SIEBENTES KAPITEL Das Druckmittel

Als Müller nach Ortry kam, fand er das Speisezimmer erleuchtet. Seit er sich seinen Platz am Tisch erzwungen hatte, hatte er dort Zutritt, und er säumte heute nicht, sich hinzubegeben. Er fand Marion, Emma, den Amerikaner und die Baronin. Letztere war von der Neugierde herbeigetrieben worden, vor Tisch die Engländerin kennen zu lernen.

Emma spielte ihre Rolle ausgezeichnet und mit wunderbarer Ungezwungenheit. Sie wäre von jeder Engländerin für eine Landsmännin gehalten worden.

Müller wurde von allen außer der Baronin höflich empfangen und als vollständig ebenbürtig behandelt. Er nahm sehr wenig am Gespräch teil und zog es vor, der Unterhaltung zu lauschen und seine Betrachtungen anzustellen.

Marion und Emma nannten sich bereits du. Der Blick des Amerikaners hing bewundernd an der letzteren. Er war ein hochbegabter und fein gebildeter, kenntnisreicher Mann und bemühte sich, Emma Gelegenheit zu geben, die Vorzüge ihres Geistes zur Geltung zu bringen.

Wenn Müller ja einmal in hochachtungsvoller Weise, wie es ihm als Erzieher zukam, sein Wort an Emma richtete und sie ihm dann in jener freundlich auszeichnenden und doch sichtlich herablassenden Weise antwortete, wie der wirklich gebildete Aristokrat einem verdienten Bürgerlichen gegenüber zu tun pflegt, dann glänzten die Augen des Amerikaners vor Freuden über die Meisterschaft, mit welcher diese beiden ihre Rollen spielten.

Während dieser angeregten Unterhaltung öffnete sich leise die eine Tür, welche im Schatten lag und – der Baron trat ein, in jetziger Zeit eine Seltenheit, man hatte wohl vergessen, ihn in seinem Zimmer einzuschließen.

Niemand bemerkte ihn. Er trat leise, unhörbar näher, bis dahin, wo der volle Strahl des Lichts auf den Kopf Emmas fiel. Er stieß einen schrillen Schrei des Entsetzens aus, so daß alle erschrocken aufsprangen.

„Das ist sein Gesicht, aber er ist es nicht ganz!“ schrie er, die Arme abwehrend von sich streckend und die weit aufgerissenen Augen starr auf Emma gerichtet. „Ich kann ihm ja nichts tun! Er ist wieder lebendig geworden! Er wohnt da unten im Keller des Mittelpunktes!“

Diese unerwartete Szene brachte natürlich einen sehr peinigenden Eindruck hervor. Auf Marions Gesicht spiegelte sich das tiefste Mitleid ab. Der Amerikaner blickte ganz erstaunt auf den Mann, von dessen Vorhandensein er keine Ahnung hatte; Müller und Emma wechselten zwei schnelle, unbeobachtete Blicke. Das Gesicht des ersteren war leichenblaß geworden.

„Es ist der Verrückte“, sagte die Baronin kalt. „Schaff ihn fort und schließe ihn ein, Marion.“

Marion nahm den Kranken am Arm.

„Komm, Vater“, sagte sie in mildem Ton.

Er ließ sich von ihr leiten; aber noch unter der Tür drehte er sich einmal um und klagte:

„Ich bin nicht schuld! Er lebt ja noch! Die Kriegskasse, oh, die Kriegskasse!“

Die Tür schloß sich hinter ihm; aber man hörte ihn draußen noch fortwimmern, bis er sein fernes Zimmer betreten hatte und dort eingeschlossen worden war.

Die Unterhaltung war gestört und kam auch nicht wieder in den rechten Fluß, bis die Tafel gedeckt war. Der Kapitän, welcher davon benachrichtigt wurde, ließ sagen, daß man beginnen solle, er werde später kommen.

Jetzt kam auch Alexander, so daß sechs Personen soupierten.

Der Amerikaner saß neben Emma und suchte ihr auf alle Weise seine Aufmerksamkeit zu erweisen. Müller hatte die Baronin und Marion zu bedienen. Die erstere nahm dies hochmütig als etwas ganz Selbstverständliches hin; die letztere aber fühlte sich öfters bewogen, den Erzieher durch einen freundlichen Blick zu belohnen.

Da, fast am Schluß des Mahls, trat der Kapitän ein. Er wußte nichts von Emmas Anwesenheit und kam näher. Er stand gerade hinter ihr, als alle sich zum Gruß erhoben. Sie drehte sich um. Er blickte ihr in das Gesicht, fuhr entsetzt zurück und rief:

„Margot! Schwester! Hölle und Teufel!“

Alle schwiegen vor Schreck; nur zwei blieben sich gleich: Müller und Alexander. Der erstere hatte so etwas erwartet und der Knabe sagte, halb lachend:

„Du irrst, Großpapa! Diese Dame ist ja Miß de Lissa aus London, welche mit verunglückt ist.“

Wohl nie in seinem ganzen Leben hatte der Alte sich in einer solchen Verlegenheit befunden, wie gerade jetzt. Er verbeugte sich tief und stammelte:

„Miß de Lissa?“

„Ja, meine Freundin“, fügte Marion hinzu.

„Aus London? Wirklich aus London?“

„Ja.“

„Verzeihung, Miß! Ich bin alt und gerade jetzt so leidend. Ich sah heute die Unglücksstelle an der Bahn und kann den schrecklichen Gedanken nicht wieder loswerden. Ich bin nervös. Ich werde mich wohl bald wieder zurückziehen müssen!“

Er aß sehr wenig. Auf dem Tisch stand nur ein leichter, weißer Moselwein.

„Der Rote wird mich vielleicht stärken!“

Mit diesen Worten erhob sich der Alte und trat an das Büffet, welches an der Wand stand. Müller ließ ein leises Räuspern hören; der Amerikaner blickte zu ihm herüber, erhielt einen Wink und verstand denselben. Beide beobachteten den Alten scharf, ohne daß es den anderen auffallen konnte. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, dabei drehte er den Anwesenden den Rücken, zu. Dabei zog er mit der Linken etwas aus der Tasche. Was er tat, war nicht zu sehen; aber aus seinen Bewegungen ließ sich vermuten, daß er etwas – jedenfalls eine Flüssigkeit – in eines der dort stehenden leeren Gläser träufeln ließ. Dann führte er die Hand zur Westentasche zurück und setzte sich wieder an seinen Platz.

Müller ließ ein leises Lächeln sehen, welches nur von dem Amerikaner bemerkt wurde. Dieser senkte bejahend den Kopf. Er erwartete nun das neue Kommando.

Der Alte hatte ausgetrunken. Er trat abermals zum Tisch und goß sich sein Glas voll, dann ein zweites, welches er dem Amerikaner präsentierte.

„Sie müssen heute verzeihen, Monsieur Deep-hill“, sagte er. „Morgen werde ich wieder au fait sein. Damit ich aber die Pflicht der Gastlichkeit nicht ganz und gar verletze, will ich mir erlauben, mit Ihnen auf ein herzliches Willkommen anzustoßen. Lassen Sie uns austrinken!“

Er trank aus. Der Amerikaner warf einen fragenden Blick auf Müller; dieser nickte heimlich und aufmunternd, und so hob auch er sein Glas zum Mund und leerte es mit einem einzigen Zug.

Nun wünschte der Alte gute Nacht und ging. Man musizierte noch ein wenig, wobei Emma einige englische Lieder vortrug. Hier nahm Deep-hill Gelegenheit, an Müller heranzutreten und zu flüstern:

„Er hatte erst etwas ins Glas gegossen!“

„Ich sah es auch.“

„Aber wenn es nun wirklich Gift gewesen wäre!“

„Haben Sie keine Sorge; es war Wasser!“

„Was nun?“

„Lassen Sie alles ruhig über sich ergehen. Ich wache! Während er bei Ihnen ist, stehe ich zu Ihrer Hilfe bereit. Ist es möglich, so zeige ich mich Ihnen sogar. Blicken Sie zwischen den Lidern hindurch!“

Nach einiger Zeit verabschiedete sich Emma. Sie wurde nach der Stadt gefahren. Der Amerikaner wollte sie begleiten, doch sie lehnte dankend ab und erbat sich die Begleitung Müllers. Das hatte ganz den Anschein, als treffe sie diese Wahl nur darum, weil Deep-hill der Höherstehende und Müller doch eigentlich der Bedienstete war, doch der erstere wußte wohl, daß die beiden Geschwister jedenfalls miteinander zu sprechen hatten, und nahm daher die Zurückweisung, welche übrigens gar keine war, nicht im mindesten übel.

Es war sehr dunkel geworden. Die Geschwister konnten halblaut miteinander sprechen, ohne von dem Kutscher gehört zu werden.

„Ich bebe jetzt noch“, sagte Emma. „Der Kapitän hielt mich für Großmama Margot!“

„Ich hatte mir fast so etwas gedacht, obgleich ich nicht geglaubt habe, daß du ihr in diesem Grad ähnlich bist, zumal du blond bist, während sie schwarzes Haar hatte.“

„Was wird er denken?“

„Das ist mir zunächst sehr gleich. Mich interessiert jetzt nur das Verhalten des Wahnsinnigen, des Barons de Sainte-Marie.“

„Was wollte er? Er sprach von der Kriegskasse.“

„Er phantasiert.“

„Und auch von einem, dem ich ähnlich sein muß.“

„Ich werde dir später meine Vermutungen mitteilen; für heute habe ich nicht Zeit dazu.“

Aber sein Schweigen hatte einen ganz anderen Grund. Er wollte der Schwester keine Herzensqual bereiten, welche zu heben er jetzt doch nicht imstande war. Er hätte darauf schwören mögen, daß sein Vater, Gebhard von Königsau, noch lebe und da unten in den Gewölben gefangen gehalten werde, weil der Kapitän glaubte, von ihm erfahren zu können, wo die so oft erwähnte Kriegskasse vergraben sei.

Als er mit dem Wagen zurückgekehrt war, begab er sich in sein Zimmer, schnallte den Buckel ab, steckte Laterne, Messer und Revolver ein, verriegelte die Tür von innen und stieg zunächst durch das Fenster auf das Dach hinaus und dann an dem Blitzableiter in den Hof hinab. Dabei sah er, daß der Alte sich noch in seinem Zimmer befand, wo er lang ausgestreckt auf dem Sofa lag.

Nun begab er sich nach dem bekannten Gartenhäuschen, hinter welchem er sich niedersetzte, um zu warten.

Es war längst Mitternacht vorüber, als er leise Schritte hörte. Der alte Kapitän kam und trat in das Häuschen, in dessen Innern ein schneller Lichtschein aufzuckte, um dann gleich wieder zu verschwinden. Müller wartete, bis das Geräusch der Schritte nach unten hin verklungen war, und folgte dann ganz in derselben Weise, wie er es bereits früher getan hatte. Unten im Gang, welcher nach dem Schloß führte, hatte er den Alten mit der Laterne vor sich, konnte und mußte also die seinige in der Tasche stecken lassen.

So ging es bis an die Stelle, in welcher die vielen geheimen Gänge zusammenliefen, und dann empor, gerade wie in jener Nacht, in welcher der Fabrikdirektor ermordet wurde. Es handelte sich heute sogar auch um ganz dasselbe Zimmer, in welchem nach minutenlangem Horchen der Alte auch heute verschwand. Müller tappte sich unhörbar näher und erreichte die offene Tafeltür. Drin im Zimmer war es noch dunkel. Jedenfalls befühlte der Alte den Amerikaner, um sich zu überzeugen, daß der Trank gewirkt habe. Dann wurde es plötzlich hell. Müller steckte den Kopf vor und sah, daß der Kapitän eine Blendlaterne geöffnet hatte, jedoch nur so weit, daß der Schein des Lichts nicht weiter als bloß auf das Gesicht des Amerikaners fiel.

Dieser lag mit geschlossenen Augen, unbeweglich, wie im Schlaf. Er hatte die Hände unter der Bettdecke. Jedenfalls hielt er da nach Müllers Rat irgendeine Waffe verborgen.

Der Alte betrachtete das Gesicht genau und schien befriedigt zu sein, denn er wendete sich von dem Bett ab, um die im Zimmer befindlichen Gegenstände zu untersuchen. Sein Blick fiel auf den Tisch, auf welchem die Brieftasche lag. Rasch, aber leise trat er hinzu und öffnete dieselbe, um ihren Inhalt in Augenschein zu nehmen. Dabei setzte er die Laterne auf den Tisch. Ihr Schein fiel auch mit in die Ecke, in welcher sich der geheime Eingang befand. Der Alte stand von dieser Ecke abgewendet.

Diesen Augenblick benützte Müller. Er war überzeugt, daß der Amerikaner, welcher im Schatten lag, die Augen geöffnet habe. Er wollte ihm zeigen, daß er gegenwärtig sei, und trat also in das Zimmer, in den Lichtkreis hinein. Es war dies ein Wagnis, er war ganz hell beleuchtet, und wenn der Kapitän jetzt nur den Kopf gewendet hätte, so wäre Müllers Anwesenheit verraten gewesen. Glücklicherweise aber war der Alte zu sehr mit den in dem Portefeuille befindlichen Papieren beschäftigt; er sah sich nicht um.



Da zog der Amerikaner den Arm unter der Decke hervor und hob ihn empor, zum Zeichen, daß er Müller gesehen habe. Dieser hatte seinen Zweck erreicht und trat wieder zurück. Nach einiger Zeit machte der Alte die Brieftasche zu, ohne etwas aus derselben genommen zu haben. Er legte sie auf den Tisch zurück und griff zur Laterne. Er ließ den Schein derselben wieder auf das Gesicht des Amerikaners gleiten, welcher seine vorherige Stellung eingenommen hatte, und verließ dann das Zimmer auf demselben geheimen Weg, auf dem er gekommen war.

Müller war, als er bemerkte, daß der Kapitän die Brieftasche schloß, sofort und eilig die schmalen Stufen wieder hinunter gestiegen. Unten angekommen, stellte er sich auf die Seite, um den Alten vorüber zu lassen. Er fand hinter einem Pfeiler ein gutes, sicheres Versteck.

