FÜNFTES KAPITEL Schneffka, der Pole


Die übrige Zeit verging wie an jedem Trauertag, Verwandte und Bekannte kamen, um an dem Leichenbegräbnis teilzunehmen, und als der Sarg in die Grube gesenkt worden war, kehrte man in das Trauerhaus zurück, um sich zur Tafel zu setzen.

Als Pflegekinder des Verstorbenen hatten Nanon und Madelon die Verpflichtung, die Gäste zu bedienen.

Kurz nach der Rückkehr vom Kirchhof hatte Charles Berteu den Kutscher aufgesucht, welcher seine Stube in einem nur zum Gebrauch des Verwalters errichteten Stallgebäude hatte. Dieser Kutscher war ganz gleichen Schlages mit seinem Herrn; sie hatten schon manchen Streich miteinander ausgeführt.

„Hast du den fremden Kutscher gesehen, welcher die beiden Schwestern gebracht hat?“ fragte Berteu.

„Nein.“

„Auch Geschirr und Pferde nicht?“

„Ebensowenig.“

„So gehe zur Schenke, wo er ausgespannt hat, und siehe dir alles an – die Pferde, das Geschirr, den Kerl, seine Kleidung, kurz alles!“

„Wozu? Gibt es einen lustigen Streich?“

„Ja, einen Streich und zwanzig Franken für dich!“

„Alle Wetter! Da bin ich sehr gern dabei!“

„Es liegt mir nämlich daran, zu erfahren, ob du abends in der Dunkelheit für diesen Kutscher gelten könntest, unser Wagen für den seinigen und so weiter.“

„Also eine Komödie der Verwechslungen? Das wird drollig! Ich gehe; ich gehe. Aber, Monsieur, einige Franken pränumerando! Ich muß in der Schenke einkehren. Sie werden Einsicht haben!“

Der Kutscher steckte das Draufgeld schmunzelnd ein und entfernte sich, um nach der Schenke zu gehen.

Dort saß unter den wenigen anwesenden Gästen – Fritz. Er war zu Fuß hergekommen, hatte das Schloß umschlichen und wollte nun, nachdem er einen Labetrunk zu sich genommen hatte, die Pulvermühle aufsuchen, von welcher Nanon gesprochen hatte.

Er bemerkte, daß der Eingetretene den Kutscher Nanons ganz auffällig musterte, dann längere Zeit im Stall verweilte und endlich auch den vor der Tür stehenden Wagen betrachtete.

Das fiel ihm natürlich auf. Als der Mann wieder Platz genommen hatte, trank er ihm zu und zog ihn in ein Gespräch, währenddessen er hörte, daß er der Kutscher von Charles Berteu sei.

Nun schöpfte er Verdacht. Hier war höchst wahrscheinlich etwas in Vorbereitung, ein Streich, welcher das Kutschgeschirr betraf. Er glaubte, der Spion würde bald nach dem Schloß zurückkehren; dies war aber nicht der Fall, vielmehr setzte er sich zu den anderen Gästen, um ein Kartenspiel mit ihnen zu machen.

Die Sache war langweilig, und so brach Fritz auf, um sich noch ein wenig in der Gegend umzusehen. Es war sicher, daß, wenn etwas gegen die Schwestern geschehen sollte, dies erst abends vorgenommen werden würde.

Er entdeckte die Pulvermühle mitten im Wald. Es war eine Walzmühle, die ein ziemlich breiter Fahrweg mit dem Schloß verband. Das Werk stand heute still. Am Tag der Beerdigung des Verwalters wurde nicht gearbeitet.

Nun begann es dunkel zu werden, und er kehrte nach der Schenke zurück. Dort saß der Kutscher zwar noch immer, aber er blieb nicht mehr lange. Fritz folgte ihm bis nach dem Schloß. Er hatte sich mit einigen Instrumenten versehen, für den Fall, daß er sie bei seinem Lauscher- und Wächterwerk brauchen solle.

Der Kutscher verschwand, und Fritz begab sich auf Rekognition. Es war jetzt so finster, daß man schon etwas wagen konnte. Er kletterte an den Stangen der Veranda, welche sich um das ganze Gebäude zog, empor und befand sich nun auf einer mit Zinkblech gedeckten Plattform, von welcher aus man in jedes Fenster des Stockwerks zu blicken vermochte.

Er schlich sich von einem Fenster zum andern, rund herum.

Er sah und zählte die Trauergäste und auch die beiden Mädchen, von denen dieselben bedient wurden; er betrachtete sich alle erleuchteten Zimmer genau, und er erkannte auch sofort, welches von den letzteren dasjenige von Charles Berteu sei.

Dieser saß bei seinen Gästen. Solange er sich dort befand, stand nichts zu befürchten; darum hielt Fritz ihn von draußen aus scharf im Auge.

Erst nach langer Zeit erhob sich Berteu und ging zur Tür hinaus. Fritz bückte sich nieder und kroch auf der Veranda leise nach der Gegend hin, in welcher sich das Zimmer befand, welches er für dasjenige Berteus gehalten hatte. Er hatte diesen Punkt noch nicht erreicht, als aus dem geöffneten Fenster ein Ruf erschallte:

„Mathieu!“

„Ja, Herr!“

Diese Antwort kam von der Kutscherwohnung herauf.

„Schnell zu mir!“

Fritz blieb vorsichtig liegen. Unten hörte er die Schritte des Gerufenen. Nachdem diese im Innern des Hauses verklungen waren, kroch er weiter und gelangte an das Fenster, welches der warmen Abendluft wegen geöffnet war. Er bemerkte, daß Berteu, eine Zigarre rauchend, an dem offenen Fenster saß. Der Kutscher trat ein. Fritz konnte von dem nun folgenden Gespräch jedes Wort verstehen.

„Nun, hast du die Augen aufgetan?“ fragte Berteu.

„Und wie! Je besser man bezahlt wird, desto schärfer kann man sehen!“

„War das Geschirr fein?“

„Na, Mittelsorte, so ungefähr wie das unsrige.“

„Die Pferde?“

„Zwei Braune, grad wie wir auch haben.“

„Der Kutscher?“

„Von meiner Statur, lang und stark.“

„So glaubst du also, daß es im Dunkel der Nacht möglich ist, unser Gespann mit dem fremden zu verwechseln?“

„Ganz sicher. Nur müßte man sich vor Beleuchtung hüten.“

„Das versteht sich ganz von selbst! Kannst du dir vielleicht denken, um wen es sich handelt?“

Der Kutscher zog eine Grimasse und antwortete:

„Natürlich um diejenigen, welche mit dem fremden Geschirr gekommen sind. Wenn es anders wäre, müßte ich mich außerordentlich irren.“

„Du hast allerdings ganz richtig geraten, alter Schlaukopf. Es handelt sich um einen Streich, den ich meinen Pflegeschwestern spielen will, von dem aber niemand etwas ahnen und erfahren darf. Wir wollen ihn beraten. Deine Rechnung wirst du schon dabei finden.“

Der Kutscher knurrte etwas, was der Lauscher nicht verstehen konnte. Jedenfalls aber sollte es etwas wie eine Zustimmung bedeuten. Charles Berteu fuhr fort:

„Ich muß dir nämlich sagen, daß ich etwas von den beiden Mädchen erfahren will, was sie mir nicht freiwillig mitteilen wollen. Ich muß sie also dazu zwingen. Dies kann aber nur dadurch geschehen, daß ich sie in Furcht jage, natürlich ohne ihnen wirklich ein Leid widerfahren zu lassen. Solche Mädchen öffnet die Furcht den Mund am leichtesten. Dabei nun sollst du mir behilflich sein.“

„Gern, wenn ich nämlich keinen Schaden davon habe“, antwortete der Mann.

„Schaden ganz und gar nicht. Du sollst ja nicht einmal wissen, welchen Scherz ich mit ihnen vornehmen will.“

„Das ist mir lieb, denn Ihre Scherze pflegen zuweilen nicht sehr spaßhaft zu sein.“

„Soll das ein Vorwurf sein oder vielleicht selbst ein Scherz?“

„Keins von beiden. Was ich sage, sollte nichts sein, als eine einfache Bemerkung, welche mir von der Erfahrung diktiert wurde.“

„Ich will nicht untersuchen, wie weit du als mein Diener zu einer solchen Einschaltung berechtigt bist. Heute handelt es sich um einen wirklichen Scherz, nämlich um so eine Art von Entführung.“

„Donnerwetter. Ist das nicht gefährlich?“

„Nein. Die beiden Mädchen kommen ja sofort wieder frei.“

„Das lasse ich eher gelten. So einen Spaß kann sich ein Bruder mit seinen Schwestern schon erlauben.“

„Gut. Wir sind also ganz einer Meinung. Die Schwestern wollen nämlich heute bereits abreisen. Ich habe sie gebeten, länger zu bleiben; sie aber wollen nicht. Sie werden ihren Wagen kommen lassen und wegfahren. Da ist nun mein Plan, daß sie nicht nach der Stadt gefahren werden, sondern an einen Ort, von welchem aus sie gezwungen sind, wieder nach hier zurückzukehren. Auf diese Weise setze ich meinen Willen durch, sie länger hier in der Heimat zu behalten.“

„Da sehe ich noch nicht ein, was ich dabei tun könnte. Sie werden den Kutscher aus Etain kommen lassen, und dieser fährt die Mädchen natürlich dahin, wohin sie wollen.“

„Dummkopf! Siehst du denn nicht ein, weshalb ich dich in die Schenke geschickt habe?“

„Nun, um zu sehen, welche Ähnlichkeit zwischen ihrem Geschirr und dem unsrigen ist.“

„Und weshalb habe ich mich darüber unterrichten wollen?“

„Das weiß ich nicht.“

„Und kannst es auch nicht erraten?“

„Das Raten ist niemals meine starke Seite gewesen.“

„Nun, so muß ich dir allerdings zu Hilfe kommen. Du sollst anstelle ihres Kutschers fahren.“

„Sapperlot! Das wird schwer gehen.“

„Sogar sehr leicht. Sobald ich merke, daß sie abreisen wollen, lasse ich es dich wissen. Du spannst ein und bringst dein Geschirr an einen Ort, den wir verabreden werden. Hast du das verstanden?“

„Sehr gut sogar.“

„Die Schwestern werden in das Dorf nach ihrem Geschirr senden. Der Bote aber geht nicht dorthin, sondern zu dir.“

„Ah, jetzt beginne ich zu begreifen. Ich fahre hier vor. Sie müssen denken, ich sei ihr Kutscher.“

„So ist es. Darum muß alles ähnlich sein.“

„Gut. Ich werde also meinen alten Mantel umnehmen müssen, da ihr Kutscher auch einen solchen hat.“

„Ja. Du nimmst natürlich den Kragen hoch. Wenn du dann so verfährst, daß dich der Schein der Laterne nicht treffen kann, so werden sie sich leicht täuschen lassen.“

„Wohin aber fahre ich sie?“

Berteu tat, als ob sein Plan noch nicht ganz fertig sei, als ob er selbst sich erst einen passenden Ort ausdenken müsse.

„Wohin?“ fragte er sinnend. „Hm, das ist eben die Frage. In das Dorf natürlich nicht, da könntest du ihrem Kutscher in die Hände geraten. Es muß eben ein Ort sein, an welchem sie diese Nacht nicht bleiben können, so daß sie gezwungen sind, wieder nach hier zurückzukehren.“

„Das stimmt. Aber außerhalb des Dorfes gibt es ja keinen solchen Ort, kein Haus, wo man anhalten und sagen könnte, daß man in die Irre gefahren ist. Finster genug dazu ist es heute.“

„Hm. Sollte sich denn gar nichts finden lassen!“

„Freilich wohl; aber das liegt zu nahe. Man könnte nicht sagen, daß man sich verirrt hat.“

„So macht man einen Umweg hin. Welchen Ort meinst du denn?“

„Die Pulvermühle.“

Das war es, was Berteu haben wollte. Er sagte in nachdenklichem Ton:

„Die Pulvermühle. Ja, das ginge. Meinst du nicht auch?“

„Es wäre das beste. Aber es ist ja heute kein Mensch dort.“

„So geht man hin. Wenn die Schwestern einsteigen, nehme ich von ihnen Abschied und begebe mich sodann schnell nach der Mühle. Ich nehme Freund Ribeau mit, damit es nicht so sehr einsam ist. Wenn du dann nach einem Umweg dort ankommst, sind wir bereits dort.“

„Ah, gut. Ich werde so tun, als ob ich gar nicht wüßte, wo ich mich befinde. Ich klopfe also an und sie öffnen.“

„Ja. Wir öffnen dir die Durchfahrt. Du fährst herein, und hinter dir schließen wir wieder zu, so daß uns die Mädchen nicht entwischen können. Wir haben natürlich kein Licht, während wir euch öffnen. Wir führen die beiden nach meiner Schreibstube, in welcher Licht brennt. Sie erkennen mich, und die Überraschung, die es dabei geben wird, kannst du dir denken.“

„Und ich?“

„Nun, du wartest eine Weile, bis ich dich benachrichtige, ob wir mit dir nach Hause fahren oder ob wir gehen. Im letzteren Fall fährst du natürlich eher zurück, denn wir werden den Scherz mit einigen Flaschen Wein begießen, welche wir mitnehmen.“

„So handelt es sich nur noch um den Ort, an welchem ich mit dem Geschirr zu warten habe.“

„Nun, auf dem Weg nach der Pulvermühle. Da sieht dich kein Mensch. Es kommt niemand hin, und sodann ist ja rechts und links der hohe, dunkle Wald, so daß dich einer, der zufälligerweise hinkäme, gar nicht erkennen könnte.“

„Na, mir recht. Meine Instruktion habe ich. Ich möchte nur die Gesichter der beiden Damen sehen, wenn sie denken, sich an ein einsames Waldhaus verirrt zu haben, und dann ihren Bruder erkennen.“

„Ja, es wird jedenfalls köstlich! Also mach deine Sache gut. Auf keinen Fall aber darfst du die Mädchen aussteigen lassen, bevor du die Mühle erreicht hast. Es ist ja möglich, daß sie Verdacht schöpfen. Da mußt du klug sein.“

„Keine Sorge. Ein Frauenzimmer steigt so leicht nicht aus, solange die Kutsche in Bewegung ist.“

Er ging fort und Berteu begab sich zu der Gesellschaft zurück.

Fritz hatte jedes Wort verstanden. Er erriet die Absicht dieses Franzosen. War der Kutscher wirklich so dumm, den Plan seines Herrn nicht zu durchschauen, oder stellte er sich nur so? Fritz sagte sich, daß Berteu heute jedenfalls die Gelegenheit ergriffen habe, Nanon seine Liebesanträge zu erneuern; höchst wahrscheinlich aber war er abgewiesen worden, und nun wollte er Nanon mit List nach der Mühle bringen lassen, um sie dort in seine Gewalt zu bekommen. Freilich, Nanon allein konnte er nicht haben; Madelon war dabei. Daher nahm er einen jedenfalls gleichgesinnten Freund mit. Wehe den Mädchen, wenn sie wirklich in die Hände dieser beiden gewissenlosen Schurken fallen sollten!

Fritz hatte genug gehört; er brauchte nicht mehr zu lauschen. Daher kletterte er an dem Spalier wieder hinab und entfernte sich so vorsichtig, daß ihn niemand bemerkte. Dann blieb er überlegend stehen.

„Hm!“ sagte er sich. „Ich könnte den Streich vereiteln, ohne die beiden Damen in Gefahr zu bringen. Ich brauchte ihnen denselben einfach nur zu verraten. Wenn ich jetzt zu ihnen gehe und ihnen erzähle, was ich gehört habe, so werden sie das Schloß sofort mit mir verlassen. Wir gehen in das Dorf, steigen in den Wagen und fahren nach Etain. Berteu hat dann den Ärger und das Nachsehen. Aber soll er wirklich so billig davonkommen? Eine kräftigere Lehre ist ihm recht gut zu gönnen, und die möchte ich ihm herzlich gern geben. Übrigens spricht mich diese alte Mühle außerordentlich an. Es ist mir, als ob dort etwas zu holen sei. Und der Kutscher hat auch einen anderen Lohn verdient, als er sich einbildet.“

Der brave Fritz war ein verwegener Charakter, aber doch nicht unvorsichtig. Er legte sich alle Gründe für und wider zurecht und kam endlich zu dem Entschluß:

„Gut, es wird gewagt. Zwei Revolver und zwei kräftige Fäuste sind genug, um mit diesem Berteu und seinem Freund Ribeau fertig zu werden, den Spaß, den ich mir persönlich machen werde, gar nicht mit in Rechnung gebracht.“

Er begab sich in das Dorf und suchte wieder die Schenke auf. Dort versah er sich mit einem Licht und sagte dem wartenden Kutscher, daß er ein Bote der beiden Damen sei, die ihn ersuchen ließen, von jetzt an in einer Stunde mit dem eingespannten Geschirr auf sie zu warten. Es war das eine Vorsichtsmaßregel, welche er für etwaige Eventualitäten traf. Sein Plan konnte ja auch anders ausfallen, als er dachte.

Nun begab er sich nach dem Schloß zurück und bog da in den Fahrweg ein, welcher nach der Pulvermühle führte, und wo der Kutscher warten sollte. Der letztere war noch nicht da, doch dauerte es gar nicht sehr lange, so hörte Fritz Pferdegetrappel und das leise, langsame Rollen von Rädern. Er war im Stall der Schenke gewesen und hatte da noch einige kurze Stricke gesucht, die er zu sich gesteckt hatte.

Er befand sich an einer etwas breiteren Stelle der Straße, weil er sich gesagt hatte, daß hier der Kutscher jedenfalls umlenken und dann warten werde. Das geschah auch. Der Mann stieg vom Bock, befestigte die Zügel und öffnete den Kutschenschlag, um hineinzusteigen und es sich dort bequem zu machen.

Das war der geeignete Augenblick. Fritz huschte unhörbar unter dem Baum, hinter dem er sich versteckt gehabt hatte, hervor und legte dem Kutscher die beiden Hände so fest um die Kehle, daß der so unerwartet Überfallene keinen Laut ausstoßen konnte. Der Mann war vor Schreck ganz steif und bewegungslos, und als Fritz seine Finger noch fester zusammenschloß, stieß der Franzose ein tiefes Röcheln aus und sank zur Erde. Er war beinahe erwürgt und hatte die Besinnung verloren.

Fritz nahm ihm den Mantel und den breitkrempigen Hut ab, legte beides einstweilen zur Seite, faßte den Mann dann und schleifte ihn eine ziemliche Strecke in den Wald hinein. Dort fesselte er ihn mit Hilfe seiner Stricke an einen Baum und band ihm sein eigenes Taschentuch vor den Mund, damit er, zur Besinnung zurückgekehrt, sich nicht durch Rufen Hilfe verschaffen könne.

Dann kehrte er zu dem Wagen zurück, nahm den Mantel um, vertauschte den breitkrempigen Hut mit dem seinigen, den er einstweilen in den Sitzkasten steckte, machte die Zügel los, griff zur Peitsche und stieg auf den Bock.

