß er sich unwohl fühlt.“

„Dann haben Sie Ihr Versprechen gehalten.“

„Natürlich. Ich wollte diese unterirdischen Gänge nicht vor deiner Rückkehr untersuchen. Nun aber werde ich nicht länger zögern. Der Alte soll schon heute die Tropfen erhalten.“

„Ist das nicht schwierig?“

„Nein. Er pflegt sich nach Tisch ein Glas Absinth kommen zu lassen. Er erhält dabei immer ganz dasselbe Glas, welches auf dem Büffet steht. Die Tropfen sind ihm also gewiß.“

„Ob sie wohl heute noch wirken werden?“

„Das werden wir erfahren. Komm nach elf Uhr wieder hierher an diese Stelle. Du wirst mich treffen.“

Er kehrte nach dem Schloß zurück. Dort erfuhr er, daß der Kapitän heute, wie so oft, in seinem Zimmer speisen werde. Als Müller sich nach dem Speisesaal begab, tat er das um einige Minuten früher als gewöhnlich. Nanon und Madelon befanden sich bereits dort. Die erstere kam ihm freudig entgegen und sagte:

„Sie sehen, daß ich wieder eingetroffen bin, Herr Doktor. Hier meine Schwester, die Sie ja an der Unglücksstelle bereits gesehen haben.“

Er und Madelon verbeugten sich sehr förmlich voreinander, ganz so, als ob sie sich im Leben noch nie begegnet seien. Aber im Laufe der Unterhaltung erhaschte sie einen passenden Augenblick und raunte ihm zu:

„Keine Sorge. Sie haben nichts zu befürchten.“

Das beruhigte ihn. Nach der Tafel, während man sich noch unterhielt, befand er sich stets in der Nähe des Büffets. Er nahm sich ein Glas Wein und benutzte die Gelegenheit, diese vierzig Tropfen in das Glas des Alten fallen zu lassen.

Als dann der Diener eintrat, mit einem kleinen Präsentierteller in der Hand, wußte er, was dieser wollte. Er schenkte sich selbst einen Absinth ein und fragte dann wie so nebenbei:

„Ein Glas auch für den Herrn Kapitän?“

„Ja, Herr Doktor.“

„Hier.“

Der Diener nahm das Glas und entfernte sich mit demselben.

Nun begann eine Zeit des Wartens für Müller. Er hörte, daß Marion nach Thionville sei, um ihre neue Freundin Harriet de Lissa zu besuchen. Auch der Amerikaner hatte das Schloß verlassen, vielleicht zu demselben Zweck. Der Abend war nahe; da entstand ein sehr bemerkbares Hin- und Herlaufen in den Korridoren, und dann verließ ein Reitknecht das Schloß, um im Galopp auf der Straße nach Thionville hinzufegen. Müller verließ sein Zimmer und erkundigte sich, was das zu bedeuten habe.

„Der Herr Kapitän ist plötzlich erkrankt“, antwortete der Diener, an den er sich gewendet hatte.

„Was fehlt ihm?“

„Er hat einen Krampfanfall.“

„Heftig?“

„O nein. Aber er scheint nicht sprechen und sich auch kaum bewegen zu können.“

„O weh! Das klingt ja ganz und gar gefährlich.“

Da räusperte sich der Mann und sagte leise:

„Hm. Ich wollte, daß es gefährlich wäre!“

„Pst! Um Gottes willen!“

„Oh, Sie werden mich nicht verraten, Herr Doktor. Aber an dem Alten würden wir doch nur unseren Peiniger verlieren.“

Nach angemessener Zeit kehrte der Diener zurück. Doktor Bertrand kam mit ihm und begab sich sogleich zu dem Patienten. Er untersuchte den letzteren und erklärte den Anfall für zwar heftig, aber keineswegs gefährlich. Er blieb zum Abendessen da. Als er im Speisesaal erschien, wurde er mit Fragen bestürmt.

„Haben Sie keine Sorge“, antwortete er. „Es handelt sich um eine Krampfart, welche keineswegs gefährlich ist.“

„Aber er kann bereits nicht mehr sprechen“, sagte die Baronin, welche es für angezeigt hielt, eine Besorgnis zu zeigen, welche Sie keineswegs empfand.

„Er wird die Sprache wiederfinden.“

„Und die Bewegung hat er verloren.“

„Er wird lernen, sich wieder zu bewegen. Ich kenne diese Krankheit sehr genau und kann Sie vollständig beruhigen. Der Herr Kapitän wird zwei Tage und zwei Nächte lang unbeweglich liegen und dann wie aus einem tiefen Schlaf erwachen. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.“

Er warf dabei auf Müller einen Blick, der diesem sagte, daß diese Worte besonders an ihn gerichtet seien, um ihn zu benachrichtigen, daß er von jetzt an zwei Tage lang freie Hand habe, nach Belieben zu schalten und zu walten.

Daher begab sich der Erzieher zu der angegebenen Zeit in den Wald, wo Fritz seiner bereits wartete.

„Guten Abend“, sagte der letztere. „Er hat die Tropfen, und sie haben sehr gut gewirkt.“

„Woher weißt du das?“

„Der Arzt wurde geholt; das genügt, um zu wissen, woran man ist. Wie steht es, Herr Doktor? Wann beginnen wir unsere Entdeckungsreise?“

„Sogleich.“

„Ah, das ist gut. Haben Sie alles mit?“

„Natürlich. Wir steigen in dem Gartenhäuschen ein.“

Das geschah. Sie gelangten unter das Häuschen, da, wo rechts sich der Gang nach dem Schloß zog, und links eine verschlossene und verriegelte Tür zu sehen war.

Sie hatten die Laternen angebrannt, und Fritz blickte neugierig in den dunklen Gang hinein.

„Hier muß es nach dem Schloß gehen. Nicht?“ fragte er. „Schlagen wir diese Richtung ein?“

„Nein. Ich habe diesen Teil der Geheimnisse bereits studiert. Jetzt muß ich wissen, was sich hinter dieser Tür verbirgt.“

„Werden wir sie öffnen können?“

„Ich hoffe es. Wir haben ja die Hauptschlüssel.“

Er probierte, und wirklich, es ging. Sie sahen, nachdem sie geöffnet hatten, einen Gang vor sich, welcher ganz dieselbe Beschaffenheit mit demjenigen hatte, der nach dem Schloß führte; sie schlossen die Tür hinter sich wieder zu und schritten dann langsam vorwärts.

Nach einiger Zeit bemerkten sie zur Seite eine Tür und dann wieder eine.

„Was mag da drin stecken?“ fragte Fritz.

„Das werden wir später erfahren.“

„Warum nicht jetzt?“

„Ich will mich vorerst nicht bei Details aufhalten. Ich muß vielmehr vor allen Dingen mich über die Lage, Natur und Richtung der Gänge unterrichten. Komm weiter.“

Sie erblickten mehrere Türen, ohne aber eine derselben zu öffnen. Nach einiger Zeit erreichten sie einen großen viereckigen Raum, in welchem der Gang durch einen zweiten rechtwinklig durchkreuzt wurde.

„Das ist's, was ich suche“, sagte Müller. „Wie es scheint, hat mich meine Ahnung nicht getäuscht.“

„Wegen der Richtung dieser Gänge?“

„Ja. Geradeaus kommen wir jedenfalls nach dem Waldloch, welches wir bereits kennen, rechts nach der Ruine, in welcher du fast ergriffen worden wärst, und links nach dem alten Turm, wo der Geist der toten Baronin sein Unwesen treibt.“

„Wie gehen wir da?“

„Zunächst geradeaus.“

Sie taten das, konnten aber bereits nach kurzer Zeit stehenbleiben. Müller beleuchtete eine der hier befindlichen Türen und sagte:

„Die kommt mir bekannt vor. Hinter dieser Tür haben wir die Schlüssel gefunden oder vielmehr annektiert. Laß uns einmal sehen.“

Er schloß auf, und sie traten ein. Sie schritten zwischen den Kisten hindurch nach dem Hintergrund, wo Müller die dort befindliche Tür aufriegelte.

„Ja, ich irre mich nicht“, sagte er. „Hier liegen leere Säcke.“

„Sind sie leer? Wozu liegen sie dann hier?“

„Um Marion als Lager zu dienen.“

„Mademoiselle Marion? Sollte die hier liegen?“

„Ja. Der Kapitän wollte an ihr eine Gewalttat begehen, die ich aber verhindert habe. Ich werde dir noch davon erzählen. Wir wollen jetzt nach dem Kreuzgang zurückkehren.“

Als sie diesen erreichten, wendeten sie sich links. Auch dieser Gang war ganz genau wie der vorige – rechts und links Türen, welche sie aber jetzt noch nicht öffneten. Endlich standen sie vor einer Tür, welche ihnen gerade entgegenstand. Auch hier paßte einer der Schlüssel.

Als sie eintraten, sah Fritz sich um und sagte sogleich:

„Ja, Sie haben recht. Hier ist die Ruine.“

„Kennst du dich aus?“

„Es ist der Saal, in welchem ich beinahe erwischt worden wäre. Ich irre mich nicht.“

„So können wir zunächst wieder umkehren, um den vierten Gang zu untersuchen, welcher meines Erachtens nach dem alten Turm führt.“

Als sie diesen Gang erreichten, fanden sie vorerst nichts, was ihn von den anderen unterschieden hätte. Bald aber zweigte sich nach rechts ein zweiter Stollen ab.

„Gehen wir da hinein?“ fragte Fritz.

„Ja. Wenn mich meine Berechnung nicht täuscht, führt er nach der Richtung, in welcher der Steinbruch liegt. Wollen einmal sehen.“

Sie hatten eine ziemliche Strecke zurückzulegen, ohne daß sie eine Tür bemerkten; dann war der Gang plötzlich verschüttet.

„Ah, das ist schade!“ sagte Fritz. „Nun können wir nicht weiter.“

„Ich möchte doch behaupten, daß wir uns gar nicht weit entfernt vom Steinbruch befinden. Doch laß uns nun den Hauptgang wieder verfolgen.“

Sie kehrten zurück und schritten weiter in denselben hinein. Hier gab es wieder Türen rechts und links. Plötzlich blieb Fritz stehen, ergriff seinen Herrn am Arm und hielt ihn fest.

„Pst!“ warnte er.

Sofort verschwand die Laterne in Müllers Tasche, so daß es vollständig dunkel war.

„Was gibt es?“ fragte der letztere.

„Mir war es, als wenn jemand gesprochen hätte.“

„Wo?“

„Da vorn, vor uns.“

„Ich habe nichts gehört.“

„Ich kann mich getäuscht haben, aber horchen wir.“

Sie verhielten sich vollständig ruhig und bewegungslos. Wirklich, nach kurzer Zeit drangen Töne an ihr Ohr, welche nur von einer menschlichen Stimme hervorgebracht werden konnten, und die von einem taktmäßigen Klopfen begleitet wurden.

„Hören Sie jetzt?“ fragte Fritz.

„Ja; sogar ganz deutlich. Laß uns vorsichtig weiterschleichen.“

Je weiter sie kamen, desto vernehmlicher wurde die Stimme. Zuletzt erblickten sie einen schmalen Lichtstreifen, welcher aus einer nicht ganz zugemachten Tür zu kommen schien.

„Das ist kein Mann, sondern ein weibliches Wesen“, bemerkte Fritz.

„Du hast recht; ich höre es auch. Kannst du ahnen, wer es vielleicht ist?“

„Nein.“

„Wir befinden uns jedenfalls in der Nähe des alten Turms.“

„Ganz gewiß.“

„Nun, welches weibliche Wesen gibt es dort?“

„Sapperment! Liama?“

„Ich vermute, daß sie es ist.“

„Wenn das wäre! So hätten wir endlich den Geist greifbar in den Händen.“

„Laß uns weitergehen. Aber mach ja kein Geräusch.“

Sie erreichten die Türspalte. Müller blickte hinein. Er stand am Eingang eines ziemlich großen Gemachs, in welchem sich ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl befanden. Eine sehr einfache Öllampe hing an einem Draht von der Decke herab und beleuchtete eine weiß gekleidete weibliche Gestalt, welche am Boden saß und damit beschäftigt war, Maiskörner auf einem Stein zu zerklopfen. Dieses Klopfen geschah im Takt und dazu erklangen aus dem Mund dieser Gestalt die Worte:

„Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen! – Der Klopfende! Wer ist der Klopfende? Wer lehrt dich begreifen, was der Klopfende ist? An jenem Tag werden die Menschen sein wie umhergestreute Motten und die Berge wie verschiedenfarbige gekämmte Wolle. Der nun, dessen Waagschale mit guten Werken schwer beladen ist, der wird ein Leben lang in Vergnügen führen, und der, dessen Waagschale zu leicht befunden wird, dessen Wohnung wird der Abgrund der Hölle sein. Wer aber lehrt dich begreifen, was der Abgrund der Hölle ist? Es ist das glühendste Feuer!“

Diese Worte waren die einhundertunderste Sure des Korans, welche die mohammedanischen Frauen beim Klopfen der Fruchtkörper abzusingen pflegen.