Richemonte kam langsam herabgestiegen. Er schein sehr nachdenklich zu sein. In der Nähe von Müllers Versteck blieb er stehen und brummte vor sich hin:

„Verdammt! Dieser Deep-hill ist ein vorsichtiger Kerl! Was können mir die Anweisungen nützen, wenn die Unterschrift der Firma fehlt: Diese Amerikaner sind höchst penible Geschäftsleute. Aber, unterschreiben wird er doch!“

Er schritt an der Säule, hinter welcher Müller stand, vorüber, als wolle er das Gartenhäuschen aufsuchen, blieb aber nach zwei Schritten bereits wieder stehen.

„Ob ich Rallion aufsuche?“ fragte er sich.

Er blickte eine Weile überlegend vor sich nieder und fuhr dann fort:

„Diese Marion muß gezähmt werden, und zwar baldigst! Ich werde doch mit ihm sprechen, wenn er auch erschrecken wird darüber, mich so unerwartet vor seinem Bett zu sehen.“

Er machte eine halbe Wendung, so daß Müller sich genötigt sah, dieser Wendung, um nicht entdeckt zu werden, um die Säule zu folgen, und stieg dann eine andere Stufenreihe empor.

Auch diese Stufen führten zwischen zwei engen Mauern nach oben; die Wände standen so eng zusammen, daß ein Mensch nur bei schiefer Körperhaltung Platz finden konnte. Oben gab es wieder ein niedriges, schmales türähnliches Loch, welches durch Täfelwerk verschlossen war. Richemonte schob dasselbe, nachdem er einige Augenblicke gelauscht hatte, zur Seite und trat, indem er sich niederbückte, durch die entstandene Öffnung. Er befand sich im Schlafzimmer des jungen Rallion.

Er trat an das Bett und leuchtete dem Schläfer, der nichts gehört hatte, in das Gesicht. Dieses letztere war durch ein Heftpflaster entstellt, infolge von Fritz Schneebergs Messerstich. Der Alte schüttelte den Grafen leise.

„Herr Oberst!“ sagte er.

Rallion drehte sich herum und machte die Augen auf. Er sah Licht und erblickte den Alten.

„Donnerwetter!“ meinte er, indem er empor fuhr. „Kapitän, wie kommen Sie in dieses Zimmer?“

„Zu Fuß natürlich!“ antwortete lachend der Alte.

„Die Türen sind doch verriegelt!“

„Das kann für mich kein Hindernis sein. Aber bitte, sprechen Sie ein wenig leiser! Es ist nicht notwendig, daß wir uns mit Aufbietung aller unserer Lungenkräfte unterhalten. Es kann das mehr piano geschehen.“

„Unterhalten? Ah, mir scheint, daß Sie eine eigentümliche Zeit zu dieser Konversation gewählt haben!“

„Es ist die beste; ich kann es Ihnen versichern!“

„Gut! Sie müssen das besser beurteilen können als ich. Aber die Veranlassung kann keine gewöhnliche sein!“

„Vielleicht ist sie für Sie ungewöhnlich; für mich ist sie es aber nicht. Es handelt sich nämlich um Marion.“

„Um Marion? Ah! Da könnten Sie mich zu jeder Nachtzeit wecken! Warten Sie; ich werde aufstehen.“

„Ist nicht notwendig!“

„Aber, soll ich denn im Bett – – –“

„Pah! Wir brauchen unter vier Augen uns ganz und gar nicht um die Dehors zu bekümmern. Bleiben Sie liegen!“

„Gut! Aber wie sind Sie hereingekommen?“

„Das geht Sie zunächst nichts an!“

„Meinetwegen! Also was ist's mit Marion?“

„Dieses Mädchen zeigt sich höchst obstinat.“

„Leider, leider!“

„Sie haben es nicht verstanden, sich ihre Teilnahme zu erwerben!“

„Alle Teufel! Wer kann sich mit einem so bepflasterten Gesichte, wie das meinige ist, die Anbetung einer Dame erringen.“

„Damen pflegen Leidenden gegenüber doch immer mehr oder weniger Sympathie zu hegen.“

„Heftpflaster gegenüber? Hm!“

„Wer das Mitleid eines Mädchens besitzt, wird auch sehr bald die Liebe desselben besitzen.“

„Das ist Theorie. Die Praxis zeigt sich mir ganz anders!“

„Daran tragen Sie Schuld!“

„Wieso? Ich möchte das bewiesen sehen!“

„Der Beweis ist sehr leicht. Trugen Sie das Heftpflaster bereits, als Marion Sie zum ersten Mal sah?“

„Nein.“

„Sie dürfen also dem Pflaster nichts vorwerfen. Sie hätten die Bekanntschaft Marions in einer Weise machen sollen, welche Ihnen deren Liebe sicherte.“

„Wollen Sie die Güte haben, mich über diese Art und Weise aufzuklären?“

„Wenn ich Sie aufklären soll, so brauche ich mich über Ihren Mißerfolg allerdings gar nicht zu wundern. Ein junger Mann muß ganz von selbst wissen, wie er sich eine Frau erwirbt.“

„Meinen Sie etwa, ich hätte Süßholz raspeln sollen?“

„Ein wenig, ja.“

„Nun, das habe ich getan.“

„Das war aber nicht genug!“

„Was noch?“

„Sie hätten sich als Helden zeigen sollen.“

„Auf dem Schiff?“

„Ja. Sie hatten die beste Gelegenheit dazu.“

„Donnerwetter! Haben Sie etwa die Ansicht, daß ich Marion hätte retten sollen?“

„Das ist allerdings meine Ansicht. Sie hatten ja den Kahn.“

„Es gab aber keine Zeit, die Dame zu holen.“

„Sie hätten diese Zeit haben können, wenn Sie sich beeilt hätten.“

„O nein! Ehe ich Marion aus der Kajüte gebracht hätte, wäre der Kahn bereits von anderen weggenommen worden.“

„Nun, dann gab es immer noch einen Rettungsweg.“

„Noch einen? Welchen?“

„Das Schwimmen!“

„Brrr! Das macht naß!“

„Ich denke, Sie haben das Schwimmen gelernt?“

„Allerdings! Aber mit einer solchen Last – bei solchem Wetter – bei diesem Aufruhr aller Elemente – kein Mensch hätte das fertiggebracht.“

Der Alte zog eine etwas verächtliche Miene bei der Entschuldigung Rallions, die dessen Feigheit bemänteln sollte.

„Pah!“ sagte ersterer. „So hat es doch einer fertiggebracht.“

„Sie meinen diesen Menschen, diesen Schulmeister Müller? Bei ihm ist das etwas anderes. Er ist buckelig, er hat den Sicherheitsapparat auf dem Rücken; dieses Subjekt kann ja niemals untergehen.“

„Sie vergessen, daß noch ein anderer mit Nanon in die Flut gesprungen ist. Er hat sie gerettet, ohne buckelig zu sein.“

Der Graf machte eine ungeduldige Handbewegung und antwortete:

„Sind Sie etwa gekommen, um mich mit diesen Beispielen des Heldenmuts zu langweilen?“

„Nein. Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß Sie selbst versäumt haben, sich Marion zu gewinnen.“

„Es handelte sich um Leben und Tod. Ein Kahn war in diesen Augenblicken der Gefahr mehr wert als das schönste Mädchen der ganzen Welt.“

„In denke, Sie lieben Marion.“

„Zweifeln Sie daran?“

„Fast möchte ich.“

„Unsinn! Sie ist eine Schönheit allerersten Ranges. Und Sie muß meine Frau werden.“

„Und doch war Ihnen ein Kahn lieber als sie.“

„Hören Sie, Kapitän: das Leben geht noch über die Liebe. Ich glaube nicht, daß Sie mir da Unrecht geben werden.“

„Die kalte Berechnung sagt allerdings, daß Sie da recht haben; aber es gibt auch Charaktere, welche für ihre Liebe in den Tod gehen können.“

„Zu diesen Leuten gehöre ich nicht. Ich bin weder ein Dichter, noch sonst ein Schwärmer. Es mag romantisch sein, für die Geliebte zu sterben; für sie zu leben, ist aber jedenfalls vernünftiger und vorteilhafter.“

„Vorausgesetzt, daß die Geliebte einwilligt. Aber gerade das tut Marion nicht.“

„Das läßt mich kalt. Auf ihre Einwilligung kommt ja nicht das Geringste an.“

„Sie meinen, daß mein Befehl ausreichend ist?“

„Ich hoffe es.“

„Aber sie weigert sich, mir zu gehorchen.“

„Wirklich! Das ist fatal, aber mehr für Sie, als für mich. Sie haben uns Ihr Wort gegeben und müssen es halten.“

„Das versteht sich ganz von selbst. Aber lieber wäre es mir gewesen, Marion hätte freiwillig eingewilligt. Ich glaube, sie hält Sie für feig.“

„Donnerwetter. Ich feig?“ fragte Rallion.

„Ja“, antwortete der Alte ruhig.

Rallion fuhr sich mit der Hand nach dem blessierten Gesicht und sagte:

„Feig? Mit dieser Wunde?“

„Meinen Sie, daß Ihre gegenwärtige Verwundung ein Beweis Ihres Mutes ist?“

„Ganz gewiß.“

„Sie haben den Schnitt nicht im offenen, kühnen Kampf bekommen.“

„Aber doch im Kampf. Ich habe den Menschen, welcher sich eingeschlichen hatte, festhalten wollen. Haben Sie etwa die Absicht, dies eine Feigheit zu nennen?“

„Eine außerordentliche Verwegenheit gehört nicht dazu. Übrigens dürfen wir nicht vergessen, was Marion über Ihre Wunde denken muß.“

„Nun was?“

„Daß sie von einer Sense herrührt, auf welche Sie in der Dunkelheit getreten sind.“

„Verdammte Sense! Hätte es denn keine bessere Erklärung oder Ausrede gegeben?“

„Nein. Junge Mädchen schwärmen gern für Helden. Hätten Sie sich mit Marion in das Wasser gestürzt, so wäre sie in diesem Augenblick die Ihrige.“

„Oder wir wären beide elend ertrunken.“

„Andere sind auch nicht ertrunken.“

„Sie reden verteufelt eigentümlich. Also Marion wäre heute mein, wenn ich sie gerettet hätte?“

„Ich bin davon überzeugt.“

„Alle Teufel. Dann müßte sie ja diesen buckeligen Schulmeister lieben.“

„Unsinn!“

„Er hat sie ja gerettet.“

„Und abermals Unsinn! Marion ist ein hocharistokratischer Charakter. Sie – und ein Hauslehrer; sie, eine Französin von reinsten Wasser – und er, ein Deutscher.“

„Gut! Sie sehen also, daß Ihre Prämissen sehr falsch sind. Und außerdem beweist dieser Müller, daß es keineswegs ein Zeichen von Mut ist, wenn man sich gedankenlos ins Wasser stürzt.“

„Was sonst?“

„Pah! Halten Sie diesen Menschen etwa für mutig?“

„Bedeutend sogar!“

„Sapperment! Warum?“

„Er hat es mir im Fechten und Reiten bewiesen, vielleicht auch noch in anderer Weise.“

Er dachte dabei mit stillem Grimm an die Festigkeit, mit welcher Müller ihm in Beziehung auf den ermordeten Fabrikdirektor entgegengetreten war.

„Das will nichts sagen“, entgegnete Rallion. „Mir gegenüber ist er so feig gewesen, wie man feiger gar nicht sein kann.“

„Wieso?“

„Erinnern Sie sich nicht, was ich ihm sagte, als er mir bei meiner Ankunft hier begegnete?“

„Er schwieg aus Rücksicht gegen uns.“

„Das ist sehr falsch geurteilt. Bei einer solchen Beleidigung kennt ein Mann keine andere Rücksicht, als diejenige, welche er seiner Ehre schuldet. Doch streiten wir uns nicht wegen dieses mir höchst gleichgültigen Menschen. Wir wollen von Marion reden. Haben Sie deutlich mit ihr gesprochen?“

„So deutlich, daß es deutlicher gar nicht geschehen kann.“

„Was antwortete sie?“

„Ein festes Nein.“

„Aus welchem Grund?“

„Sie will ihre Hand nur einem Manne geben, dem es gelingt, sowohl ihre Liebe als auch ihre Achtung zu erwerben.“

„Donnerwetter! Das heißt, ich besitze ihre Liebe nicht?“

„So ist es.“

„Und ihre Achtung?“

„Auch nicht.“

Da richtete Rallion seinen Oberkörper im Bett empor.