Nun war er bereit und wartete auf den Boten, der ihn holen sollte. Dieser kam nach vielleicht einer Viertelstunde.

„Pst!“ sagte er, als er die Kutsche erreicht hatte.

„Ja“, antwortete Fritz halblaut. „Ist's Zeit?“

„Ja, aber nicht zu schnell, denn vom Dorf ist es weiter hin als von hier.“

Die Pferde zogen an. Nach kurzer Zeit hielt Fritz vor der Tür, aber so, daß ihn das Licht nicht treffen konnte. Er hatte den Kragen hochgeschlagen und die Hutkrempe ziemlich weit heruntergebogen, so daß man sein Gesicht gar nicht erkennen konnte.

Nanon und Madelon traten aus der Tür, von Berteu, seiner Mutter und einigen Gästen begleitet. Sie nahmen Abschied und stiegen ein. Berteu näherte sich den Pferden und flüsterte dem Kutscher zu:

„Umweg wenigstens eine halbe Stunde.“

Fritz nickte mit dem Kopf und fuhr dann ab, natürlich in der Richtung nach dem Dorf zu. Die beiden Damen hatten wirklich nichts bemerkt und waren ganz ohne Ahnung der Gefahr, welche ihnen gedroht hatte. Eine kurze Strecke vor dem Dorf hielt der Wagen, und sie bemerkten, daß der Kutscher vom Bock stieg. Nanon öffnete das Fenster und fragte:

„Was gibt es? Warum halten Sie?“

„Weil ich mit Ihnen zu sprechen habe.“

Sofort wurde es den beiden angst. Was konnte dieser Mensch hier mit ihnen zu sprechen haben?

„Steigen Sie nur wieder auf“, gebot Madelon. „Im Dorf ist es auch noch Zeit, uns Ihre Mitteilungen zu machen.“

„Nein, Mademoiselle Madelon“, antwortete er, nähertretend, mit seiner richtigen Stimme.

„Mein Gott!“ rief Nanon. „Das ist ja nicht der Kutscher! Diese Stimme kenne ich; das ist ein anderer!“

„Nun, wer bin ich, Mademoiselle Nanon?“

„Sie sind – ah, Monsieur Schneeberg, sind Sie es?“

„Ja, kein anderer. Fürchten Sie sich nicht.“

„Gott sei Dank! Mir begann bereits angst zu werden. Aber, Monsieur, wo ist denn unser Kutscher?“

„Im Dorf wartet er auf Sie mit seinem Wagen.“

„Ah! Ist denn dieser nicht der seinige?“

„Nein. Dieser Wagen nebst Pferden gehört Ihrem lieben Bruder Charles Berteu.“

„Gott, was hat das zu bedeuten? Der Wagen des Bruders! Laß uns sofort aussteigen, Madelon!“

„O bitte, warten Sie noch“, bat Fritz.

„Aber das geht nicht mit rechten Dingen zu.“

„Allerdings nicht. Sie sollten entführt werden.“

„Entführt!“ riefen beide.

„Ja. Aber ich hatte Ihnen doch versprochen, über sie zu wachen.“

„Ich danke Ihnen, Monsieur. Aber inwiefern sollten wir denn entführt werden?“

„Sie sollten nach der Pulvermühle geschafft werden, wo Sie von Berteu und Ribeau erwartet werden.“

„Ribeau, dessen ich mich kaum erwehren konnte!“ sagte Madelon.

Fritz erzählte ihnen alles, bis der Plan ihres Bruders klar vor ihren Augen lag. Sie schauderten.

„Welche Schlechtigkeit!“ meinte Nanon. „Ich hätte diesen Tag nicht überlebt.“

„Ich auch nicht“, fügte Madelon hinzu. „Herr Schneeberg, Sie haben uns das Leben gerettet. Fahren wir eilig nach dem Dorf!“

„Fürchten Sie sich wirklich so sehr vor diesen beiden Menschen?“ fragte er.

„Nun Sie bei uns sind, haben wir keine Angst mehr.“

„Das ist mir sehr lieb; denn das gibt mir den Mut, eine recht große Bitte auszusprechen.“

„Reden Sie, lieber Monsieur Schneeberg“, sagte Madelon.

„Ich möchte am liebsten nicht nach dem Dorf.“

„Wohin sonst?“

„Ich möchte Sie lieber nach der Mühle fahren.“

„Mein Gott! Zu diesen beiden Menschen? Warum? Ich begreife das nicht.“

„Um sie vor Ihren Augen zu bestrafen. Und außerdem habe ich noch einen besonderen Grund, mir das Innere dieser Mühle einmal anzusehen.“

„Aber, Monsieur, welche Gefahr für uns!“

„Nicht die mindeste! Oder haben Sie kein Vertrauen zu mir?“

„Gewiß vertrauen wir Ihnen. Sie sind stark, mutig und treu!“

„Und vorsichtig!“ fügte er hinzu. „Ich werde Sie ganz gewiß nicht einer Gefahr aussetzen, welcher ich nicht zu begegnen vermag.“

„Davon sind wir überzeugt. Aber die einsame Mühle. Und diese beiden Menschen dort.“

„Sollen sie nicht bestraft werden?“

„Eigentlich, ja. Was sagst du dazu, Madelon?“

„Ich würde ihnen eine Strafe gönnen.“

„Du hast also Mut, mit hinzufahren?“

„Ja, da Herr Schneeberg uns versichert, daß er uns schützen werde.“

„Aber was wird dort geschehen? Was haben wir zu tun?“

„Ich werde“, antwortete Fritz, „die Rolle des instruierten Kutschers spielen. Ich fahre bei der Mühle vor und tue so, als ob wir uns verirrt haben. Man wird uns im Dunkeln öffnen und dann hinter uns die Tür verschließen.“

„Dann sind wir gefangen.“

„Das ist mir lieb. Man wird Sie sodann nach der Schreibstube Ihre Bruders bringen.“

„Uns allein? Ohne Sie?“

„Allerdings; aber Sie stehen trotzdem unter meinem Schutz. Haben Sie bereits einmal einen Revolver in der Hand gehabt?“

„Ja“, antworteten beide.

„Hier sind zwei; stecken Sie dieselben zu sich, um sie im Notfall zu gebrauchen. Schießen Sie in Gottes Namen jeden nieder, der Sie nicht mit Achtung behandelt. Ich werde die Folgen auf mich nehmen.“

„Einen Menschen erschießen!“ sagte Madelon schaudernd.

„Oh, soweit wird es gar nicht kommen. Wenn diese beiden Kerle die Waffen sehen, werden sie den Mut verlieren. Diese Sorte von Menschen pflegen Feiglinge zu sein. Wo liegt die Schreibstube? Sie haben ja hier gewohnt. Sie werden es wissen.“

„Entgegengesetzt der Durchfahrt. Sie werden also nicht in unserer Nähe sein?“

„Haben Sie keine Sorge. Ich werde auf jeden Fall bei Ihnen sein, sobald Sie meiner bedürfen. Also, wollen Sie sich mir anvertrauen?“

Sie zögerten mit der Antwort. Dann fragte Nanon:

„Also Sie geben uns Ihr Wort, daß Sie uns beschützen werden?“

„Mein festes Wort. Es soll Ihnen kein Mensch ein Haar krümmen.“

„Nun, so fahre ich sogar gern mit, um diesen beiden Menschen zu sagen, wie sehr ich sie verachte. Die Gefahr scheint mir allerdings nicht sehr groß, seit wir die Revolver haben. Brechen wir also auf, Monsieur Schneeberg.“

Fritz stieg wieder auf, lenkte um, kehrte auf der Dorfstraße zurück und lenkte dann in den nach der Mühle führenden Fahrweg ein. Er war am Tag hier gewesen und hatte sich bei dieser Gelegenheit genügsam orientiert. Als er das Gebäude erreichte, so daß die Pferde mit ihren Köpfen beinahe an das Tor stießen, klatschte er einige Male mit der Peitsche.

„Heda! Holla! Wohnt hier jemand?“ rief er dann.

Erst als er diesen Ruf, natürlich mit verstellter Stimme, wiederholt hatte, ließ sich im Inneren des Gebäudes eine Bewegung vernehmen. Dann wurde das Tor ein wenig geöffnet und man fragte:

„Wer ist denn hier draußen?“

„Verirrte. Wo befinden wir uns hier?“

„Alle Teufel! Verirrte! Und zwar mit einer Equipage! Wohin wollen Sie denn?“

„Nach Etain.“

„Und woher kommen Sie?“

„Von Schloß Malineau.“

„Da sind Sie allerdings bedeutend abseits geraten. Wenn Sie für eine Viertelstunde absteigen wollen, werde ich mich nachher gern auf den Bock setzen, um Sie auf den richtigen Weg zu bringen.“

„Das werden wir tun. Die Damen werden es erlauben.“

„Ah, Damen sind es! Um so mehr ist der kleine Unfall zu bedauern. Bitte, fahren Sie herein. Wir haben leider hier kein Licht; aber wir werden die Damen führen, nachdem sie ausgestiegen sind.“

Diese Verhandlung zwischen Ribeau und Fritz, denn jene waren die Sprecher, waren natürlich beiderseits mit verstellter Stimme geführt worden. Jetzt wurde das Tor weit geöffnet, dann aber, nachdem Fritz eingefahren war, sogleich hinter dem Wagen wieder verschlossen.

Die beiden Damen stiegen aus, jedenfalls jetzt mit dem innigen Wunsch, daß sie sich doch lieber nicht in diese Gefahr begeben haben möchten. Jede von ihnen fühlte sich bei der Hand ergriffen und durch eine Tür gezogen.

Fritz blieb scheinbar auf dem Bock sitzen. Aber als er die Schritte der sich Entfernenden nicht mehr hörte, stieg er ab, band die Zügel fest und zog dann das Licht hervor, um es anzubrennen. Beim Schein desselben bemerkte er, daß das Tor durch einen langen, hölzernen Riegel verschlossen war, den er leicht entfernen konnte.

Nun trat er durch die Tür, durch welche die Damen geführt worden waren. Er befand sich in dem eigentlichen Mühlenraum; er durchschritt denselben der Länge nach und vernahm sehr laute männliche und weibliche Stimmen, welche auf einen sehr ernsten Wortwechsel deuteten. Als er die Tür erreichte, hinter welcher sich die sprechenden Personen befanden, verlöschte er sein Licht und begann zu lauschen. –

Als vorhin nach der Unterredung Berteus mit seinem Kutscher der letztere sich entfernt hatte, war der erstere zu seinen Gästen zurückgekehrt. Unter diesen befand sich ein junger Mann, der sich eigentlich durch seine Figur und die Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge vorteilhaft auszeichnete, wenn nicht darin die verheerenden Spuren schlimmer Leidenschaften zu finden gewesen wären. Er hatte sich etwas abseits der übrigen Anwesenden gehalten um – Madelon beobachten zu können, welche seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Sie hatte dies gar wohl bemerkt, aber doch so getan, als ob sie von derselben nicht die geringste Notiz nehme. Sie hatte es auch so eingerichtet, daß er stets von Nanon bedient wurde; einmal aber konnte sie es doch nicht vermeiden, daß er ihr sein leeres Glas entgegenhielt, um es sich von ihr füllen zu lassen.

Dieser junge Mann war Ribeau, von dem Berteu zu seinem Kutscher gesprochen hatte.

„Mademoiselle“, sagte er, indem sie ihm den Wein eingoß, „wissen Sie, daß Sie ein reizendes Wesen sind?“

„Soll das ein Kompliment sein?“ fragte sie frostig.

„Nein, es ist die reine Wahrheit. Werden Sie länger hier bleiben?“

„Ich reise bereits heute wieder ab.“

„Wie schade!“

„Wie gut!“

Sie hätte sich entfernen können, aber es drängte sie, ihn für seine auffällige Beachtung zu bestrafen; darum blieb sie diese kleine Weile bei ihm stehen.

„Wie gut, sagen Sie“, fuhr er fort. „Haben Sie mit Ihrer Heimat gebrochen? Gefällt es Ihnen nicht hier?“

„Allerdings nicht.“

„Aber Schloß Malineau ist doch schön.“

„Das ist wahr. Aber die Menschen hier sind mir nicht sympathisch.“

„Darf man die Gründe davon wissen?“

„Gewiß. Es gibt nur einen einzigen: Man weiß hier nicht die Augen zu beherrschen. Auch Blicke können unhöflich und beleidigend sein. Haben Sie das nicht gewußt?“

„Ah! Sie sind eine kleine, allerliebste Schlange! Aber ihr Gift tötet nicht; es wirkt vielmehr berauschend.“

„Nun, so nehmen Sie sich vor dem Katzenjammer in acht!“

Jetzt ging sie von ihm fort, gerade in dem Augenblick, in welchem Berteu zurückkehrte und auf ihn zugeschritten kam.

„Was hast du?“ fragte der letztere. „Du siehst ein wenig echauffiert aus.“

„Ich bin es auch. Ich hatte ein kleines Intermezzo, welches mich erregt hat.“

„Mit wem?“

„Mit deiner Schwester Madelon.“

„Ah! Einen galanten Wortwechsel?“

„Von meiner Seite, ja; sie aber war wenig höflich, das muß ich aufrichtig gestehen.“

„Du darfst es ihr nicht übelnehmen. Sie wohnt ja in Deutschland!“

„Allerdings. Im Land der Bären und Ochsen. Wie kann man da Umgangsform erwarten. Aber ein schönes Mädchen ist sie doch.“

Er folgte ihr auch jetzt noch mit begierigem Blick. Berteu bemerkte das mit innerer Befriedigung.

„Sie gefällt dir?“ fragte er.

„Ausnehmend. Alle Teufel! Du kennst mich. Sie ist zwar deine Schwester, aber eigentlich geht sie dich doch nichts an, und so glaube ich, sagen zu dürfen, daß –“

„O bitte, geniere dich nicht. Wir sind Freunde. Diese beiden Schwestern sind mir fremd. Übrigens kann ich dir sagen, daß mir Nanon ebensosehr gefällt, wie dir die andere.“

„Ah! Könnte sich nicht ein kleines Abenteuer entwickeln lassen?“

„Wie wir es gewohnt sind? Hm!“

„Nicht? Ja? Nein?“

„Vielleicht doch; aber es handelt sich dabei um die allergrößte Verschwiegenheit.“

„Pah, Alter! Ich dachte, daß du mich genügsam kennengelernt hättest! Übrigens höre ich, daß die beiden Mädchen heute schon wieder abreisen wollen?“

„Das haben sie sich allerdings vorgenommen.“

Ribeau sah seinen Freund mit einem fragenden, gespannten Ausdruck an.

„Aber sie reisen doch ab.“

„Ich sehe, daß ich dir mein Projekt erklären muß. So höre“, sagte dieser.

Er detaillierte seinen Plan. Jener hörte aufmerksam zu. Am Ende sagte er:

„Höre, Charles, wir haben manchen Streich ausgeführt, der heutige aber macht deiner Erfindung alle Ehre.“

„So bist du mit dabei?“

„Das versteht sich ganz von selbst. Aber, ich verlange diese kleine Schlange Madelon für mich.“

„Sie ist dein, notabene, falls du es verstehst, ihr Interesse zu erregen.“

„Keine Sorge; sie ist grob gegen mich gewesen. Das ist ein sicherer Beweis, daß sie sich für mich interessiert. Mit einem gleichgültigen Menschen ist man nicht grob; mit ihm spricht man gar nicht.!“

Damit war das Abenteuer besprochen. Und als dann später die Schwestern erklärten, daß sie aufbrechen wollten, war Ribeau überzeugt, zu seinen vielen Siegen einen neuen verzeichnen zu können.

Nachdem die Kutsche mit Nanon und Madelon abgegangen war, erklärte Berteu seiner Mutter, daß er sich für einige Zeit entfernen wolle.

Er steckte hierauf einige Flaschen Wein und vier Gläser zu sich und machte sich mit Ribeau auf den Weg. Indem sie nebeneinander durch das nächtliche Dunkel schritten, war es Berteu, als ob er einen eigentümlichen, menschlichen Laut vernommen habe.

„Horch!“ sagte er. „War das nicht wie ein Stöhnen hier links im Wald?“

„Pah! Der Wind geht durch die Äste.“

Sie setzen Ihren Weg fort. Das Stöhnen aber hatte der gefesselte Kutscher verursacht, welcher mit Anwendung seiner ganzen Kraft daran arbeitete, sich aus seiner Lage zu befreien.

In der Pulvermühle angekommen, zu welcher Berteu den Schlüssel bei sich führte, begaben sie sich sogleich nach der Schreibstube, wo sie die dort vorhandene Lampe anzündeten und sodann die Flaschen und Gläser auf den Tisch stellten. Der Raum war nicht groß und recht behaglich eingerichtet.

„Nicht übel hier“, meinte Ribeau mit einem zynischen Lächeln. „Zwei solche Zimmer aber wären besser.“

„Wegen Trennung der Paare?“

„Gewiß! Nicht?“

„Pah! Zwei Freunde und zwei Schwestern! Laß uns zunächst eine Zigarre anbrennen.“

„In einer Pulvermühle?“

„Es ist jetzt keine Gefahr vorhanden. Die Vorräte sind in dem Keller aufbewahrt, und in den oberen Räumen gibt es keine gefährlichen Stoffe.“

Er öffnete das Schreibpult, in welchem sich auch die Zigarren befanden, und nachdem sie sich je eine angesteckt hatten, nahmen sie nebeneinander Platz.

„Ich bin wirklich ungeheuer gespannt auf die erstaunten und betroffenen Gesichter, welche wir sehen werden“, meinte Berteu.

„Wir müssen den ersten Schreck benutzen. Der Schreck lähmt den Widerstand. Ich wette, daß Madelon von mir zehn Küsse erhalten hat, ehe sie nur zu Worte kommt.“

„Vielleicht geht es anders, als du denkst.“

„Wie anders soll es gehen? Sie werden erst zürnen, dann bitten und zuletzt die liebevollsten Damen sein. Horch!“

„Das ist der Kutscher mit der Peitsche.“

„Gehen wir!“

Sie begaben sich nach der Einfahrt, wo Ribeau die Unterredung mit dem Kutscher führte. Nachdem die Schwestern ausgestiegen waren, geleiteten sie dieselben durch den dunklen Mühlenraum nach der Schreibstube.

Berteu öffnete dieselbe und die beiden Damen traten ein, die Männer hinter ihnen. Die letzteren hatten sich eingebildet, nun die verworrensten Ausrufe des Schreckens und der Angst zu hören; darum waren sie nicht wenig erstaunt, als die Mädchen wortlos nach dem kleinen Sofa schritten und sich nebeneinander auf demselben niederließen.

Dies war eine gute Berechnung. Sie hatten da die eine Wand im Rücken, die andere an der Seite und den Tisch vor sich.