Auch Fritz betrachtete die Arbeitende.

„Kennst du sie?“ fragte Müller.

„Es ist dieselbe, welche uns erschien, als wir das Grab geöffnet hatten.“

„Also Liama. Auch ich erkenne sie wieder.“

„Welch eigentümliche Kleidung.“

„Es ist diejenige der Beduinenfrauen.“

„Dieses Weib muß einst schön, sehr schön gewesen sein.“

„Ja; es besitzt die Züge Marions, seiner Tochter.“

„Was tun wir, treten wir ein?“

„Wir erschrecken sie.“

„Hm. Aber unbenutzt können wir diese Entdeckung doch nicht lassen.“

„Keineswegs. Gehen wir eine Strecke zurück. Dann kommen wir mit lauten Schritten näher.“

Sie taten das; sobald ihre Schritte hörbar wurden, öffnete sich die Tür, und Liama erschien unter derselben.

„Kommst du heute schon wieder?“ fragte sie. „Laß mich doch ruhig weinen und in Frieden beten.“

„Sallam aaleïkum – Friede sei mit dir!“ antwortete Müller.

„Aaleïkum sallam – mit dir sei Friede“, entgegnete sie. „Aber wessen Stimme ist das? Ich habe sie noch nie gehört.“

„Es ist die Stimme deines Erretters, welcher dich der Freiheit und dem Licht der Sonne wiedergeben will.“

„Tritt näher!“

Sie trat in das erleuchtete Gemach zurück, und Müller folgte ihr. Fritz blieb noch draußen im Gang stehen. Sie betrachtete ihn aufmerksam und sagte dann:

„Deine Augen sind die Augen der Güte, und in deinem Gesicht steht geschrieben das Wort von der Wahrheit. Dein Herz kennt nicht die Täuschung, und dein Mund redet keine Lüge. Was bringst du mir?“

„Die Freiheit.“

„Behalte sie für dich.“

„Das Glück.“

„Liama kann nie wieder glücklich sein.“

„Die Seligkeit.“

„Die Seligkeit wird Liama nicht hier auf Erden finden, sondern erst nach dem Tod. Bist du von ihm gesandt?“

„Wen meinst du?“

„Den alten Weißbart, dem alle gehorchen müssen.“

„Nein, er ist es nicht, der mich sendet.“

„Weiß er, daß du dich hier befindest?“

„Nein.“

„So fliehe eilends von hier, sonst bist du verloren. Er ist voller Macht und Grausamkeit.“

„Ich fürchte ihn nicht.“

„Und ich ermahne dich, ihn zu fürchten, sonst wird er dich verschlingen, wie der Panther das unschuldige Lamm.“

Sie winkte ihm, fortzugehen. Er aber trat näher und sagte:

„Du bist Liama, die Tochter des Beni Hassan?“

„Ich bin nicht Liama, sondern ihr Geist.“

„Dein Vater war Menalek, der Scheik eures Stammes?“

„Er war es.“

„Hast du gekannt Saadi, den Liebling Allahs und seines Propheten?“

Da richtete sie sich auf und antwortete:

„Ob ich ihn gekannt habe! Er war meine Seligkeit, und ich ging in die Hölle, um ihn zu retten.“

„Er ist tot!“

„Nein, er lebt. Saadi kann nicht sterben.“

„Und kennst du Marion, die Enkelin des Beni Hassan?“

„Marion? Ja, ich kenne sie!“

Sie faltete die Hände, blickte flehend zu Müller herüber und fragte:

„Hast du sie gesehen?“

„Ja, ich sehe sie täglich.“

„Spricht sie auch mit dir?“

„Wir sprechen oft, sehr oft miteinander.“

„Kennt sie noch den Namen ihrer Mutter?“

„Sie kennt ihn und spricht ihn stündlich aus.“

„Sie sollte sterben. Um sie zu retten, ist Liama ein Geist geworden. Liama lebt nicht mehr; sie ist tot. Aber ihre Tochter lebt und wird glücklich sein.“

„Deine Tochter weiß, daß du nicht gestorben bist!“

„Um Allahs Willen, sie darf es nicht erfahren!“

„Sie weiß es bereits.“

„So soll sie es keinem Menschen sagen.“

„Sie hat große Sehnsucht, dich zu sehen und mit dir zu sprechen.“

„Ich darf nicht mit ihr sprechen. Ich habe geschworen beim höchsten Himmel und bei der tiefsten Hölle, meine Tochter nicht zu sprechen, nie wieder im ganzen Leben.“

„Wem hast du es geschworen?“

„Malek Omar.“

„Dem Mann mit dem grauen Bart?“

„Ja. Er hat das Leben meiner Tochter in seiner Hand. Sie soll nicht sterben, sondern leben bleiben.“

„Kommen auch andere Männer zu dir?“

„Es kommen ihrer viele, und ich beschütze sie.“

„Kennst du auch Abu Hassan, den Zauberer?“

„Ich kenne ihn. Er ist alt und grau geworden; ich habe ihn gesehen an meinem Grab.“

Liama war jedenfalls ihrer Geisteskräfte nicht mehr vollständig Herr. Was Müller jetzt von ihr erfuhr, das gab ihm eine furchtbare Waffe gegen Richemonte in die Hand.

„Wie bist du in diese Höhle gekommen?“ fragte er.

„Ich habe sie mir selbst gewählt.“

„Man hat dich nicht gezwungen?“

„Nein. Ich bin tot und wohne unter meinem Grab.“

„Willst du nicht leben, leben und glücklich sein?“

„Ich bin tot. Ich bin glücklich, wenn mein Kind lebt.“

„Darf ich mir deine Wohnung betrachten?“

Er bemerkte nämlich eine Tür, welche weiterführte. Seine Frage brachte einen ganz unerwarteten Eindruck hervor. Sie sprang an die Tür, stellte sich vor dieselbe und rief:

„Zurück! Zurück! Wer diesen Eingang erzwingen will, der muß eines fürchterlichen Todes sterben und ich mit ihm!“

Müller ahnte, daß diese Tür die Verbindung mit dem Grab und dem Turm herstellte. Er hätte gar zu gern das Geheimnis kennengelernt, aber er hütete sich, dem armen Weib zu schaden. Darum sagte er in beruhigendem Ton:

„Ich will ihn nicht erzwingen. Ich fragte dich nur.“

„Frage auch nicht! Ich darf dir nicht antworten, denn ich habe es geschworen. Verlaß mich! Ich will allein sein.“

„Darf ich nicht wiederkommen?“

„Nein, jetzt nicht.“

„Auch nicht später?“

„Vielleicht. Sage mir dann, was meine Tochter mit dir vom Geist ihrer Mutter spricht.“

„Ich werde dir alles mitteilen.“

„Aber laß es dem mit dem grauen Bart nicht wissen!“

„Nein. Wirst du ihm sagen, daß ich hier gewesen bin?“

„Nein, denn sonst würde er dich erwürgen. Nun aber gehe! Allah sei mit dir!“

Sie schob ihn zur Tür hinaus und verriegelte sie dann von innen. Fritz war von ihr gar nicht gesehen worden. Die beiden Männer tappten sich im Dunkeln fort, und Müller zog erst dann die Laterne hervor, als sie den Kreuzgang erreicht hatten. Auch hier erst begann er zu sprechen.

„Hast du alles gehört?“ fragte er.

„Alles!“

„Welch eine Entdeckung! Welche Waffe gegen den Kapitän gibt sie mir in die Hand!“

„Er ist verloren, sobald Sie wollen.“

„Ja, aber ich darf noch nicht wollen.“

„Warum nicht? Solches Ungeziefer muß man sofort vertilgen. Es leben zu lassen ist Sünde.“

„Und dennoch darf ich nicht – meines Vaters wegen.“

„Ihres Vaters wegen?“ fragte Fritz ganz erstaunt.

„Ja.“

„Der ist wohl jedenfalls tot.“

„Nein; er lebt.“

„Himmel! Wo sollte er sein?“

„Hier in diesen Gewölben.“

Der gute Fritz machte ein Gesicht, als ob er überzeugt sei, daß er jetzt seinen Verstand verlieren werde.

„Hier in diesen Gewölben? Kreuzmillionendonnerwetter! So muß er heraus, und zwar sofort! Wo steckt er denn? Die Schlüssel haben wir!“

„Noch kann ich das nicht sagen. Daß er hier ist, vermute ich, gewiß ist es noch nicht. Und befindet er sich hier, so sind wir ihm gerade in diesem Augenblick jedenfalls sehr nahe. Laß uns hier an diesem Ort einmal suchen, ob wir ein verborgenes Gefängnis zu entdecken vermögen.“

Er erinnerte sich genau der Worte, welche der kranke Baron im Speisesaal gesprochen hatte. Hier dieser Kreuzgang war der Mittelpunkt aller Gewölbe; hier mußte sich der Gesuchte finden, wenn er überhaupt sich hier befand.

Die beiden forschten und boten allen ihren Scharfsinn auf, allein vergebens. Es war nichts zu entdecken.

„Wir haben ja noch keine einzige der vielen Türen geöffnet“, sagte Fritz. „Vielleicht ist er da irgendwo versteckt.“

„Das glaube ich nicht. Aber wissen müssen wir freilich, was sich hinter diesen Türen befindet. So wollen wir also einmal nachforschen.“

Sie gingen von Gang zu Gang, von Tür zu Tür. Diese letzteren waren alle mittels der Schlüssel zu öffnen. Es gab da Raum an Raum, und alle die Räume waren mit Waffen und Munition angefüllt. Das machte auf die beiden Eindringlinge einen beinahe überwältigenden Eindruck.

Wie viele Menschenleben sollten durch diese Vorräte zugrunde gehen. Nein, das durfte nicht geschehen!

„Ehe ich zugebe, daß die Franzosen sich dieser Waffen bedienen können, würde ich den ganzen Kram in die Luft sprengen“, sagte Fritz.

„Das ist auch meine Ansicht. So viel an mir liegt, sollen diese Gewehre und Munition keinem einzigen Deutschen Schaden machen. Aber weißt du, daß der Tag gleich anbrechen wird? Es ist Zeit, Schicht zu machen. Wir haben noch einen ganzen Tag, bevor der Alte wieder gesund sein wird.“

„Er sollte liegenbleiben, liegenbleiben und tausendfache Schmerzen erdulden! Warum zeigen Sie ihn nicht an?“

„Weil ich meinen Vater suche, welcher vielleicht elend verhungern und verschmachten müßte, wenn der Kapitän gefangen würde.“

„Ah so! Das begreife ich. Aber Liama? Was wird mit dieser?“

„Hm! Ich werde sie einstweilen lassen müssen, wo sie ist.“

„Und auch niemanden etwas von ihr sagen?“

„Keinem Menschen.“

„Aber doch wenigstens ihrer Tochter?“

„Auch dieser nicht. Ich würde voraussichtlich ihr und der Mutter schaden. Ehe ich handle, muß ich sämtliche Geheimnisse dieser unterirdischen Gewölbe kennen. Dann wird der ganze Bau des Alten in einem einzigen Augenblick zusammenbrechen. Wehe ihm, wenn ich einmal mit ihm abzurechnen beginne!“ –

Es vergingen einige Tage. Die Voraussage des Arztes zeigte sich als wohl begründet. Nach zwei Tagen erwachte der Kapitän, fühlte sich doch aber so angegriffen, daß er sich nicht sehen ließ. Das äußere Leben ging seinen ruhigen Gang, scheinbar ohne eine Änderung hervorzubringen. Aber die tiefer liegenden Pulse klopften heimlich und da gab es denn stille Entwicklungen, von denen niemand etwas zu bemerken schien.