„Mich, einen Obersten der Garde, einen kaiserlichen Offizier nicht achten? Das ist stark! Welche Gründe hat sie, mir sogar ihre Achtung zu versagen?“

„Fragen Sie sie selbst!“

„Sie haben nicht gefragt?“

„Ich pflege nicht, Fragen zu tun, von denen ich voraussetzen muß, daß sie mir nicht beantwortet werden.“

„Sie behandeln diese Dame mit unverzeihlicher Milde. Sie können befehlen. Sie können sie zwingen.“

„Wohl! Das werde ich auch.“

„Nun, so tun Sie es doch!“

„Ich bedarf dabei Ihrer Unterstützung.“

„Sie können derselben versichert sein!“

„Ich bin deshalb hier. Ich habe einen Plan. Wir werden Marion zwingen, Ihnen zu gehören, Ihre Frau zu werden.“

„Schön! Teilen Sie mir diesen Plan mit.“

„Wir müssen ihren Widerstand besiegen.“

„Womit?“

„Durch Zwang.“

„Das brauchen Sie mir nicht zu wiederholen, nachdem Sie mir bereits gesagt haben, daß sie nicht freiwillig ihre Zustimmung gibt. Welche Art des Zwanges meinen Sie, Herr Kapitän?“

„Es gibt nur eine: Freiheitsentziehung!“

„Ah! Gefangenschaft?“

„Ja.“

„Sollte nichts anderes vorzuziehen sein?“

„Ich habe bereits alles andere versucht.“

„Das ist fatal, höchst fatal! Widerrechtliche Freiheitsentziehung kann gefährlich werden.“

„In diesem Fall nicht. Ich habe erlaubte Gründe, diese obstinate Person einzusperren.“

„Nun gut, so tun Sie es. Wenn wirklich nichts anderes helfen kann, so sind wir ja gezwungen, dieses letzte Mittel in Anwendung zu bringen. Wo soll sie eingesperrt werden?“

„In einem von unseren Gewölben.“

„Fi donc! Ein häßlicher Aufenthalt.“

„Desto besser! Das wird sie mürbe machen.“

„Wohl gar bei Wasser und Brot?“

„Bei nichts. Sie wird weder Speise, noch Trank bekommen. Sie soll Hunger und Durst leiden. Bis sie sich fügt.“

„Hm! Eigentlich höchst deprimierend für mich.“

„Wieso?“

„Ein Mädchen muß durch Hunger und Durst gezwungen werden, Gräfin Rallion zu werden.“

„Machen Sie es anders.“

„Was werden aber andere dazu sagen?“

„Wer?“

„Die Baronin?“

„Diese wird unser Verfahren gutheißen. Sie haßt Marion; sie wird uns sogar behilflich sein.“

„Der Baron?“

„Der Verrückte? Er zählt ja nicht.“

„Alexander?“

„Der Knabe? Er erfährt nichts.“

„Nanon, die Gesellschafterin und alle die anderen?“

„Auch sie werden nichts erfahren.“

„Aber sie werden doch Marion vermissen!“

„Nein, Marion wird verreist sein.“

„Wie wollen Sie dies anstellen?“

„Das ist einfach. Davon nachher. Nicht so einfach ist die Art und Weise, in welcher wir Marion nach dem Gewölbe bringen. Ich muß dabei auf Ihre Hilfe rechnen.“

„Ich sage Ihnen meine Mitwirkung natürlich zu, vorausgesetzt, daß für mich daraus keine Gefahr erwächst.“

„Nicht die mindeste. Man kann von Ihrer Mitwirkung gar nichts ahnen. Man wird Sie hier in Ihrem Bett vermuten, während wir Marion nach unten schaffen.“

„Sie wird sich sträuben, wird Lärm machen, um Hilfe rufen.“

„Sie wird nicht den geringsten Laut ausstoßen; denn ich werde sie vorher chloroformieren.“

„Chloroformieren?“

„Natürlich.“

„Es soll des Nachts geschehen?“

„Das versteht sich ganz von selbst.“

„Wie wollen Sie da zu ihr kommen? Sie wird sich vermutlich eingeschlossen haben.“

„Hatten Sie sich heute nicht auch eingeschlossen?“

„Allerdings.“

„Und dennoch stehe ich hier vor Ihnen. Auf dieselbe geheimnisvolle Weise werden wir auch in Marions Schlafzimmer Eingang finden. Freilich habe ich Sie da in bauliche Verhältnisse des Schlosses einzuweihen, von denen bisher kein Mensch wußte. Ich hoffe, daß ich Ihrer Verschwiegenheit sicher bin.“

„Also wir treten heimlich und leise bei ihr ein – sie schläft – sie hört uns nicht – ich lege ihr ein mit Chloroform getränktes Tuch über das Gesicht – zwei Minuten genügen, und dann tragen wir sie auf Wegen, welche Sie dann kennenlernen werden, hinab in das Gewölbe.“

„Schön, sehr schön! Und dann?“

„Das Folgende versteht sich ganz von selbst.“

„Wohl nicht.“

„Sie hungert, bis sie einwilligt.“

„Und wenn sie lieber verhungert?“

„Unsinn! Hunger tut weh!“

„Man hat aber doch Beispiele –“

„Nun, dann tut der Durst noch viel mehr weh. Oder zweifeln Sie auch da noch?“

„Es ist immerhin gefährlich.“

„Das sehe ich nicht ein.“

„Sie wird scheinbar einwilligen, dann aber alles verraten.“

„Nein. Wir werden sie nicht eher freilassen, als bis sie uns ihr Wort gegeben hat, fürs ganze Leben zu schweigen.“

„Pah! Ein solches erzwungenes Wort pflegt keine Geltung zu haben.“

„Bei Marion doch. Sie ist ein Charakter.“

„Gut. Wollen wir annehmen, daß sie ihr Wort halten werde. Wie aber nun, wenn sie uns einen Streich spielt, indem sie –“

Er hielt inne; der Alte fragte:

„Nun, was? Indem sie –“

„Indem sie es so einrichtet, daß sie uns ihr Wort gar nicht zu geben braucht.“

„Wie wollte sie das fertig bringen? Sie wird auf alle Fälle gezwungen sein, uns Stillschweigen zu versprechen.“

„Einen Fall gibt es doch, an den Sie nicht zu denken scheinen.“

„Welcher wäre das? Ich habe alles überlegt.“

„Der Fall, daß sie – daß sie sich ein Leid antut.“

Der Alte fuhr zurück.

„Alle Teufel!“ sagte er. „Das wäre ihr zuzutrauen.“

„Nicht wahr? Sie nannten sie ja obstinat.“

„Ja, das ist sie; sie wäre wirklich imstande, uns auf diese Weise einen Strich durch die Rechnung zu machen.“

„Wir dürfen also auf keinen Fall die Saiten zu sehr anspannen.“

„Nun, dann gibt es ein Mittel, sie dennoch und auf alle Fälle zur Einwilligung zu zwingen.“

„Ich bin neugierig, es zu erfahren.“

„Wir lassen sie erst einige Tage hungern, und dann –“

Es fiel ihm doch nicht ganz leicht, seine Gedanken auszusprechen. Er stockte, fuhr aber dann fort:

„Und dann – nun, dann schließe ich Sie einige Stunden bei ihr ein.“

Der Graf horchte auf.

„Wetter!“ sagte er. „Mich mit ihr allein.“

„Ja.“

„Im Dunkeln natürlich!“

„Ja.“

„Und sie denken, daß Marion dann –“

„Das Weitere ist ihre Sache. Sie sind doch kein Kind. Wenn ich wieder aufschließe, werden Sie als Mann und Frau das Gewölbe verlassen.“

„Kapitän, dieser Gedanke ist schön, aber – teuflisch!“

„Sind Sie ein Engel? Ah –! Hörten Sie etwas?“

„Hm. Es war ein Seufzer!“

„Ja. Also Sie hörten es auch. Ich dachte, ich hätte mich getäuscht. Es wird doch nicht –“

Er zog seinen Revolver aus der Tasche, griff zur Laterne und begab sich nach dem geheimen Eingang, welcher offen stand. Er sah nichts Verdächtiges. Er trat hinaus und leuchtete die Treppe hinab – es war nichts, gar nichts zu bemerken. Er schritt schnell sämtliche Stufen hinunter und leuchtete in alle Winkel und Ecken. Er konnte nichts Beunruhigendes bemerken und kehrte zurück.

Als er wieder in Rallions Schlafstube trat, war dieser aufgestanden, hatte ein Licht angebrannt und den offenstehenden Eingang untersucht.

„Ah, so also ist es!“ meinte er, mit dem Kopf nickend. „Hier gibt es verborgene Türen?“

„Die wir sehr gut gebrauchen können“, antwortete der Alte. „Aber warum sind Sie aufgestanden?“

„Weil man nicht wissen konnte, was passiert. Haben Sie etwas gesehen?“

„Nein. Entweder haben wir uns getäuscht –“

„Nein, ich hörte es deutlich.“

„So ist es ein Luftzug gewesen. Es hat kein Mensch eine Ahnung von diesen Treppen und Gängen. Es muß die Luft gewesen sein. Dennoch aber wollen wir aus Vorsicht den Eingang schließen.“

Er schob das Getäfel zu, dann fuhren sie in ihrer heimlichen Unterhaltung fort, indem er fragte:

„Also Sie halten meinen Vorschlag für teuflisch?“

„Ein wenig, ja.“

„Aber praktisch?“

„Praktisch und – interessant.“

„Sie wird gezwungen sein, ja zu sagen, denn ich hoffe doch, daß Sie Ihrer Aufgabe gewachsen sind.“

Rallion stieß ein häßliches Lachen aus und sagte:

„Daran dürfen Sie allerdings nicht zweifeln, obgleich Sie mich nicht für einen mutigen Menschen zu halten scheinen.“

„Pah! Dazu gehört kein Mut. Dann, wenn sie ihren Widerstand aufgegeben hat, wird sie von ihrer angeblichen Reise zurückkehren dürfen.“

„Wie aber wollen Sie diese Reise glaubhaft machen?“

„Nichts leichter als das. Man spannt des Nachts an und bringt Marion nach dem Bahnhof.“

Rallion blickte ihn fragend an und sagte:

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Nun, nicht Marion, sondern eine andere steigt ein.“

„Ah, ich vermute.“

„Nun, wer?“

„Die Baronin.“

„Ja.“

„Sie wird also mit im Geheimnis sein?“

„So weit es notwendig ist, sie einzuweihen.“

„Aber man wird die Täuschung bemerken.“

„Wohl nicht; es ist dunkel.“

„Der Kutscher –“

„Ich brauche keinen Kutscher. Ich nehme das kleine Coupé und fahre selbst.“

„Aber der Diener ist dabei, wenn die Baronin einsteigt.“

„Das werde ich zu vermeiden wissen.“

„Und Sie kommen mit der Baronin zurück!“

„Nein. Ich bringe Marion zum Bahnhof und kehre allein zurück.“

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Sehr einfach. Ich lasse die Baronin aussteigen, sobald wir aus dem Schloß sind, und sie kehrt im Dunkel heimlich in dasselbe zurück.“

„Schlaukopf, der Sie sind! Ja, so muß es arrangiert werden. Aber, wann soll das geschehen?“

„So bald wie möglich. Es ist Gefahr im Verzuge. Das Renkontre, welches ich mit Marion gehabt habe, läßt mich befürchten, daß ich ihr in keiner Weise zu trauen habe.“

„Also am besten noch heute, in der Nacht?“

„Dazu ist es zu spät. Ich muß doch vorher mit der Baronin darüber sprechen.“

„Also morgen?“

„Ja, morgen ganz bestimmt.“

„Um welche Zeit?“

„Das läßt sich jetzt noch nicht sagen. Ich werde Sie abholen.“

„Hier?“

„Natürlich.“

„Auf demselben Weg?“

„Ja.“

„Schön. Darf ich mir diesen Weg unterdessen einmal näher betrachten, Herr Kapitän?“

Der Gefragte zog die Augenbrauen in die Höhe, machte ein sehr eigentümliches Gesicht und fragte:

„Es wird besser sein, Sie warten, bis ich Ihnen diese Geheimnisse selbst enthülle.“

„Schön. Ganz wie Sie wollen.“

Dabei hatte er aber doch im stillen den Vorsatz, nach der Entfernung des Alten nachzuforschen. Dieser gab ihm die Hand und sagte:

„So mag es also für heute genug sein. Oder haben Sie vielleicht noch eine Frage auszusprechen?“

„Ich wüßte nicht.“

„Und mir fällt auch nichts ein, was ich vergessen hätte. Also, gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Der Kapitän schob das Getäfel zur Seite und trat durch das Loch. Draußen schob er das erstere wieder vor und lauschte.

„Er ist neugierig“, flüsterte er lächelnd in sich hinein. „Er wartet nicht, sondern wird die Sache untersuchen wollen. Aber, mein Bursche, das wird dir nicht gelingen.“

Da, wo das Holzwerk an die Mauer stieß, gab es zu beiden Seiten einen Riegel. Der Alte schob ganz leise beide vor und nickte dann:

„So. Jetzt mag er sich Mühe geben.“

Er stieg langsam die schmalen Stufen hinab.

Er hatte ganz richtig vermutet, denn drinnen in der Schlafstube lauschte Rallion, indem er das Ohr hart an das Getäfel hielt.

„Jetzt geht er“, dachte er. „Wer hätte geahnt, daß hier ein heimlicher Eingang sei! Dieses Schloß ist wirklich ein ganz und gar geheimnisvolles Nest. Der, welcher es gebaut hat, ist kein dummer Kerl gewesen.“

Er legte die notwendigsten Kleidungsstücke an und trat dann an die geheime Tür.

„Nach links hat er das Holzfach geschoben, ich habe es deutlich gesehen“, sagte er zu sich. „Wollen einmal sehen, ob wir es ebenso können.“

Aber er konnte machen, was er wollte, es gelang ihm nicht, die Tür aufzubringen.

„Ein schlauer Patron!“ brummte er verdrießlich. „Es gibt jedenfalls draußen einen Verschluß. Na, morgen wird es ja Gelegenheit geben, das Ding zu untersuchen.“ –

Müller war, als der Alte oben vorhin verschwunden war, ihm leise, ganz leise nachgestiegen. Er mußte sich sagen, daß er ein Wagnis unternehme.

„Wegen Marion“, dachte er. „Wegen ihr geht er zu Rallion. Da muß ich unbedingt hören, was es gibt.“

Er stieg also die Stufen empor; die Laterne hatte er in die Tasche gesteckt. Oben angekommen, erblickte er vor sich einen helleren Schein. Vorher aber fühlte er, daß die Stufen noch weiter in die Höhe führten.

„Da geht es nach der zweiten Etage“, dachte er. „Das gibt eine günstige Rückzugslinie, falls eine rasche Flucht nötig sein sollte. Werde mir das merken.“

Er schlich näher und erreichte die von dem Kapitän nicht wieder verschlossene Öffnung. Er horchte. Er hörte sprechen. Er erkannte Richemontes und Rallions Stimme. Soeben sagte der erstere:

„Vielleicht ist sie für Sie ungewöhnlich, für mich ist sie es aber nicht. Es handelt sich nämlich um Marion.“

Müller kauerte sich nieder, um das Ohr ganz an die Öffnung zu bringen, und verstand nun jedes Wort, welches die beiden Männer sprachen. Er erfuhr also den gegen Marion geplanten Anschlag. Er hätte hineinspringen mögen, um ihnen die Fäuste an die Köpfe zu schlagen, mußte aber seinen Abscheu niederkämpfen, um kein Wort zu überhören.

So hörte er auch den Anschlag, daß Rallion zu Marion eingeschlossen werden sollte. Das war für sein ehrliches Gewissen doch zu viel. Seine Hand, mit welcher er die Laterne in der Tasche hielt, zuckte unwillkürlich. Er kam der Blechhaube zu nahe und verbrannte sich. Augenblicklich entfuhr ihm jener nicht ganz zu unterdrückende Schmerzenslaut, welcher geradeso klingt, wie wenn man die Luft in den Mund zieht, indem man die oberen Zähne fest auf die untere Lippe drückt. Es klingt wie ein scharfes F.