Berteu blickte Ribeau an und dieser ihn. Einer geradeso verwundert wie der andere. Sie vergaßen ganz, sich den beiden Damen zu nähern. Endlich sagte Berteu:

„Donnerwetter, ihr seid es? Wer hätte das gedacht! Aber sagt doch nur, wie ihr euch verirren konntet?“

„Und zwar nach rückwärts verirren?“ fügte Ribeau hinzu.

„Die Schuld liegt jedenfalls beim Kutscher“, antwortete Nanon.

„So habt ihr euch einen sehr dummen Menschen gemietet.“

„Oder du hast uns einen sehr verschlagenen Kerl auf den Bock gesetzt!“

Er lachte laut auf.

„Denkst du?“ fragte er.

„Ja, das denke ich! Entweder sehr verschlagen oder sehr stupid!“

„Jedenfalls das erstere!“

„Ich denke vielmehr das letztere.“

„Was kann das Leugnen nützen? Wäre er stupid, so hätte er meine Befehle nicht so gut ausgeführt. Wir wollten euch für einige Stunden hier bei uns sehen. Nun können wir es euch erzählen, wie wir das angefangen haben. Natürlich aber nehmen wir bei euch Platz. Ich hoffe, daß ihr nichts dagegen habt.“

Er schickte sich an, den Tisch zur Seite zu schieben.

„Nein“, antwortete Nanon, „vorausgesetzt, daß ihr auch nichts hiergegen habt!“

Sie zog dabei ihren Revolver hervor, und Madelon tat dasselbe.

„Alle Teufel!“ rief Berteu. „Sie sind bewaffnet!“

„Das habt ihr nicht erwartet, nicht wahr? Ich sage euch, daß wir den, der uns anzurühren wagt, niederschießen werden!“

„Unsinn! Wo habt ihr diese Waffen her? Ihr hattet sie doch am Tag nicht.“

„Leuten eures Schlages gegenüber muß man stets bewaffnet sein!“

„Aber“, bemerkte Ribeau, „man muß auch verstehen, mit den Waffen umzugehen.“

Er schien ein gewandter Turner zu sein. Ein rascher Schritt an den Tisch, und sich schnell überbiegend, hatte er mit einem kühnen Griffe seiner Hände die beiden Revolver gepackt und den schwachen Frauenhänden entrissen. Ein zweistimmiger Schreckensschrei erscholl. Die beiden Männer lachten.

„So“, sagte Ribeau, „jetzt sind wir die Herren der Situation und werden unsere Gesetze vorschreiben.“

„Noch nicht!“

Diese beiden Worte wurden hinter ihm gesprochen. Er wollte sich umdrehen, kam aber nicht dazu, denn ein gewaltiger Faustschlag sauste auf seinen Kopf herab, so daß er wie ein Klotz zu Boden fiel. Berteu fuhr zurück, er glaubte seinen eigenen Kutscher vor sich zu haben.

„Mensch! Schurke!“ rief er. „Was fällt dir ein? Ich jage dich auf der Stelle aus –“



Er sprach nicht weiter, denn ein ebensolcher Faustschlag hatte ihn getroffen, so daß er nun neben seinem Kumpan auf der Diele lag. Jetzt erst legte Fritz den Hut und den Mantel ab.

„So!“ sagte er. „Diese beiden Messieurs werden einige Zeit lang kein Wort mehr reden. Ich kenne meinen Hieb. Zunächst wollen wir einmal von dieser Sorte kosten!“

Er öffnete eine der Flaschen, goß sich ein Glas voll ein und trank es aus. Dann hob er die beiden Revolver auf, welche Ribeau entfallen waren.

„Wie gut, daß sie kamen!“ sagte Nanon. „Wir waren nun ohne Waffen. Was tun wir jetzt? Am besten wird es sein, daß wir uns sofort entfernen.“

„Ich bitte, doch noch ein wenig zu warten“, sagte Fritz dann.

Er öffnete das Pult und blickte hinein. Zunächst zog er ein Paket starker Bindfäden hervor, mit welchem er die beiden besinnungslosen Franzosen band. Dann legte er sie so, daß sie, selbst wenn sie erwachen würden, nicht sehen konnten, was im Zimmer vorging.

Nun untersuchte er den Inhalt des Pultes sorgfältig. Dabei nahm sein Gesicht den Ausdruck steigender Genugtuung an. Madelon wußte, daß er preußischer Wachtmeister war; sie kannte also auch den Grund, weshalb er diese Bücher und Papiere so genau durchsuchte. Nanon hatte aber keine Ahnung davon. Sie war ganz erstaunt über das Interesse, welches er für diese Skripturen zeigte.

„Interessieren Sie sich so sehr für die Pulverfabrikation?“ fragte sie.

„Nein, aber desto mehr für die Handschriften, welche ich hier finde. Ist Ihnen diese Unterschrift bekannt?“

Er legte ihr einige Briefe hin.

„Ah, der alte Kapitän!“ sagte sie.

„Und hier?“

„Graf Rallion.“

„Diese Sachen interessieren mich so, daß ich wünsche, eine Abschrift von ihnen zu haben. Ich werde Ihre Geduld nicht lange auf die Probe stellen.“

Er nahm Bleistift und Papier und begann zu schreiben. Nanon wunderte sich schier über die Umsicht, welche dieser Pflanzensammler besaß. Es war eine eigentümliche Situation: Dort die beiden Gefesselten, denen die Besinnung noch nicht zurückgekehrt war; hier die beiden Mädchen, soeben aus einer großen Gefahr errettet und an diesem greulichen Ort dem schreibenden Kräutermann mit einer Ruhe zusehend, als wenn sie sich in bester Sicherheit befänden.

„So!“ sagte Fritz nach einiger Zeit. „Jetzt bin ich fertig, und wir können aufbrechen.“

Er steckte die Abschriften zu sich und brachte die Originale wieder an Ort und Stelle. Eben wollte er sein Licht anstecken, um dann die Lampe verlöschen zu können, als er aufhorchte.

„Man klopft!“ sagte Nanon.

„Das ist kein Klopfen“, meinte Fritz. „Man hämmert förmlich gegen die Tür. Und da, dieses Rufen! Ich glaube gar, man belagert uns. Sollte es dem Kutscher gelungen sein, sich zu befreien und die Gäste zu alarmieren?“

„Das kann uns nichts schaden!“ meinte Nanon. „Öffnen wir!“

Aber Madelon verstand die Situation besser. Fritz befand sich in größter Gefahr.

„Nein, nicht öffnen!“ sagte sie.

„Aber, warum nicht?“

„Davon später!“

Fritz nickte ihr beistimmend zu.

„Sie beide befinden sich wohl weniger in Gefahr“, sagte er. „Aber wenn man sich meiner bemächtigt, so erwartet mich nichts Gutes. Ich habe den Kutscher gefesselt und diese beiden Messieurs niedergeschlagen.“

„Das ist schlimm, sehr schlimm!“ sagte Madelon. „Was ist da zu tun? Man klopft und ruft immer stärker.“

„Kommen Sie!“ meinte Fritz. „Man muß sehen, was sie wollen.“

Er ließ Hut und Mantel des Kutschers liegen. Die Revolver hatte er zu sich gesteckt. Er nahm die beiden Damen bei den Händen und führte sie im Dunkeln fort bis vor, wo die Pferde mit dem Wagen standen. Es waren draußen viele Menschen beschäftigt, das Tor aufzusprengen.

„Hätten Sie doch Ihr Gepäck nicht mit im Wagen!“ flüsterte er.

„Lassen wir es im Stich!“ antwortete Nanon.

„Nein. Man wird doch sehen, ob diese Messieurs es fertig bringen werden, uns festzuhalten. Ein Glück, daß dieser Raum hier groß genug ist, um den Wagen umlenken zu können. Bitte steigen sie ein!“

„Herrgott!“ sagte Nanon. „Es wird wohl gefährlich?“

„Für Sie nicht!“

„Aber für Sie?“

„Auch das befürchte ich nicht. So! Jetzt sitzen Sie fest. Jetzt wollen wir ein Wort mit diesen Leuten reden.“

„Wer ist draußen?“ frage er laut.

„Ich, ich, ich, wir, wir!“ antworteten viele Stimmen.

„Was wollt ihr denn eigentlich!“

„Wo ist Monsieur Berteu?“

„Im Schreibzimmer.“

„Und Monsieur Ribeau?“

„Auch dort.“

„Und der Fremde, der mich gewürgt und gebunden hat?“

„Das war der Kutscher. – Der bin ich.“

„Also, macht uns auf!“

„Sogleich! Im Augenblick!“

Er hatte den Wagen umgelenkt und die Zügel fest in der Hand. Das Tor ging nach auswärts auf; daher gelang es den Leuten nicht, es mit Gewalt zu öffnen. Während sie erfolglos pochten und hämmerten, konnten sie nicht hören, daß er den Holzriegel zurückschob. Im nächsten Augenblick saß er auf dem Bock, die Peitsche in der Rechten, die Zügel und den einen Revolver in der Linken. Ein Hieb mit der Peitsche, und die Pferde zogen an; das Tor prallte auf und riß mehrere der draußen Stehenden über den Haufen.

„Zurück! Platz gemacht!“ kommandierte er.

Sechs Revolverschüsse krachten; die erschrockenen Pferde bäumten sich; aber er hatte sie fest im Zügel. Noch einige Peitschenhiebe, und die Kutsche flog zum Tor hinaus und im Galopp auf dem Waldweg dahin.

Hinter ihr ertönten Flüche.

„Nach, nur immer nach!“ hörte man rufen.

Fritz lachte laut und fröhlich auf. Seine Pferde konnte kein Fußgänger einholen. Er lenkte im Galopp aus dem Waldweg heraus und in die Straße ein, welche nach dem Dorf führte. In kaum fünf Minuten war das letztere erreicht.

Vor der Schenke hielt der Kutscher.

„Schnell umsteigen, und dann fort!“ befahl Fritz.

In kaum einer Minute saß er mit den beiden Schwestern im anderen Wagen, der sich in rascheste Bewegung setzte. Berteus Kutsche aber blieb stehen, nachdem Fritz vorher seinen Hut wieder an sich genommen hatte.

Es war nicht geraten, heute nacht in Etain zu bleiben. Darum beschlossen sie, als sie dort ankamen, sofort wieder abzureisen. Der Kutscher aus Metz, mit dem sie gekommen waren, mußte sofort anspannen.

Das ging nicht ohne einiges Geräusch ab. Eben wurde das Gepäck aufgeladen; Fritz stand mit den Damen beim Wagen, beleuchtet von der Hauslaterne. Da wurde über ihnen ein Fenster geöffnet, und ein Kopf erschien, um herunterzublicken. Madelon war im Begriff, einzusteigen.

„Halt! Heda! Halt!“ rief es von oben.

Fritz blickte empor, um zu sehen, ob der Zuruf ihnen gelte.

„Halt! Heda! Warten!“ wiederholte es.

Dann verschwand der Kopf.

„Es scheint doch, daß wir gemeint waren“, sagte Nanon.

„Wahrscheinlich. Warten wir also!“

Der Hausflur war sehr hell erleuchtet, und die Treppe ebenso. Die Stufen der letzteren kam eine kurze, dicke Gestalt herabgeeilt, in eine rote Tischdecke gewickelt und einen riesigen Kalabreserhut auf dem Kopf. In der Eile verwickelte sich der Mann mit den Füßen in die Decke; er verlor die Balance und fiel die letzten Treppenstufen herab.

Bei dieser Gelegenheit flog die Tischdecke auseinander, und man sah, daß der Mann nur Unterhose und Hemd trug. Sogar barfuß war er. Er raffte sich schnell wieder empor, stülpte den Hut wieder auf den Kopf, schlang die rote Decke wieder um seine umfangreiche Gestalt und rief:

„Halt! Warten! Nur einen Augenblick!“

Nun kam er herbei.

„Meinen Sie uns Monsieur?“ fragte Fritz.

„Natürlich!“

„Wer sind Sie?“

„Ich bin Hieronymus Aurelius Schneffke, Kunstmaler. Ich –“

„Ah, kenne Sie bereits sehr gut!“ lachte Fritz.

„Wie? Sie kennen mich?“

„Ja, par Renommée und par Distance.“

„Freut mich, freut mich! Gehören Sie zu diesen Damen, und erlauben Sie mir vielleicht, mit der einen ein Wort zu sprechen?“

„Gern, sobald es der Dame selbst genehm ist.“

Hieronymus trat an den Wagenschlag zu Madelon.

„Bitte, Fräulein, ich möchte mir gern eine Erkundigung gestatten!“

„Ich stehe zu Diensten!“

„Ist sie wirklich eine Engländerin?“

„Wen meinen sie denn eigentlich?“

„Nun, die Gouvernante!“

„Ach so!“ lachte sie. „Ja, sie ist eine Engländerin.“

Sie sah sich durch die Verhältnisse zu einer Unwahrheit gezwungen.

„O weh! Das ist so dumm wie Pudding! Und sie heißt auch wirklich Miß de Lissa?“

„Allerdings.“

„Dann hole der Teufel sämtliche Gouvernanten!“

Er wandte sich zornig ab, um in sein Zimmer zurückzukehren, kam aber doch noch einmal zurück und fragte:

„Darf ich fragen, wo Sie jetzt gewesen sind?“

Das war allerdings eine etwas zudringliche Frage; aber sie hatte den eigentümlichen Menschen beinahe liebgewonnen. Darum antwortete sie bereitwillig:

„In Schloß Malineau.“

„Alle Wetter! Wer hätte das gedacht!“

„Kennen Sie diesen Ort?“

„Ich will ja hin!“

„Ah! Haben Sie die lange Reise nur um dieses Zieles willen unternommen?“

Er besann sich, ob er die Wahrheit sagen dürfe. Er hatte seinem Auftraggeber versprochen, sehr vorsichtig zu sein; darum antwortete er:

„Nein. Ich will das Schloß abzeichnen, da ich einmal in dieser Gegend bin. Wohnt nicht dort ein Monsieur Berteu?“

„Was soll er sein?“

„Schloßverwalter!“

„Der ist gestorben und heute begraben worden.“

„Hm, hm! Waren Sie mit bei diesem Begräbnis?“

„Ja. Ich habe die Reise nur deshalb unternommen.“

Es war ein eigentümlicher, verständnisinniger Blick, den er auf sie warf. Dann sagte er:

„Sie waren wohl mit Monsieur Berteu verwandt?“

„Er war unser Pflegevater. Hier ist meine Schwester.“

„Und wohin reisen Sie jetzt?“

„Wieder zurück. Vorher aber gehe ich mit meiner Schwester nach Schloß Ortry bei Thionville.“

„Ortry, hm! Mademoiselle, nehmen Sie einmal hier meine Hand! Ich mag Ihnen unbequem geworden sein; ich bitte Sie um Verzeihung. Es ist mir, als ob wir uns wiedersehen müßten, und zwar unter Verhältnissen, welche für Sie erfreuliche sein werden. Gute Nacht, und gute Reise!“

Er kehrte in sein Zimmer zurück und sah durch das geöffnete Fenster den Wagen abfahren. Dann entfernte er die Spuren der Zerstörung, welche er angerichtet hatte! Er war nämlich trotz seiner Müdigkeit vom Bett aufgestanden, um zu sehen, was es mit dem da unten stehenden Wagen für eine Bewandtnis habe, und dabei hatte er Madelon erkannt. Sie wollte abreisen, das hatte er gesehen; sprechen wollte er vorher mit ihr, und da er keine Zeit fand, sich anzukleiden, so hatte er schnell den Kalabreser aufgestülpt und die Decke vom Tisch gerissen, um sie als Nachtmantel um sich zu schlagen. Dabei aber hatte er alles, was auf dem Tisch stand, heruntergerissen. Als er dann am folgenden Morgen sein Portemonnaie suchte, fand er es in Gesellschaft mit dem goldenen Klemmer in demjenigen Geschirr, aus welchem man weder zu essen noch zu trinken pflegt. Er hatte beides mit vom Tisch herabgerissen.

Es war ein schöner Tag geworden, und Herr Hieronymus Aurelius Schneffke benutzte gleich den Vormittag, um zu Fuß nach Schloß Malineau zu wandern. Da er sich Zeit ließ, kam er erst um die Mittagszeit dort an.

Er war sich einer Art von diplomatischer Sendung bewußt, und da Diplomaten schweigsame Leute sein sollen, so ließ er sich, als er in der Schenke sein Mahl einnahm, mit dem Wirt in kein Gespräch ein, obgleich dieser sich Mühe gab, sich über die Naturgeschichte des dicken Männchens Aufklärung zu verschaffen.

Nach Tisch nahm er Mappe und Feldstuhl und spazierte nach dem Schloß. Es fiel ihm gar nicht ein, dasselbe zu betreten und seine Erkundigungen zu beginnen. Nach seiner Ansicht mußte man mit ihm selbst anfangen, und damit hatte er recht.

Er suchte sich also einen passenden Punkt, plazierte sich dort auf den Feldstuhl, öffnete die Mappe und begann zu zeichnen.

Es dauerte nicht lange, so kam ein junger Mann daher. Er näherte sich, grüßte und trat nach rückwärts, um einen Blick auf das begonnene Bild zu werfen.

„Ah, Sie sind Maler, Monsieur?“ fragte er.

„Ja“, nickte Schneffke.

„Sind Sie Franzose?“

Sollte er sagen, daß er ein Deutscher sei? Nein, das fiel ihm gar nicht ein.

„Pole.“

„Ihr Name?“

„Schneffka.“

„Zeichnen Sie das Schloß in irgendeinem Auftrag?“

„Nein, ich male nur zum Vergnügen.“

„Verzeihen Sie, daß ich so zudringlich frage. Mein Vater ist gestern beerdigt worden und hat uns einige kleine Gemälde hinterlassen, deren Wert wir nicht kennen. Ein wirklicher Künstler hat sich hier noch niemals sehen lassen. Darum wäre es mir lieb, wenn Sie mir erlaubten, Ihnen die Bilder einmal zu zeigen.“

„Wo befinden sie sich?“

„Im Arbeitszimmer meines Vaters. Mein Name ist Berteu. Würden Sie sich vielleicht einmal in meine Wohnung bemühen?“

„Meinetwegen.“

Er klappte seine Mappe zu, griff zum Feldstuhl und folgte dem Voranschreitenden nach der Verwalterwohnung. Er tat, als sei ihm an der Inkommodation gar nicht viel gelegen, freute sich aber doch im stillen über dieselbe.

Charles Berteu führte ihn in das Zimmer, in welchem er gestern über den Rechnungsbüchern gesessen, dann die Schwester empfangen und endlich auch die Unterredung mit dem Kutscher gehabt hatte.

Es hingen da drei kleine Landschaften, von Anfängern gemalt. Sie waren fast gar nichts wert, aber Hieronymus nahm doch eine Miene an, als ob es sich um nichts Unbedeutendes handle. Es war ihm darum zu tun, einen Tag oder einige Tage hier verweilen zu dürfen.

„Nun?“ fragte Berteu.