Marion verkehrte täglich mit Harriet de Lissa, und – der Amerikaner suchte ebensogern das Haus des Arztes auf. Er wurde mit unwiderstehlicher Gewalt von der vermeintlichen Engländerin angezogen, und es wollte ihm vorkommen, als ob sie seine Nähe nicht ungern empfinde.

So war er auch heute gekommen, sie zu sehen. Er hörte, daß sie sich im Garten befinde, und begab sich dorthin. Er fand sie in einer offenen Weinlaube sitzen, welche ganz nahe an dem Zaun stand, und erhielt die Erlaubnis, neben ihr Platz zu nehmen.

Er fühlte sich so glücklich in der Nähe des schönen Wesens, er dachte gar nicht daran, von seiner Liebe zu sprechen, denn es war ihm ganz so, als ob sie das auch ohne Worte bereits erfahren habe.

Da kam ein kurzes, sehr dickes Männchen hinter den Gartenzäunen langsam daher. Er trug einen riesigen Kalabreser auf dem Kopf und in den Händen eine Mappe und einen Feldstuhl.

Er schritt auf einem Rasenweg, und so mochte es kommen, daß man ihn nicht hörte. Es war der gute Herr Hieronymus Aurelius Schneffke, welcher soeben von Metz gekommen war.

Indem er so, halb in Gedanken versunken, dahinschritt, zuckte er plötzlich zusammen und blieb stehen. Er hatte ein halblautes, wohl tönendes Lachen gehört.

„Donnerwetter!“ flüsterte er. „Dieses Lachen kenne ich.“

Er horchte. Ja, jetzt hörte er auch eine weibliche Stimme sprechen.

„Die Gouvernante ist's, die Gouvernante! Das ist so fest und gewiß wie Pudding. Aber wo ist sie?“

Er trat hart an den Gartenzaun und blickte durch das Staket.

„Bei Gott! Dort sitzt sie in der Laube, so frisch und so schön wie Blüte und Sonnenschein. Und bei ihr sitzt – Mohrenelement! Wer ist das?“

Er betrachtete sich den Amerikaner genau und sagte dann:

„Ja, es stimmt; es stimmt ganz genau! So ein charakteristisches Gesicht kann es nicht zweimal geben. Das ist das Original des Porträts in Schloß Malineau, nur älter als das Bild. Das ist der Herr von Bas-Montagne wie er leibt und lebt. Ich werde –“

Er wollte sich am Zaun ein wenig emporziehen, um besser sehen zu können; aber er war zu schwer. Es krachte – die beiden Latten, welche er mit den Händen gefaßt hatte, brachen ab, und der gute Hieronymus stürzte zur Erde nieder.

Der Amerikaner hatte das Prasseln gehört. Er eilte herbei, um den Übeltäter womöglich zu erwischen. Er kam gerade zur rechten Zeit, um zu bemerken, daß Schneffke sich wieder vom Boden erhob.

„Herr, was suchen Sie hier?“ fuhr er ihn an.

„Zaunlattenspitzen“, antwortete Schneffke.

„Und die brechen Sie sich ab?“

„Ja.“

„Zu welchem Zweck denn?“

„Um auf die Erde zu fallen. Das sehen Sie ja.“

„Mann, Sie scheinen mir so eine Art von Strolch zu sein.“

„Freilich! Und zwar von der allerschlechtesten Sorte.“

„Donnerwetter! Wollen Sie sich über mich lustig machen?“

„Nicht übermäßig viel, denn Sie sehen mir wirklich gar nicht sehr lustig aus. Wie heißen Sie denn eigentlich?“

„Ah, das ist stark! Dieser Mensch kommt her, um Zaunlatten abzureißen, und fragt mich nach meinem Namen! Wie ist denn der Ihrige, he?“

„Der meinige ist einigermaßen selten. Ich bin der Tiermaler Hieronymus Aurelius Schneffke aus Berlin.“

„Schön! Was haben Sie als Maler denn hier am Zaun zu schaffen?“

„Das habe ich Ihnen ja bereits gesagt. Aber nun bitte ich, auch Ihren Namen erfahren zu dürfen.“

„Das finde ich nicht für nötig. Ich gebe meine Karte nur ganz anständigen Menschen.“

„Und ich bin kein solcher?“

„Jedenfalls nicht! Sie haben mehr das Aussehen eines Bummlers als eines Malers und daher ziehe ich es vor, meinen Namen als mein ausschließliches Eigentum zu betrachten.“

„Daran tun Sie sehr recht, da Ihr Name nicht viel wert zu sein scheint. Wer einen guten Namen hat, braucht ihn nicht zu verschweigen.“

Das war eine sehr kräftige Zurechtweisung. Sie traf den Amerikaner wie ein Dolchstoß.

„Herr, das wagen Sie mir zu sagen!“ rief er. „Soll ich etwa –“

Er hielt inne; ein warmes, weiches Händchen legte sich auf seine Schulter. Die Engländerin war herbeigekommen.

„Wen haben Sie da, Monsieur?“ fragte sie.

„Oh, einen Menschen, der es gar nicht verdient, daß man, nun, daß man –“

Und abermals konnte er nicht ausreden, denn sie unterbrach ihn plötzlich:

„Wen sehe ich da! Das ist ja unser guter Herr Hieronymus Schneffke aus Berlin!“

Der Maler zog mit möglichster Grandezza den Hut, machte eine ehrerbietige Verbeugung und sagte im höflichsten Ton zu der vor ihm stehenden Engländerin:

„Ja, ich bin es noch, meine Gnädige, freue mich ungemein, Sie zu sehen.“

Er betonte dabei das Wörtchen ‚noch‘ so sehr, daß es auffallen mußte.

„Noch?“ fragte sie. „Wie meinen Sie das, mein hochgeehrter Herr Schneffke?“

„Es gibt Leute, welche das heute nicht mehr sind, was sie gestern waren.“

Sie lächelte und fragte:

„Ja, die Verhältnisse verändern sich oft plötzlich.“

„So daß aus armen Gouvernanten recht reiche und vornehme Damen werden.“

„Warum nicht! Aber, Herr Schneffke, lassen Sie sich gratulieren, daß Sie jenen Unglückszug versäumten.“

„Ich danke! Bei dem fortwährenden Pech, welches mir angeboren zu sein scheint, befände ich mich heute jedenfalls unter den ewig Seligen.“

„Haben Sie Ihr Ziel glücklich erreicht?“

„Ja, danke. Ich habe dort sogar ein Glück gefunden, welches ich kurz vorher anderwärts vergebens suchte.“

Sie ahnte sofort, was er meinte. Darum fragte sie in freudigem Ton:

„Verstehe ich Sie recht, so darf ich wohl von ganzem Herzen nochmals gratulieren?“

„Hm! Was meinen Sie, meine Gnädige?“

„Sie sind – verlobt.“

„Donnerwetter! Ja, Sie haben es erraten.“

„Ah, schön! Wie heißt sie?“

„Marie.“

„Ein hübscher, poetischer und auch frommer Name!“

„Ja, hübsch ist sie, poetisch ebenso und fromm auch. Sie hat so ziemlich meine elegante und auffallende Statur. Wir passen ausgezeichnet zueinander.“

Da stieß der Amerikaner, der sich nicht zu halten vermochte, ein lautes Lachen aus.

„Und das nennen Sie hübsch?“

„Ja; warum nicht?“ fragte Schneffke.

„Nun, betrachten Sie sich doch einmal genauer!“

Die Dame glaubte, daß sich der kleine Maler in Wirklichkeit beleidigt fühlen werde, darum sagte sie in bittendem Tone:

„Monsieur Deep-hill!“

Da horchte Schneffke auf.

„Was?“ fragte er. „Deep-hill heißt dieser Herr?“

„Ja.“

„Er hat mir seinen Namen verschwiegen. Es wäre jedenfalls klüger gewesen, ihn mir zu nennen, das werde ich ihm doch noch beweisen. Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein!“

Er ging, ohne sich umzusehen. Aber als er dann um die Ecke gebogen war, blieb er einen Augenblick stehen und murmelte:

„Wunderbar! Höchst wunderbar! Diese Ähnlichkeit! Sollte er es wirklich sein! Das wäre ein Zufall oder eine Gottesschickung, wie es besser keine geben könnte! Deep-hill heißt auf französisch Bas-Montagne und auf deutsch Untersberg. Hier werde ich einmal den Herrgott spielen und diesen Leuten zeigen, was Herr Hieronymus Aurelius Schneffke eigentlich für ein Kerl ist.“

Nachdem Herr Hieronymus Aurelius Schneffke sein Renkontre mit Emma von Königsau und dem Amerikaner gehabt hatte, begab er sich in die Stadt, um in einem der dortigen Gasthöfe Logis zu nehmen. Er traf zufälligerweise gerade denjenigen, welchen Fritz Schneeberg zu besuchen pflegte, weil das Lokal seiner Wohnung gegenüber lag. Es war derselbe Gasthof, in welchem, als damals die Seiltänzerin verunglückte, die Künstler gewohnt hatten. Von dort aus war auch der Bajazzo mit der Kasse entflohen.

Als Schneffke eintrat, befand sich ein einziger Gast in dem Zimmer – Fritz. Er grüßte diesen und ließ sich ein Glas Wein geben. Nachdem er dasselbe erhalten hatte, entfernte sich die Kellnerin, und nun befanden sich die beiden also allein. Der dicke Maler war ein abgesagter Feind der Langeweile, und daher machte er dem bisherigen Stillschweigen ein Ende, indem er die Unterhaltung begann:

„Haben wir uns nicht bereits gesehen?“

Fritz hatte ihn längst forschend betrachtet. Er nickte mit dem Kopf und antwortete:

„Bereits mehrere Male, denke ich.“

„Mir scheint es auch so, aber ich weiß den Ort nicht mehr.“

„Zunächst wohl hier in Thionville?“

„Ja.“

„Wo denn da?“

„Auf dem Bahnhof.“

„Ah! Kann mich nicht entsinnen!“

„Aber ich desto besser. Ich stand im Bahnwagen und Sie versäumten den Zug. Nicht?“

„Ja, das ist wahr. Ich habe das angeborene Pech, die Züge zu versäumen. Es ist das nicht zu ändern.“

„Man muß sich in solches Unglück ergeben!“ lachte Fritz. „Und dann habe ich Sie auch in Etain wieder gesehen.“

„Sapperment! Wann denn?“

„Es war des Abends. Sie hatten sich mit einem roten Tischtuch umwickelt. Daß Sie dabei nicht barfuß waren, will ich nicht beschwören.“

„So, so! Hm! Ja, ich kann barfuß gewesen sein. Ich schwitzte an den Füßen. Was sind Sie für ein Landsmann?“

„Ich stamme von drüben aus der Schweiz.“

„Ihr Metier?“

„Pflanzensammler.“

„Also Botanikus? Das ist kein übles Gewerbe. Man hat es da mit Pflanzen und Blumen zu tun, und das ist viel besser als mit Tieren oder gar Menschen.“

„Sie sind Menschenfeind?“

„Ja. Die ganze Menschheit ist nichts als ein riesiger Pudding, der sauer geworden und verdorben ist, und in welchem allerlei Gewürm und Geschmeiß herumkrabbelt.“

„Danke.“

„Warum?“

„Weil ich nach Ihrer Anschauung dann auch zu dem Gewürm und Geschmeiß gehöre.“

„Natürlich.“

„Sie wohl nicht?“

„Ich auch. Das versteht sich doch von selbst.“

„Dann gehören Sie aber wohl zu der dicksten Sorte von Würmern, wie es scheint.“

„Gewiß. Oder finden Sie mich vielleicht einem Bandwurm ähnlich?“

„Ganz und gar nicht. Aber Sie haben mich nach meinen Verhältnissen gefragt. Darf ich auch wissen, was Sie sind?“

„Warum nicht? Ich bin Musikus.“

„Hm! Was spielen Sie für ein Instrument?“

„Die Maultrommel oder das Brummeisen.“

„Das ist jedenfalls das schwierigste und geistreichste Instrument.“

„Das ist gar nicht zu bezweifeln.“

„Und wo sind Sie her?“

„Ich bin ein geborener Ungar.“

„Ein Ungar? Hm! Sie haben aber in Deutschland gelebt?“

„Nein. Keinen Augenblick.“

„Das sollte mich wundern.“

„Warum?“

„Ich glaube, Sie in Deutschland gesehen zu haben.“

„Sie irren sich. Ich kann dieses Deutschland mitsamt seinen Bewohnern nicht leiden.“