Das war es, was die beiden drinnen gehört hatten. Müller vernahm die Worte:

„Ah! Hörten Sie etwas?“

„Hm. Es war wie ein Seufzer“, antwortete Rallion.

Jetzt war ein schleuniger Rückzug notwendig.

So eilig, wie es nur möglich war, ohne laut zu werden, suchte Müller die Treppe auf; aber anstatt dieselbe hinabzusteigen, floh er nach dem oberen Stockwerk empor – und das war sein Glück. Denn kaum hatte er sechs oder acht Stufen hinter sich, so kam der Alte und leuchtete erst hinab, ging aber dann auch hinunter, um unten umherzuleuchten. Das gab Müller Zeit, vollends emporzukommen und droben seine Laterne hervorzuziehen, um zu rekognoszieren.

Er sah, daß er nicht weiter konnte. Die Stufen hatten hier ein Ende.

„Gut“, dachte er, die Laterne wieder in die Tasche steckend. „Nun gilt es! Nun ist alles egal. Kommt der Kapitän auch nach hier oben, so sieht er mich, und dann werden wir miteinander zu rechnen haben.“

Er zog seinen Revolver hervor, bemerkte aber bald zu seiner Beruhigung, daß er die Waffe nicht brauchen werde, denn der Alte kehrte zurück und begab sich zu Rallion, ohne daran zu denken, seine Untersuchung nach oben fortzusetzen.

„Gott sei Dank“, dachte Müller, indem er einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. „Ich will die Gefahr nicht geradezu bei den Hörnern packen. Ich habe genug gehört. Wolle nur Gott, daß mir noch Zeit bleibt, Marion zu warnen.“

Er schlich sich die beiden Treppen hinab bis in den Gang, welcher nach dem Gartenhäuschen führte. Dort blieb er stehen und zog die Laterne wieder hervor. Von dort aus führten ja die verschiedenen heimlichen Treppen nach allen Seiten des Gebäudes empor.

„Bei Marion gibt es also auch einen solchen Eingang“, flüsterte er. „Das ist aus den Worten des Alten zu entnehmen. Durch den Garten nach meiner Stube zurückzukehren und dann zu Marion zu gehen, um sie zu wecken und zu warnen, das wäre zu auffällig und zu zeitraubend. Bis dahin wären diese beiden Menschen längst bei ihr. Ich bin gezwungen, die geheime Tür zu benutzen. Aber wie sie finden?“

Er leuchtete umher und dachte nach.

„Hier diese vierte Treppe muß die richtige sein“, dachte er. „Sie führt nach der Richtung, in welcher Marions Wohnung liegt. Ich werde es versuchen.“

Mit Hilfe der Laterne gelang es ihm, rasch vorwärts zu kommen. Er hatte den weiteren Verlauf des Gesprächs nicht abwarten können und glaubte infolgedessen, daß Marion bereits heute, in dieser Nacht, heimlich eingesperrt werden solle.

Im ersten Stockwerk angekommen, bemerkte er ein ganz ebensolches Loch, wie dasjenige war, welches zu Rallions Schlafzimmer führte. Auch hier gab es zwei Riegel; aber sie waren nicht vor-, sondern zurückgeschoben. Er steckte die Laterne in die Tasche und horchte.

Drinnen regte sich nicht das mindeste. Er schob das Fachwerk langsam auf. Es ließ sich bewegen, ohne daß das geringste Geräusch verursacht wurde. Er steckte den Kopf in die Öffnung und bemerkte, daß er sich vor einem ganz dunklen Raum befand. Er trat in gebückter Haltung ein, zog die Laterne hervor, öffnete sie ein Lückchen und leuchtete vorsichtig umher.

„Gott sei Dank!“ flüsterte er befriedigt. „Marions Wohnzimmer. Ich habe es getroffen; nebenan schläft sie.“

Er schob das Getäfel wieder zu und fühlte sein Herz erleichtert. Nun er sich bei der Baronesse befand, konnte dieser nichts geschehen. Jetzt öffnete er die Laterne vollständig und blickte sich um. Sein Auge fiel auf einen seidenen Sonnenschirm, welcher noch an der Ablage hing.

„Das paßt“, dachte er. „Sie werden ihr Kommen verraten.“

Er nahm den Schirm und lehnte denselben so gegen das Tafelwerk, daß er umfallen mußte, wenn dasselbe geöffnet werden sollte. Dadurch entstand ein Geräusch, welches die Ankunft der beiden verkünden mußte.

„Jetzt nun zu ihr!“

Mit diesem Gedanken näherte er sich dem Eingang zum Schlafzimmer. Dieses war nur durch Portieren abgetrennt. Die Tür hatte man für die warme Sommerzeit ausgehoben. Bereits stand er an der Portiere, da kam ihm ein Gedanke:

„O weh! Ich habe doch den Buckel abgeschnallt! So wie ich jetzt bin, darf sie mich ja gar nicht sehen!“

Er blickte sich um. Auf einem Stuhl lag etwas, irgendein Wäsche- oder Kleidungsstück. Er untersuchte gar nicht erst, was es war, sondern stopfte es sich unter die Weste am Rücken empor. Dann schlug er die Portieren auseinander und trat leise ein.

Da lag sie, die Heißgeliebte, die Angebetete im Schlaf! Von ihrem Köpfchen fluteten zwei lange, volle, dunkle Haarflechten hervor. Sie atmete ruhig. Die Wangen waren leicht gerötet. Die seidene Schleife des Negligés war aufgegangen – er wendete den Blick ab, um dieses Heiligtum einer schönen, reinen Jungfräulichkeit nicht zu entweihen, trat aber doch an das Bett heran. Indem er sich nach der anderen Seite drehte, faßte er die seidene Steppdecke.

„Baronesse!“

Sie regte sich nicht.

„Gnädiges Fräulein!“

Auch das hatte keinen Erfolg.

„Fräulein! Marion!“

Er zupfte stärker. Da bewegte sie sich. Er wendete unwillkürlich, ganz gegen seinen Willen, den Blick zu ihr. Ein schöner, voller Arm hatte sich unverhüllt unter der Decke hervorgeschoben, wie von der Hand eines Meisters aus dem reinsten, glänzenden Alabaster geformt. Es war ihm, als müsse er sich niederbeugen, um seine Lippen auf ihn zu drücken.

„Sie hört es nicht!“ dachte er. „Wie wird sie erschrecken! Aber wenn ich das Licht entferne, erschrickt sie noch mehr!“

Er näherte sich ihrem Kopf, ergriff die Decke und zog sie leise, leise über Arm und Busen der Schläferin hinweg. Und nun erst, da nur der Kopf zu sehen war, bog er seinen Mund zu ihrem Ohr nieder und flüsterte:

„Baronesse Marion!“

Da schlug sie langsam die Augen auf, hielt sie einen Moment lang auf ihn gerichtet und schloß sie dann wieder. Er bemerkte keine Spur von Schreck, im Gegenteil, es glitt ein leises, glückliches Lächeln über ihr schönes Angesicht.

Dachte sie etwa, daß sie nur träume? Jedenfalls.

„Gnädiges Fräulein. Bitte, wachen Sie auf.“

Da, erst jetzt zuckte sie zusammen. Ihre Lider öffneten sich – ein großer, erschrockener Blick der sich voll auf ihn richtete, aber kein Schrei, kein einziger Laut, dann zog sie die Decke bis über das Kinn herauf. Sie war vollständig erwacht und hatte ihn erkannt.

„Verzeihung, Baronesse“, flüsterte er ihr hastig zu. „Sie befinden sich in einer großen, fürchterlichen Gefahr, und ich mußte kommen, sie zu warnen.“

„Monsieur Müller!“ stieß sie hervor, aber nicht laut, sondern ebenso leise, wie er gesprochen hatte.

„Ja, ich bin es! Bitte, verzeihen Sie!“

„Gott! Ich begreife nicht! Gehen Sie!“

„Nein, nein! Ich muß bleiben! Es geht nicht anders! Man will sich an Ihnen vergreifen!“

Erst jetzt schien sie die Situation erfaßt zu haben.

„Bitte, das Licht weg!“ bat sie hastig.

Er schloß die Laterne und steckte sie in die Tasche.

„Stellen Sie einen Stuhl nahe zu mir; und sprechen Sie!“ gebot sie.

Er zog den Sessel ganz an das Bett heran, setzte sich nieder und sagte:

„Gott sei Dank, daß es mir gelungen ist, noch zur rechten Zeit zu kommen. Man will Sie gefangennehmen!“

„Gefangen? Wer?“

„Der Kapitän und Rallion!“

„Weshalb?“

„Um Sie zu zwingen, dem letzteren Ihr Jawort zu geben!“

„Wer sagt das?“

„Ich habe sie belauscht.“

„Mein Gott! Sich meiner bemächtigen! Etwa heimlich?“

„Ja.“

„Ah! Sie können nicht herein! Die Tür ist verriegelt.“

„Bin ich nicht auch hereingekommen?“

„Ah! Ja! Monsieur Müller, wie ist Ihnen das gelungen?“

„Ihr Zimmer hat einen geheimen Eingang.“

„Das ist doch nicht möglich!“

„Meine Gegenwart beweist das zur Genüge. Wie hätte ich Zutritt finden können, da die Tür verschlossen ist?“

„Das ist wahr! Welch ein Ort! Welch eine Wohnung! Aber, wann will man mich gefangennehmen?“

„In dieser Nacht noch, baldigst, jetzt! Vielleicht sind sie bereits so nahe, daß sie uns hören würden, wenn wir ein wenig lauter sprächen.“

„Mein Heiland! Was werde ich tun!“

„Nichts! Bitte, bleiben Sie liegen! Ich bin hier, Sie zu beschützen!“

„Ah, nun ich gewarnt bin, fürchte ich sie nicht. Haben Sie vielleicht Waffen bei sich?“

„Ja, einen Revolver.“

„Gut! Aber was werden jene sagen, wenn sie Sie bei mir finden, Monsieur Müller?“

„Nichts, gar nichts! Sie können nur sagen, daß ich gekommen bin, Sie zu warnen.“

„O nein, nein! Sie werden –“

Sie stockte. Wäre es hell gewesen, so hätte er die glühende Röte bemerkt, welche ihr Gesicht bedeckte. Doch erriet er, was sie sagen wollte. Darum fiel er rasch ein:

„Nein, gnädiges Fräulein! Ich werde Ihnen beweisen, daß ich erst seit zwei Augenblicken hier bin. Ich werde ihnen beweisen, daß ich nicht durch die Tür, sondern durch den geheimen Gang hierher kam. Ich werde Ihnen beweisen, daß ich sie belauscht habe, also auch nur in der Absicht, Sie zu warnen, hier sein kann.“

Das schien sie zu beruhigen.

„Sie können das beweisen?“ fragte sie, und als er bejahte, fuhr sie fort. „Gut! Das ist genug! Wo ist der geheime Eingang?“

„Im Wohnzimmer, zwischen dem Kamin und einem Diwan.“

„Ich danke! Bitte, rücken Sie ein wenig fort!“

Er gehorchte und hörte dann, daß sie sich erhob, um das Bett zu verlassen. Er vernahm ihre leisen Schritte und das Rauschen und Knittern von Zeug und Falten. Dann stand sie wieder in seiner Nähe.

„Sie wollen mich überraschen, diese beiden Menschen“, flüsterte sie; „aber sie selbst werden es sein, welche überrascht werden. Daher darf ich kein Licht anbrennen. Aber sah ich nicht vorhin eine Blendlaterne in Ihrer Hand? Sie können dieselbe augenblicklich öffnen, so daß es im Zimmer hell wird?“

„Sofort.“

„Das ist gut. Bleiben wir aber jetzt im Dunkeln. Zu wünschen wäre es nur, daß wir es bemerkten, wenn sie durch den Eingang kommen!“

„Wir werden es hören. Ich habe Ihren Sonnenschirm so gelegt, daß sie ihn umwerfen müssen, wenn sie eintreten. Das werden wir auf alle Fälle hören, gnädiges Fräulein.“

„So bin ich befriedigt. Ich weiß nun alles, was für den ersten Augenblick notwendig war, und wir können nun in Ruhe weitersprechen. Bitte kommen Sie mit herüber auf das Sofa.“

Er folgte ihr. Das Sofa war klein und kaum für zwei Personen bestimmt. Er drückte sich bescheiden ganz in die Ecke, um sie ja nicht zu berühren; da aber sagte sie:

„Wollen Sie nicht näherrücken, Monsieur Müller? Wir dürfen ja nur äußerst leise sprechen, und das ist nicht möglich, wenn Sie sich so sehr entfernt halten.“

Er gehorchte, so weit es die Bescheidenheit ihm erlaubte.

„Noch näher!“

„In einer Lage, wie die gegenwärtige ist, darf man nicht auf die schroffen Regeln des Dehors achten. So, jetzt sitzen wir nahe genug und können unser Flüstern gegenseitig verstehen!“

Die Berührung ihres warmen, weichen Händchens durchzuckte ihn elektrisch. Er fühlte, während sie, mit dem Kopf zu ihm geneigt, redete, den Hauch ihres Mundes. Welch ein Vertrauen! Sie wußte, daß er sie liebte; er hatte es ihr ja gestanden; und dennoch bat sie ihn, so nahe bei ihr zu sein! Er fühlte sich glücklich wie noch nie in seinem Leben.

Sie hatte ihre Hand wieder aus der seinigen genommen. Jetzt erkundigte sie sich:

„Und nun, bitte, wie sind Sie hinter das Geheimnis gekommen, Monsieur Müller?“

„Ich habe jene belauscht.“

„Das sagten Sie bereits. Aber wo?“

„Im Zimmer Rallions.“

„Wie kamen Sie dorthin?“

Er zögerte einige Augenblicke. Darum fragte sie:

„Ist das ein Geheimnis?“

„Ich kann das nicht leugnen. Es ist sogar ein höchst wichtiges Geheimnis.“

„Welches Sie mir nicht mitteilen können?“

Obgleich sie nur ganz leise sprach, klang es doch wie ein Vorwurf von ihren Lippen.