„Schade, sehr schade!“

„Wieso?“

„Ich taxiere das Stück auf durchschnittlich fünfhundert Francs.“

„Alle Wetter! Wirklich?“

„Das haben sie jedenfalls gekostet, vielleicht noch mehr. Man hat es aber nicht verstanden, sie zu behandeln. Sie haben sehr gelitten.“

„O weh!“

„Ja, leider. Jetzt sind sie zusammen kaum zehn Franken wert, könnten aber leicht auf ihren früheren Wert und auch höher kommen, wenn sie gereinigt und renoviert würden. Das muß aber von einem guten Meister geschehen.“

„Ist das teuer?“

„Gewiß. Doch gibt es Maler, welche eine gewisse Leidenschaft für dergleichen Arbeiten haben. Sie arbeiten dann oft ohne Honorar.“

„Ah, so einer sollte sich hier einfinden.“

Schneffke nickte leise vor sich hin, tat aber, als ob er die Andeutung gar nicht verstanden habe, sondern beschäftigte sich noch weiter mit den Bildern.

„Renovieren Sie auch?“ fragte Berteu.

„Nur aus Liebhaberei, und dann auch nur Landschaften.“

„Das hier sind ja Landschaften.“

„Allerdings.“

„Sagen Sie, Monsieur, ob Sie diese Gegend vielleicht bald wieder verlassen.“

„Ich bin Herr meiner Zeit; ich kann kommen und gehen, ganz wie es mir gefällt und beliebt.“

„So würde ich wünschen, daß es Ihnen hier bei uns gefallen möchte. Vielleicht würden Sie sich entschließen, sich ein wenig mit diesen drei Landschaften zu beschäftigen.“

„Das wäre möglich. Nur glaube ich nicht, daß ich länger als einen Tag hier bleibe.“

„Darf ich den Grund wissen?“

„Sagen Sie selbst, ob ein Künstler in Ihrer Schenke Wohnung nehmen kann!“

„O, wenn es das ist, so wäre ja ganz leicht geholfen. Ich würde Ihnen hier bei mir ein helles, freundliches Zimmer anbieten. Und wenn Sie mich mit dem Honorar nicht zu sehr anstrengen, so – ich gehöre nämlich nicht zu den reichen Leuten.“

„Na, wollen einmal sehen. Zeigen Sie mir das Zimmer!“

Berteu führte ihn nach dem besten Raum, der ihm zur Verfügung stand, und worin es dem guten Hieronymus ganz gut gefiel.

„Nun, Monsieur, wie werden Sie sich entscheiden?“

„Ich will Ihnen sagen, Monsieur, eigentlich macht man so etwas nicht; man vergeudet seine Zeit und seine Kraft; aber Sie selbst gefallen mir, und Ihre drei Bildchen sind wirklich nicht übel; ich werde hierbleiben und Sie Ihnen renovieren, ohne Bezahlung von Ihnen zu nehmen, vorausgesetzt, daß Sie mich nicht geradezu verhungern oder verdursten lassen.“

„Topp, Monsieur! Das soll ein Wort sein!“

Sie schlugen ein. Charles Berteu freute sich bei dem Gedanken, wertvolle Bilder zu erhalten. Er nahm sich natürlich vor, sie sofort zu verkaufen. Der dicke Maler hatte mit einem Schlag seine ganze Zuneigung gewonnen. Er mußte gleich dableiben.

Schneffke begann auch bereits an diesem ersten Tag an den Bildern zu arbeiten, doch nahm er sich vor, sich nicht etwa zu beeilen. Er wollte hier soviel wie möglich für seinen alten Herrn Untersberg erfahren, der ihm ja ein so reichliches Reisegeld gezahlt hatte. Übrigens hatte sich seine Gouvernante ganz plötzlich in eine Engländerin verwandelt. Das mußte verschmerzt werden, und das vergißt sich ja bekanntlich am leichtesten und schnellsten entweder bei fleißiger Arbeit oder regem gesellschaftlichem Verkehr.

Am anderen Morgen saß er an der Staffelei, welche er sich improvisiert hatte, als Frau Berteu bei ihm eintrat, um ihm das Frühstück zu bringen. Er hatte eines ihrer drei Bilder vorliegen, und da er gerade darüber war, das Gras noch grüner, den Himmel noch blauer und die Sonne noch gelber zu machen, so war sie ganz entzückt von der prächtigen Akquisition, die ihr in diesem großen Künstler geradezu in das Haus gelaufen war.

Er hatte das Fenster offen, und vor seinem Auge lag die wunderbar entworfene Seitenfassade des Schlosses.

„Madame“, fragte er, „wem gehört eigentlich dieses Schloß?“

„Dem Herrn General Grafen von Latreau.“

„Das muß ein sehr reicher Herr sein!“

„Steinreich.“

„Wo wohnt er?“

„In Paris.“

„Solch reiche Herren von Adel pflegen sehr oft Freunde der Kunst zu sein. Befinden sich hier im Schloß Gemälde?“

„Einige.“

„Ah, die möchte ich mir einmal ansehen. Würden Sie nicht die Gewogenheit haben, mir die Erlaubnis dazu zu erteilen?“

Ihr Gesicht nahm sofort einen ganz anderen, abstoßenden Ausdruck an.

„Dazu habe ich nicht das Recht“, sagte sie.

„Wer sonst?“

„Der Beschließer.“

„Es gibt also außer dem Verwalter hier noch extra einen Beschließer, selbst wenn die Herrschaft sich nicht hier befindet, und wo wohnt der Mann?“

„Drüben im Parterre des rechten Flügels.“

„Und wie heißt er?“

„Melac.“

„Pfui Teufel!“

Sie blickte ihn erstaunt an.

„Was war Ihnen da?“ frage sie.

„Ich kann diesen Namen nicht leiden.“

„Und ich die Personen nicht.“

„Die Person des Beschließers?“

„Ja, die seinige und auch die andern.“

„So hat er Familie?“

„Ja; aber bitte, wir hier sprechen niemals von diesen Leuten!“

„Aber ich müßte doch zu ihnen gehen, wenn ich die Bilder einmal ansehen wollte.“

„Allerdings; aber ich rate Ihnen, es lieber zu unterlassen; Sie würden die Erlaubnis dazu doch nicht bekommen. Wir wohnen hier auf dieser Seite, und die Leute bleiben stets drüben auf der anderen. Wir haben nichts, gar nichts miteinander zu tun.“

Damit ging sie fort. Sie hatte zuletzt in einem beinahe rücksichtslosen, ja groben Ton gesprochen; doch kümmerte ihn das nicht. Was gingen ihn solche Familienzwistigkeiten an!

Nach Tisch steckte er sein Skizzenbuch zu sich und ging in dem Park, welcher zu dem Schloß gehörte, spazieren. Er war, wie jeder echte Künstler, ein Freund und Kenner der Natur. Er konnte bei einem Baum, einem Strauch stehen bleiben, um seine Eigenart, seine Individualität zu studieren. Daher kam es, daß er gar nicht auf die Richtung achtete, welcher er zuletzt folgte, bis er plötzlich, aus einem Buschwerk tretend, überrascht stehen blieb.

Ihm gegenüber, am anderen Saume der kleinen Lichtung stand eine Bank, und auf derselben saß ein Greis, wie so schön der Maler noch keinen gesehen hatte. Diese hohe Stirn, dieser ideale Schnitt des Gesichtes, dieser prachtvolle, schneeweiße Bart, welcher ihm weit über die Brust herabfloß!

Im Nu saß Schneffke hinter einem verbergenden Strauchwerk, im Nu war das Skizzenbuch geöffnet, und der Stift arbeitete an dem Porträt dieses edlen Greisenangesichts.

Und als dann des Tages Arbeit vollbracht war, saß er am Abend noch wach, die angefangene Skizze zu vollenden. Er sagte sich selbst, daß sie zum besten gehöre, was er je gezeichnet hatte.

Am frühen Morgen des anderen Tages zog es ihn wieder hinaus in den Park, und ganz unwillkürlich suchte er den Ort, an welchem er gestern den Greis bemerkt hatte. Die Bank war leer, und er setzte sich darauf.

Nicht lange aber war das geschehen, so hörte er eine volle, frische Mädchenstimme singen:

„Der Mensch soll nicht stolz sein


Auf Gut und auf Geld;


Es lenkt halt verschieden


Das Schicksal die Welt.

Dem einen sind die Gaben,


Die gold'nen, beschert;


Der and're muß sie graben


Tief unter der Erd'!“

Ein Lied in deutscher Sprache, hier in Frankreich, mitten unter einer französischen Bevölkerung. Das war seltsam. Er mußte die Sängerin sehen. Er stand also von der Bank auf und schritt der Gegend zu, aus welcher das Lied erklungen war.

Dort gab es auch eine Bank, und auf derselben saß die Sängerin, ein Mädchen im Alter von etwas über zwanzig Jahren vielleicht. Sie war sehr einfach gekleidet – weißer Rock und weißes Jäckchen. Sie war nicht hoch und schlank, sondern von kleiner Statur, aber ihre Formen waren voll und versprachen, mit der Zeit noch an Fülle zuzunehmen. Sie hatte blondes Haar und ein allerliebstes, rundes, herziges Gesichtchen, blaue Augen, ein kleines Näschen und einen Mund, der wie zum Küssen gemacht war. Ihr Schoß lag voller Blumen, aus welchem sie bemüht war, ein Bukett zu formen. Dazu sang sie jetzt:

„Auf d' Alma geh i aufi;


Es brummelt scho die Kuh.


Und wann der Bu zum Dirndl geht,


Da singt er au dazu.

Auf d' Alma is ka Polizei,


Das ist die schönste Ruh.


Nur wann der Bu zum Dirndl geht,


Da singt er au dazu!“

Und nun trällerte sie einen Jodler hinaus, hell und goldrein, daß sie von einer Tirolerin hätte beneidet werden können.

„Bravo! Bravissimo!“

So mußte Schneffke rufen; er konnte seinen Enthusiasmus nicht zurückhalten und schritt auf das Mädchen zu.

Es errötete, zeigte aber keine Verlegenheit, sondern sah mit hellen Augen seinem Kommen entgegen.

„Verzeihung, Mademoiselle, daß ich Sie störe!“ bat er. „Aber wenn ich so fröhlich singen höre, so geht mir das Herz auf, und ich möchte auch gern mit fröhlich sein.“

Er hatte, jetzt an das Französische gewöhnt, ganz unwillkürlich auch diese Worte in derselben Sprache gesprochen. Sie antwortete:

„Und Sie kommen herbei, weil Sie meinen, daß man zu zweien fröhlicher sein kann als allein?“

„Ja, so scheint es mir. Sie wenigstens, Mademoiselle, haben ganz das Aussehen, als ob man in Ihrer Nähe niemals traurig sein könne.“

Sei strich mit den kleinen, quatschigen Händen die Blumen, welche sich zerstreuen wollten, zusammen, lachte, daß ihre perlenweißen Zähne erglänzten, und antwortete:

„Sie mögen recht haben; es ist das eine Gottesgabe. Der eine ist glücklich, und er weint, und der andere, wenn er lacht. Gehören Sie zu den ersteren oder zu den letzteren?“

„Zu den letzteren, also zu Ihnen, Mademoiselle!“

„Wirklich? So setzen Sie sich her. Hier, ich mache Platz!“

Sie rückte, daß auch für ihn noch Platz wurde. Das geschah so ungesucht, so einfach, so selbstverständlich, so ohne Absicht und Koketterie, daß ihr der gute Hieronymus am liebsten gleich einen Kuß gegeben hätte.

„Danke!“ sagte er. „Nun sollte ich Ihnen helfen können; aber ich habe wohl gar kein Geschick dazu.“

„Das braucht's gar nicht, denn ich werde sogleich fertig sein. Es ist das eigentlich kein Geburtstagsstrauß; aber Großvater liebt die Feld- und Waldblumen mehr als alle anderen.“

„Heute ist der Geburtstag Ihres Großvaters?“

„Ja, heut!“ nickte sie.

„Sie wohnen wohl nicht weit von hier?“

„Nein, gar nicht weit.“

„Vielleicht sehen wir uns da noch einmal wieder, ehe ich fortgehe.“

„Fortgehen? Sie sind nicht von hier? Und doch sprechen Sie so gut den Dialekt dieser Gegend!“

„Und Sie sind Französin und singen deutsche Lieder.“

„Großvater hat die Deutschen gern.“

„So ist er wohl ein Deutscher?“

„Nein. Das sagt bereits unser Name.“

„Ah, wenn ich den doch hören dürfte!“

„Warum nicht? Wir heißen Melac.“

„Pfui Teufel!“ entfuhr es ihm, geradeso wie gestern.

Und wunderbar, sie nahm ihm das nicht übel; sie zuckte mit keiner Wimper, sondern sie sah ihm offen in das Angesicht und fragte:

„Nicht wahr, Sie denken an den Pfalzverwüster?“

„Ja. Nach ihm nennt man sogar die bissigsten Bluthunde Melac.“

„Wir stammen von ihm ab; er ist unser Ahne und gerade darum hält Großvater soviel auf die Deutschen. Er denkt, er soll wenigstens mit dem Herzen die Sünden des Ahnen gutmachen, da er sie anders doch nicht sühnen kann.“

„Dann ist Ihr Großpapa ein sehr braver Mann.“

„Ja, das ist er. Ich habe ihn sehr lieb und bin ganz stolz auf ihn. Der gnädige Herr General ist ihm auch gewogen.“

„So ist Ihr Großpapa Beschließer des Schlosses? Und Ihr Vater?“

„Ich habe nicht Vater und Mutter, darum bin ich bei den Großeltern.“

„Ich wohne bei dem Verwalter Berteu.“

„Der ist tot.“

„Sind Sie mit der Familie befreundet?“

„Sie fliehen uns, und doch haben wir Ihnen nichts getan. Ich habe Großvater nach der Ursache gefragt, doch der wußte es mir auch nicht zu sagen.“

Das war ein gutes Zeugnis für die Familie Melac und ein schlechtes für die Familie Berteu. Die Melacs waren nicht gewöhnt, ihren Nebenmenschen etwas Böses nachzusagen.

„Von wem haben Sie Ihre deutschen Lieder gelernt?“ fragte Schneffke.

„Von den Großeltern. Beide sprechen deutsch. Wie lange werden Sie hier wohnen bleiben?“

„Nur einige Tage.“

„Wie schade! Wenn ich mit Ihnen spreche, so ist es als rede ich mit mir selbst.“

„Wahrhaftig, so ist es!“ stimmte der Maler ein. „Wenn ich hier wohnen bliebe, würde ich um die Erlaubnis bitten, Ihre Großeltern kennenzulernen.“

„Das können Sie ohnedies. Großvater spricht gern mit Leuten, welche über andere gerecht und billig denken. Haben Sie ihn noch nicht gesehen?“

„Ich bin heute erst zum zweiten Mal hier.“

„Nun, wenn Sie einen alten Herrn sehen mit langem, weißem Bart, der ist es. Sie können getrost eine Unterhaltung mit ihm beginnen; er liebt es sehr, seine Gedanken gegen andere auszutauschen, leider fehlt ihm hier die Gelegenheit dazu. Er schläft des Morgens länger als Großmama und ich. Nun aber wird er bald erwachen, und da muß ich mit den Blumen bei ihm sein.“

Sie erhob sich, um zu gehen. Man bemerkte, daß sie nicht recht wußte, in welcher Weise sie sich verabschieden sollte. Er war auch aufgestanden und sagte:

„Ich hätte Ihnen gern einige Blüten gepflückt für den guten Großpapa; dazu bin ich jedoch zu spät gekommen. Eins aber könnte ich zu diesem Strauß fügen, wenn ich wüßte, daß es ihm Freude bereitete.“

Sie blickte ihn erwartungsvoll an. Eine direkte Bitte oder Frage wollte sie nicht aussprechen.

„Ich bin nämlich gestern ein Dieb gewesen. Ich sah gestern einen alten, ehrwürdigen Herrn, welcher nach Ihrer Beschreibung Ihr Großpapa war. Ihm habe ich etwas geraubt. Hier ist es. Geben Sie es ihm heute zu seinem Geburtstag zurück, und bitten Sie ihn, es mir zu verzeihen!“

Er öffnete das Skizzenbuch und übergab ihr die gestern begonnene und auch vollendete Zeichnung. Als ihr Auge auf dieselbe fiel, stieß sie einen Ruf des Erstaunens aus.

„Sein Bild! Sein Bild! Wie ähnlich! Welch eine Überraschung! Sind Sie denn Künstler, Maler, Monsieur?“

„Ich male, ja.“

„Das ist ein Meisterstück, ein großes Meisterstück! Ich bitte Sie dringend, Großpapa zu besuchen, damit auch er dieses Porträt einmal zu sehen bekomme!“

„Ich habe Sie bereits gebeten, es ihm zu überreichen.“

„Es ihm zu zeigen, wollen Sie sagen!“

„Nein, es soll sein Eigentum sein, ein Geburtstagsgeschenk von seiner guten, liebenswürdigen Enkeltochter.“

Er sah es ihr an, daß es ihr schwer wurde, an die Wahrheit einer so großen Gabe zu glauben.

„Wirklich, Monsieur?“ fragte Sie. „Sie sprechen im Ernst?“

„Gewiß. Das Bild gehört Ihnen.“



Da ging ein Strahl unendlichen, kindlichen Glücks über ihr vor Freude und Entzücken gerötetes Angesicht.

„Monsieur, Monsieur, so etwas hätte ich nicht für möglich gehalten. Die Freude, welches Ihr Geschenk bereitet, wird eine unbeschreibliche sein! Wie soll ich Ihnen danken!“

„Wenn ich dürfte, wollte ich Ihnen sagen, wie Sie mir am besten danken können.“

„O bitte, sagen Sie es! Sagen Sie es!“

Sie hatte eine einfache Federnelke an ihre Brust befestigt. Er deutete auf dieselbe und sagte:

„Gewähren Sie mir diese Blume, Mademoiselle! Ich werde sie als Erinnerungszeichen dieser Stunde, solange ich lebe, treu bewahren.“

Sie erglühte, nahm aber die Nelke und reichte sie ihm hin.

„Es ist so wenig, so sehr wenig“, sagte sie. „Ich wollte, ich könnte Ihnen noch besser dankbar sein! Aber bitte, erlauben Sie auch Großpapa, Ihnen Dank zu sagen! Darf er hoffen, Sie heut bei sich zu sehen?“

„Falls mir der Zutritt gestattet ist, ja.“

„Sie werden sehr willkommen sein! Adieu, Monsieur!“

Sie ging, und er blickte ihr nach, solange er sie sehen konnte.