„Möglich! Aber einen kenne ich doch, den Sie leiden können.“

„Wer könnte das sein?“

„Ein gewisser Martin Tannert. Er ist Telegraphist.“

„Alle Wetter! Kennen Sie den?“

„Ja. Sie kennen ihn auch.“

„Wer sagt das?“

„Er selbst. Übrigens habe ich Sie oft gesehen. Ich bin Ihnen in Berlin wiederholt begegnet. Sind Sie nicht der dicke Maler, der einmal beinahe in der Spree ertrunken ist, weil er gewettet hatte, den Schornstein eines Dampfschiffes emporklettern zu wollen?“

„Pfui Teufel! Das Ding wissen Sie?“

„Ganz Berlin sprach doch damals davon.“

„Na, meinetwegen! Übrigens habe ich damals diese verteufelte Wette gewonnen.“

„Sind aber dann ins Wasser gestürzt.“

„Daran war nur der Kapitän schuld, der die Sache übelgenommen hatte. Ich wollte mich retirieren, gab nicht acht auf die Breite des Schiffes, stieß von rückwärts an die Barriere und stürzte kopfüber von hinten in das Wasser. Na, schwimmen kann ich; aber ich sah doch aus wie ein Pudding, als ich wieder auf das Trockene kam.“

„Das läßt sich denken. Nun aber geben Sie wohl zu, in Berlin gewohnt zu haben?“

„Sie zwingen mich dazu.“

„Und in Ungarn sind Sie nicht geboren?“

„Ich bezweifle es.“

„Und Musikus sind Sie auch nicht?“

„Fällt mir gar nicht ein! Wer so dick ist wie ich, der wird sich wohl hüten, das bißchen Luft, welches er zu schnappen bekommt, so unsinnigerweise in eine Messingtute zu blasen.“

„Und ihr Deutschenhaß –“

„Ist auch nicht weither.“

„Schön. Einverstanden. Ich nehme an, daß Sie ein sehr guter Deutscher sind?“

„Das will ich mir auch ausgebeten haben. Wer das Gegenteil behaupten wollte, dem würde ich eine ins Gesicht malen, daß er einen Sperling für das Universum ansehen sollte.“

„Nun, warum unterhalten Sie sich dann französisch?“

„Na, sprechen Sie etwa deutsch?“

„Ein klein wenig.“

„Nun, so lassen Sie uns sehen, wie weit Sie mit diesem klein wenig reichen werden. Oder haben Sie etwa geflunkert, geradeso wie ich?“

„So wie Sie nicht. Ich bin wirklich Pflanzensammler.“

„Aber ein Deutscher?“

„Ja.“

„Hm! Wie heißen Sie denn eigentlich?“

„Schneeberg.“

„Donnerwetter. Ist Ihr Vorname Fritz?“

„Ja.“

„Da brate mir einer einen Storch; aber besonders die Beine recht knusprig! Herr Fritz Schneeberg, ich kenne Sie.“

„Wirklich?“

„Ja. Darf ich mich hinüber zu Ihnen setzen?“

„Natürlich. Kommen Sie, Landsmann. Trinken wir zusammen.“

„Ja. Trinken wir zusammen, bis die Schwarte platzt.“

„Das wird wohl bei Ihnen eher geschehen als bei mir.“

„Wieso?“

„Weil die Ihrige bereits über die Maßen angespannt ist.“

„Na, es geht noch. Es ist auszuhalten. So! Doch klappen wir mit den Gläsern an. Ihre Gesundheit, Vetter!“

„Ihr Wohl! Aber – Vetter? Wieso?“

„Na, von unserer Urahne, der alten Eva, her! Ist's nicht so?“

„Das kann ich nun freilich nicht bestreiten“, antwortete Fritz, der an dem munteren Dicken Gefallen fand.

„Also! Alle Menschen sind Vettern, und alle Deutschen sind Brüder. Noch einmal prosit!“

„Prosit! Aber sprechen Sie nicht so laut!“

„Freilich, in diesem verdammten Franzosenland hat man vorsichtig zu sein. Wissen Sie, daß diese Kerls damit umgehen, auf die Deutschen loszuschlagen?“

Fritz machte ein erstauntes Gesicht und antwortete:

„Was Sie sagen! Unmöglich!“

Der Dicke blinzelte mit den Augen und sagte:

„Sie kleiner Schäker! Wollen Sie mich etwa dumm machen?“

„Ich Sie? Wieso?“

„Was ich Ihnen sagen will, wissen Sie besser als ich.“

„Besser? Wieso?“

„Na, soll ich es Ihnen etwa an den Fingern herzählen?“

„Ich begreife Sie nicht.“

„Gut, ich will mich nicht in Ihre Geheimnisse einschmuggeln. Aber ich will aufrichtiger sein als Sie und Ihnen eine Mitteilung machen, welche –“

Er blickte sich vorsichtig um.

„Was suchen Sie?“ fragte Fritz.

„Sind wir hier sicher?“

„Ja.“

„Ist jemand dort in dem Nebenzimmer?“

„Nein. Ich habe bereits nachgesehen.“

„Nachgesehen? Ah, da erwische ich Sie ja! Wer in die Stuben guckt, ob er sicher sei, der hat Veranlassung, vorsichtig zu sein. Na gut! Wenn Sie sich einen Pflanzensammler nennen, so sind Sie jedenfalls hier in dieser Gegend bekannt?“

„So leidlich.“

„Kennen Sie Schloß Ortry?“

„Ja.“

„Auch den alten Kerl, der da wohnt?“

„Sie meinen den alten Kapitän Richemonte?“

„Ja.“

„Den kenne ich.“

„Nun, der alte Knaster soll es faustdick hinter den Ohren haben, nämlich gegen die Deutschen.“

„Ich weiß, daß er die Deutschen haßt.“

„Der Mensch kauft sogar Pulver.“

Fritz, welcher das ebensogut wußte, tat doch erstaunt:

„Pulver?“ fragte er. „Wozu?“

„Na, gegen die Deutschen.“

„Will er denn Krieg mit ihnen führen?“

„Hören Sie, alter Fritze, tun Sie doch nicht wie ein neugeborenes Kind.“

„Aber wie kommen Sie denn eigentlich zu der Ansicht, daß gerade ich etwas wissen soll?“

„Ich bin überzeugt, daß Sie neben den Pflanzen noch etwas ganz anderes sammeln.“

„Was denn?“

„Pah! Zanken wir uns nicht. Ich habe bereits gesagt, daß ich mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen möchte.“

„Aber fragen darf ich doch, wo Sie gehört haben, daß ich noch etwas anderes als Pflanzen sammle.“

„Auf Schloß Malineau und Umgegend.“

„Sie waren dort?“

„Ja. Aber davon später!“

„Nein, nicht später. Was wollten Sie dort?“

„Einen barbieren.“

„Witz!“

„Nein, Wirklichkeit! Ich wollte einen über die Ohren barbieren, nämlich einen gewissen Charles Berteu.“

„Sapperment!“

„Ja, da fahren Sie in die Luft vor Erstaunen!“

„Was haben Sie mit dem zu tun?“

„Vielerlei. Das ist meine Sache. Sie haben sich um meine Geheimnisse ebensowenig zu bekümmern wie ich mich um die Ihrigen. Aber da fällt mir ein! Haben Sie einen Bruder?“

„Nein.“

„So! Ich dachte!“

„Warum?“

„Weil ich einen Herrn gesehen habe, der Ihnen so ähnlich sieht wie ich mir selber.“

„Wo?“

„In Tharandt. Er fuhr mit mir nach Dresden und dann weiter nach Berlin, wo er sich noch befindet.“

„Wer ist es?“

„Ein Maler. Er heißt Haller.“

„Aus Stuttgart?“

„Sapperment! Sie kennen ihn?“

„Nein. Ich weiß nur, daß es in Stuttgart einen Maler gibt, welcher Haller heißt.“

„So! Die Ähnlichkeit ist wirklich ungeheuer. Aber Brüder können Sie freilich nicht sein, da Sie so verschiedene Namen haben.“

„Was war es denn, was Sie mir mitzuteilen hatten.“

„Ach so! Wegen des Pulvers.“

„Welches der alte Kapitän kauft?“

„Ja. Er bekommt eine neue Ladung.“

„Wann?“

„Heute um Mitternacht.“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich habe – hm, das gehört auch zu meinen Geheimnissen.“

„Aber warum sprechen Sie gerade zu mir davon?“

„Weil ich denke, daß Sie als Pflanzensammler sich auch für Pulver interessieren.“

„Sie sind ein eigentümlicher Kerl!“

„Das sagt schon mein Name.“

„Wie heißen Sie denn?“

„Hieronymus Aurelius Schneffke.“

„Allerdings ein sehr poetischer Name.“

„Finden Sie das auch? Ja, meine Eltern scheinen sich in einer sehr lyrischen Stimmung befunden zu haben, als sie mir diesen Namen gaben. Doch, um wieder auf unser Pulver zu kommen, so möchte ich dabei sein.“

„Heute abend, wenn es gebracht wird?“

„Ja.“

„Wozu?“

„Um die Geschichte zu vereiteln.“

„Herr Schneffke, keine Unvorsichtigkeit, die man beinahe Vorwitz nennen möchte!“

„Unsinn! Haben Sie keine Sorge um mich! Aber es geht gar nicht anders; ich muß diesen Kerls etwas auswischen. Ich habe einen Pik auf diese beiden Menschen!“

„Wen meinen Sie?“

„Diesen Charles Berteu und seinen Freund Ribeau.“

„Bringen denn diese das Pulver?“

„Freilich.“

„Kennen Sie den Ort, wo sie abladen werden?“

„Ich habe ihn erlauscht, kenne ihn aber nicht. Gibt es hier in der Nähe Steinbrüche?“

„Einen einzigen.“

„Waren Sie bereits dort?“

„Öfters.“

„Und Sie sind überzeugt, daß es keinen zweiten gibt?“

„Ja. Ist das so wichtig?“

„Das versteht sich.“

„Warum?“

„Weil das Pulver in diesem Steinbruch abgeladen werden soll.“

„Sapperment.“

„Nicht wahr, das frappiert Sie?“

„Natürlich. Es soll also heimlich geschehen?“

„Wie es scheint. Aber ich werde ihnen diese Suppe versalzen.“

„Inwiefern?“

„Ich belausche sie.“

„Wozu?“

„Und mache dann Anzeige.“

„Die würde gar nichts nützen.“

„Was? Nichts nützen? Heimliche Pulvertransporte sind doch überall, also auch in Frankreich, verboten.“

„Hier scheinen aber gegenwärtig andere Verhältnisse zu herrschen.“

„Mag sein.“

„Also mit einer Anzeige erreichen Sie nichts.“

„So mache ich es anders.“

„Wie denn?“

„Ich sprenge den ganzen Kram in die Luft!“

„Oho!“

„Ja, das bin ich imstande.“

„Und dabei fliegen Sie selbst mit in die Luft.“

„Fällt mir gar nicht ein! Es wird hier doch wohl so etwas wie Zündschnur zu kaufen sein.“

„Ich warne Sie vor allen Unvorsichtigkeiten!“

„Aber soll ich es denn ruhig geschehen lassen, daß man hier eine Menge Pulver aufhäuft, um später uns Deutsche damit niederzuschießen?“

„Das ist allerdings nicht nötig, aber es lassen sich jedenfalls noch andere Mittel finden als Anzeige und Zündschnur.“

„Wissen Sie etwa eins?“

„Im Augenblick nicht. Ich werde nachdenken.“

„Ja, Sie denken nach, und bis Sie in sechs oder acht Wochen ein Mittel gefunden haben, ist es längst zu spät.“

„Acht Wochen brauche ich nicht. Man muß die Verhältnisse kennen; das heißt, man muß dabei sein; dann handelt man so, wie es dem Augenblick angemessen ist.“

„Alle Wetter! Hören Sie, Fritze, Sie kommen mir da ein wenig sonderbar vor. Wer hat es denn erlauscht, daß heute die Sendung stattfinden soll?“

„Nun, Sie.“

„Schön! Die ganze Geschichte ist also mein Geheimnis, mein Eigentum. Und ich soll ausgeschlossen werden?“