„Ich wollte, ich dürfte Ihnen alles, alles mitteilen!“ antwortete er.

„Sie dürfen also nicht?“

„Nein.“

„Und dennoch müssen Sie sich sagen, daß ich Ihnen in diesem Augenblick ein Vertrauen entgegenbringe, wie es größer wohl kaum gedacht werden kann!“

„Baronesse, ich gestehe, daß ich mich tief beschämt fühle! Aber diese Geheimnisse sind nicht mein ausschließliches Eigentum!“

„Das ist allerdings ein Grund. Also sagen Sie mir wenigstens so viel, wie Sie sagen dürfen!“

„Ich will alles tun, was ich darf, indem ich Ihnen erkläre, daß ich nicht nur in der Absicht, Ihren Bruder zu unterrichten, nach Schloß Ortry kam.“

„Das ist mir allerdings eine große Überraschung. Sie verfolgen also noch andere Absichten?“

„Nur eine einzige noch: die Beobachtung des Kapitäns.“

„Ah! Sie kamen, ihn zu beobachten! Das läßt mich vermuten, daß Sie eigentlich nicht Erzieher sind, sondern etwas anderes.“

Diese Wendung war ihm sehr unangenehm. Er beschloß, lieber eine Unwahrheit zu sagen, als sich in eine schiefe Lage zu bringen. Darum fragte er:

„Was sollte ich da wohl sein?“

„Polizist vielleicht“, antwortete sie zögernd.

„Nein, Polizist bin ich nicht, gnädiges Fräulein. Ich bin wirklich der, als den Sie mich kennen. Aber ich habe einen Freund, welcher, als er von meinen Engagement erfuhr, mich bat, mich nach gewissen Verhältnissen zu erkundigen.“

„Darf ich diese Verhältnisse kennenlernen?“

„Sie beziehen sich auf eine Familie, über welche der Kapitän einst sehr großes Unglück gebracht hat. Diese Familie leidet jetzt noch darunter, und mein Auftrag geht dahin, zu erfahren, ob nicht eine Änderung, eine Besserung möglich ist.“

„Dann sehe ich allerdings ein, daß Sie nicht alleiniger Besitzer Ihres Geheimnisses sind. Sie müssen diskret sein, und ich darf nicht in Sie dringen.“

„Ich danke aus vollstem Herzen, gnädiges Fräulein! Muß ich nun aber befürchten, daß Ihr Vertrauen, welches mich so sehr beglückte, erschüttert worden ist?“

„Nein. Ich vertraue Ihnen, wie ich Ihnen bisher vertraute. Hier, meine Hand darauf!“

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er führte dieselbe an seine Lippen und küßte sie. Dann fuhr er fort:

„Der Kapitän ist ein gefährlicher Mann. Ich merkte, daß er Böses sann gegen eine Person, für welche ich mich interessieren muß; daher beobachtete ich jeden seiner Schritte. So kam ich zu der Kenntnis, daß es hier im Schloß geheime Treppen und Türen gibt.“

„Davon habe ich keine Ahnung gehabt!“

„Ich ahnte es gleich in der ersten Stunde meines Hierseins. Und es dauerte nicht lange, so kannte ich diese Geheimnisse. Heut nun hatte ich Veranlassung, den Kapitän auf einem seiner Schleichwege zu beobachten. Er ging zu Rallion.“

„Auch durch eine geheime Tür?“

„Ja.“

„So kennt auch Rallion diese Geheimnisse?“

„Zum Teil, ja.“

„Gott, so ist man hier ja bei Tag und Nacht von tausend Gefahren, welche man gar nicht kennt, umgeben!“

„Es gibt Augen, welche über Sie wachen.“

„Die Ihrigen! Ja, ich weiß das, und das beruhigt mich. Aber, darf ich vielleicht erfahren, wer die Person ist, für welche Sie sich so interessieren?“

„Master Deep-hill, der Amerikaner.“

„Dieser? Kennen Sie ihn?“

„Erst seit hier und jetzt.“

„Aber wie können Sie ihm dann eine Teilnahme schenken, welche Sie sogar veranlaßt, den Kapitän zu beobachten?“

„Ich habe erfahren, daß der Kapitän den Amerikaner ermorden will.“

„Ermorden? Herr mein Gott! Sprechen Sie im Ernst?“

„Gewiß. Wenn ich nicht aufgepaßt hätte, so wäre Deep-hill bereits gestern eine Leiche gewesen.“

„Jesus! Ahne ich recht! Sie meinen doch nicht etwa, daß der Kapitän bei dem Eisenbahnunglück seine Hand im Spiel hat?“

„Leider ist es so. Ich gab Ihnen ja bereits einige Andeutungen. Der Kapitän ist Ihr Verwandter; leider aber kann mich das nicht abhalten, Ihnen zu sagen, daß er der größte Schurke und Bösewicht ist, den es nur geben kann.“

„Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, daß auch ich ihn fürchte und verabscheue. Ihre Aufrichtigkeit beleidigt mich also keineswegs. Darf ich erfahren, ob der Amerikaner ahnt, daß er von dem Kapitän nichts Gutes zu erwarten hat?“

„Ich habe ihn gewarnt. Ich habe natürlich nicht offen mit ihm gesprochen, sondern ihm nur Andeutungen gegeben.“

„Die Anwesenheit dieses Monsieur Deep-hill ist mir überhaupt unverständlich. Ich habe nie von ihm gehört; ich habe nicht einmal seinen Namen gekannt. Was mag er hier in Ortry wollen?“

„Das kann ich Ihnen erklären. Man erwartet nämlich einen Krieg mit Deutschland – – –“

„Also wirklich? Ist es wahr, was man so sagen hört?“

„Ja. Frankreich, das heißt, Napoleon will den Krieg, und so wird also Krieg. Man will Freikorps bilden, Franctireurs. Der Kapitän spielt dabei eine hervorragende Rolle. Nur weiß ich nicht, inwieweit dabei das Privatinteresse beteiligt sein kann; aber das weiß ich, daß man großer Summen bedarf, um diese Aufgabe zu lösen. Der Kapitän ist zu diesem Zweck mit dem Amerikaner in Verbindung getreten.“

„Dieser soll die Summen liefern?“

„Ja. Er hat sich dazu bereit erklärt. Er ist gekommen, um Zahlung zu leisten. Der Kapitän war von seiner Ankunft unterrichtet; er kannte sogar den Zug, mit welchem er kommen solle. Es handelt sich um Millionen. Natürlich beabsichtigt Deep-hill ein Geschäft dabei zu machen. Er erwartet natürlich das Kapital nebst guten Zinsen zurück. Wie aber nun, wenn man ihm weder die Zinsen, noch auch das Kapital zurückzugeben brauchte?“

„Mein Gott! Sie meinen doch nicht etwa – – –!“

„Ich meine, daß es sehr vorteilhaft wäre, wenn man sich in den Besitz dieser Millionen setzen könnte, ohne einen Kontrakt oder sonst ein Dokument unterschreiben zu müssen.“

„Das könnte nur dann der Fall sein, wenn – – –“

Sie zögerte, fortzufahren. Der Gedanke war ihr zu gräßlich, als daß sie ihn leicht hätte aussprechen können.

„Nun? Was wollten Sie sagen, gnädiges Fräulein?“

„Ich kann es nicht sagen. Es wäre fürchterlich.“

„Und doch ist es wahr. Man kannte, wie bereits gesagt, den Zug, in welchem sich der Amerikaner befand. Dieser Zug sollte zum Entgleisen gebracht werden.“

„Gott! Das ist ja auch geschehen.“

„Leider! Man hoffte, daß der Amerikaner dabei getötet werde. In diesem Fall war es sehr leicht, der Leiche desselben die Brieftasche zu rauben.“

„Gott sei Dank, daß dies nicht gelungen ist.“

„Der Plan ging von dem Kapitän aus. Drei seiner Leute sollten ihn ausführen.“

„Wissen Sie das genau?“

„Ich habe zwei dieser Leute belauscht. Leider hörte ich nicht genug, um mir über ihre Absichten klar zu werden. Ich erfuhr nur, daß der Amerikaner beraubt und ermordet werden solle. Von einer Entgleisung aber ahnte ich nichts, bis das Unglück mir die Augen öffnete.“

„Schrecklich! Schrecklich! Sie werden natürlich den Kapitän zur Anzeige bringen?“

„Würde Ihnen dies erwünscht sein?“

„Müssen Sie denn nicht?“

„Eigentlich, ja. Aber soll ich Ihre Familie – – –! Und ich habe außerdem noch andere Gründe, zu warten. Seiner Strafe aber wird er auf keinen Fall entgehen können.“

Sie schwieg. Was sie hörte, war so schrecklich, daß sie einer Zeit bedurfte, um es zu überwinden. Dann sagte sie:

„Aber Deep-hill befindet sich folglich hier in der allergrößten Gefahr.“

„Er ist gewarnt.“

„Der Kapitän wird ihn töten, um ihm das Geld abzunehmen.“

„Das ist nicht so schnell geschehen. Der Amerikaner hat die Summe nicht bar bei sich. Er beabsichtigte, sie in Anweisungen zu zahlen, welche noch nicht unterschrieben sind. Ohne seine Unterschrift haben sie keine Gültigkeit, und so lange er nicht unterschreibt, befindet er sich also außer Gefahr.“

„Weiß er das?“

„Ich wiederhole, daß er gewarnt ist. Wenn er meine Warnung beachtet, kann ihm nichts geschehen. Also in dieser Angelegenheit war es, daß ich den Kapitän nicht aus den Augen ließ. Ich bemerkte heute abend, daß er von den unterirdischen Gängen Gebrauch machte, und folgte ihm.“

„Mein Gott! Dürfen Sie sich in solche Gefahr begeben?“

Er fühlte, daß sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Diese Besorgnis erfüllte ihn mit glücklicher Genugtuung.

„Das Wagnis ist für mich nicht so groß, wie Sie vielleicht denken“, antwortete er.

„Aber, wenn er Sie bemerkt.“

„So bin ich bewaffnet. Ich fürchte ihn nicht. Also, indem ich ihm folgte, bemerkte ich, daß er zu Rallion ging. Ich belauschte einen Teil der Unterredung, welche er mit diesem hatte.“

„Diese Unterredung bezog sich auf mich?“

„Ja.“

„Was wurde gesprochen?“

„Der Kapitän berichtete, daß Sie sich weigern, auf die beabsichtigte – Verzeihung, gnädiges Fräulein, aber ich muß es doch erwähnen –, auf die beabsichtigte Verbindung mit Rallion einzugehen.“

„Ja, das tue ich allerdings. Man will mich an diesen Rallion ketten. Weshalb, das weiß ich nicht. Man will mich sogar zwingen. Aber ich werde widerstehen.“

„Man will diesen Widerstand brechen.“

„Dadurch, daß man mich meiner Freiheit beraubt?“

„Ja. Man will sich hier bei Ihnen, während Sie schlafen, einschleichen und Sie mit Chloroform betäuben.“

„Schrecklich!“ sagte sie, sich leise schütteln.

„Dann können Sie nicht sprechen, nicht um Hilfe rufen, sich nicht wehren. In diesem Zustand bringt man Sie in das Gefängnis.“

„Kennen Sie diesen Ort?“

„Ich vermute es.“

„Und ich sage Ihnen, daß sie ihren Zweck doch nicht erreichen würden. Ich gehe auf ihre Absichten auf keinen Fall ein.“

„Man läßt Sie hungern und dürsten.“

„So verhungere ich.“

„Davon wurde allerdings gesprochen. Aber für diesen Fall berieten sie ein Mittel, welches – – –“

Er hielt ein. Sie fragte:

„Welches Mittel?“

„Es ist nicht nur eine Gottlosigkeit, sondern noch schlimmer. Ich sehe mich gezwungen, ihnen auch das noch mitzuteilen. Im Falle selbst Hunger und Durst ohne Erfolg sein sollten, wollte der Kapitän seinen Komplicen Rallion bei Ihnen einschließen.“

Es entstand eine Pause. Marion schwieg; sie antwortete nicht. Er hörte einen tiefen, tiefen Seufzer, und erst nach einer längeren Zeit flüsterte sie:

„Wer hätte das glauben können! Wie schrecklich! Kann es wirklich Menschen geben, welche solcher Schandtaten fähig sind. Monsieur Müller, welchen Dank, welchen großen Dank bin ich Ihnen schuldig.“

Sie suchte im Dunkel seine Hand und drückte dieselbe herzlich. Er hätte am liebsten seinen Arm um sie schlingen mögen; doch beherrschte er sich und sagte einfach:

„Hier ist der Dank bereits in der Tat enthalten, gnädiges Fräulein. Ich bin ganz glücklich, Ihnen dienen zu dürfen.“

„Aber welche Dienste leisten Sie mir, welche großen, großen Dienste. Mein Gott, wie fürchterlich, wie entsetzlich, wenn es diesen beiden Menschen gelungen wäre, ihre Absicht auszuführen. Aber man mußte doch bemerken, daß ich verschwunden bin.“

„Der Kapitän wollte sagen, Sie seien verreist.“

„Ah, wie raffiniert. Ja, er ist zu allem fähig. Und Sie meinen, daß sie jetzt kommen werden?“

„Ja. Was ich hörte, läßt mich dies vermuten.“

„So mögen sie kommen. Horch! Hörten Sie etwas?“

„Nein.“

„Es war wie ein Geräusch im Wohnzimmer.“

Sie lauschten, doch ließ sich nichts hören.