„Welch ein Mädchen!“ sagte er zu sich selbst. „Das ist so eine Sorte – unverdorben, gesund, gemütvoll und eher ein bißchen zu dick als zu dürr. Ich glaube, die wird einmal ganz meine Figur bekommen. Alle Wetter, was für ein respektables Paar würde das geben! Ich mag wirklich von keiner Gouvernante etwas wissen. Sie halten nicht Stich; sie verändern sich zu oft; sie werden zu schnell englisch und bekommen andere Namen. Dann läuft man ihnen nach und versäumt da Eisenbahnzüge. So ein Naturkind aber wie dieses Mädchen hier, ist etwas ganz anderes. Das hat Kern und Leben; da drin steckt Saft und Kraft! Diese Parkblume vom Schloß Malineau muß meine Frau werden, sonst bleibe ich ledig!“

Nachmittags, zur üblichen Visitenzeit, begab er sich in das Parterre des rechten Schloßflügels. Er sah den Namen Melac an einer der Türen stehen und klopfte. Es wurde ihm von der ‚Parkblume‘ geöffnet, welche ihn bat, einzutreten. Sie verriet eine große Freude über seinen Besuch und führte ihn in das Nebenzimmer. Dort saß der alte, ehrwürdige Herr, dessen Porträt er aufgenommen hatte, neben ihm eine Dame wohl desselben Alters und von einer mehr als glücklichen Wohlbeleibtheit. Sie besaß eine große Ähnlichkeit mit ihrer Enkelin, und es stand zu erwarten, daß diese letztere einst ganz denselben Körperumfang wie ihre Großmutter erreichen werde.

„Das ist der Herr, den ich heute früh im Park traf“, sagte das Mädchen, „und welcher die Güte hatte, mir dein Porträt zu schenken, lieber Großvater.“

Die beiden ehrwürdigen Leute erhoben sich und begrüßten den Maler freundlich und herzlich wie einen alten Bekannten. Sie machten den besten Eindruck auf ihn. Er nannte seinen Namen, nämlich Schneffka, wie er sich ja auch Berteu gegenüber genannt hatte, und fühlte sich sehr bald in ein recht animiertes Gespräch gezogen.

Auf dem Tisch stand Wein und eine bereits angeschnittene Torte, jedenfalls dem Geburtstage zu Ehren. Er erhielt ein Stück des Kuchens und ein Glas Wein, und die drei Leute schienen sich darüber zu freuen, daß er sich dies ohne alle Komplimente gefallen ließ.

An der Wand hing ein ziemlich großes Bild, ein Porträt in Pastell. Es stellte einen jungen Mann vor, dessen Gesichtszüge den Südländer verrieten, hatte aber, obgleich es durch ein Glas geschützt war, von seiner ursprünglichen Frische sehr viel verloren. Die Pastellgemälde sind die vergänglichsten, weil bei ihnen die Farben nur wie zarter Staub auf der Fläche kleben. Sie müssen besonders von der Einwirkung der Luft und der Feuchtigkeit sowie auch vor Staub und Erschütterung bewahrt werden.

Das Auge des Malers kehrte während der Unterhaltung immer wieder nach dem Porträt zurück. Er erkannte, daß es von einem Meister gefertigt sein müsse. Wie kam ein derartiges Kunstwerk, ein so teures Stück in die Wohnung eines einfachen Beschließers? fragte er sich im stillen.

Melac bemerkte die Anziehungskraft, welche das Bild auf seinen Besucher ausübte, und fragte daher.

„Sie interessieren sich für dieses Porträt, Monsieur?“

„Allerdings. Es scheint ein Meisterwerk zu sein.“

„Wirklich? Ich verstehe nichts davon.“

„Wer hat es gemalt?“

„Das weiß ich leider nicht.“

„Ist nicht der Name des Künstlers, ein Faksimile, oder irgendein Zeichen zu sehen?“

„Nein, auch das nicht.“

„Aber Sie wissen wenigstens, wer der Herr ist, welchen das Porträt vorstellt?“

„Auch das ist uns unbekannt. Das Bild ist nämlich ein Geschenk, oder vielleicht darf ich auch das nicht sagen, da ich noch unsicher bin, ob ich mich den Besitzer desselben nennen darf.“

„Das klingt ja recht geheimnisvoll!“

„Ist es wohl auch.“

„Ah, das liebe ich. Dem Maler ist nichts so interessant wie ein Bild, mit welchem irgendein Geheimnis verknüpft ist.“

„Leider bin ich nicht imstande, dieses zu durchdringen. Ich erhielt das Bild von einer Sterbenden, oder doch wenigstens von einer Kranken, welche am nächsten Tag starb.“

„Und Sie wissen nicht, auf welche Weise sie in den Besitz desselben gekommen war?“

„Nein. Die Dame wohnte hier. Sie hieß Charbonnier und hatte zwei Töchter – – –“

„Charbonnier?“ unterbrach ihn der Maler.

Er mußte sofort an Madelon Köhler denken. Charbonnier heißt ja Köhler im Deutschen.

„Ja, Charbonnier“, antwortete der Gefragte. „Sie wohnte beim Verwalter und schien bessere Tage gesehen zu haben. Sie sprach niemals von ihrer Vergangenheit, obgleich sie täglich hier bei uns war. Sie schloß sich nämlich mehr an uns, als an die Familie des Verwalters. Als sie krank wurde, ließ sie sich von einer Frau pflegen. Wir dachten keineswegs, daß die Krankheit zum Tod führen würde. Sie schickte mir damals das Bild und ließ mir sagen, daß sie mit mir darüber zu sprechen habe. Am anderen Tag aber war sie tot.“

„Ohne Ihnen eine Aufklärung gegeben zu haben?“

„Leider. Sie hat in ihren letzten Augenblicken davon sprechen wollen, aber nur noch stammeln können. Meine Frau ist nicht imstande gewesen ein Wort zu verstehen.“

„Hm! Sie wissen also ganz und gar nichts über die Vergangenheit der Dame?“

„Nein. Sie ist eines schönen Tages nach Schloß Malineau gekommen und hat sich beim Verwalter ein Stübchen gemietet. Dann, als sie starb, hat dieser sich der Kinder angenommen. Die beiden Mädchen sind Erzieherinnen geworden.“

Schneffke durfte nicht verraten, wie ganz außerordentlich er sich für diese Angelegenheit interessierte. Er sagte:

„Ein eigentümlicher Fall. Ich habe eine gewisse Leidenschaft für dergleichen geheimnisvolle Geschichten. Vielleicht könnte der Verwalter Auskunft geben. Mit ihm ist die Dame jedenfalls offen gewesen.“

„Möglich, obgleich ist es nicht glaube. Übrigens wird er keine Auskunft erteilen können, denn er ist tot.“

„Vielleicht hat er seinen Sohn eingeweiht.“

„Das ist sehr unwahrscheinlich. Ich glaube, daß der junge Berteu nicht das mindeste weiß.“

Das war es ja, was Schneffke erfahren und erkundschaften sollte!

„Sie haben den toten Verwalter mit zu Grabe geleitet?“ fragte er, damit das Gespräch nicht ins Stocken gerate.

„Nein. Ich hätte das nicht wagen dürfen, da wir mit den Berteus entzweit sind. Sie wohnen bei ihnen; haben Sie nichts davon bemerkt?“

„Ich habe es ahnen können.“

„Wir sind nicht schuld daran. Der junge Berteu ist ein roher, rücksichtsloser Patron. Er stellte unserer Enkelin nach, und zwar in einer Weise, daß Marie um meinen Schutz bitten mußte. Ich wies den Menschen zurecht, und seit jener Zeit leben wir in Feindschaft. Der Haß wird von unserer Seite keineswegs gepflegt, obgleich uns sehr oft Gelegenheit geboten wird, ärgerlich zu werden. Die Berteus haben sogar gewagt, dieses Bild von uns zu fordern, natürlich ohne allen Erfolg.“

„Aber Berteu hat doch kein Recht dazu!“

„Nicht das mindeste. Der verstorbene Verwalter ist ja zugegen gewesen, als Frau Charbonnier meine Frau gebeten hat, das Bild mitzunehmen; er hat aber stets behauptet, daß es uns nicht ausdrücklich geschenkt worden sei.“

„So hat er es wohl für die beiden Mädchen reklamiert?“

„Ja, scheinbar, in Wirklichkeit aber jedenfalls für sich.“

„Vielleicht hat er geahnt, daß es irgendeine Bewandtnis mit dem Bild hat.“

„Es wird wohl so sein.“

„Würden Sie mir erlauben, es einmal zu betrachten?“

„Sehr gern! Marie, nimm es einmal herab!“

Das Mädchen stellte sich einen Stuhl an die Wand, konnte aber das Gemälde noch nicht gut erreichen; darum nahm Schneffke einen zweiten Stuhl, um ihr zu helfen. So standen sie nebeneinander auf den Stühlen, und gerade als es ihnen gelungen war, das Bild vom Nagel zu nehmen, wackelte Maries Stuhl. Schneffke glaubte, sie würde fallen und bog sich zu ihr hinüber, um sie zu halten. Dadurch verlor er das Gleichgewicht und – stürzte selbst herab. Er hielt selbst im Fallen das Bild noch fest. Marie ließ auch nicht los, da sie das Glas nicht zerbrechen lassen wollte, und so kam es, daß auch sie die Balance verlor und im nächsten Augenblick auf den dicken Maler fiel.

„Mein Gott!“ rief der Beschließer. „Welch ein Unglück!“

Er kam herbeigeeilt.

„Es ist doch nichts zerbrochen?“ fragte die Beschließerin voller Angst.

„Nein“, antwortete Schneffke, am Boden liegend. „Das Glas ist noch ganz, es ist nicht zerbrochen.“

„Das meine ich nicht; aber Sie, Monsieur; sind Sie noch ganz?“

„Ich werde nachsehen.“

Marie hatte sich schnell aufgerafft. Ihr hübsches Gesichtchen glühte vor Verlegenheit. Schneffke stand langsam auf, betastete sich, streckte die Arme aus, hob ein Bein nach dem andern in die Höhe und sagte dann lachend:

„Unbeschädigt! Ich bin auch nicht entzwei.“

„Welch ein Glück!“ meinte die Frau. „Das sah wirklich ganz gefährlich aus!“

Der Maler schüttelte den Kopf, strich sich mit beiden Händen denjenigen Teil seines Körpers, auf welchem er damals in Tharandts ‚Heiligen Hallen‘ die Schlittenpartie gemacht hatte, und antwortete gutmütig:

„Es war nicht so schlimm, wie Sie gedacht hatten, Madame. Ich falle sehr weich.“

„Das scheint wahr zu sein“, lachte der Beschließer. „Ich glaube, Marie ist schuld gewesen.“

„Nein“, meinte Schneffke. „Die Schuld liegt an mir. Nur gut, daß wir nicht das Bild zerbrochen haben. Lassen Sie es mich betrachten.“

Er trug es in die Nähe des Fensters und untersuchte das Gemälde.

„Sehen Sie“, sagte er nach einiger Zeit. „Hier unten in der Ecke steht ein M mit einem Strich hindurch. Es ist allerdings kaum noch zu erkennen. Das ist das Faksimile des berühmten Porzellanmalers Merlin in Marseille, der allerdings seit längerer Zeit tot ist. Das Porträt ist ein Meisterstück, hat aber sehr gelitten, da es weit transportiert worden ist. Die Farbe ist ausgestaubt.“

„Geht das nicht auszubessern?“

„O doch! Soll ich es machen?“

„Ah, wären Sie bereit dazu?“

„Gewiß! Sie brauchen mich das Gemälde nur mitnehmen zu lassen. In zwei Tagen bin ich fertig.“

„Mit hinüber zu Berteu? Das möchte ich unter den Umständen nicht wagen.“

„Warum nicht?“

„Wer weiß, ob ich es wieder bekäme.“

„Sapperlot! Mißtrauen Sie mir?“

„O nein. Aber Berteu ist gewalttätig. Er würde Sie vielleicht hindern, mir das Bild zurückzugeben.“

„Hm! Was ist da zu machen?“

„Vielleicht könnten Sie sich entschließen, die Reparatur bei uns vorzunehmen.“

Das war dem guten Schneffke sehr willkommen. Auf diese Weise fand er ja Veranlassung, in der Nähe der hübschen Marie zu verweilen.

„Ich bin gern bereit dazu“, sagte er, „fürchte aber, Ihnen lästig zu fallen.“

„Keineswegs! Sie sind uns herzlich willkommen. Aber einen Punkt müssen wir vorher besprechen –!“

„Ah! Sie meinen das Honorar? Sorgen Sie sich nicht. Ich unternehme diese Arbeit zu meinem Vergnügen. Ich lerne dabei; ich übe mich. Meinen Sie, daß ich mich dafür auch noch bezahlen lassen soll?“

„Sie sind sehr nachsichtig, Monsieur. Wann dürfen wir Sie da erwarten?“

„Kann ich morgen Vormittag beginnen?“

„Zu jeder Zeit, und ganz nach Ihrem Belieben! Aber, Monsieur, weiß Berteu von Ihrem gegenwärtigen Besuch?“

„Bis jetzt wohl schwerlich.“

„Er wird erfahren, daß Sie zu uns gehen?“

„Jedenfalls.“

„Sie werden dadurch in Ungelegenheiten kommen.“

„Das schadet nichts. Ich bin nämlich ein großer Freund von Ungelegenheiten, zumal von solchen. Jetzt aber erlauben Sie mir, mich Ihnen zu empfehlen.“

Er reichte Marie die Hand. Sie befand sich noch immer in Verlegenheit. Er lachte fröhlich auf und sagte:

„Tut es Ihnen leid, daß wir miteinander gefallen sind, Mademoiselle?“

„Es war ungeschickt von mir!“ antwortete sie.

„Nein, es war im Gegenteil sehr geschickt. Sie glauben gar nicht, wie gern ich falle, zumal mit Ihnen. Und wissen Sie vielleicht, warum?“

„Wie sollte ich?“

„Nun, es gibt einen alten Glauben. Wenn ein Herr und eine Dame, welche beide unverheiratet sind, gemeinschaftlich fallen; so – so – hm, so gibt es bald eine fröhliche Hochzeit!“

„Monsieur!“

Sie sprach dieses Wort in einem Ton aus, der allerdings einigermaßen verwahrend genannt werden konnte, aber doch nicht im mindesten zornig klang. Ein liebliches Rot lag auf ihren Wangen, und ihre Augen blickten keineswegs grimmig auf den Sprecher.

„Na“, meinte der Alte, „der Herr macht ja nur Scherz! Ah, man klopft! Wer mag kommen?“

Der Maler wollte sich schnell empfehlen, aber der Beschließer winkte ihm, zu bleiben, und sagte:

„Bitte, Sie stören gar nicht. Es ist jedenfalls eine ganz unbedeutende Angelegenheit.“

Er ging, um zu öffnen. Ein elegant gekleideter junger Mann trat ein. Er grüßte höflich und sagte:

„Entschuldigung, meine Herrschaften! Ich heiße Martin und bin aus Roussillon. Ich reise für ein bedeutendes Weinhaus. Darf ich vielleicht fragen, ob Sie Bedarf haben?“

„Ah! Sapperment!“ erklang es da von der Seite her, auf welcher Schneffke stand.

Er hielt die Augen wie in starrer Verwunderung auf den Eingetretenen gerichtet. Dieser drehte sich zu ihm, und auch sein Blick glänzte eigentümlich auf, zeigte aber bereits im nächsten Augenblick keine Spur mehr davon.

„Danke!“ sagte Melac. „Ich bin nur Beschließer dieses Schlosses. Meine Mittel erlauben mir nicht, Wein in den Keller zu legen.“

„Aber der Besitzer? Vielleicht –?“

„Er ist nicht anwesend.“

„Wohl verreist?“

„Nein. Er lebt in Paris. Es ist Seine Exzellenz, der Herr General Graf von Latreau.“

„General Graf von Latreau?“ fragte der Weinreisende im Ton großer Verwunderung. „Ah, bei diesem Herrn bin ich in den letzten Tagen oft gewesen, bei ihm und Komtesse Ella, seiner Enkelin.“

„Wie? Sie kennen den gnädigen Herrn?“

„Ja. Haben Sie nicht gehört, was sich mit dem gnädigen Fräulein ereignet hat?“

„O doch! Es stand ja in allen Zeitungen. Heute vormittag las ich, daß sie errettet worden ist. Ich bin fürchterlich erschrocken, und danke mit den Meinen Gott, daß dieser Anschlag zunichte wurde. Es soll ein Weinreisender gewesen sein, welcher –“

Er hielt inne, blickte den Fremden betroffen an und fuhr dann fort:

„Ah, Sie sagten, daß Sie in den letzten Tagen bei dem General gewesen seien? Und Sie sind Weinreisender! Monsieur, Sie sind doch nicht etwa ganz derselbe?“

„Wer?“ fragte der andere lächelnd.

„Der das gnädige Fräulein gerettet hat?“

„Nein; das war mein Herr, nämlich Monsieur Belmonte, aber ich war dabei und habe mitgeholfen.“

„Wirklich? Wirklich? Welch ein Zufall, daß Sie nun nach Malineau kommen. Monsieur, bitte, gehen Sie noch nicht fort! Haben Sie die Güte, uns von diesem Ereignis zu erzählen!“

„Gern, wenn Sie sich so dafür interessieren, obgleich ich eigentlich meine Zeit dem Geschäft zu widmen habe.“

„Das werden Sie nachholen. Haben Sie diese Gegend bereits einmal bereist?“

„Nein.“

„Nun, so werde ich Ihnen die Namen aller nennen, welche Wein kaufen; auf diese Weise kann ich Ihnen erkenntlich sein, und Sie holen das Versäumte nach. Monsieur Schneffka, auch Sie dürfen jetzt nicht gehen. Sie müssen die Erzählung dieses merkwürdigen Ereignisses mit anhören. Bitte, setzen Sie sich, meine Herren!“

Man nahm am Tisch Platz; die Gläser wurden gefüllt, und der Reisende begann zu erzählen.