„So habe ich das nicht gemeint.“

„Aber Sie halten mich für einen Dummkopf. Habe ich es erst erlauscht, so bin ich doch wohl auch der Mann dazu, heute weiterzulauschen. Nicht Sie haben mich mitzunehmen, sondern ich bin der Mann, der zu entscheiden hat, ob auch Sie mitkommen dürfen. Verstanden, alter Schwede?“

„Was Sie da vorbringen, das klingt nicht ganz uneben, mein Lieber; aber ich muß Ihnen sagen –“

„Nichts müssen Sie sagen!“ fiel ihm der Dicke schnell in die Rede. „Ich bringe überhaupt niemals etwas Unebenes vor. Ich gehe heute abend nach dem Steinbruch. Will ich Sie mitnehmen, so ist das eine Gefälligkeit, die ich Ihnen erweise! Punktum!“

„Sapperment, gehen Sie los!“

„Na, gehen Sie mit los?“

„Heute abend?“

„Ja.“

„Gut; ich gehe mit.“

„Wo wohnen Sie?“

„Hier gegenüber.“

„Schön! Wo treffen wir uns?“

„Hier. Das wird am besten sein. Wo logieren Sie?“

„Auch hier.“

„So paßt es ja. Also, ich werde nach neun Uhr kommen, um Sie abzuholen.“

„Einverstanden. Aber es braucht niemand zu bemerken, daß wir etwas miteinander vorhaben.“

„Das versteht sich ganz von selbst. Wenn ich hier eintrete, gehen Sie voran. Ich trinke nur ein einziges Glas Wein und komme dann nach.“

„Wenn ich vorangehen soll, muß ich doch den Weg kennen.“

„Das ist richtig. Sie wenden sich draußen von der Tür an rechts und biegen in die erste Gasse. Diese führt hinaus ins Freie. Man sieht von weitem eine Gruppe hoher Erlen. An ihnen geht ein schmaler Weg vorüber, grad nach dem Steinbruch.“

„Schön! Das genügt.“

„Die Sache ist vielleicht mit einiger Gefahr verbunden. Sind Sie im Besitz von Waffen?“

„Ich habe einen Revolver. Soll ich mir vielleicht noch ein Vierteldutzend Kanonen kaufen?“

„Ist nicht nötig. Ich bringe auch einen Revolver mit. Das wird genügen. Es ist ja doch nur für den Fall, daß wir bemerkt werden.“

„Na, totschlagen würde man uns doch nicht!“

„Nehmen Sie die Sache nicht so leicht. Diese Franzosen lassen sich nicht ungestraft in die Karten blicken, und der alte Kapitän ist ganz der Mann danach, einem das Lebenslicht auszublasen, ohne viele Umstände zu machen.“

„So wird man sich danach verhalten. Ich blase auch!“

„Waren Sie vielleicht Soldat, Herr Schneffke?“

Fritz musterte dabei die Gestalt des Dicken mit einem Blick, der erraten ließ, daß er ganz bestimmt ein Nein erwarte.

„Natürlich“, antwortete der Maler.

„Was? Wirklich? Unmöglich!“

„Warum, he?“

„Bei diesem Körperumfang?“

„Pah, ich stehe bei der dicken Artillerie!“

„Sie spaßen.“

„Fällt mir nicht ein! Ich war nicht nur Soldat, sondern ich bin es sogar noch.“

„Bei welcher Truppe stehen Sie?“

„Bei der dicken Artillerie. Das habe ich Ihnen bereits gesagt, und das haben Sie sehr einfach zu glauben! Und nun noch etwas anderes: Sie standen im Wagen, als ich hier den Zug versäumte. Mit wem sind Sie gefahren?“

„Ich fuhr in Gesellschaft zweier Damen.“

„Dachte es mir! Madelon und Nanon?“

„Ja.“

„Haben Sie von mir gesprochen?“

„Sehr viel sogar!“

„Das glaube ich. Diese eine, nämlich die Nanon, kannte ich nicht; aber mit Madelon bin ich von Berlin bis nach Thionville gefahren. Ich hoffe, daß sie zu der Erkenntnis gekommen ist, daß es keinen besseren und aufmerksameren Reisebegleiter geben kann als Herrn Hieronymus Aurelius Schneffke.“

„Ja, davon ist sie überzeugt.“

„Nicht wahr?“

„Gewiß, denn keiner hat so oft den Zug versäumt, und keiner ist so oft auf die Nase gefallen wie dieser Herr Schneffke.“

„Donnerwetter! Sieht meine Nase etwa so aus, als ob ich so oft auf sie gefallen wäre?“

„Nein. Sie ist durch die dicken Backen geschützt worden. Aber Scherz beiseite! Was haben Sie denn eigentlich in Schloß Malineau gewollt?“

„Davon vielleicht später. Aber was haben denn Sie für ein Abenteuer dort erlebt?“

„Davon auch später!“ lachte Fritz.

Der Dicke drohte mit dem Finger und sagte:

„Es wurde davon gesprochen. Hören Sie, die Sache kommt mir höchst verdächtig vor!“

„Wieso?“

„Sie sind von Mademoiselle Nanon eingeladen worden, sie und ihre Schwester zu begleiten?“

„Ja.“

„Also als Schutzgeist?“

„So ähnlich!“

„Nun, man weiß ja, von welchem Geist eine junge Dame sich am liebsten beschützen läßt. Hat Mademoiselle etwa ein Auge auf Sie geworfen?“

„Hm!“

Der brave Fritz war bei der Frage des Dicken wirklich rot geworden. Dieser bemerkte es und sagte:

„Nanon ein Auge auf Sie, und Sie wohl alle beide Augen auf die Mademoiselle?“

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn es so wäre?“

„Ja.“

„Was denn?“

„Diese Traube hängt für Sie zu hoch, und wenn Sie klug sein wollen, so machen Sie es wie der Fuchs, welcher sagte: Sie ist mir zu sauer!“

„Sie sprechen in Rätseln!“

„Aber mit Überzeugung, und nicht ohne Grund.“

Jetzt wurde Fritz aufmerksam. Er fragte schnell:

„Darf ich Sie ersuchen, sich deutlicher zu erklären?“

„Ja, ersuchen dürfen Sie mich; aber ich werde mich hüten, es zu tun. Ich will Sie nur warnen. Unglückliche Liebe soll ein gar bitteres Abendessen sein. Ist Ihnen das alte Lied bekannt:

Wenn sich zwei Herzen scheiden,


Die sich dereinst geliebt,


Das ist ein großes Leiden,


Wie's größer keines gibt?“

„Ich habe es oft gesungen.“

„Schön! Singen Sie es, so oft Sie wollen; aber erleben Sie es nicht! Wie schlimm das ist, das habe ich sehr, sehr oft an mir erfahren, mein Lieber!“

„So, sehr oft?“

„Ja, leider!“

„Und sind doch so dick dabei geworden.“

„Das liegt weniger an der unglücklichen Liebe als vielmehr an meiner glücklichen Konstitution. Die Körbe, welche ich bekommen habe, haben mich gemästet. Ich bin eben keine so ätherische Natur.“

„Ich auch nicht.“

„Ich warne Sie dennoch.“

„Aber Sie müssen doch Gründe haben, anzunehmen, daß diese Traube für mich zu hoch hängt?“

„Die habe ich allerdings, und es sind sehr triftige.“

„Bitte, sie mir mitzuteilen!“

„Später, vielleicht. Jetzt habe ich keine Zeit dazu.“

„Kennen Sie denn Fräulein Nanon, oder ihre Schwester?“

„Näher auch nicht.“

„Aber ihre Verhältnisse?“

„Nein.“

„Nun, es könnte doch nur einen einzigen Grund geben, und dieser müßte in den Verhältnissen liegen.“

„Das geht mich weiter nichts an. Vielleicht sprechen wir näher darüber, denn –“

Er hielt inne und machte sofort in französischer Sprache eine gleichgültige Bemerkung, denn der Wirt trat ein. Er richtete an diesen die Frage, ob er hier ein Zimmer erhalten könne, worauf der Wirt bejahend antwortete und sich mit ihm in ein Gespräch einließ.

Fritz sah ein, daß es jetzt unmöglich sei, die Unterhaltung, welche zuletzt, so interessant für ihn geworden war, weiter fortzusetzen, und entfernte sich.

Der Maler erhielt sein Zimmer angewiesen, welches er aufsuchte, um seine Toilette ein wenig zu restaurieren. Dann unternahm er einen Ausflug hinaus vor die Stadt. Es lag ihm daran, den Steinbruch noch bei Tag zu finden, um heute abend mit dem Terrain vertraut zu sein.

Als er die Häuser hinter sich hatte, erblickte er die von dem Kräutermann bezeichnet Baumgruppe und fand auch den schmalen Fußweg, welcher an ihr vorüber nach dem Bruch führte. Dort angekommen, durchwanderte er denselben in allen Winkeln und setzte dann, da das Wetter einladend war, seinen Spaziergang noch weiter fort.

Er kam in den Wald und drang, ohne sich an die Wege zu halten, in denselben ein. In Gedanken versunken, schritt er weiter und immer weiter, bis er plötzlich überrascht stehenblieb, denn gar nicht weit von sich hörte er eine allerliebste weibliche Stimme singen:

„Zieht im Herbst die Lerche fort,


Singt sie leis Ade.


Sag' mir noch ein liebend Wort,


Eh' ich von dir geh!

Sieh die Träne, wie sie quillt;


Höre, was sie spricht!


Lieder hat die Lerche wohl,


Tränen hat sie nicht!“

„Nein, Tränen hat die Lerche nicht“, murmelte Schneffke leise vor sich hin. „Sie hat auch gar keine Veranlassung dazu. Es kommt kein Exekutor, um sie auszupfänden; sie spielt auch nicht in der Lotterie, wobei sie über die Nieten weinen könnte, und der Schneider kann ihr auch nicht die Hosen verderben, daß sie vor Grimm darüber in eine Tränenflut ausbrechen möchte. Die Lerche ist viel glücklicher als Hieronymus Aurelius Schneffke, denn – Sapperment, wer antwortet denn da?“

Von der anderen Seite her sang nämlich jetzt eine kräftige, männliche Stimme:

„Bei des Frühlings Wiederkehr


Kommt die Lerch' zurück,


Und Erinnerung bringt sie her


Vom vergangenen Glück.

Brächte sie von dir ein Wort,


Mir so hold, so licht!


Lieder hat die Lerche wohl,


Grüße hat sie nicht!“

„Hm, hm!“ brummte Schneffke. „Das Ding ist höchst interessant! Da rechts singt sie, und da links er. Beide singen deutsch, hier in Frankreich. Ich glaube, dieser Er und diese Sie geben sich hier ein Stelldichein und melden sich durch diese verblümte Lerche einander an. Wollen doch einmal sehen, wo sie zusammentreffen! Ich bin neugierig, ob sie da auch nur von der Lerche singen oder ob sie den Mund zu etwas besserem brauchen. Ah, da knackt und knistert es!“

Er hörte, daß jemand in der Nähe vorüberging, und folgte leise. Man hätte es bei seiner dicken Person gar nicht vorausgesetzt, daß er mit solcher Gewandtheit so unhörbar schleichen könne. Da hörte er die weibliche Stimme:

„Ah, Monsieur Schneeberg! Guten Tag!“

„Guten Tag, Mademoiselle!“ antwortete die männliche Stimme. „Wie wunderbar, daß wir uns hier treffen.“

„Wunderbar?“ dachte Schneffke. „Und dabei brüllen sie von ihrer Lerche, daß man es sechs Meilen weit hört!“

„Wollen Sie weiter, Mademoiselle?“ hörte der Maler fragen.

„Nein, ich suche nach Waldblumen.“

„Darf ich helfen?“

„Gern. Sie wissen ja, wo die schönsten stehen.“

„Oh, wo die beste und schönste steht, das weiß ich ganz genau, Mademoiselle.“

„Sapperment, ist der Mensch galant! Mit dieser etwas abgetragenen Redewendung will er ihr den Kopf verdrehen. Die Waldblume muß ich sehen.“

Er kroch weiter vorwärts und verstand die Worte:

„So lassen Sie uns suchen, aber nicht sofort; ich bin ermüdet und muß zuvor einige Minuten ruhen.“

„So nehmen Sie Platz! Hier!“

„Auf dem Sack?“

„Ja, bitte.“

„Aber ich werde Ihnen Ihre Pflanzen verderben.“

„Nein. Es sind nur Wacholderspitzen, Huflattich und Otternzungen; denen tut es nichts.“

„Donnerwetter“, brummte der Maler. „Ein Stelldichein mit Wacholderspitzen, Huflattich und Otternzungen! Das ist wirklich eine Neuigkeit. Und einen Sack hat der Kerl mit. Ob's etwa gar der Kräutermann ist? Werden sehen.“

Er schob sich durch das Buschwerk weiter und gewahrte nun eine kleine, tiefer liegende Lichtung. Am schräg ablaufenden Rand derselben saß Fritz Schneeberg, und neben ihm hatte Nanon auf dem Kräutersack Platz genommen.