„Es ist nichts gewesen“, flüsterte er. „Sie können nicht in das Zimmer, ohne den Schirm umzuwerfen.“

„Wie werden sie erschrecken, mich gerüstet zu finden. Aber, Monsieur, Sie müssen sich zeigen, und dann wird es um Ihre Stellung geschehen sein.“

„Das befürchte ich nicht. Gerade der Umstand, daß ich Mitwisser seiner Geheimnisse bin, gibt den Kapitän in meine Hand.“

„Aber er wird Sie zu entfernen suchen.“

„Das gelingt ihm nicht. Ich gehe nur dann, wenn ich selbst will.“

„Dann befinden Sie sich aber in steter Gefahr.“

„Ich fürchte dieselbe nicht. Ich habe meine Vorkehrungen getroffen. Der Alte wird sich hüten, mir nach dem Leben zu trachten.“

„Sind Sie dessen sicher?“

„Ja. Ich wollte nicht davon sprechen; aber um Sie in Beziehung auf mich zu beruhigen, will ich Ihnen sagen, daß der Kapitän den Fabrikdirektor erschossen hat.“

„Herrgott, das ist ja unmöglich! Der Direktor war ein Selbstmörder.“

„O nein. Ich bin Zeuge des Mordes. Ich war dabei.“

„O Himmel! Es ist zuviel, zuviel, was ich heute erfahre. Fast möchte ich denken, daß ich träume. Erzählen Sie.“

Er berichtete ihr den Mord, soweit er es für nötig fand. Sie war tief ergriffen; sie schauderte.

„Es ist eine Hölle, in der ich mich befinde“, sagte sie. „Und Sie machen nicht Anzeige?“

„Der Tote wäre dadurch nicht wieder lebendig geworden.“

„Aber der Mörder hätte seine Strafe gefunden.“

„Er findet sie sicher. Ich habe Gründe, noch nicht offen gegen ihn aufzutreten.“

„Er weiß also, daß Sie Mitwisser des Mordes sind?“

„Ja.“

„Das bringt Sie aber doch erst recht in Gefahr.“

„Nein. Ich habe seine Unterschrift. Geschieht mir hier etwas, so wird diese Unterschrift präsentiert, und er ist verloren. Das weiß er, und darum wird er sich hüten, irgend etwas gegen mich zu unternehmen.“

„Aber es gibt heimliche Gifte.“

„Ich bin vorsichtig.“

„Er kann sich Ihrer Person bemächtigen und Sie ebenso einsperren, wie er es mir mir zu tun beabsichtigt.“

„Das ist allerdings wahr; aber ich bin auf der Hut und werde, soweit dies noch nicht geschehen ist, meine Vorkehrungen treffen, um selbst für den Fall, daß es ihm gelänge, mich einzusperren, meine Freiheit sofort wieder zu erlangen.“

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Es gibt einen, welcher mich befreien würde.“

„Wirklich? Dieser eine müßte auch wissen, wo sich Ihr Gefängnis befindet!“

„Allerdings.“

„Müßte also auch die unterirdischen Gänge und Gewölbe kennen.“

„Das ist der Fall.“

„Wie? Sie haben einen Vertrauten?“

„Ja. Wünschen Sie zu wissen, wer er ist?“

„Ja, freilich! Kenne ich ihn?“

„Sie kennen ihn. Es ist Doktor Bertrands Pflanzensammler.“

Marion war außerordentlich überrascht.

„Dieser! Ah, dieser!“ sagte sie. „Der, welcher meine Nanon aus dem Wasser gerettet hat!“

„Derselbe.“

„So sind Sie mit ihm bekannt?“

„Gewiß. Wir waren ja zusammen auf dem Schiff. Ich traf ihn dann hier im Wald, und ihm habe ich es zu verdanken, daß ich in die Geheimnisse des Kapitäns eingedrungen bin.“

„Wunderbar, wunderbar!“

„Sollte ich verschwinden, so würde er alles aufbieten, um mich zu retten.“

„So können Sie ihm vertrauen?“

„Ich kann mich vollständig auf ihn verlassen.“

„Eigentümlich! Auch Nanon hat ihn im Wald getroffen; auch sie scheint ein ungewöhnliches Vertrauen in ihn zu setzen. Wissen Sie, wo er sich jetzt befindet?“

„Ja.“

„Oh, Sie können das wohl schwerlich wissen!“

Wäre es hell gewesen, so hätte sie ihn lächeln sehen. Er sagte:

„Er ist mit Nanon nach Schloß Malineau.“

„Wahrhaftig, Sie wissen es!“

„Er selbst hat es mir mitgeteilt.“

„So sind Sie allerdings mehr als nur bekannt mit ihm.“

„Wir sind geradezu Verbündete. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich das Grab Ihrer Mutter geöffnet habe. Er war dabei.“

„Dieser Monsieur Schneeberg?“

„Ja. Er hat dann auch Ihre Mutter gesehen.“

„Wirklich? Ah! Wann?“

„Sie erschien uns, um uns zu drohen.“

„Es war ihr Geist.“

„Nein. Gnädiges Fräulein, ich wiederhole Ihnen, daß ich fest überzeugt bin, daß Ihre Mutter noch am Leben ist.“

„Sie meinen, daß sie da unten eingesperrt wurde?“

„Ja.“

„Schrecklich! Entsetzlich! Aber wir sahen sie im Turm. Sie sahen sie dann wieder. Sie hätte da ja Gelegenheit gehabt, Ihre Freiheit wiederzuerlangen.“

„Hm! Ich vermute, daß sie nicht frei sein will.“

„Nicht will? Das ist ja gar nicht denkbar!“

„Ich vermute sogar, daß sie ganz freiwillig in die Gefangenschaft gegangen ist.“

„Das kann doch nicht möglich sein!“

„O doch! Es gibt ein Mittel, ein solches Wesen zu zwingen, der Welt und allem zu entsagen.“

„Ich kenne kein solches Mittel.“

„Es gibt welche, zum Beispiel die Mutterliebe.“

„Wieso?“

„Es wird der Mutter gesagt, daß ihr Kind getötet werden soll, daß sie es nur dadurch retten kann, daß sie selbst in den scheinbaren Tod geht.“

„Das wäre schrecklich! Aber warum nicht in den wirklichen Tod? Warum läßt man sie leben?“

„Es muß noch Gründe geben, wenn es mir auch jetzt noch unmöglich ist, darüber klar zu werden.“

„Monsieur Müller, je länger ich Sie höre, desto mehr muß ich mir denken, daß Sie recht haben können. Aber der Gedanke, daß meine Mutter noch lebt, ist so ungeheuerlich, daß es mir doch beinahe unmöglich wird, ihn zu fassen.“

„Mir ist er geradezu Gewißheit.“

„Dann wäre der Kapitän ein Teufel.“

„Das ist er. Ich habe zum Beispiel die Ahnung, daß da unten Gefangene stecken, welche bereits lange, lange Jahre das Licht der Sonne nicht mehr gesehen haben.“

„Fürchterlich! Aber, Monsieur, wenn es wahr ist, daß meine Mutter noch lebt, so ist es meine heiligste Pflicht, sie aus den Banden zu befreien, in denen sie schmachtet.“

„Ich habe mir bereits diese Aufgabe gestellt.“

„Ich danke Ihnen! Sie sind ein ungewöhnlicher, außerordentlicher Mann. Glauben Sie, Erfolg zu haben?“

„Ich hoffe es.“

„Und dennoch darf ich diese Aufgabe nicht allein in Ihren Händen lassen. Wollen Sie mir erlauben, mitzuwirken?“

„Oh, gern!“

„Nun gut, seien wir Verbündete und Vertraute! Hier ist meine Hand. Verschwören wir uns gegen den Kapitän. Bitte, schlagen Sie ein!“

„Topp, gnädiges Fräulein! Ihre Hilfe wird mir jedenfalls von großem Vorteil sein.“

„Ich wünsche und hoffe es. Zunächst gilt es, zu erfahren, ob jene Erscheinung im alten Turm ein Geist oder ein körperliches Wesen ist.“

„Ich bin bereits überzeugt, daß sie das letztere ist.“

„Aber auch ich will diese Überzeugung haben!“

„Sie hätten diese bereits, wenn Sie mir nach jenem Gewitter erlaubt hätten, dem vermeintlichen Geist nachzugehen.“

„Ja, ich habe diesen Fehler begangen; aber ich wußte da noch nicht, was ich jetzt weiß. Er muß gutgemacht werden. Aber in welcher Weise soll das geschehen?“

„Es ist nur eins möglich: Wir müssen diesen Geist aufsuchen.“

„Gewiß! Wir müssen in jene unterirdischen Gänge eindringen, und zwar baldigst.“

„Das wird geschehen, sobald der Pflanzensammler wieder zurückgekehrt ist.“

„Warum das?“

„Ich habe ihm versprochen, so lange zu warten.“

„Hätten Sie das doch nicht getan! Nun ich einmal denken muß, daß meine Mutter noch lebt, möchte ich keinen einzigen Augenblick unnütz verstreichen lassen.“

„Ich muß Sie dennoch um Geduld bitten. Ich bedarf der Hilfe meines Verbündeten. Er ist stark und mutig. Ohne ihn darf ich es nicht wagen, in jene Gewölbe einzudringen. Es gibt da Gefahren, von denen man vorher keine Ahnung haben kann. Ein einzelner kann verloren sein, während die Anwesenheit eines zweiten ihn zu retten vermag.“

„Gut. Ich muß mich fügen, denn ich erkenne Ihre Gründe an. Aber was veranlaßt denn eigentlich diesen Monsieur Schneeberg, sich für Schloß Ortry so zu interessieren, daß er sich selbst in solche Gefahren wagt?“

„Vielleicht die Freundschaft zu mir, vielleicht auch die Feindschaft gegen Rallion.“

„Gegen Rallion? Was hat er mit diesem?“

„Er hatte bereits ein Renkontre mit den beiden Grafen, infolgedessen beide verwundet wurden.“

„Verwundet? Geschah das nicht durch eine Sense?“

„Nein, es geschah durch Schneebergs Messer.“

„Wieder ein neues Geheimnis!“

„Ja, meine Gnädige, es gibt hier Geheimnisse ohne Ende; aber wir werden zu gegebener Zeit die Rätsel alle lösen. Doch es wundert mich, daß der Kapitän noch nicht erschienen ist. Seit ich ihn belauschte, ist bereits über eine Stunde verflossen.“

„Vielleicht haben Sie sich getäuscht?“

„Schwerlich.“

„Man hat etwas ganz anderes gemeint!“

„Nein, nein! Ich habe Wort für Wort verstanden. Es könnte höchstens der Fall sein, daß ich mich in der Zeit getäuscht hätte.“

„Wieso?“

„Daß man Sie erst morgen und nicht bereits heute überfallen will.“

„Meinen Sie? Dann also würden wir uns heute ohne allen Grund geängstigt haben.“

„Ich möchte allerdings nun annehmen, daß das Vorhaben auf morgen verschoben worden ist. Die beiden Männer müßten nun bereits da sein. Ich werde mich überzeugen.“

Er wollte sich erheben. Sie hielt ihn zurück und fragte:

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Ich gehe auf dem heimlichen Weg nach dem Schlafzimmer Rallions.“

„Aber wenn jene Ihnen begegnen? Das ist doppelt gefährlich!“

„Nein. Sie würden Licht haben, welches ich von weitem sehen müßte. Ich könnte mich also rechtzeitig zurückziehen. Also bitte ich, es mir zu erlauben!“

„Sie kommen aber wieder zurück?“

„Jedenfalls.“

„Gut! Also gehen Sie – oder, ah, ich bin nun doch Ihre Verbündete; darf ich mit?“

Er besann sich einen Augenblick und antwortete dann:

„Das ist gefährlich. Sie würden sich nicht so schnell zurückziehen können, wie es nötig ist.“

„Was schadet das? Ob wir sie hier empfangen, oder ob wir ihnen unterwegs entgegentreten, das bleibt sich gleich. Ich erbitte mir als ein Zeichen Ihres Vertrauens die Erlaubnis, Sie begleiten zu dürfen. Wollen Sie mir diese erste Bitte abschlagen?“

„Wenn Sie ihrem Wunsch diese Form geben, so kann ich Ihnen die Erfüllung desselben allerdings nicht vorenthalten.“

„Ich danke! Also, machen wir uns auf den Weg!“

Sie erhob sich und er auch.

„Aber vorsichtig sein!“ sagte er. „Wollen erst lauschen. Aber, gnädige Baronesse, ich werde von meiner Laterne Gebrauch machen müssen!“

„Tun Sie das. Mich inkommodiert es nicht!“

„Begeben wir uns also in das Wohnzimmer.“

Er nahm die Laterne aus der Tasche, öffnete sie und leuchtete. Der Baronesse voranschreitend, trat er in das Wohnzimmer. Dort lehnte der Sonnenschirm noch an seiner Stelle.

„Hier ist der geheime Eingang“, sagte er, nach der Stelle zeigend und sich dabei rückwärts wendend.

Jetzt sah er Marion beim Schein der Laterne. Wie schön, wie wunderbar schön war sie! Sie hatte vorhin im Dunkel ihr Morgennegligé angelegt. So hatte er sie noch nie gesehen.

„Also hier dieses Täfelwerk!“ sagte sie. „Wer hätte das geahnt! Wie öffnet man?“

„So!“

Er entfernte den Schirm und schob dann leise das Getäfel zur Seite. Sie bückte sich und griff nach der Laterne.

„Leuchten wir hinaus!“ sagte sie.

„O bitte, nein!“ entgegnete er. „Erst muß ich mich vergewissern, daß wir nicht überrascht werden.“

Er schloß die Laterne und kroch hinaus. Draußen lauschte er. Es war kein verdächtiger Laut zu hören. Er stieg im Finstern die Stufen hinab, immer weiter, bis er in den Haupteingang gelangte. Als er auch da nichts Verdächtiges bemerkte, war er überzeugt, daß er es wagen könne, Marion mitzunehmen. Er kehrte also zurück.

Sie war unterdessen unruhig geworden.

„Wie lange Sie weg waren“, sagte sie. „Ich begann bereits, sehr besorgt um Sie zu werden.“

„Ich wollte mich überzeugen, ob wir auf eine Begegnung gefaßt sein müssen.“

„Ist das der Fall?“

„Wenigstens jetzt noch nicht. Der Kapitän ist entweder bei Rallion, oder er hat das Unternehmen für morgen festgesetzt und befindet sich bereits in seinem Zimmer.“

„Also gehen wir.“

Sie folgte ihm mutig hinaus auf den engen Gang. Sie begannen ihre Wanderung. Damit sie den Weg deutlich erkennen möge, ging er, ihr leuchtend, nach ihr. Er hatte sie vor Augen. Sie kam ihm vor wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

Sie gelangten hinunter in den Gang. Dort blieb er stehen, ließ das Licht der Laterne im Kreis gehen und sagte:

„Sie sehen diese Anzahl heimlicher Treppen. Die Wände dieses Hauses sind doppelt, und zwischen ihnen führen Stufen nach allen Zimmern. Hier rechts, diese Treppe geht nach der Wohnung des Amerikaners, dieselbe, in welcher der Direktor ermordet wurde.“



„Da hinauf sind Sie damals gestiegen?“

„Ja.“

Ihr Auge glitt aus dem Dunkel in den Lichtkreis zurück. Sie schauderte zusammen.