Eine Stunde später empfahl er sich, von dem Dank des Beschließers begleitet. Der Maler ging zu gleicher Zeit. Als sie sich im Freien befanden und sich unbeobachtet wußten, fuhr es dem Maler heraus:

„Donnerwetter! Ich dachte, nicht recht zu sehen!“

„Und ich traute meinen Augen nicht!“

„Du hier in Malineau!“

„Und du auch!“

„Du ein Weinreisender aus Roussillon namens Martin!“

„Martin ist mein Vorname! Aber du als Monsieur Schneffka, als ein Pole! Was soll das heißen?“

„Hm! Was soll dein Weinreisender heißen. Ein Berliner Telegrafist als Weinreisender!“

„Ja, ja! Es kommen wunderbare Dinge vor in der Welt, mein lieber Hieronymus Aurelius Schneffke. Ich glaube, zu erraten, weshalb du hier bist.“

„Nun, weshalb?“

„Um Tierstudien zu machen jedenfalls nicht! Also anthropologische Angelegenheiten: Menschenstudien?“

„Du triffst beinahe das richtige.“

„Diese kleine, allerliebste, dicke Marie Melac?“

„Hm! Ja!“

„Wird sie anbeißen?“

„Ich denke es.“

„Ich nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil ich dein berühmtes Pech kenne.“

„Unsinn! Ich lernte kürzlich sogar eine Gouvernante kennen, mit welcher ich nach Frankreich fuhr.“

„Du warst natürlich sofort Feuer und Flamme!“

„Ja, es wurde mir allerdings ein bißchen heiß; aber –“

„Na, was für ein aber ist es?“

„Als wir nach Thionville kamen, war aus der Gouvernante die Tochter eines englischen Lords geworden.“

„Allerdings verteufeltes Pech. Die Sache ist also, daß du eine vornehme Engländerin für eine Gouvernante gehalten hast, nicht wahr?“

„So ungefähr.“

„Das kann Herrn Hieronymus Schneffke leicht passieren. Und nun bist du bereits wieder getröstet, wie ich sehe.“

„Ganz und gar. Ich habe schon das Glück gehabt, mit dieser allerliebsten Marie in die Stube zu purzeln.“

„Hahahaha. Ein gutes Omen!“

„Welches auf Hochzeit deutet.“

„Hoffentlich! Aber, nun einmal ernsthaft. Was tust du hier in Frankreich?“

„Es war eine Studienreise, während welcher ich zufälligerweise hierher kam. Und du? Du warst also in Paris?“

„Ja.“

„Und die Geschichte, welche du erzähltest, ist wirklich passiert?“

„Ganz genau so.“

„Wer aber ist denn dieser Belmonte?“

„Der Rittmeister von Hohenthal.“

„Donnerwetter! Sollte ich das Richtige ahnen?“

„Nun, was ahnst du?“

„Hm. Ich bin doch auch Soldat.“

„Landwehrmann.“

„Landwehrunteroffizier, willst du wohl sagen.“

„Gut! Also weiter.“

Der dicke Maler machte ein sehr gescheites Gesicht und fuhr fort:

„Man munkelt von Krieg.“

„Man munkelt das sogar sehr vernehmlich.“

„Zwischen Preußen und Frankreich.“

„Natürlich nicht zwischen Preußen und Honolulu.“

„Da werden sogenannte Eclaireurs geschickt.“

„Vermutlich.“

„So einer ist dein Rittmeister und du auch?“

„Ich bestreite es dir gegenüber nicht, da ich dich als einen verschwiegenen Jungen kenne.“

„Keine Sorge! Denkt ihr wirklich, daß es losgeht?“

„Ja, und zwar bald.“

„Sapperment! Da kann ich machen, daß ich nach Hause komme.“

„Ja, troll dich heim. Man wird dich brauchen.“

„Einige Tage muß ich noch hier bleiben, wenigstens zwei.“

„Wegen der Marie?“

„Wegen eines Bildes, welches ich auszubessern habe.“

„Ach so! Dann ist deine Studienreise zu Ende, und du fährst direkt nach Berlin.“

„Nicht direkt. Ich nehme unterwegs Absteigequartier bei Thionville. Es gibt da ein Schloß, welches Ortry heißt.“

Martin Tannert wurde aufmerksam.

„Ortry?“ fragte er. „Ah! Was willst du dort?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Wie? Das ist doch unmöglich.“

„Ich werde jemand dort treffen.“

„Wohl auch eine Dame, he?“

„Natürlich!“

„Unverbesserlicher Mädchenjäger! Aber du, nimm dich dort in acht, damit du keinen Fehler begehst.“

„Wieso?“

„Es sind dort zwei Eclaireurs. Solltest du zufällig einen erkennen, so verrate dich nicht.“

„Wer sind sie?“

„Der Ulanenrittmeister Königsau.“

„Sapperment! Ein tüchtiger Offizier.“

„Und sein Wachtmeister Schneeberg.“

„Kenne ich nicht. Woher weißt du das?“

„Wir haben es erst gestern erfahren.“

„Wo ist Herr von Hohenthal?“

„In Metz. Wir müssen uns diesen Waffenplatz ein wenig genauer betrachten.“

„Aber warum kamst du da nach Malineau?“

„Hm! Die Umgegend von Metz ist doch auch von einiger Wichtigkeit. Wo wohnst du hier?“

„Da drüben beim Verwalter, dessen Bilder ich auch repariere. Willst du mit?“

„Danke!“

„Oder trinken wir ein Glas Wein in der Schenke?“

„Meinetwegen! Aber nimm dich in acht, daß kein Mensch Verdacht faßt.“

„Pah! Ich bin kein Esel. Komm.“ –

Am anderen Morgen befand Schneffke sich wieder bei dem Beschließer Melac. Er hatte Pastellstifte mitgenommen und erhielt einen schönen Platz am Fenster. Er mußte natürlich das Glas entfernen und das Bild aus dem Rahmen nehmen. Als er das tat, sahen Marie und ihre Großeltern zu.

Er trennte zunächst die Rückwand los. Kaum war dies geschehen, so fiel sein Auge auf ein großformatiges Briefkuvert, welches zwischen der Wand und dem Bild steckte.

„Ein Brief“, sagte er erstaunt. „An wen?“

Er las die Adresse: „Herrn Beschließer Melac.“

„An mich?“ fragte der Genannte. „Mein Gott, sollte es sich um das Geheimnis handeln, von welchem wir gestern gesprochen haben, Monsieur?“

„Vielleicht. Hier, nehmen Sie.“

Die vier Personen befanden sich natürlich in allergrößter Spannung. Melac öffnete das Kuvert. Es enthielt mehrere Papiere, welche er auseinanderfaltete.

„Das Geburtszeugnis eines Kindes, eines Mädchens namens Nanon de Bas-Montagne.“

„Himmel!“ sagte seine Frau. „Das gilt unserer Nanon.“

„Und hier ein zweites auf den Namen Madelon de Bas-Montagne. Ja, es gilt den beiden Schwestern. Und hier ist der Trauschein der Eltern: Baron Gaston de Bas-Montagne und Amély, geborene Renard.“

Die Beschließerin schlug die Hände zusammen und rief:

„Das ist es, wovon die Sterbende mit dir sprechen wollte.“

„Ja. Hier ist eine Quittung über 15.000 Franks, welche sie dem Verwalter Berteu geborgt hatte. Ah, ich habe mir gedacht, daß die beiden Mädchen nicht ohne Geld sein würden. Ihre Mutter mußte doch von etwas leben. Das Geld ist nicht zurückgezahlt worden, denn hier ist die Schuldverschreibung. Das werde ich zu ordnen haben.“

„Fünfzehntausend Franks!“ sagte seine Frau. „Der Berteu kann nicht fünfzehnhundert zurückgeben.“

„Wir werden sehen. Und hier zuletzt ein Brief, welcher an mich adressiert ist.“

Dieser Brief, welchen er erst für sich durchflog und dann laut vorlas, hatte folgenden Inhalt:

„Mein guter Herr Melac.

Wenn diese Zeilen in Ihre Hand gelangen, bin ich nicht mehr. Ich habe dann dieses Land verlassen, in welchem ich zuerst so große Liebe und dann so bittere Enttäuschung fand. Ich übergebe Ihnen meine beiden Töchter. Seien Sie Ihnen Vormund, Freund und Vater. Beide wissen nicht, wer ihre Eltern eigentlich sind. Ob sie es einst erfahren sollen, stelle ich ganz Ihrer Klugheit und Einsicht anheim.

Die dokumentalen Unterlagen erhalten Sie hiermit; aber vielleicht ist es besser, sie erfahren nie, daß ihr Vater ein Baron ist. Lassen Sie sich von dem Verwalter das Geld geben, damit es die Kinder bekommen. Von den Zinsen habe ich bisher leben müssen.

Was soll ich noch sagen! Sie sind ein Ehrenmann und mein Freund. Sie werden tun und beschließen, was zum Besten meiner Kinder ist, deren Vater und Großvater verschollen sind.

Ich segne Nanon und Madelon. Mein letzter Gedanke wird ihnen gelten, und wenn ich bei Gott bin, der die Liebe ist, werde ich ohne Aufhören für sie beten und auch für Sie, dem ich ja anders nicht mehr zu danken vermag.

Amély de Bas-Montagne.“

Als diese Zeilen vorgelesen waren, entstand eine minutenlange Pause. Die vier Personen waren tief ergriffen. Endlich nahm der Schließer das Wort:

„Also Vormund sollte ich sein, ich, aber nicht der Verwalter. Warum blieb ihr nicht Zeit, uns zu sagen, wohin sie diese Dokumente gesteckt hatte.“

„Ja, nun ist alles so ganz anders gekommen“, meinte seine Frau, welcher die Tränen in den Augen standen. „Wirst du den beiden Mädchen sagen, was sie eigentlich sind?“

„Das muß man noch überlegen.“

„Und hier“, sagte der Maler, welcher die Rückseite des Bildes betrachtet hatte, „hier steht der Name ‚Baron Gaston de Bas-Montagne‘. Sollte er es sein?“

„Natürlich ist es das Bild des Vaters der beiden Mädchen“, meinte der Beschließer. „Ihre Mutter hat es mit sich genommen. Warum aber ist sie von ihm fortgegangen?“

„Ihr Schwiegervater hat sie gezwungen.“

Da blickte der Beschließer den Maler erstaunt an.

„Der Schwiegervater?“ fragte er. „Gezwungen? Woher wollen Sie denn das wissen? Sie sind ja hier fremd. Sie haben die arme Dame nie gekannt und gesehen.“

„Das ist wahr. Aber ich habe diesen Schwiegervater gesehen.“

„Ah! Das wäre –“

„Und ich kenne ihn vielleicht heute noch.“

„Dann glaube ich noch an Wunder.“

„Ja, der liebe Gott hat die Schicksale aller Menschenkinder in seiner Hand. Ich will Ihnen sagen, daß ich dieser Angelegenheit wegen nach Malineau gekommen bin.“

Dieses Geständnis brachte eine große Wirkung hervor.

„Dieser Angelegenheit wegen?“ fragte Melac. „So war sie Ihnen bekannt?“

„Nein, sondern im Gegenteil sehr unbekannt.“

„Sie widersprechen sich.“

„Auch das nicht. Nach dem, was ich über Sie weiß, bin ich überzeugt, daß ich mich Ihnen anvertrauen kann. In Berlin lebt ein alter, reicher Sonderling, welcher sich Untersberg nennt. Sie verstehen Deutsch. Wie würden Sie diesen Namen in das Französische übersetzen?“

„Ich würde sagen – Unters – Bas-Montagne; ah, was ist das? Sollte zwischen diesem Untersberg und der Familie Bas-Montagne irgendeine Beziehung bestehen?“

„Ganz gewiß. Ich kenne diesen Herrn. Der junge Berteu hat ihm telegrafiert, daß sein Vater gestorben sei.“

„So stand er mit Berteu in Verkehr?“

„Wie es scheint. Er ist alt und schwach; er kann also nicht selbst reisen. Ich bin der einzige, mit dem er verkehrt, und er gab mir den Auftrag, nach Malineau zu gehen und auszukundschaften, ob der alte Berteu vor seinem Tod seinem Sohn ein Geheimnis mitgeteilt habe.“

„Welches Geheimnis?“

„Das wußte ich nicht; nun aber haben wir es ja erfahren. Das Geheimnis, wer die beiden Mädchen sind.“

„Ich begreife immer noch nicht –“

„Nun, dieser Untersberg ist der Großvater der Mädchen.“

„Ah! Mag er denn nichts von ihnen wissen?“

„Nein. Sie sollen nie erfahren, wer sie sind. Ihre Mutter war eine Deutsche, eine Bürgerliche, keine Katholikin. Sein Sohn sollte sie nicht heiraten, und als er dies trotzdem tat, wußte der Alte es soweit zu bringen, daß sie ihre Kinder nahm und verschwand.“

„Mein, Gott. Das ist ja ein ganzer Roman.“

„Aber ein sehr trauriger.“

„Sie hat also ihren Mann verlassen und ist zu uns gekommen.“

„So ist es.“

„Aber dieser, ihr Mann, hat er das geduldet?“

„Sie ging heimlich, als er verreist war. Als er zurückkehrte, war sie verschwunden.“

„Hat er denn nicht gesucht?“

„O ja! Aber sein Vater hat ihn belogen und gesagt, sie sei ihm untreu geworden und mit einem andern davongegangen.“

„Welch eine Schlechtigkeit.“

„Er hat dann nach ihr gesucht und ist ebenso verschwunden wie sie. Sein Vater hat Frankreich verlassen und seinen Namen verändert. Weshalb, kann ich nicht sagen.“

„Aber woher wissen Sie das alles?“

„Ich vermute das meiste; einiges aber weiß ich ganz genau.“

Er glaubte das von den Kolibribildern, und was damit zusammenhing, noch verschweigen zu müssen.

„Aber Sie wissen genau, daß jener alte Untersberg der Großvater der Mädchen ist?“

„Ich würde es beschwören.“

„So muß er sie anerkennen!“

„Das wird er nicht tun.“

„Ich zwinge ihn.“

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Ich lege diese Dokumente vor.“

„Damit erreichen Sie doch nichts.“

„Beweisen sie etwa nicht, daß er der Großvater von Nanon und Madelon ist?“

„Das Gericht verlangt Beweise, Behauptungen genügen nicht.“

„Nun, wird es denn nicht möglich sein, ihm zu beweisen, daß er der Baron de Bas-Montagne ist.“

„Vielleicht gelingt es mir.“

„Gut! So haben wir gewonnen.“

„Noch gar nichts! Beweisen Sir mir, daß diese Frau Charbonnier wirklich die Baronin de Bas-Montagne war.“

„Warum sollte sie es nicht sein?“

„Und das Nanon und Madelon wirklich die Kinder des Barons Gaston sind.“

„Aber ich begreife Sie nicht.“

„Und außerdem gibt es noch weitere Lücken, welche ausgefüllt werden müßten. Man darf da nicht so sehr sanguinisch denken!“

„So sagen Sie uns, was wir tun sollen.“

„Überzeugen wir uns zunächst, ob wir selbst recht haben oder unrecht. Sehen wir einmal, ob die Frau Charbonnier die Baronin de Bas-Montagne ist.“

„Wie wollen wir das anfangen?“

„Sehr einfach. Sie haben Madame Charbonnier gekannt?“

„Ja, natürlich.“

„Bitte, sie mir zu beschreiben.“

„Es war eine sehr schöne Dame, klein, schmächtig, mit Prachtaugen und herrlichem Haar.“

„Hm! Ich habe das Bildnis der Baronin gesehen. Wollen doch einmal vergleichen.“

Er hatte seine Mappe mit. Er nahm aus derselben ein Blatt Zeichenpapier und griff zum Bleistift. Er schloß die Augen, um sich die Züge jenes Porträts zu vergegenwärtigen, welches er hinter dem Kolibribild gefunden hatte, und als ihm dies gelungen war, warf er den Kopf mit bewundernswerter Leichtigkeit auf das Papier.

„So“, sagte er, „sehen Sie her! Ist sie es?“

Die beiden Alten stießen einen Ruf des Erstaunens aus.

„Das ist sie; ja, das ist sie!“ beteuerten sie.

„Gut, sehr gut! Ich bin meiner Sache nun schon gewiß. Diese Mädchen haben eine ungemeine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Aber man muß dennoch bedächtig verfahren. Ich denke, Sie verschweigen ihnen zunächst noch, wer sie sind.“

„Aber etwas muß man doch tun!“

„Gewiß! Ich gehe von hier nach Ortry.“

„Zu Nanon?“

„Ja. Madelon befindet sich bei ihr. Mit dieser kehre ich nach Berlin zurück. Wer weiß, was unterwegs sich findet und herausstellt. In Berlin gehe ich sofort zu dem Alten.“

„Um ihn zu zwingen, die Wahrheit zu bekennen?“

„Das kann ich noch nicht sagen. Ich werde Ihnen schreiben. Wir müssen Hand in Hand gehen.“

„Das versteht sich! Monsieur Schneffka, wie gut ist es, daß wir Sie kennengelernt haben. Und wunderbar, Sie, ein Pole, kommen her zu uns und –“

Er stockte. Es kam ihm ein Gedanke. Dann fuhr er fort.

„Monsieur, seien Sie aufrichtig. Sie sind keine Pole!“

„Was soll ich sonst sein? Ein Buschneger?“

„Ein Deutscher. Gestehen Sie es!“

Da trat Marie näher, legte die Hand auf seinen Arm und sagte: „Wirklich? Sollten Sie ein Deutscher sein?“

„Mademoiselle, Sie hassen ja die Deutschen.“

„Was denken Sie! Ich habe Ihnen ja im Gegenteil gesagt, daß wir uns sehr für Deutschland interessieren.“

„Nun gut! So will ich es gestehen, daß ich ein Deutscher bin!“

Da streckten ihm alle drei die Hände entgegen, und Melac fragte:

„Warum haben Sie das verschwiegen?“

„Aus Vorsicht. Die hiesige Bevölkerung spricht von einem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland.“

„Glauben Sie an dieses Gerücht?“

„So ziemlich.“

„So wünsche ich von ganzem Herzen Deutschland den Sieg. Möge Preußen kommen und Elsaß und Lothringen nehmen, damit das Unrecht früherer Zeiten gesühnt werde. Herr, nun sind Sie mir doppelt willkommen. Ihr Name wird nun wohl auch anders lauten?“

„Nicht viel anders: Schneffke anstatt Schneffka, Hieronymus Aurelius Schneffke; das ist so sicher wie Pudding.“

„Aber lassen Sie das Berteu ja nicht wissen!“

„Fällt mir ganz und gar nicht ein! Also Sie meinen, daß er von seinem Vater nichts erfahren hat?“

„Wenigstens kurz vor dem Tod nicht, da der Verwalter ganz plötzlich gestorben ist.“

„So könnte er es von früher her wissen!“

„Ja, und das scheint mir sogar sehr wahrscheinlich zu sein.“

„Wieso?“

„Es hat sich am Begräbnistag seines Vaters etwas ereignet, was mir zu denken gibt.“

„Erzählen Sie es mir, damit ich denken kann.“

„Er hat die Schwestern abends in die Pulvermühle gelockt, um Nanon in seine Gewalt zu bekommen.“

„Liebt er sie denn?“

„Wer weiß das?“

„Will er sie heiraten?“

„Man sagt es. Er weiß, daß das Mädchen wohl eine Zukunft hat. Er will an der letzteren teilnehmen, indem er Nanon zu seiner Frau macht.“

„Aber sie will ihn nicht!“

„Um keinen Preis. Daher hat er sie in die Falle gelockt.“

„Ein gottloser Mensch. Donnerwetter! Der sollte mir vor die Zündnadel kommen, wenn ich im Fall eines Krieges 'mal nach Malineau käme. Dann würde – Sapperment!“

Er bemerkte erst jetzt, daß er unvorsichtig gewesen sei. Melac aber beruhigte ihn, indem er sagte:

„Erschrecken Sie nicht. Sie sind nicht bei schlechten Menschen. Aber, wie ich höre, sind Sie also auch Soldat?“

„Landwehrsoldat.“

Da trat ein Lächeln auf die ernsten Züge des ehrwürdigen Mannes. Er sah den Maler vom Kopf bis zum Fuß herab an und fragte dann: „Sind die preußischen Landwehrleute alle so wohlgepflegt wie Sie, Monsieur?“

„Alle! Das Kommißbrot wirkt Wunder. Sie sehen ein: Kommt ein Bataillon solcher Kerls ins Laufen, so rennt es eine ganze französische Armee über den Haufen. Lassen Sie es also in Gottes Namen losgehen. Sie werden Ihr blaues Wunder sehen! Nun aber wollen wir das Porträt vornehmen, sonst wird es nicht fertig.“

Der Maler begann nun an dem Bild zu arbeiten. Die drei sahen zu und konnten sich nicht genug über seine Kunstfertigkeit wundern. Dabei wurde die Unterhaltung keineswegs ausgesetzt, und so kam es, daß, als er abends Abschied nahm, sie einander so nahegerückt waren, als ob er bereits seit Jahren in dieser Familie verkehrt habe.