„Wie ist Ihnen die Reise bekommen?“ fragte er.

„Ich danke! Ausgezeichnet.“

„Aber Sie sehen blaß aus.“

„Ich schlief in der letzten Nacht nicht gut. Das mag der Grund sein.“

„Sie müssen sich schonen, Monsieur Schneeberg! Es gibt Personen, die es sehr betrüben würde, Sie krank zu sehen.“

„Hm! Diese Personen sitzen neben ihm“, dachte Schneffke. „Das Mädchen ist gar nicht übel. Ich hätte diese Nanon nicht mit einer Traube, sondern vielmehr mit irgendeiner hübschen Blume vergleichen sollen. Aber dennoch hängt sie ihm zu hoch. Ich werde horchen. Machen wir es uns also bequem.“

In der Nähe stand eine abgestorbene Birke, die sehr schief gewachsen war. Schneffke schob sich an ihr empor. Sie bog sich durch seine Last noch tiefer, und so erhielt er eine Stellung, halb sitzend und halb auf dem elastischen Stamm liegend. Auf diese Weise kam sein Kopf in gleiche Höhe mit den Spitzen des Gesträuchs, welches ihn von dem Paar trennte, und er konnte alles sehen und hören, ohne selbst bemerkt zu werden.

„Wie geht es auf dem Schloß?“ fragte Schneeberg.

„Gut. Der Kapitän war krank, so daß man Besorgnis hegte: aber sein Zustand hat sich sehr gebessert.“

„Geht er aus?“

„Noch nicht. Madelon wollte mich begleiten, aber –“

Sie stockte, und eine leichte Röte breitete sich über ihr hübsches, allerliebstes Gesichtchen. Er blickte sie fragend an, und darum fuhr sie fort:

„Aber ich dachte, sie wäre von der weiten Reise zu sehr angegriffen, und so bat ich sie, zu bleiben.“

„Und doch sollten Sie sich nicht so allein in den Wald wagen.“

„Warum nicht?“

„Meinen Sie nicht selbst, daß es gefährlich ist?“

„Welche Gefahren sollte es hier geben?“

„Verschiedene. Im Wald verkehren Menschen, denen man nicht gern im Freien begegnet.“

„Oh, mir tut niemand etwas. Ich habe ja keinen beleidigt. Und dann denke ich immer, daß Sie –“

Sie hielt abermals inne; darum fragte er:

„Was ist es, was Sie von mir denken?“

„Sie sind so viel im Wald. Sobald ich unter die Bäume trete, ist es mir, als ob ich mich unter Ihrem speziellen Schutz befände, und als ob Sie sofort da sein würden, wenn mir eine Gefahr begegnete.“

Seine Augen leuchteten freudig auf. Er holte tief Atem und sagte dann:

„Ich bin nicht allgegenwärtig, Mademoiselle; aber Gott weiß, daß ich mein Leben hingeben würde, wenn es sich darum handelte, Sie in meinen Schutz zu nehmen.“

„Nicht übel gesagt“, dachte Schneffke. „Der Kerl besitzt so eine Art Schick, sich in das Vertrauen anderer einzuschmuggeln.“

Sie gab Schneeberg die Hand und sagte:

„Sie Guter. Das habe ich ja während der letzten Tage erfahren; denn Sie wagten in der Pulvermühle das Leben, um uns aus der Gewalt dieses Berteu zu befreien.“

„Das war kein Wagnis, Mademoiselle.“

„O doch! Und ich kann mich Ihnen nicht dankbar erweisen. Ich habe geglaubt, in Beziehung auf das Dunkel, welches sich über Ihre Herkunft breitet, etwas tun zu können, aber leider ist die Dame, an die ich mich wendete, verreist.“

„Sorgen Sie sich nicht. Ich denke jetzt lieber an meine Zukunft als an meine Vergangenheit. Übrigens stehen Sie ja unter ganz gleichen Verhältnissen wie ich. Auch Sie kennen Ihren Vater nicht.“

„Ich werde ihn niemals kennenlernen.“

„Das dürfen Sie nicht sagen. Gottes Wege sind wunderbar, und er führt alles herrlich hinaus.“

Es entstand eine Pause. Die Birke, auf welcher Schneffke ritt, schaukelte elastisch auf und nieder; das genierte ihn aber nicht; er brummte vor sich hin:

„Ja, Gottes Wege sind wunderbar! Mich haben sie hier auf diesen birkenen Stamm geführt. Aber der Kerl hat wirklich gar nicht so unrecht, denn täuscht mich meine Vermutung nicht, so befindet sich ihr Vater hier in Thionville.“

Nach einer Weile nahm Nanon das unterbrochene Gespräch von neuem auf:

„Es steht zu erwarten, daß Ihre Eltern sehr vornehme Herrschaften sind, Herr Schneeberg.“

„Ich denk' nicht daran.“

„Und doch müssen Sie daran denken! Auch ich denke daran.“

„Wirklich? Und was denken Sie da?“

„Ich denke, daß Sie die arme Nanon nicht mehr ansehen würden, wenn Sie Ihre Eltern gefunden hätten.“

„Nein, das dürften Sie nicht denken. Ich habe da vielmehr Veranlassung, Ähnliches zu vermuten.“

„Ähnliches? Was denn?“

„Wenn es Ihnen gelänge, Ihren Vater aufzufinden, so würde ich Ihnen wohl hier nie mehr begegnen.“

„Hier vielleicht nicht, aber doch an anderen Orten.“

„Aber Sie würden mich nicht bemerken.“

„Ich Sie nicht bemerken? Glauben Sie das im Ernst? Halten Sie mich denn für so gefühllos und undankbar, daß ich vergessen könnte, daß Sie mir sogar das Leben gerettet haben?“

„Ah“, dachte Schneffke. „Er hat ihr das Leben gerettet. Da kann aus diesem Techtelmechtel im Wald der allerschönste Ernst in der Kirche werden. Ich werde noch weiter in die Höhe rutschen. Vielleicht sehe ich etwas.“

„Bitte, schweigen wir davon“, bat Fritz.

„Nein, Herr Schneeberg. Hier nehmen Sie meine Hand! Ich sage Ihnen, was auch geschehen möge – Herrgott!“

„Sapperment“, fiel auch Schneeberg ein.

Es gab nämlich in diesem Augenblick einen lauten Krach, und im nächsten Moment kam ein Mensch zu ihnen herabgekugelt. Schneffke war zu hoch an der alten Birke emporgeklettert. Unter seinem Gewicht war sie gebrochen, und nun rollte er gerade bis vor die beiden hin.

„Wer ist das?“ fragte Nanon erschrocken.

„Ja, Monsieur, wer sind Sie?“

Schneffkes Gesicht hatte sich in die Schöße seines Rockes verwickelt, so daß es nicht zu sehen war. Er wickelte sich heraus und stand vom Boden auf.

„Ah, der Maultrommelbläser!“ sagte Schneeberg in einem ziemlich zornigen Ton.

„Monsieur Schneffke“, fügte Nanon hinzu.

Schneffke verbeugte sich höflich und antwortete:

„Ja, Mademoiselle, ich bin der Maler Hieronymus Aurelius Schneffke aus Berlin.“

„Und noch immer sind Sie der alte Pechvogel“, sagte Fritz.

„Warum soll ich nicht? Ich kann es ja haben, mein verehrter Herr Schneeberg.“

„Aber was machen Sie denn hier?“

„Dieser Dame mein Kompliment, wie Sie sehen.“

„Sind Sie eigens zu diesem Zweck hierher gekommen?“

„Eigentlich nicht.“

„Was treibt Sie denn in den Wald?“

„Meine Liebe zur Natur.“

„Aber was krachte denn dort so sehr?“

„Die Birke.“

„Die Birke? Ah, sie ist gebrochen. Ich soll doch nicht etwa vermuten, daß – – Herr Schneffke!“

„Was vermuten Sie denn?“

„Daß Sie auf diese Birke geklettert waren.“

„Warum soll ich denn nicht?“

„Herr, was haben Sie zu klettern?“

„Klettern ist einmal meine Passion. Sie wissen ja, daß ich bereits auf den Schornstein eines Dampfschiffes geklettert bin, warum also nicht auch auf eine Birke?“

„Aber zu welchem Zweck kletterten Sie hinauf?“

„Ich suchte die Lerche.“

„Welche Lerche?“

„Welche Lieder hat, aber keine Grüße.“

„Herr, Sie haben gelauscht?“

„Fällt mir gar nicht ein.“

„Ich behaupte es dennoch.“

„Unsinn! Sie singen und schreien so sehr, daß man gar nicht zu lauschen braucht. Haben die Herrschaften vielleicht noch etwas zu fragen?“

„Nein. Nehmen Sie dort Ihren Hut, und dann machen Sie sich schleunigst von dannen.“

„Oho! Wenn ich nun mit Ihnen zu sprechen hätte.“

„Wir sind fertig.“

„Oder mit dieser Dame?“

„Ich wüßte nicht, was Sie ihr zu sagen hätten.“

„So weiß ich es desto besser!“

„Dann suchen Sie sie in ihrer Wohnung auf und nicht hier im Wald, Sie dicker Kletterspecht!“

„Schön! Ganz nach Befehl! Habe die Ehre, meine Herrschaften!“

Er hob seinen Hut auf, markierte eine tiefe Referenz und entfernte sich. Dabei murmelte er wohlgefällig vor sich hin:

„Der Kerl gefällt mir. Er hat wirklich etwas Vornehmes an sich. Wenn er andere Kleidung trüge, möchte man ihn für etwas Ordentliches halten.“

Schneffke folgte einem Waldweg. In seine Gedanken versunken, hörte er die Schritte nicht, welche ihm eilig entgegen kamen. Der Pfad machte eine scharfe Biegung, und da stieß er mit dem Mann zusammen, welcher in raschen Schritten von der entgegengesetzten Richtung herkam.

„Donnerwetter!“ rief er, sich den Kopf reibend.

„Mensch, passen Sie doch auf!“

Er sah sich den anderen an. Es war Deep-hill, der Amerikaner. Auch dieser erkannte ihn und sagte:

„Der Tiermaler aus Berlin.“

„Aufzuwarten, Monsieur.“

„Wie war doch gleich Ihr Name?“

„Hieronymus Aurelius Schneffke.“

„Schön. Wissen Sie, wie Sie eigentlich heißen müßten?“

„Wie denn?“

„Pechke anstatt Schneffke.“

„Warum?“

„Weil Sie stets Pech zu haben scheinen. Vorher brachen Sie uns die Latten weg, und –“

„O bitte, das geschah mit größtem Vergnügen, Monsieur!“ fiel der Maler ein.