„Ein Mord! Gott, ich fürchte mich.“

Marion stand neben Müller; sie schmiegte sich unter dem Einfluß des Gefühles, welches sie überkam, eng an ihn, so daß er ihre weichen, warmen Formen deutlich fühlte.

„Wollen wir zurückkehren?“ fragte er.

„Nein“, antwortete sie. „Es muß zwar schrecklich sein, in diesen finsteren Gängen überrascht und überfallen zu werden; aber ich will mich nicht fürchten; Sie sind ja bei mir! Was tun wir jetzt?“

„Das sicherste ist, das Zimmer des Kapitäns aufzusuchen, um zu sehen, ob er dort ist.“

„Gut! Gehen wir! Wissen Sie, wo es ist?“

„Ja. Bitte, hier links hinauf.“

Sie stiegen empor, leise und langsam, er voran leuchtend, und sie ihm folgend. Als er endlich stehenblieb, legte er den Finger auf den Mund, zum Zeichen, daß sie nicht sprechen solle. Am Boden erblickte Marion ein Fachwerk, gerade wie bei ihrer eigenen Wohnung. Mehrere Stufen höher gab es ein kleines, rundes Loch in der Mauer. Da hinauf stieg Müller. Nach wenigen Augenblicken kam er herab und raunte ihr ins Ohr:

„Bitte, blicken Sie durch dieses Loch! Aber, um Gottes willen, ja nicht das mindeste Geräusch.“

Sie stieg die Stufen empor. Vor dem Loch war eine Glastafel, in welche Figuren gemalt waren. Diese Tafel war in die Tapetenborde eingesetzt, so daß man sie im Zimmer nicht von der letzteren unterscheiden konnte. Zwischen den Figuren hindurch konnte man den Raum überblicken. Es war die Stube des Kapitäns. Marion sah ihn schreibend am Tisch sitzen. Sie stieg wieder herab.

„Er ist zurückgekehrt“, flüsterte sie. „Ich habe also heute den Überfall wohl nicht zu erwarten?“

„Nun nicht mehr. Bitte, gehen wir!“

Sie kehrten auf demselben Weg wieder nach Marions Wohnung zurück. Nachdem Müller das Getäfel verschlossen hatte, sagte sie:

„Jetzt darf ich Licht machen, und dann wollen wir beraten, was für morgen zu tun ist.“

Er löschte seine Laterne aus. Sie brannte die Lampe an, und dann nahmen sie am Tisch platz.

„Es ist doch eine entsetzliche Raffinesse, solche Gänge und Gucklöcher herzustellen“, sagte sie. „Gibt es auch in meiner Wohnung ein solches Loch, Monsieur?“

„Ja“, antwortete er. „Haben Sie es vorhin nicht beachtet?“

„Nein. Aber, so hat mich der Kapitän zu jeder Zeit beobachten können?“

„Gewiß!“

„Und ich habe nichts gewußt! Wie schrecklich! Wo ist es?“

„Da oben über der Uhr.“

„Nicht im Schlafzimmer?“

„Nein. Dort gibt es kein solches verräterisches Loch.“

„Das beruhigt mich. Von jetzt an also werde ich mich so einzurichten haben, daß ich stets ohne Schaden beobachtet werden kann. So hört man wohl auch, was gesprochen wird?“

„Jedes Wort.“

„Das ist noch schlimmer. Nun erst begreife ich, wie der Kapitän alles, alles wissen konnte, so daß er fast allwissend zu sein schien. Gibt es auch bei Ihnen einen Eingang?“

„Nein, aber ein Beobachtungsloch.“

„Wie haben Sie es entdeckt?“

„Gleich am ersten Tag meiner Anwesenheit. Ich befand mich ruhig in meinem Zimmer und hörte an der Wand ein Geräusch. Das hat den Kapitän verraten.“

„So müssen also auch Sie stets auf der Hut sein.“

„Gewiß, zumal er mir nicht traut. Doch, wir wollten ja von morgen sprechen.“

„Ja. Sie meinen also, daß die beiden morgen kommen werden?“

„Ich glaube nicht, daß sie länger warten werden.“

„Was soll ich tun? Wie soll ich sie empfangen?“

„Hm! Sie werden erschrecken, entdeckt zu sein, aber sie werden sich sofort fassen und irgendein Märchen ersinnen, um ihr Erscheinen plausibel zu machen.“

„Sie meinen, Monsieur, daß man sich nicht an mir vergreifen wird?“

„Das wird man unterlassen. Der Streich kann ja nur dann gelingen, wenn man Sie im Schlaf antrifft, so daß man sie betäuben kann, ehe Sie um Hilfe rufen.“

„Ah! So werden sie ihre Absicht nicht eingestehen.“

„Keinesfalls.“

„Das glaube ich auch. Sie werden eine Ausrede erfinden. Und das genügt mir nicht. Ich möchte sie bei der Tat ertappen, so daß ich ihnen ihre Schlechtigkeit beweisen kann.“

„Das ist das beste, auch meiner Ansicht nach.“

„Aber, wie soll man das anfangen?“

„Es hat allerdings seine Schwierigkeit“, sagte er.

Und nach einer Pause des Nachsinnens fuhr er fort:

„Die beiden werden mit Licht kommen, aber sie dürfen das nicht mit in Ihr Zimmer nehmen. Sie werden also ihr Werk im Dunkeln ausführen.“

„Wahrscheinlich.“

„Das bringt mich auf einen Gedanken. Ihre Zofe hat ungefähr dieselbe Figur wie Sie, gnädiges Fräulein –“

„Ah! Sie meinen?“ fiel sie schnell ein.

„Wenn diese Zofe an Ihrer Stelle –!“

Marion nickte ihm zustimmend zu.

„Gewiß, gewiß!“ sagte sie. „Das könnte gehen.“

„Das Schwierige dabei ist, einen Grund zu finden, daß die Zofe in Ihrem Zimmer schlafen soll.“

„Oh, einen Vorwand werde ich sicher finden, und wenn ich sagen sollte, daß es sich um einen Scherz handle.“

„Wohl! So wird man also dieses Mädchen chloroformieren und fortschaffen.“

„Man wird sie jedenfalls gleich wiederbringen, da man beim ersten Lichtstrahl, welcher auf die Arme fällt, den Irrtum doch sofort bemerken muß.“

„Gewiß. Und wenn sie die Zofe wiederbringen, so ist das der richtige Augenblick, ihnen zu sagen, daß sie durchschaut sind. Sie können dann ihre Absicht nicht leugnen.“

„Ja, ich werde beide niederschmettern und an dieser Genugtuung, die ich nur Ihnen verdanke, sollen Sie auch teilnehmen.“

„Ich soll zugegen sein?“

„Ja.“

„Das wird wohl kaum zu bewerkstelligen sein.“

„Warum?“

„Weil nur die Zofe allein sich hier befinden darf.“

„Ich verstehe. Aber, bitte, kommen Sie einmal.“

Sie ergriff das Licht und führte ihn nach dem Schlafgemach. Es gab da eine schmale Glastür, deren Fenster mit einer Gardine verhangen war.

„Sehen Sie diese Tür?“ fragte sie.

„Gewiß!“ lächelte er.

„Das ist mein Garderoberaum. Wir verbergen uns darin, Sie und ich.“

„Hm! Wenn sie nun hineinblicken.“

„Wir verschließen von innen.“

„Das könnte auffallen!“

„O nein. Warum sollte das Verdacht erregen?“

„Auch würde die Zofe nicht einschlafen, wenn sie wüßte, daß wir uns in der Garderobe befinden.“

„Sie wird nichts davon erfahren. Wir verbergen uns hier, bevor sie schlafen geht.“

„Dann ist allerdings das Gelingen möglich. Wo aber treffen wir uns gnädiges Fräulein?“

„Sie tun, als ob Sie schlafen gehen, kommen aber kurz nach zehn Uhr hierher zu mir, natürlich heimlich. Das übrige aber überlassen Sie mir. Ich werde das Arrangement schon zu treffen wissen.“

„Gut, ich werde Ihnen gehorchen. Natürlich verhalten wir uns tagsüber so, als ob wir gar nichts ahnten.“

„Das ist unumgänglich notwendig. Also, Sie denken nicht, daß ich einen Besuch zu erwarten habe?“

„Auf keinen Fall. Ich werde für Sie wachen.“

„Und ich sehe ein, daß meine Schuld Ihnen gegenüber immer größer wird. Welch ein Unglück für mich, wenn Sie nicht nach Ortry gekommen wären.“

Sie reichte ihm beide Hände entgegen. Er ergriff dieselben. In seinen Augen glänzte es feucht.

„Gnädiges Fräulein, befehlen Sie, so gehe ich für Sie in den Tod!“ sagte er mit zitternder Stimme.

„Nein, mein Lieber, nicht in den Tod!“ antwortete sie. „Sie sind ein seltener Mann. Man sollte gar nicht meinen, daß Sie ein Gelehrter sind. Sie müssen leben, leben und glücklich sein!“

Ihr Busen hob sich unter einem tiefen Atemzug. Es war ihm, als ob er sie jetzt erringen könne, wenn er ein Wort zu ihr sage; aber wäre es edel gewesen, ihre Dankbarkeit in dieser Weise auszubeuten? Nein! Er schüttelte leise den Kopf und antwortete:

„Dank, gnädiges Fräulein. Ihre Worte sind mir mehr wert, als alle Reichtümer der Welt. Wollte Gott, ich könnte noch viel mehr für Sie tun, als ich bisher für Sie tun durfte! Halten wir also treue Kameradschaft! Und gelingt es mir, die Ihnen drohende Gefahr abzuwenden, so bin ich mehr als reich belohnt.“

Sie hatte sich halb abgewendet gehabt; jetzt drehte sie sich ihm wieder zu und sagte:

„Ja, Sie sind ebenso edel wie uneigennützig. Ich blicke bis in die Tiefe Ihres Herzens hinab. Also treue Kameradschaft. Gut, verlassen wir einander nicht! Aber jetzt, jetzt können wir uns wohl gute Nacht sagen?“

„Gewiß. Sie haben nichts zu befürchten.“

„Gut. Schlafen Sie wohl, mein lieber Kamerad! Suchen auch Sie Ruhe, denn morgen werden wir wohl auf den Schlaf verzichten müssen!“

Sie reichte ihm die Hand.

„Noch eins!“ bat er. „Darf ich einen Wunsch aussprechen?“

„Gewiß! Reden Sie!“

„Bitte, wagen Sie sich jetzt noch nicht ohne meine Begleitung in die geheimen Gänge! Sie werden die Gründe begreifen, welche mich zu dieser Bitte veranlassen.“

„Sie haben recht. Ich verspreche Ihnen, nichts zu tun, ohne es Ihnen vorher gemeldet zu haben.“

„Das beruhigt mich! Gute Nacht, gnädige Baronesse!“

„Gute Nacht, Monsieur!“

Er ging. Draußen, als er den Eingang verschlossen hatte, blieb er überlegend stehen.

„Hm!“ dachte er. „Gewiß ist gewiß! Ich werde die Riegel vorschieben. Ah, ich hätte das ja so auch tun müssen, denn ich habe sie ja vorgeschoben vorgefunden.“

Nun begab er sich zuletzt nochmals an das Zimmer des Kapitäns. Er kam gerade recht, um zu sehen, daß dieser sich zum Schlafengehen entkleidete.

„Schön“, dachte er. „So brauche ich nicht zu wachen. Es ist nun ganz sicher, daß heute gegen Marion nichts unternommen wird.“

Jetzt nun suchte er die Treppe wieder auf, welche in das Gemach des Amerikaners führte. Dieser saß, als er bei ihm eintrat, am Tisch. Er hatte das Licht brennen.

„Endlich“, sagte Deep-hill. „Wie lange habe ich auf Sie warten müssen!“

„Ich konnte nicht eher.“

„Ich dachte bereits, daß Sie nicht kommen würden.“

„Oh, ich pflege mein Wort zu halten, hatte aber leider eine Verhinderung, die ich nicht vorhersehen konnte.“

„Bitte, nehmen Sie Platz. Hier sind Zigarren.“

Müller steckte sich eine an. Der Amerikaner sah ihm dabei zu und sagte dann:

„Wissen Sie was Sie sind?“

„Nun?“

„Erstens mir ein Rätsel.“

„Und zweitens?“

„Und zweitens ein außerordentlicher Mann.“

„Danke, Master Deep-hill!“

„Was Sie voraussahen, ist eingetroffen.“

„Ich wußte es.“

„Aber, erklären Sie mir, wie Sie das eben wissen konnten.“

„Ich hatte es einfach berechnet.“

„Aber doch nur auf Grund gewisser Beobachtungen und Erfahrungen, welche Sie hier bereits gemacht haben.“

„Allerdings!“

„Ich möchte einmal ein wenig unbescheiden sein.“

„Versuchen Sie es.“

„Darf ich fragen, welche Erfahrungen es sind, die Sie in den Stand setzen, so genaue Berechnungen zu machen?“

„Ich möchte Ihnen antworten. Monsieur, darf aber nicht.“

„Sie haben kein Vertrauen zu mir?“

„Vorsicht ist nicht gleichbedeutend mit Mangel an Vertrauen.“

„Ich gebe das zu und muß mich also in Ihre Weigerung fügen. Es kommt mir hier verschiedenes unbegreiflich vor, eins aber ist mir sehr begreiflich, nämlich daß Sie es mit mir aufrichtig gemeint haben.“

„Das ist allerdings der Fall. Sie glauben also nun meiner Warnung?“

„Vollständig! Ich halte diesen alten Kapitän Richemonte für einen Schurken.“

„Damit werden Sie wohl keinen Irrtum begehen.“

„Ich glaube ferner, daß er bei der Entgleisung des Zuges die Hand mit im Spiel hatte.“

„Ich habe keine Veranlassung, das zu bestreiten.“

„Ja, gewiß! Sie wissen jedenfalls weit mehr, als Sie sagen wollen. Aber wie kann man es dem Kapitän beweisen?“

„Das muß ich Ihnen überlassen.“

„Die Täter sind entkommen, sonst würde man sie zum Geständnis zwingen.“

„Vielleicht ergreift man sie noch.“

„Darauf möchte ich nicht warten. Es gibt noch einen anderen Weg, die Urheberschaft Richemontes zu beweisen.“

„Ich wäre neugierig, dies zu erfahren.“

„Ich wurde gerettet durch einen Herrn, der sich mit im Coupé befand –“

„Ah, der Pflanzensammler.“

„Ja. Kennen Sie ihn?“

„Alle Welt kennt ihn.“

„Er hat die Täter im Wald belauscht.“

„Auch den Kapitän?“

„Nein. Aber aus dem, was er gehört hat, geht vielleicht die Mitschuld des Alten hervor.“

„Nun, so fragen sie ihn.“

„Der Mann ist leider nicht zu haben. Wie ich erfuhr, hat er den nächsten Zug zu einer Reise benutzt.“

„Jedenfalls kommt er wieder.“

„Ich hoffe es und bin also gezwungen, auf ihn zu warten. Bis dahin aber werde ich Sie ersuchen, mir Ihre Teilnahme nicht zu entziehen.“

„Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung und bin, soweit es in meinen Kräften steht, zu Diensten bereit.“

„So sagen Sie mir aufrichtig, was ich von dem Kapitän zu befürchten habe.“

„Ich ziehe vor, Ihre eigene Meinung zu hören“, antwortete Müller vorsichtig.