Berteu behandelte ihn mit finsterer Miene.

„Ich habe Sie während des ganzen Tages nicht gesehen“, sagte er.

„Ich war nicht daheim.“

„Darf ich fragen, wo Sie gewesen sind?“

„Drüben im Schloß.“

„Im Schloß? Da wohnt doch nur der Beschließer. Sind Sie etwa bei dem gewesen?“

„Ja; gerade komme ich von ihm.“

„Monsieur, was fällt Ihnen ein?“

Der Dicke machte ein sehr erstauntes Gesicht und sagte:

„Was ist das für ein Ton? Wie kommen Sie mir vor?“

„Können Sie sich das nicht selbst erklären? Wissen Sie nicht, daß Sie mein Gast sind?“

„Das weiß ich sehr wohl.“

„Dann dürfen Sie auch nichts tun, was gegen meinen Willen ist.“

„Oho! Was ist denn gegen Ihren Willen?“

„Ihr Besuch bei diesen Melacs.“

„Pah! Ich bin Ihr Gast, aber nicht Ihr Sklave. Übrigens arbeite ich für Sie. Es ist eine Ehre für Sie, einen Künstler bei sich zu haben. Verstehen Sie wohl. Auch handelt es sich gar nicht um einen Besuch bei Melacs, sondern um eine Arbeit, welche ich da vorzunehmen hatte.“

„Gearbeitet haben Sie drüben?“

„Allerdings.“

„Das soll doch heißen, gemalt? Haben Sie vielleicht porträtiert?“

„Ja, porträtiert.“

Man sah es diesem Berteu an, daß er ganz erregt war. Er vergaß alle Höflichkeit und fragte zudringlich weiter:

„Wen? Den Alten?“

„Nein.“

„Die Frau?“

„Nein.“

„Das Mädchen?“

„Auch nicht.“

„Donnerwetter! Wenn denn? Es gibt da ja nur diese einzigen drei Personen.“

„Wenn ich sagte, daß ich porträtiert habe, so ist das richtig, denn ich habe an einem Porträt gearbeitet, aber allerdings an einem bereits vorhandenen.“

„Es gibt da nur ein Bild, welches Sie meinen können: ein Pastellbild.“

„Das war es allerdings.“

„Es stellt einen jungen Mann dar?“

„Stimmt auffallend.“

„Wer mag das sein?“

„Ich weiß es nicht.“

„Sie haben das Bild natürlich geöffnet?“

„Das versteht sich ganz von selbst.“

„Hat sich nichts dabei ereignet?“

„O doch.“

„Was denn? Was?“ fragte Berteu schnell.

„Es fiel ein Nagel herunter, so daß Mademoiselle Marie gezwungen war, ihn aufzuheben.“

„Monsieur!“

„Was wünschen Sie?“

„Denken Sie etwa, mich zum Narren machen zu wollen?“

„Pah! Ich antwortete Ihnen. Kann denn ich dafür, daß Sie alles, selbst bis auf solche Kleinigkeiten, wissen wollen?“

„Nach dem Nagel habe ich Sie nicht gefragt. Aber, Sie sind Kenner. Ist das Bild wertvoll?“

„Allerdings sehr.“

„Wie hoch schätzen Sie es?“

„Es kann sechstausend Francs gekostet haben.“

„Sechst – alle Teufel! Und jetzt? Hat es auch noch denselben Wert?“

„Den behält es.“

„Also doch. Welch ein Fehler von meinem Vater!“

„Einen Fehler? Was meinen Sie?“

„Wissen Sie denn nicht, wie das Bild in die Hände der Melacs gekommen ist?“

„Ich hörte, daß es ein Geschenk sei.“

„Nein, das ist nicht wahr. Jene haben es nur zur Aufbewahrung erhalten. Es gehört meinen Stiefschwestern. Vater hätte darauf bestehen sollen, es zurückzuerhalten. Haben Sie die Restaurierung vollendet?“

„Nein. Ich habe morgen noch einige Zeit daran zu arbeiten.“

„Und meine Gemälde werden dabei vernachlässigt.“

„Haben Sie keine Sorge. Ehe ich fortgehe, werde ich auch mit diesen fertig.“

Es war noch nicht spät, und so hatte der Maler noch nicht Lust, schlafen zu gehen. Er befand sich in einer ganz eigentümlichen Stimmung. Es war ihm, als ob er das große Los gewonnen hätte. Er hatte sehr viele Mädchen gesehen, und keine war ohne Eindruck auf ihn gewesen, er hatte sie alle haben wollen; aber diese Marie – das war doch etwas ganz anderes. Er hatte das Gefühl, als ob er sich verloren gehabt und nun wiedergefunden habe.

Es wurde ihm in der Stube zu eng. Er brannte eine Zigarre an und begab sich in das Freie. Natürlich ging er in den Park. Es verstand sich das ganz von selbst, daß er sich nach kurzem gerade vor der Bank sah, auf welcher er mit Marie gesessen hatte. Er setzte sich nieder.

Er hatte nicht etwa erwartet, sie hier zu treffen, o nein. Aber er blieb doch eine längere Zeit, als ob er meine, daß jemand kommen solle. Und da – da hörte er Schritte. Er horchte auf. Die Schritte näherten sich. Es waren die Schritte zweier Personen.

Er wollte nicht gesehen werden, darum stand er auf und trat zwischen die Büsche, vor denen die Bank stand. Es waren zwei Männer, welche kamen. Als sie die Bank erreichten, blieben sie stehen.

„Setzen wir uns ein wenig?“ fragte der eine, in welchem der Maler seinen Wirt Berteu erkannte.

„Meinetwegen.“

„Du bist heute sehr kurz angebunden.“

„Habe auch Veranlassung dazu.“

„Wegen der Mädels?“

„Weswegen sonst!“

„Pah! Es war ein Scherz, der uns leider mißlungen ist.“

„Der mich aber um allen Kredit gebracht hat.“

„Unsinn, Ribeau. Kein Mensch weiß genau, was geschehen ist, kein Mensch.“

„Aber man hat uns doch in der Pulvermühle gefunden, gebunden und geknebelt, und zwar der Mädels wegen.“

„Mich kränkt das nicht im mindesten. Das heißt, dem Volk gegenüber. Daß mir aber die Nanon entgangen ist, darüber könnte ich verrückt werden vor Wut. Könnte man nur eine Ahnung haben, wer der Kerl gewesen ist.“

„Lang und stark war er, baumstark.“

„Blond. Bist du in Etain gewesen und hast du nichts erfahren?“

„Na, ich will dich nicht auf die Folter stellen. Meine Erkundigungen sind von Erfolg gewesen.“

„Das wäre prächtig. Also heraus damit!“

„Am Abend vor dem Begräbnis sind sie angekommen.“

„Wer denn eigentlich?“

„Nun, Mademoiselle Nanon Charbonnier aus Ortry und Mademoiselle Madelon Charbonnier aus Berlin. Sie sind am Gasthof Napoleon abgestiegen. Sie haben eine Kutsche gehabt, welche sie in Metz gemietet hatten.“

„Das alles ist mir verteufelt gleichgültig. Der Kerl, der Kerl! Wer war der?“

„Als sie angekommen sind, hat ein langer starker Kerl neben dem Kutscher gesessen.“

„Ah! Der war es also.“

„Auch er hat seinen Namen in das Fremdenbuch eingetragen.“

„Wie heißt er?“

„Fritz Schneeberg aus Thionville.“

„Fritz Schneeberg? Ein deutscher Name! Hole ihn der Teufel! Was ist er denn?“

„Pflanzensammler.“

„Sapperment! Das ist ja etwas verdammt Vornehmes! Das stand mit im Fremdenbuch?“

„Ja, ich habe es gelesen.“

„Das ist nun alles, was du erfahren hast?“

„O nein. Ich weiß sogar, daß dieser Mensch der Geliebte deiner hübschen Nanon ist.“

„Unsinn! Die und ein Pflanzensammler.“

„Und doch.“

„Wieso? Sprich!“

„Nun, der Kellner hat ein kleines Verhältnis mit dem Zimmermädchen. Die beiden haben im dunklen Korridor gestanden, um sich ein wenig beim Kopf zu nehmen, da ist Nanon gekommen und hat diesen Schneeberg in seinem Zimmer aufgesucht.“

„Alle Wetter! Den Kerl vergifte ich! War es denn auch wirklich Nanon und nicht die andere?“

„Es handelt sich um ein Liebesverhältnis. Da versteht es sich ja ganz von selbst, daß Nanon seine Geliebte sein muß, nicht aber Madelon, die er gar nicht kennen kann.“

„Gut, gut! Ich komme übermorgen nach Thionville. Ich werde mich einmal nach diesem Herrn erkundigen. Was weißt du weiter?“

„Die beiden Mädchen sind am anderen Morgen mit dem Lohnkutscher nach Malineau gefahren. Der Kerl ist ihnen zu Fuß gefolgt. Er hat die ganze Gegend auskundschaftet.“

„Woher weißt du das?“

„Man hat ihn überall gesehen. Auch in der Dorfschenke ist er gewesen und hat mit dem Kutscher gesprochen.“

„So geht mir ein Licht auf. Er hat mich auf irgendeine Weise belauscht.“

„Jedenfalls. Des Abends spät ist er mit den Mädchen nach Etain zurückgekehrt und sofort aufgebrochen.“

„Wohin sind sie gefahren.“

„Nach Metz zurück.“

„Woher weiß man das?“

„Sie haben ja das Metzer Geschirr benutzt. Der Urian ist natürlich auch mit. Vorher aber hat es noch ein komisches Intermezzo gegeben. Nämlich, es hat da ein kleiner, dicker Kerl logiert, ein Maler –“

„Ah! Weiß du den Namen?“

„Schneffka, Maler aus Polen, hat im Buch gestanden.“

„Donnerwetter! Das ist ja mein Maler!“

„Der deinige? Was soll das heißen?“

„Er wohnt bei mir und bessert meine Gemälde aus.“

„So wird dich das Ding doppelt interessieren. Nämlich, eben, als die beiden Schwestern in den Wagen steigen wollen, kommt dieser Mensch zur Treppe herab, barfuß und im Hemd, nur eine rote Tischdecke um sich geschlungen und einen riesigen Künstlerhut auf dem Kopf.“

„Verrückt! Was hat er gewollt?“

„Er hat mit den beiden Schwestern gesprochen und ist dann wieder in sein Zimmer gegangen.“

„Was hat er mit ihnen zu sprechen gehabt?“

„Das konnte ich nicht erfahren, den niemand hat so nahe gestanden, daß es zu hören gewesen wäre. Verdächtig ist es aber doch, daß dieser Kerl die Mädchen kennt und nun bei dir wohnt.“

„Das ist wahr! Sollte er mit ihnen unter einer Decke stecken? Sollte er, der Dicke, Kleine der Verbündete dieses langen, starken Flegels sein, dem wir es zu verdanken haben, daß uns die beiden Mädchen entgangen sind?“

„Ich denke es. Ja, ich bin sogar überzeugt davon.“

„Dann soll den Kerl der Teufel holen.“

„Pah, der Teufel! Wir selbst werden es sein, die ihn holen!“

„Allerdings. Denn in diesem Fall ist er ein gefährlicher Kerl, der noch ganz andere Absichten hat, als wir jetzt denken.“

„Welche Absichten sollten das sein?“

„Nun, wo wohnt der Kräutermann?“

„In Thionville.“

„Also in der Nähe von Ortry. Und wo wohnt diese Nanon?“

„In Ortry.“

„Gut! Und in Ortry haben wir nicht nur unsere Niederlagen, sondern dort laufen auch alle Fäden unserer geheimen Verbindungen zusammen. Hast du denn noch nichts von der Vermutung gehört, daß geheime Emissäre diese Gegend durchstreifen?“

„Man spricht allerdings davon.“

„Nun, dann möchte man fast denken, daß dieser Kräutersammler ein solcher deutscher Spion ist.“

„Donnerwetter! Wenn das wäre.“

„Dann läge auch die Vermutung nahe, daß der kleine Maler zu ihm gehört.“

„Höre, du kannst recht haben. Man muß diesem Kerl sehr scharf auf die Finger sehen.“

„Das werde ich bereits morgen tun. Ist er ein Spion, so gehört er nicht zur gewöhnlichen Volksklasse.“

„Nein, sondern er ist entweder ein Offizier oder ein Diplomat.“

„Dieser Schluß ist sehr richtig. Nur scheint er mir das Zeug zu einem Diplomaten nicht zu haben.“

„Zu einem Offizier freilich noch weniger. Wer, nackt und nur mit einem Tischtuch umwickelt, mit Damen spricht, der handelt ganz und gar nicht als Kavalier.“

„Allerdings. Kurz und gut, der Kerl ist mir ein Rätsel, und dieses werde ich lösen. Er wird mir gleich morgen Rede stehen müssen.“

„Das mußt du aber schlau anfangen.“

„Keine Angst! Ich werde mich natürlich hüten, mit der Tür in das Haus zu fallen.“

„Und morgen müssen wir Gewißheit haben.“

„Warum bereits morgen?“

„Narr, weil wir übermorgen nicht mehr hier sind.“

„Ah, richtig! Wegen des Pulvertransports!“

„Es würde da gut sein, wenn wir dem alten Kapitän gleich etwas Positives melden könnten. Irre ich mich nicht, so haben wir das Pulver diesesmal im Steinbruch abzuliefern?“

„Ja. Es ist das der sicherste Ort.“

„Können wir mit dem Wagen hin?“

„Ja. Es geht von der Stadt ein Fahrweg hin. Dieser ist zwar alt und seit langer Zeit nicht mehr benutzt, bietet aber dem, der ihn kennt, keine allzu großen Schwierigkeiten. Es ist der einzige Steinbruch der ganzen Umgegend.“

„Wann müssen wir dort eintreffen?“

„Punkt zwölf Uhr.“

„Wie aber die Fässer in die Niederlage bringen?“

„Dummkopf! Das ist die Sache des Kapitäns. Ich vermute, daß es auch dort einen geheimen Gang gibt, welcher mit den unterirdischen Gewölben zusammenhängt.“

„Warst du bereits einmal drin?“

„Nein. Aber nach dem, was man davon im stillen sagt und erzählt, müssen bereits fürchterliche Vorräte von Waffen und Munition vorhanden sein. Sollten die Deutschen wirklich mit uns anfangen, so sind sie verloren.“

„Sie werden anfangen!“

„Dann sind sie dumm genug!“

„Sie werden dazu gezwungen. Der Kaiser ist der größte Diplomat der Gegenwart. Er will den Krieg, und da er die Schuld desselben nicht auf sich laden wollen wird, so findet er ganz sicher eine Gelegenheit, die Deutschen zu veranlassen, den Krieg zu erklären.“

„Das wäre ein famoser Kniff! Wir sind vorbereitet, sie aber jedenfalls nicht.“

„Nun, wir werden einen Spaziergang nach Berlin machen und unterwegs viel, sehr viel finden, was mitzunehmen ist.“

„Das ist die Hauptsache! Ich freue mich auf den Augenblick, in welchem uns der Alte die Ordre schickt. Denke dir, Offizier der Franctireurs!“

„Ich ja auch! Und das beste dabei ist, daß wir nicht mit in die Schlachtlinie gezogen werden. Wir blieben hinter den Aktiven, um – um – um –“

„Nun, um?“

„Um die Verbindung mit Frankreich zu unterhalten.“

„Ja, und um auf Ordnung zu sehen.“

„Hahahaha! Ordnung! Man schweift rechts und links ab und sucht, was zu finden ist! Also, nimm zunächst gleich morgen den Maler gehörig vor und sorge, wenn er dir wirklich verdächtig vorkommt, dafür, daß er uns nicht entwischen kann.“

„Habe keine Sorge! Wen ich einmal anfasse, der entgeht mir nicht. Verdächtig hat er sich bereits dadurch gemacht, daß er mit dem Beschließer verkehrt.“

„Hältst du den wirklich für einen Deutschenfreund?“

„Das ist er auf alle Fälle. Weil er ein Nachkomme Melacs ist, hält er es für seine Pflicht, das zu bereuen, was sein Ahne Großes getan hat. Aber komm; wir müssen ausruhen, da wir morgen bereits mit der Dämmerung aufzuladen haben, um dann übermorgen zur angegebenen Zeit in dem Steinbruch bei Ortry einzutreffen.“

Sie gingen.

Erst als ihre Schritte verklungen waren, trat der Dicke hinter seinem Versteck hervor.

„Donnerwetter!“ brummte er. „Das war eine wichtige Unterredung! Da hätte mein Freund Tannert, der Telegrafist und Husarenwachtmeister mit dabei sein sollen! Ich und ein deutscher Spion! Hahaha!“

Er setzte sich auf die Bank und dachte über das Gehörte nach.

„Na“, fuhr er fort, „eine Art von Spion bin ich allerdings, da ich ja gekommen bin, diesen Berteu auszuhorchen; aber ein wirklicher – so was man Eclaireur nennt, das bin ich nun freilich nicht. Ich stehe mich leider mit unserem Moltke nicht so familiär, daß er wissen könnte, was für ein gescheiter Kerl ich bin! Also aushorchen will er mich, ob ich Offizier oder Diplomat bin! Schön! Horche nur zu, Bursche!“

Nach einer Weile lachte er leise vor sich hin und sagte für sich:

„Vielleicht drehen wir den Spieß um, und ich horche euch aus, anstatt ihr mich. Pulver und Waffen in unterirdischen Gewölben in oder bei Ortry. Sapperment! Das ist ja so gefährlich wie Pudding, wenn er mit Dynamit gefüllt ist. Franctireurs, also Freischaren sollen gebildet werden? Von dem alten Kapitän? Wartet, ihr Kerls, euch werde ich belauschen! Und was ich erfahre, das sage ich meinem Freund Martin Tannert, der – ah, sagte er denn nicht, daß auch in Ortry bereits einer ist, nämlich der Rittmeister von Königsau? Und dann der Wachtmeister Fritz Schneeberg? Sollte das der Kräutermann sein, von dem diese beiden gesprochen haben? Sehr wahrscheinlich. An ihn oder Königsau kann ich mich doch auch wenden, wenn Gefahr im Verzug ist. Wartet, ihr Burschen, der Hieronymus Aurelius Schneffke wird euch einen dicken Strich durch eure Rechnung machen. Übermorgen bin ich in Thionville und Ortry und suche den Steinbruch auf. Pulverlieferung. Unterirdische Gewölbe. Geheime Gänge. Vorrat an Waffen und Munition. Hinter diese Schliche und Geheimnisse muß ich kommen. Man wird dafür sorgen, daß euch euer Spaziergang nach Berlin nicht allzu gut bekommen soll.“

Er wanderte langsam seiner Wohnung, dem Verwalterhaus, zu. Die Tür war bereits verschlossen, und er sah sich also gezwungen, zu klopfen. Charles Berteu öffnete ihm. Er machte ein sehr erstauntes Gesicht, als er ihn erblickte.