„Aber uns hat es kein Vergnügen gemacht. Und jetzt stoßen Sie sich wieder Ihren Kopf an dem meinigen entzwei.“

„Ist er wirklich kaputt?“

„Der Ihrige scheint schon längst kaputt zu sein. Und dabei ergehen Sie sich noch in impertinenten Redensarten.“

„Wer? Ich?“

„Ja, Sie!“

„Wieso denn?“

„Nun, Sie wissen wohl gar nicht mehr, was Sie sagten, als Sie vom Zaun fortgingen?“

„Nein. Was sagte ich denn?“

„Daß ich alle Ursache hätte, Ihnen meinen Namen zu nennen.“

„Das ist auch wirklich der Fall.“

„Erklären Sie mir das.“

„Es gibt zwei Ursachen. Die erste ist, daß Sie Ihren Namen nennen mußten, weil ich Ihnen den meinigen gesagt hatte, und die zweite?“

„Nun, die zweite?“

„Die sage ich Ihnen später.“

„Ist sie auch so impertinent wie die erste?“

„Nein, im Gegenteil.“

„So sagen Sie mir dieselbe gleich jetzt.“

„Fällt mir nicht ein.“

„Warum nicht?“

„Ich werde erst dann wieder mit Ihnen sprechen, wenn ich sehe, daß Sie gelernt haben, in weniger anspruchsvoller Weise mit Ihren Nebenmenschen zu verkehren.“

„Mensch!“

„Herr, Sie sind grob. Adieu!“

Der Dicke drängte ihn zur Seite und setzte seinen Weg fort. Der Amerikaner warf ihm einen wütenden Blick nach und murmelte grimmig:

„Ich könnte diesen Kerl ohrfeigen! Er ist ein Flegel! Aber Miß de Lissa hat recht. Ich bin zu hitzig, zu jähzornig. Ich muß ruhiger werden. Und ruhiger werde ich sein, damit dieses herrliche Mädchen mein Eigentum wird.“

Er ging weiter. Er war mehrere Stunden bei der vermeintlichen Engländerin gewesen. Er trug ihr Bild im Herzen, und es schwebte vor seinen Augen. Er dachte nur an sie und nicht an den Weg. Er bog in Gedanken rechts ab und links ab, ganz ohne Plan, und wunderte sich dann, daß der Weg sich in den Büschen verlief.

Er blieb nun endlich stehen, um sich zu orientieren. Die Holzung war hier nicht sehr hoch, und so war es möglich, den Stand der Sonne zu erkennen. Aus diesem konnte der Amerikaner auf die Richtung schließen, welche er eingeschlagen hatte. Schon wollte er umkehren, als er sich ganz unerwartet anrufen hörte:

„Sie hier, Monsieur Deep-hill! Sind Sie vielleicht in die Irre gegangen?“

Der alte Kapitän stand hinter einem Baum und trat während dieser Worte hervor. Deep-hill war einigermaßen erschrocken, faßte sich aber schnell und antwortete:

„Allerdings habe ich mich verlaufen, Herr Kapitän.“

„Darf ich fragen, woher Sie kommen?“

„Aus der Stadt.“

„Und wohin Sie wollen?“

„Nach dem Schloß.“

„Da haben Sie freilich nicht den kürzesten Weg eingeschlagen.“

„Und doch wollte ich einen Richtweg gehen, bin aber in Gedanken von ihm abgekommen.“

„So bitte, mir zu folgen!“

Er schritt voran, seine Augen glühten in einem freudigen Licht. Er galt noch für krank, hatte aber trotzdem sein Zimmer verriegelt und sich auf dem verborgenen Weg nach den unterirdischen Kellern begeben, um zu sehen, ob dort alles noch in Ordnung sei. Die dumpfe Luft hatte ihn heute noch beengt, und so war er einige Minuten in das Freie gegangen, um frisch Atem holen zu können. Dabei hatte er die Annäherung eines Menschen bemerkt und in diesem letzteren zu seinem Erstaunen den Amerikaner erkannt.

Er führte diesen noch weiter in den Wald hinein, bis sich alte Ruinen vor ihnen erhoben.

„Was ist das?“ fragte Deep-hill.

„Das sind die Überreste eines Klosters.“

„Warum gehen wir hierher?“

„Es ist der kürzeste Weg nach dem Schloß. Bitte, folgen Sie mir nur.“

Sie betraten die Ruinen und stiegen den engen Treppengang nach dem Versammlungssaal hinab. Hierbei führte der Alte, da es dunkel war, seinen Gast bei der Hand. Im Saal aber befand sich eine brennende Lampe.

„Eigentümlich“, sagte der Amerikaner. „Diese Ruinen scheinen von Ihnen benutzt zu werden?“

„Allerdings. Ich werde Ihnen alles zeigen. Wir haben noch gar keine rechte Zeit gehabt, über unser Geschäft zu sprechen, und können diese Gelegenheit dazu benutzen. Vorher aber werden Sie mir wahrscheinlich eine Frage gestatten?“

„Gern.“

„Sie waren wirklich in der Stadt?“

„Ja.“

„Wollten wirklich nach dem Schloß?“

„Ja.“

„Und haben sich also wirklich verlaufen?“

„Ja. Aber wozu diese Fragen? Glauben Sie, mich für einen Lügner halten zu dürfen?“

„Das nicht. Aber in meiner Lage muß ich sehr vorsichtig sein. Ist Ihnen jemand begegnet?“

„Nur einer.“

„Wo? Im Wald?“

„Ja.“

„Wer war er?“

„Ein fremder Maler, der hier wohl nur zum Zweck seiner Studien herumläuft.“

„Weiter niemand?“

„Kein Mensch.“

„Das ist gut. Kommen Sie!“

Er führte ihn nun von Gewölbe zu Gewölbe und zeigte ihm da alle aufgestapelten Vorräte. Deep-hill erstaunte über die große Menge derselben, hielt sich aber wohlweislich mit seiner Anerkennung in Reserve. Endlich blieb der Alte vor einem in einem Gewölbe stehenden Tisch halten und sagte:

„Nun Sie sich überzeugt haben, daß wir Ernst machen, und daß wir auch vorbereitet sind, können wir wohl auch unsere Angelegenheit erledigen. Bitte, setzen Sie sich.“

„Warum nicht oben im Schloß?“

„Weil ich derartiges stets hier expediere. Man ist hier am sichersten. Sie kennen diese Schrift?“

Er öffnete mittels eines Schlüssels den Tischkasten und zog aus demselben einen beschriebenen Bogen. Der Amerikaner las diesen, nickte zustimmend und sagte:

„Es ist unser Kontrakt.“

„Sind Sie gewillt, denselben einzuhalten?“

„Gewiß.“

„Und sind Sie gewillt, uns die betreffenden Summen zu überlassen?“

„Ich pflege Wort zu halten.“

„Schön! Hoffentlich befinden Sie sich im Besitz des Geldes.“

„Ich gebe Ihnen Anweisungen auf Paris; sie sind wie bares Geld.“

„Einverstanden. Ich liebe es, jedes Geschäft glatt abzuschließen. Ich kann jetzt die Anweisungen erhalten?“

„Nach Unterschrift des Kontraktes.“

„Gut, unterzeichnen wir!“

„Jetzt? Hier?“

„Ja.“

„Wer soll unterzeichnen?“

„Sie und ich.“

„Hm! Wird das genügen?“

„Gewiß. Ihre Unterschrift genügt mir vollständig.“

„Das versteht sich ganz von selbst. Sie bedürfen meiner Unterschrift gar nicht, wenn Sie nur das Geld erhalten. Wer aber bietet mir Sicherheit für die Rückzahlung?“

„Ich!“

„Ob mir das wohl genügen wird!“

Der Alte zog die Spitzen seines Schnurrbartes breit, warf dem Sprecher einen Blick des Erstaunens zu und fragte:

„Halten Sie mich für einen Lump?“

„Nein, aber für einen Menschen.“

„Was soll das heißen?“

„Sie sind den Wechselfällen des Lebens ausgesetzt. Überdies, haben Sie Vermögen?“

„Gewiß.“

„Dann dürfte mir Ihre Unterschrift allerdings genügen. Sie sehen ein, daß man nicht leichtsinnig sein darf, wenn es sich um Millionen handelt!“

„Ich billige Ihre Vorsicht.“

„Dann bitte ich, den Vermögensnachweis gütigst zu erbringen, Herr Kapitän.“

Da brauste der Alte auf:

„Was? Ich soll Ihnen nachweisen, daß ich Vermögen besitze?“

„Ja. Ich muß sogar wissen, wieviel. Sie müssen für so viel bürgen können, als Sie von mir empfangen.“

„Ja, für so viel kann ich es nicht!“

„Dann werde ich jetzt nicht unterzeichnen.“

„Ah! Wann denn?“

„Nachdem ich mit Graf Rallion gesprochen haben werde.“

„Sie wollen also nach Paris?“

„Ja.“

„Hm! Bleiben Sie hier; ich werde ihn telegrafisch herbeirufen.“

Deep-hill sah ein, daß es dem Alten nur darum zu tun war, Zeit zu gewinnen; darum antwortete er:

„Das dürfen Sie nicht. Der Graf hat Sie kaum verlassen und wird von den notwendigsten Geschäften in Paris festgehalten.“

„Er wird dennoch kommen, da es sich um eine solche Summe handelt.“

„Warum ihn aber belästigen, wenn ich Zeit habe, ihn in Paris aufzusuchen.“

„Weil ich der Schöpfer des Ganzen bin; weil bisher alles, selbst das Kleinste von mir arrangiert und abgeschlossen worden ist, und weil es infolgedessen ein Ehrenpunkt für mich ist, alles auch selbst zu beenden.“

„Ich bitte, geben Sie Sicherheit!“

„Monsieur, Ihre Sprache ist nicht diejenige, welche ich hier gewöhnt bin.“

„Und die Ihrige ist nicht diejenige eines Geschäftsmannes!“

„Geschäft und immer wieder Geschäft! Ist die Begeisterung für die Sache des Vaterlandes gar nichts wert?“

„Sehr viel. Und dieser Kontrakt hat Sie bereits überzeugen müssen, daß ich dieser Begeisterung auch wirklich in hohem Maße Rechnung getragen habe.“

„Jetzt aber scheint sie erloschen zu sein.“

„Ein Wunder wäre es nicht.“

„Ah! Wie meinen Sie das?“

„Es gibt Verhältnisse und Personen, welche imstande sind, höchst abkühlend zu wirken.“

Er hatte diese Worte achselzuckend gesprochen. Der Kapitän erhob sich von seinem Stuhl, maß ihn mit stechenden Augen von oben bis zu den Füßen herab und fragte:

„Sie sprechen von hiesigen Verhältnissen?“

„Ja.“

„Und von hiesigen Personen?“

„Ja.“

„Ich bitte Sie, dieselben namhaft zu machen. Bin unter diesen Personen etwa auch ich gemeint?“

„Sie ganz allein.“

„Alle Teufel! Und die Verhältnisse, welche Sie erwähnten? Wollen Sie dieselben bezeichnen?“

„Ich meine die verborgenen Gänge, Treppen und Türen in Schloß Ortry.“

„Ich verstehe Sie nicht. Gerade diese verborgenen Lokale enthalten Vorräte, welche Sie überzeugen müssen, daß Sie für Ihr Geld nichts zu fürchten haben!“

„Ich meine nicht die Lokale unter, sondern die Treppen, Gänge und Türen in dem Schloß.“

„Erklären Sie sich deutlicher.“

„Die verborgenen Wege ermöglichen nächtliche Besuche, welche keineswegs angenehm sein können.“

Der Alte drehte sich zur Seite und ließ ein leises Hüsteln vernehmen. Er fühlte sich getroffen und mußte sich Mühe geben, dies nicht merken zu lassen. Aber diese Mühe war vergebens; das las er in dem dunklen, festen Augen des Amerikaners, welches scharf auf ihm ruhte.

„Sapperment!“ sagte er. „Haben Sie etwa nächtliche Besuche erhalten, Monsieur?“

„Leider.“

„Ich werde dies genau untersuchen und auf das strengste bestrafen. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Ich verlasse mich weder auf das eine noch auf das andere.“

„Wie? Sie zweifeln an der Wahrheit meiner Versicherung?“

„Vollständig!“

„Tod und Teufel! Das ist eine Beleidigung!“

„Ich sage nur das, was ich denke. Sie haben nichts zu untersuchen und werden auch niemanden bestrafen.“

„Warum?“

„Pah! Wer bestraft sich selbst?“

„Sich selbst? Monsieur, reden Sie irre?“

„Keineswegs.“

„Da bringen Sie also mich, mich selbst, mit diesen nächtlichen Besuchen in Verbindung?“

„Das versteht sich ganz von selbst.“

„Soll ich etwa bei Ihnen gewesen sein.“

„Ja.“

„Wer sagt das? Wer behauptet das?“

„Ich!“

„Wer hat es Ihnen weisgemacht?“

„Meine Augen und Ohren!“

„Das heißt, Sie selbst wollen mich gesehen und gehört haben?“

„Ja.“

„In Ihrem Zimmer?“

„In meinem Schlafzimmer.“

„Des Nachts, also heimlich?“

„Heimlich.“

„Sie haben geträumt! Wer kann des Nachts zu Ihnen! Riegeln Sie denn nicht zu?“

„Ich hatte allerdings den Riegel vorgeschoben.“

„Also wie könnte ich bei Ihnen eindringen?“

„Mittels der Tapetentür in der Ecke.“

Den Alten überkam aufs neue ein kurzer, scharfer Husten. Er überwand ihn indes schnell und sagte:

„Ich kann nur wiederholen, daß Sie geträumt haben müssen. Was sollte ich denn bei Ihnen wollen?“

„Einsicht in meine Brieftasche nehmen.“

„Monsieur, sind Sie denn ganz und gar des Teufels?“

„Nein, ganz und gar nicht.“

Die beiden standen sich drohend gegenüber. Der alte Kapitän sah sich zwar ertappt und durchschaut, war sich aber seines Sieges sicher; das gab ihm ein überlegenes Auftreten. Und was den Amerikaner betrifft, so fürchtete er den Kapitän in diesem Augenblick nicht im geringsten. Er meinte, daß das Gespräch höchstens in persönliche Tätlichkeiten auslaufen könne, und da fühlte er, der junge, gewandte Mann, sich dem alten in bezug auf Geschicklichkeit und Körperkraft weit überlegen. Beide hielten die Augen mit feindseliger Schärfe aufeinander gerichtet.

„Was soll ich denn mit Ihrer Brieftasche beabsichtigt haben?“ fragte der Kapitän. „Zu welchem Zweck? Es ist mir ja sicher und genug, da wir den Kontrakt unterzeichnen werden!“

„Doch nicht so sicher, als Sie meinen. Für uns beide war es keineswegs gleichgültig, ob dieser Inhalt aus sofort zahlbaren Papieren bestand oder nicht.“

„Für mich war es gleichgültig.“

„Nein, sonst hätten Sie sich nicht überzeugt.“

„Aber ich bitte Sie! Sie haben wirklich geträumt. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!“

Der Amerikaner zog die Schultern empor und schüttelte sich, als ob es ihn friere. Dann antwortete er:

„Ehrenwort! Pah! Das Ehrenwort eines Mannes, der sich in das Zimmer seines Gastes schleicht!“

Da stampfte der Alte mit dem Fuß auf und rief in drohendem Ton:

„Herr, ich muß Sie unbedingt ersuchen, auf Ihre Ausdrücke besser achtzugeben. Es steht ein Offizier vor Ihnen, der sich nicht beleidigen läßt und gerade nur, weil Sie sein Gast sind, bis jetzt bemüht gewesen ist, seine Indignation zu beherrschen. Ich will selbst noch in diesem Augenblick annehmen, daß Sie unter dem Einfluß einer Täuschung handeln und sprechen. Denn nur eine Halluzination kann es gewesen sein, das liegt klar auf der Hand.“

„Ich leide nicht an Halluzinationen.“

„Aber bedenken Sie doch, daß ich Ihre Papiere nicht im Dunkeln zu erkennen vermag.“

„Sie hatten Ihre Laterne mit.“

„Fieberphantasie! Wahrhaftig, Fieberphantasie. Wie kann ich mit Licht in Ihr Schlafzimmer eindringen und Ihre Brieftasche öffnen, da ich doch gewärtig sein muß, daß Sie in jedem Augenblick die Augen aufschlagen.“

„Sie glaubten, dafür gesorgt zu haben, daß ich sehr fest schlafen würde.“

„Ich? Wieso denn?“

„Durch den Schlaftrunk, den Sie mir gegeben hatten.“

„Ich Ihnen einen Schlaftrunk gegeben? Das kann nur ein Tollhäusler behaupten. In welcher Weise habe ich Ihnen diesen Trunk denn beigebracht?“

„Mit dem Glas Wein beim Abendessen.“

Der Alte vermochte nicht zu begreifen, wie Deep-hill das alles wissen könne. Er war ganz und gar bestürzt, ließ es sich aber nicht merken, sondern sagte scheinbar im ruhigsten Ton:

„Monsieur, ich will nicht aus den Augen lassen, daß Sie mein Gast sind, sonst –“

Der Amerikaner machte eine hastige, abwehrende Handbewegung und fiel ihm dabei in die Rede:

„Bitte, bitte, genieren Sie sich nicht. Sie haben mich nicht mehr als Ihren Gast zu betrachten, denn sobald wir diese Keller hinter uns haben, werde ich Schloß Ortry schleunigst verlassen. Ich kann unmöglich bei einem Mann wohnen bleiben, der mir nach dem Leben trachtet.“

Dem Alten wollte die Sprache versagen. Nur ganz mühsam stieß er hervor:

„Nach dem – Leben habe – ich Ihnen getrachtet?“

„Ja.“

„Beweisen Sie das!“

„Warum etwas beweisen, was Sie selbst besser wissen als ich! Das ist unnötig.“

„Aber bin denn ich toll, oder sind Sie es?“

„Keiner von beiden. Ich sage die Wahrheit, und Sie spielen ein wenig Komödie.“

„Mir will der Verstand stillstehen. Ich Ihnen nach dem Leben getrachtet! Selbst wenn das, was Sie bisher behaupteten, wahr wäre, liegt doch darin ganz und gar nichts Lebensgefährliches für Sie. Ich wäre dann in Ihr Zimmer gekommen, um zu sehen, welcher Art Ihre Papiere sind, nicht aber in der Absicht, Ihnen nach dem Leben zu trachten.“

„Das gebe ich ja zu, aber ich meine nicht gerade dieses.“

„Was denn sonst?“

„Die Entgleisung des Zuges.“

Der Kapitän fuhr zurück, als ob er einen Abgrund vor sich sähe.

Seine Hände durchstrichen die Luft, wie wenn sie nach einem festen Halt suchten.

„Nun, Sie wanken ja vor Schreck?“ sagte Deep-hill.

„Ich? Vor Schreck? Fällt mir gar nicht ein. Wenn ich vor Ihnen zurückschrecke, so ist es nur aus Entsetzen über eine solche Anschuldigung, die eine geradezu teuflische ist. Was wollen Sie denn eigentlich mit Ihrer Erwähnung des Bahnunglücks behaupten?“

„Daß Sie dasselbe verschuldet haben!“

„Ich?“

„Ja.“

„Mein Gott! Woher nehme ich nur die Kraft, das auszuhalten? Was kann mir denn an diesem Unglück liegen?“

„Scheinbar gar nichts, in Wirklichkeit aber sehr viel.“

„Erklären Sie mir dieses Faktum.“

„Sie wußten, mit welchem Zuge ich kommen würde?“

„Ja. Sie hatten es mir gemeldet.“

„Sie glaubten, ich würde das Geld bar bei mir führen, vielleicht in hohen englischen Banknoten.“

„In welcher Art Sie die Summe besaßen, das konnte mir sehr gleichgültig sein.“

„Warum veranlaßten Sie denn da die Entgleisung?“

„Ich weiß ja gar nichts von einer solchen Veranlassung.“

„Auch nicht, daß Sie drei Männer beauftragten, das Unglück hervorzubringen?“

„Nein.“

„Der eine sollte die Steine auf den Bahnkörper werfen, während die beiden anderen den Bahnwärter beschäftigten.“

„Kein Wort weiß ich.“

„Die letzteren sollten den Amerikaner unter den Toten hervorsuchen –“

„Schrecklich.“

„Ihm, wenn er noch leben sollte, den Garaus machen –“

„Schweigen Sie. Das sind die Phantasien eines Tollhäuslers.“

„Und das alles nur, um ihm die Brieftasche abzunehmen. Stimmt es, oder stimmt es nicht?“

„Monsieur, mir graut vor Ihnen. Ich habe noch niemals Angst gehabt, jetzt aber fühle ich Furcht vor Ihnen.“

„Ganz natürlich.“

„Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich fürchte mich vor Ihnen, wie sich der Gesunde vor demjenigen fürchtet, der von einem tollen Hund gebissen worden ist.“

„Beruhigen Sie sich. Ich beiße Sie nicht, wenigstens jetzt nicht und so wörtlich nicht. Aber Sie können sich denken, daß es mir nicht einfallen wird, weiter für eine Sache zu schwärmen, an deren Spitze ein solcher Satan steht.“

„Monsieur, ich vermag nicht, Ihnen zu antworten.“

„Und ich vermag nur, Ihnen zu sagen, daß ich Frankreich aufgebe, weil es solche Söhne hat.“



„Aber wenn ich Ihnen nun beweise, daß Sie mich vollständig unrechtmäßigerweise beschuldigen?“

„Das vermögen Sie nicht.“

„Sogar sehr leicht.“

„Wie denn?“

„Gehen wir hinauf. Ich werde Ihnen die Beweise in Ihr Zimmer bringen.“

„Ich halte das für ein leeres Versprechen, werde aber noch eine ganze Stunde auf Schloß Ortry verweilen, um Ihnen Zeit zu geben, Ihre Gegenbeweise zu bringen.“

„Gut. Sie werden mir Ihre wahnsinnigen Beschuldigungen baldigst abbitten. Haben Sie vielleicht vorher noch etwas zu erwähnen?“

„Nein.“

„So kommen Sie. Bitte.“

Um wieder auf den Gang hinauszukommen, mußten sie natürlich dieselbe Tür benutzen, durch welche sie in das Gebäude getreten waren. Der Amerikaner gab nicht acht auf die Richtung, in welcher diese lag. Das Dunkel täuschte und er war von dem Gespräch zu sehr erregt. Er folgte dem Mann, welcher die Lampe genommen hatte und auf eine ganz andere Tür zuschritt. Er öffnete dieselbe, blieb stehen und sagte:

„Bitte, Monsieur. Ich muß wieder schließen.“

Da verstand es sich ganz von selbst, daß Deephill voranging. Er hatte aber noch nicht zwei Schritte getan, so tat es hinter ihm einen lauten Schlag, es wurde dunkel, und Riegel rasselten. Er fuhr herum und zu der Tür zurück. Sie war hinter ihm verschlossen worden. Er tastete nach den drei anderen Seiten und gewahrte nun zu seinem Entsetzen, daß er sich in einer engen Zelle befand, aus welcher es keinen zweiten Ausgang gab.

„Halt!“ schrie er, mit beiden Fäusten die Tür bearbeitend. „Was soll das heißen?“

„Daß Sie gefangen sind“, antwortete der Alte draußen.

„Schurke!“

„Dummkopf!“

„Sie werden doch nichts erreichen.“

„Alles, alles werde ich erreichen!“ lachte der Alte höhnisch.

„Ich werde Sie bestrafen lassen.“

„Durch wen?“

„Durch die Gerichte!“

„Wie wollen Sie zu den Gerichten kommen? Sie stecken ja hier fest.“

„Man wird mich befreien.“

„Pah. Ich möchte den sehen, der das fertigbringt. Es gibt nur einen einzigen Weg in die Freiheit zurück für Sie, mein geehrter Monsieur Deep-hill.“

„Welchen?“

„Sie unterzeichnen Ihre Anweisungen. Sobald ich das Geld in den Händen habe, werden Sie frei.“

„Nie!“

„Gut, so verschmachten Sie hier.“

„Teufel!“

„Mag sein, daß ich ein Teufel bin. Sie erhalten weder zu essen noch zu trinken. Hunger tut weh und Durst noch mehr. Alle drei Tage komme ich, um einmal anzufragen. Sagen Sie ja, dann gut; sagen Sie nein, so mögen Sie mit Ihren Millionen verschmachten. Adieu, Monsieur, adieu, und viel Vergnügen.“

Für den ersten Augenblick wollte Deep-hill an diesen satanischen Streich nicht glauben; bald aber leuchtete ihm ein, daß der Alte grausigen Ernst mache, und es wurde ihm entsetzlich angst. Er schrie und schlug an die Tür – umsonst. Der Kapitän entfernte sich und führte dabei ein halblautes Selbstgespräch.

„In die Falle gegangen, Gott sei Dank, oder vielmehr, dem Teufel sei Dank. Er kommt nicht wieder lebendig an das Tageslicht, mag er nun unterschreiben oder nicht. Aber wie ist er hinter das alles gekommen? Er weiß alles, alles. Unbegreiflich. Ich werde es noch zu erfahren wissen. Aber er ist so gefährlich, daß er für immer verschwinden muß. Seit einiger Zeit werden meine Pläne durchkreuzt; ich habe einen unsichtbaren Gegner, der mir in die Karten guckt. Wer mag das sein? Wehe ihm, wenn er in meine Hände fällt. Und das wird er auf jeden Fall!“

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