„Sie?“ sagte er.

„Ja, ich“, antwortete der Maler.

„So spät.“

„Ich finde es nicht sehr spät.“

„Nicht? Nun, dann haben wir wohl auch noch Zeit, ein Glas Wein zu trinken?“

Schneffke sah ein, daß der Wein nur als Vorwand diente. Die eigentliche Absicht des Franzosen war natürlich, ihn bereits jetzt in das Verhör zu nehmen.

„Ein Glas Wein?“ sagte er gleichmütig. „Den verschmähe ich zu keiner Zeit. Da können Sie mich sogar mitten in der Nacht vom Schlaf aufwecken.“

„So kommen Sie.“

„Aber gut muß er sein. Fusel trinkt kein Künstler so kurz vor dem Schlafengehen.“

„Haben Sie bei mir bereits etwas Schlechtes getrunken?“

„Das kann ich nicht sagen.“

„Also. Folgen Sie mir.“

Er führte ihn in sein Zimmer und ging dann Wein zu holen. Er kam nach kurzer Zeit zurück und schenkte ein.

„So, nehmen Sie, Monsieur“, sagte er. „Auf das Wohl unseres schönen Frankreich!“

Dabei bohrte er seinen Blick in das Gesicht des Deutschen.

„Frankreich soll leben!“ antwortete derselbe, indem er mit ihm anstieß.

„Und auf das Wohl und den Ruhm unseres großen Kaisers!“

„Hoch, Napoleon!“

„Trinken Sie doch aus.“

„Hab' schon. Sehen Sie her. Wenn es sich um den Ruhm Frankreichs und seines Kaisers handelt, da lasse ich keinen Tropfen im Glas.“

Der Franzose goß die Gläser wieder voll und sagte:

„Wie ich sehe, sympathisieren Sie mit Frankreich?“

„Oh, sehr!“

„Warum?“

„Na, weil mir das Land gefällt, das Land, das Volk und auch der Kaiser!“

„Aber Sie müssen doch Gründe dieses Wohlgefallens haben.“

„Pah! Warum gefällt Ihnen ein Hund?“

„Welcher Vergleich, Monsieur!“

„Oder eine Blume? Oder ein Mädchen?“

„Das ist Geschmackssache.“

„Nun gut, Ihr Kaiser ist auch nach meinem Geschmack.“

„Warum?“

„Donnerwetter! Warum ist das Mädchen nach Ihrem Geschmack?“

„Wir drehen uns im Kreis herum.“

„Und das ist eine Dummheit. Bleiben Sie also ruhig sitzen. Übrigens wissen Sie wohl, daß Polen stets mit Frankreich sympathisiert. Wäre es nach dem Willen des großen Napoleon gegangen, so wäre Polen frei.“

„Allerdings. Also, Sie sind ein Pole?“

„Natürlich!“

„Wohl ein Deutschpole?“

„Welche Frage. Gibt es wohl französische Kirgisen, oder gibt es Deutschkalmücken? Pole ist Pole. Verstanden?“

„Sie sprechen sehr kräftig!“

„Ja, wenn man mir Polen anrührt, so kann ich sehr leicht in Affekt geraten.“

„Und doch sehen Sie gar nicht aus wie ein Pole!“

„Warum?“

„Ihr Bäuchlein, Monsieur – – –!“

„Mein Gott! Welch eine Vorstellung haben Sie denn eigentlich von uns. Glauben Sie, wir Polen seien Hungerleider?“

„Das gerade nicht.“

„Zaunlatten oder Hopfenstangen?“

„Auch das nicht. Aber ich stelle mir jeden Polen schlank und wohlproportioniert vor.“

„Da sollte doch der Teufel dreinschlagen, Monsieur!“ sagte Schneffke zornig. „Bin ich etwa nicht wohlproportioniert?“

„Nun, eigentlich doch nicht so ganz.“

„Also schlechtproportioniert?“

„Das nun freilich nicht gerade.“

„Aber, was meinen Sie denn eigentlich mit Ihrem ‚proportioniert‘.“

„Die Verhältnisse des Körpers.“

Da stand Schneffke vom Stuhl auf, stellte sich breitspurig vor den Franzosen hin und sagte:

„Die Körperverhältnisse. Also gut. Sehen Sie mich doch gefälligst einmal an. Na, sehen Sie mich überhaupt?“

„Zu übersehen sind Sie nicht!“

„Gut! Einen Körper habe ich also, da Sie mich sehen. Nun kommt es darauf an, welche Verhältnisse dieser Körper hat!“

„Verhältnisse hat er auf alle Fälle.“

„Ob aber gute oder schlechte. Fangen wir beim Bauch an, da der am meisten in die Augen springt. Können etwa Sie so etwas Ausgebildetes, ich möchte beinahe sagen, Vollendetes, aufzeigen?“

„Nein!“ lachte der Franzose. „Sie sind mehr als wohlbeleibt; Sie sind dick.“

„Schön! Die Beine. Sind diese etwa dünn?“

„Nein.“

„Die Arme?“

„Auch dick.“

„Der Hals?“

„Dick.“

„Die Wangen?“

„Dick.“

„Und nun gar die Taille?“

„Außerordentlich dick.“

„Also wie ist alles an mir, Monsieur?“

„Dick, dick und abermals dick.“

„Und das nennen Sie nicht wohlproportioniert?“

„Ah! Meinen Sie es so?“

„Natürlich! Habe ich etwa einen aufgequollenen Leib und dazu fadenschwache Beine?“

„Nein.“

„Oder einen krummen Rücken und gerade Lenden?“

„Nein.“

„Oder kleine Augen und eine große Nase?“

„Auch nicht.“

„Nun wohl! Sie sehen also, daß kein Mensch besser proportioniert sein kann als ich. Ich will mich zwar nicht geradezu einen Adonis nennen, denn unter die Götter gehöre ich nicht, aber das Menschenmögliche in Beziehung auf Schönheit und Wohlgestalt, das leiste ich. Verstanden? Glauben Sie nun endlich, daß ich ein Pole bin?“

„Ja. Aber Ihre Sprache –!“

„Sprache? Was denn? Natürlich habe ich mit Ihnen französisch gesprochen. Wollte ich polnisch anfangen, so glaube ich, würde es Ihnen hinter der Stirn mehr oder weniger polnisch werden.“

„Das ist's nicht, was ich meine. Ich wollte nur sagen, daß Sie kein polnisches Französisch sprechen.“

„Davor soll mich auch der liebe Gott behüten.“

„Polen pflegen eine andere Aussprache zu haben.“

„So? Haben Sie bereits einmal Polen französisch sprechen hören? Wo denn?“

„In Paris!“

„Das ist auch eine schöne Sorte von Polen gewesen, Monsieur. Sie sind ja gar nicht imstande, einen Polen zu verstehen, wenn er französisch spricht. Das weiß ich besser als Sie!“

Diese drastische Zurechtweisung verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Wahrheit war, daß Berteu noch gar keinen Polen gesehen, viel weniger aber gesprochen hatte. Er antwortete:

„Sie mögen recht haben. Aber Monsieur, da fällt mir ein, Sie sind Maler?“

„Welche Frage. Natürlich bin ich Maler.“

„Bloß Maler?“

„Freilich.“

„Weiter nichts?“

„Ist das etwa nicht genug? Wollen Sie mich beleidigen?“

„So meinte ich es nicht. Ich wollte nur fragen, ob Sie nicht noch einen anderen Beruf haben.“

„Natürlich habe ich den.“

„Ah! Jetzt kommt es. Welchen Beruf haben Sie noch?“

„Nicht einen, sondern vier.“

„Gar vier! Welche?“

„Ich bin erstens Mensch, zweitens Christ, drittens Bürger und viertens steht zu erwarten, daß ich auch einmal noch Familienvater sein werde.“

Der Franzose fühlte sich sehr enttäuscht. Er hatte erwartet, das zu hören, was er hören wollte. Er bemerkte gar nicht, daß der Maler mit ihm spielte.

„Mille tonnerres!“ fluchte er. „Das nenne ich doch keine eigentlichen Berufsarten!“

„Und doch sind sie es.“

„Nun, sagen wir also Erwerbsarten.“

„Das ist etwas anderes!“

„Also, haben Sie außer Ihrer Kunst noch einen anderen, zweiten Erwerb?“

„Nein.“

„Und doch dachte ich –“

„Warum?“

„Es kommt oft vor, daß man nur zum Vergnügen malt.“

„Das ist bei mir nicht der Fall.“

„Sie malen also zum Erwerb und nehmen doch von mir kein Honorar!“

„Weil ich die Franzosen liebe, und Sie sind ein Franzose.“

„Sehr verbunden, Monsieur! Aber gerade weil Sie sich nicht bezahlen ließen, glaubte ich, daß Sie wohl eigentlich auf eine andere Erwerbstätigkeit angewiesen seien.“

„Ich male, um zu leben, und ich lebe, um zu malen! Welchen Beruf sollte ich denn außerdem noch haben?“

„Hm! Vielleicht Jurist.“

„Pah! Die Gesetze sind mir zu trocken. Meine Ölfarben kleben viel besser.“

„Oder Geistlicher!“

„Dazu bin ich zu sündhaft.“

„Oder Arzt.“

„Ich bin gesund.“

„Oder – oder Diplomat.“

„Unsinn! Wäre ich Diplomat, so setzte ich mich nicht zu Ihnen, um mich wie ein Schulknabe ausfragen zu lassen.“

„Oder Offizier!“

„Off – Off – hahahah – Offizier! Sind Sie verrückt! Wäre ich Offizier, so hätte ich Sie bereits zehnmal auf Pistolen gefordert, da Ihre Fragen eine ganze Reihe von Beleidigungen enthalten. Das sehen Sie doch ein.“

„Ich beleidige Sie doch nicht!“

„Nicht? Ist es etwa keine Beleidigung, wenn Sie nicht glauben, daß ich das bin, wofür ich mich ausgebe?“

„Sie nehmen es zu scharf. Ich bitte Sie um Verzeihung! Eigentlich hatte ich freilich einen Grund, Sie mit Mißtrauen zu betrachten.“

„Warum?“

„Sind Ihnen die Namen Nanon und Madelon bekannt?“

„Ja.“

„Auch Charbonnier?“

„Auch der.“

„Nun sehen Sie. Sie kennen diese beiden Damen?“

„Damen? Zwei Damen? Habe keine Ahnung.“

„Und doch sagten Sie es soeben.“

„Ich? Ist mir ganz und gar nicht eingefallen.“

„Mein Herr! Sie sagten, daß Ihnen diese drei Namen bekannt seien.“

„Das sind sie allerdings. Es sind drei französische Namen, die ich kenne, weil ich sie oft gehört habe. Es gibt Personen, welche Nanon, Madelon und Charbonnier heißen.“

„Monsieur, es scheint beinahe, als ob Sie sich über mich lustig machen wollten.“

„Pah! Ich bin ein sehr ernsthafter Mensch! Sie haben mich gefragt, ob ich die Namen, nicht aber, ob ich die Personen kenne.“

„Also zwei Damen dieses Namens sind Ihnen nicht bekannt. Und dennoch haben Sie mit ihnen gesprochen.“

„Das ist sehr leicht möglich. Man kann mit Personen sprechen, ohne sie zu kennen oder zu wissen, wie sie heißen.“

„Aber Ihre Unterhaltung hat in einer Weise stattgefunden, welche eine nähere Bekanntschaft vermuten läßt.“

„Wieso?“

„Spricht man mit unbekannten Damen nackt?“

„Nein, nicht einmal mit bekannten.“

„Und doch haben Sie das getan!“

„Ich? Donnerwetter! Nackt? Daß ich nicht wüßte.“

„Wenigstens barfuß!“

„Kaum möglich!“

„Mit einer roten Tischdecke um den Leib gewunden.“

„Ah, mir geht ein Licht auf!“

„Und Ihrem Kalabreserhut auf dem Kopf.“

„Ja, ja, ich besinne mich!“

„Nun, was hatten Sie mit diesen Damen?“

„Fragen Sie doch lieber, was diese Damen mit mir hatten!“

„Was denn?“

„Monsieur!“

Der Dickte sagte dieses Wort sehr laut und in strengem Ton.

„Was wollen Sie?“ fragte Berteu.

„Ich möchte wissen, was Sie wollen. Seit einer halben Stunde fragen Sie mich aus, als ob ich Ihnen über jede Kleinigkeit Rechenschaft schuldig sei.“

„Ich habe Veranlassung dazu!“

„Wieso?“

„Diese Damen sind meine Schwestern.“

„Ach so! Ich finde aber keine Familienähnlichkeit.“

„Das tut nichts zur Sache. Die beiden Mädchen haben sich unter sehr eigentümlichen, ja geradezu gravierenden Umständen von hier entfernt.“

„Haben sie gestohlen?“

„Nein. Sie sind ohne meine Erlaubnis gegangen.“

„Das geht mich nichts an.“

„Aber Sie haben mit ihnen gesprochen!“

„Auch das geht mich nichts an!“

„Es ist ein Herr bei ihnen gewesen, der sie entführt hat, eine lange, starke, breitschulterige Persönlichkeit. Auch mit diesem Menschen haben Sie gesprochen.“

„Geht mich wieder nichts an.“

„Monsieur, es scheint, daß alles, was mich interessiert, Sie nichts angeht.“

„Allerdings! Und ich wünsche, daß Sie es umgekehrt ebenso auch mit allem halten, wofür ich mich interessiere.“

„Soll das eine Grobheit sein?“

„Nein. Sie sind grob!“

„Ich wünsche nur zu wissen, was ich wissen muß. Sie haben mit meinen entflohenen Schwestern gesprochen und sind dann zu mir gekommen. Das ist auffällig.“

„Noch auffälliger würde es sein, wenn ich erst zu Ihnen gekommen und dann mit Ihren Schwestern entflohen wäre. Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, bei Ihnen zu wohnen. Sie selbst haben mich zu sich eingeladen.“

„Dann haben Sie als mein Gast jedenfalls die Verpflichtung, aufrichtig gegen mich zu sein.“

„Das will ich auch; aber examinieren lasse ich mich nicht wie ein Verbrecher, welcher vor seinem Richter steht.“

„Gut! Ich mag zu hastig verfahren sein. Verzeihen Sie. Also Sie kennen meine Schwestern nicht?“

„Nein.“

„Wie aber kommt es dann, daß Sie sich mit ihnen in dieser auffälligen Weise unterhalten haben?“

„Ich hatte sie verkannt. Ich erwartete in Etain meine Braut, welche mir nachkommen wollte. Ich lag bereits im Bett, hörte einen Wagen und blickte durch das Fenster. Beim unbestimmten Schein der Laterne verwechselte ich die eine Dame mit meiner Braut, welche einige Ähnlichkeit mit ihr haben mag. Ich raffte in Eile um mich, was ich fand, und eilte hinab. Da bemerkte ich nun allerdings, daß ich mich getäuscht hatte.“

„Ach so! Wer ist Ihre Braut?“

„Auch eine Polin, welche aus Paris kommen will.“

„Hm!“ er glaubte dem Sprecher doch noch nicht; er fixierte ihn scharf vom Kopf bis zu den Füßen und fragte dann:

„Und den Menschen, welcher bei meinen Schwestern war, haben Sie auch nicht gekannt?“

„Ich habe ihn noch nie gesehen.“

„Gut, ich bin gezwungen, es zu glauben!“

„Glauben Sie es oder nicht; das ist mir egal! Übrigens hätte ich wohl mehr Veranlassung, Ihnen zu mißtrauen, als Sie mir!“

„Wieso?“

„Sie heißen Berteu, und Sie nannten die Damen Nanon und Madelon Charbonnier?“

„Ja.“

„So verschiedene Namen! Und dennoch wollen Sie der Bruder der beiden Mädchen sein?“

„Wir sind Pflegegeschwister.“

„Müßte das der Fall sein! Geht mich aber auch nichts an. Sie sehen aber wohl ein, daß ich mich durch Ihre ebenso auffällige wie zudringlichen Fragen keineswegs erbaut fühlen kann. Ich bin Künstler, aber kein Vagabund; ich werde also morgen früh Ihr Haus verlassen, da es heute doch zu spät dazu ist!“

Das lag nun allerdings nicht in Berteus Absicht. Er wollte seine Gemälde vollendet haben und den Maler auch noch weiter bewachen. Darum sagte er:

„Ich habe Sie ja bereits um Verzeihung gebeten. Sie sehen ein, daß der Bruder erregt sein muß, wenn seine Schwestern, ohne sich seiner Zustimmung zu versichern, mit einem fremden Menschen das väterliche Haus verlassen.“

„Hm, ja! Mich könnte das sehr in die Wolle bringen. Ich würde es nicht dulden.“

„Was würden Sie tun?“

„Ich würde diesem fremden Menschen nachreisen, um ihm die Schwestern abzujagen.“

„Das beabsichtige ich allerdings, hatte aber bisher keine Zeit dazu. Morgen aber werde ich die Verfolgung antreten. Darf ich hoffen, Sie bei meiner Rückkehr hier noch anwesend zu finden?“

„Eigentlich nicht!“

„Also, Sie wollen wirklich nicht verzeihen? Hier, Monsieur, stoßen wir an! Schließen wir Frieden!“

Er hielt dem Maler das Glas entgegen. Dieser tat, als werde es ihm nicht leicht, so schnell sein Bedenken zu überwinden, stieß aber doch mit ihm an.

„Na, da mag es also sein. Bleiben wir einig!“ sagte er schließlich.

„Und Sie warten meine Rückkehr ab?“

„Ja, wenn auch nicht hier, so doch in Etain, wo ich, wie ich bereits sagte, mit meiner Braut zusammentreffe.“

Sie saßen noch einige Zeit beisammen, sich von gleichgültigen Dingen unterhaltend; dann trennten sie sich.

Nachdem der Maler gegangen war, sagte Berteu zu sich:

„Er tut so unschuldig. Soll ich ihm trauen? Er sieht ganz und gar nicht pfiffig aus, aber dennoch kommt er mir vor wie einer, der es faustdick hinter den Ohren sitzen hat. Ich werde doch scharfe Augen auf ihn haben müssen!“

Und als Schneffke in seinem Zimmer angekommen war, brummte er vor sich hin:

„Ein wunderbar schlechter Kerl, und dabei zehnmal dümmer, als er aussieht! Der und mich ausfragen! Da müssen doch ganz andere kommen! Übermorgen um Mitternacht bin ich in dem Steinbruch bei Ortry.“

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