„Nun, ich bin jetzt überzeugt, daß er sich in den Besitz meines Geldes setzen will.“

„Das glaube ich ebenfalls.“

„Und zwar durch ein Verbrechen.“

„Vermutlich!“

„Einen Mord?“

„Ich widerstreite Ihnen nicht.“

„So wäre es eigentlich am besten, ich entfernte mich einfach.“

„Einen besseren Rat kann auch ich Ihnen nicht geben.“

„Aber das widerstreitet meinem Charakter. Dieser alte Bösewicht soll sich in seiner eigenen Schlinge fangen.“

„Ich möchte Sie sehr zur Vorsicht mahnen.“

„Pah! Nun ich gewarnt bin, habe ich nichts mehr zu fürchten. Ich werde den Unbefangenen spielen.“

„Bis Sie der Gefangene werden!“

„Keine Sorge! Ich bin empört über ihn. Ich komme über die See herüber, um seiner Sache zu dienen, und aus Erkenntlichkeit dafür will er mich morden! Wenn dies keine Strafe verdient, dann braucht überhaupt nichts bestraft zu werden. Noch habe ich keinen Beweis gegen ihn in den Händen; ich werde mir aber solche Beweise verschaffen, selbst wenn ich dabei auf fremde Hilfe verzichten müßte.“

„Wie wollen Sie das beginnen?“

„Indem ich ihm scheinbar vertraue.“

„Glauben Sie wirklich, ihn täuschen zu können?“

„Ich kenne mich; ich werde es fertigbringen.“

„Oh, er ist ein schlauer Fuchs!“

„Selbst der Fuchs geht ins Eisen! Ich werde ganz so tun, als ob ich auf seine Absichten eingehe.“

„So sind Sie verloren.“

„O nein! Ich brauche nur meine Anweisungen nicht zu unterschreiben, so bin ich sicher, daß mir nichts geschieht.“

„Das scheint so; ich denke es auch; aber der Alte ist beinahe unberechenbar.“

„Sie berechnen ihn doch auch, und zwar mit Erfolg.“

Müller zuckte die Achsel und antwortete:

„Es hat ein jeder seine eigene Weise im Rechnen; daher gelingt dem einen sehr leicht, worüber sich ein anderer vergebens den Kopf zerbricht.“

Der Amerikaner zog die Brauen zusammen.

„Halten Sie mich vielleicht für einen Dummkopf?“ fragte er.

„Nein, aber für einen heißblütigen Charakter. Es ist das ein Vorzug, kann aber auch leicht zum Schaden ausschlagen.“

„Nun, zunächst bin ich noch im Vorteil: Ich habe meinen Verdacht, wovon der Alte gar nichts ahnt, ich habe ferner Ihre Warnung, welche Sie nicht ohne triftigen Grund ausgesprochen haben werden, und ich bin schließlich im Besitz des Geheimnisses, daß es hier verborgene Örtlichkeiten gibt.“

„Dieser Besitz wird Ihnen nicht viel helfen.“

„Ah pah! Ich werde den geheimen Gang, durch welchen der Alte zu mir kam, und durch welchen auch Sie gekommen sind, untersuchen!“

„Ich rate Ihnen sehr, dies zu unterlassen. Verlassen Sie das Schloß. Sie sind überall in Sicherheit, nur hier nicht!“

„Sie mögen recht haben; aber ich fühle mich gereizt, den Kampf mit diesem alten Spitzbuben unmittelbar zu führen. Können Sie mich über den verborgenen Gang aufklären?“

„Ich kenne diese Heimlichkeit selbst noch nicht vollständig.“

„Ah, Sie bleiben zurückhaltend! Das tut mir leid. Ich sagte Ihnen bereits, welche Teilnahme ich Ihnen widme!“

„Ich bin Ihnen dankbar, Monsieur. Ich habe Ihnen bewiesen, daß diese Teilnahme eine gegenseitige ist.“

„Gewiß! Aber wenn Sie ein wenig aufrichtiger sein wollten, würde ich mich viel glücklicher schätzen.“

„Vielleicht ist mir dies später möglich. Sie wissen, daß ich nicht das bin, was ich zu sein scheine. Sie wissen, daß ich den Kapitän genau kenne, daß ich ihn beaufsichtige. Ich bitte Sie, auf meine Warnung zu hören und das Schloß baldigst zu verlassen.“

„Das kann mir keinen Nutzen bringen. Sie wissen, daß ich an diese Gegend gebunden bin –“

„Das begreife ich nicht. Sie kommen, um mit dem Kapitän ein Geschäft abzuschließen; Sie sehen, daß er Sie betrügt, ja, daß er das Schlimmste sinnt – was ist es, was Sie an ihn binden könnte?“

„Ah, ihn meine ich nicht. Es gibt eine ganz andere Person, welche mich veranlaßt, in dieser Gegend zu bleiben. Ich nehme an, daß Sie erraten, wen ich meine. Habe ich nun einmal die Absicht, in dieser Gegend zu bleiben, warum denn nicht auch hier im Schloß?“

„Weil dies für Sie der gefährlichste Ort ist.“

„O nein! In der Höhle des Löwen ist man oft sicherer als außerhalb derselben. Der Kapitän kann mich finden, ob ich hier wohne oder in Thionville.“

Müller erhob sich von seinem Sitz und sagte:

„Ich kann mir ein Recht, auf Ihre Entschlüsse und Bestimmungen einzuwirken, nicht anmaßen; ich habe es gut gemeint.“

„Das sehe ich auch ein. Ich weiß, daß unsere Bekanntschaft zu jung ist, als daß Sie mir alles mitteilen könnten; ich strebe also danach, mir Ihr Vertrauen zu erwerben, und dies wird mir leichter, wenn ich da wohne, wo auch Sie sich befinden – abermals ein Grund, in Ortry zu bleiben.“

„Nun, so habe ich für jetzt nur eine Bitte.“

„Sie ist Ihnen gewährt. Sprechen Sie!“

„Lassen Sie keinen Menschen ahnen, daß Sie von mir gewarnt worden sind.“

„Ich werde schweigen.“

„Und was auch passieren möge, verraten Sie nicht, daß ich den heimlichen Gang kenne und Sie mit Benutzung desselben hier besucht habe!“

„Auch das verspreche ich Ihnen, möchte aber allerdings gern eine Gegenbitte aussprechen.“

„Lassen Sie hören!“

„Ich bemerke, daß Sie in einem Ton mit mir verkehren, wie es zwischen Personen gebräuchlich, welche sich Höflichkeit schulden, aber auch nichts weiter als Höflichkeit. Sie äußern zwar Teilnahme für mich, aber eine Teilnahme, wie man sie für einen jeden Menschen hat, der sich die Freundlichkeit seiner Mitbrüder nicht verscherzt hat. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß mir dies nicht genügen kann.“

Über Müllers Gesicht glitt ein sehr bezeichnendes Lächeln.

„Das klingt ja außerordentlich diktatorisch!“ sagte er.

„Sehen Sie, bitte, von dem äußeren Klang ab! Ich strebe nach Ihrer Freundschaft; ich sehe ein, daß diese nicht im Sturm erobert werden kann, aber ebenso deutlich erkenne ich, daß irgend etwas zwischen uns liegt, was ich leider nicht zu bestimmen vermag. Es ist irgend etwas Unwägbares, irgend etwas nicht mit den Händen zu Greifendes, was aber trotzdem da ist und auch trotzdem seine Wirkung äußert. Ich würde Ihnen zum größten Dank verpflichtet sein, wenn Sie mir offen und ehrlich sagen wollten, was dieses unbestimmbare Hindernis eigentlich ist!“

„Ja, ja“, nickte Müller bedächtig; „ich halte Sie für einen Südländer, und ich habe damit jedenfalls das Richtige getroffen. Man will über den Fluß hinüber, und so springt man mit beiden Beinen zugleich in das Wasser, ohne nur vorher zu überlegen, ob man schwimmen gelernt hat oder nicht!“

„Kann ich gegen meine Natur, gegen mein Temperament?“

„Nein, aber mäßigen kann man dieses Temperament! Doch, rechten wir nicht.“

„Wollen Sie sagen, daß ich nicht recht habe?“

„Das behaupte ich nicht.“

„Sie geben also zu, daß irgend etwas zwischen uns liegt, was eine herzliche Annäherung verhindert?“

„Ja, ich gebe es aufrichtig zu.“

„Gott sei Dank! Darf ich nun aber auch dieses so fatale Hemmnis kennenlernen?“

„Sie werden es kennenlernen, zu seiner Zeit; jetzt ist mir noch nicht erlaubt, es zu sagen.“

„Liegt es in meiner Person?“

„Nein; diese wäre mir ja ganz und gar sympathisch, wie ich Ihnen offen gestehe.“

„Oder in meinen Verhältnissen?“

„Nein, denn diese Verhältnisse sind mir unbekannt.“

„Worin dann sonst? Vielleicht in meinen Anschauungen und Intentionen?“

„Ja, das ist das Richtige.“

„Dann wird es mir nicht schwer werden, das, was sie mir noch nicht mitteilen dürfen, zu erraten. Also es handelt sich um meine Anschauungen? Etwa um die religiösen?“

„Nein.“

„Die politischen?“

Müller ließ ein leises Pfeifen hören, wiegte den Kopf hin und her und antwortete dann:

„Mein verehrtester Master Deep-hill, Sie sehen doch ein, daß ich Ihnen Ihre Fragen nicht weiterhin beantworten kann.“

„Warum nicht?“

„Sehr einfach: Wenn ich Ihnen etwas nicht mitteilen darf, so ist es mir jedenfalls auch verboten, es Sie erraten zu lassen. Das eine wäre dann ganz genauso wie das andere.“

„Gut, ich verstehe! Ich glaube aber, bereits beim Erraten zu sein, und versichere Ihnen, über Ihre Worte nachzudenken.“

„Tun Sie das. Ein gutes Nachdenken ist in keiner Lage überflüssig. Es sollte mich freuen, wenn unsere Bekanntschaft eine gewinnreiche für Sie werden könnte!“

„Das ist ja mein Wünschen und Sehnen. Ich habe gelitten, was Tausende nicht zu tragen vermöchten. Ich habe mich elend gefühlt, elend und verlassen, wie selten einer. Ich hatte ein Glück verloren, wie es größer keines geben konnte, und ich wanderte rast- und ruhelos, um es wiederzufinden. Jetzt ist es, als wolle mir nach langer Finsternis eine neue Morgenröte leuchten. Soll es eine Täuschung sein? Soll es für mich allein kein Sternchen geben, wo doch über dem Allerärmsten die Sonne Gottes leuchtet?“

Er hatte aus dem tiefsten Innern heraus gesprochen. Sein Blick hing fast wie mit Angst an Müllers Auge. Dieser war selbst tief gerührt. Er streckte ihm die Hand entgegen und antwortete:

„Warum sollten Sie verzagen? Ich bin gewiß, daß es auch für Sie noch einen Strahl des Lichtes gibt. Aber wenn Sie so sehr und so viel bitten, so sagen Sie mir, in welchem Land Ihr Weh seinen Anfang nahm!“

„Hier, in Frankreich.“

„Warum kehrten Sie zurück? Warum werfen Sie sich mit Gewalt der bösen Erinnerung in die Arme? Warum bringen Sie einem Land Opfer, dem Sie bereits das größte Opfer, Ihr Lebensglück, gebracht haben?“

Deep-hill blickte sinnend vor sich nieder.

„Es liegt in Ihrer Frage etwas mir Unverständliches“, sagte er; „aber obgleich ich es nicht verstehe, fühle ich doch, daß es ein Fingerzeig für mich sein soll, eine Mahnung, eine Warnung, der ich gern gehorchen möchte.“

„Sie raten ganz richtig, Monsieur! Ich meine, Sie haben ein Herzensglück verloren. Suchen Sie sich jetzt ein solches, warum werfen Sie sich denn äußeren Eventualitäten in die Arme, von denen Sie ein Glück niemals zu erwarten haben? Wenn Sie jetzt dem König Schach bieten, so haben Sie doch nicht nötig, auch va banque zu spielen. Sie erfahren es an dem alten Kapitän, daß Sie dabei doch nur zugrunde gehen! Hier meine Hand! Ich fühle, daß ich Sie liebhaben könnte! Denken Sie über meine Worte nach und finden Sie das Richtige, so wird es sicherlich zu Ihrem Glück sein! Jetzt gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ wiederholte der Amerikaner mechanisch.

Sein Blick folgte Müller, wie dieser sich durch den geheimen Eingang entfernte und dann das Getäfel wieder in die rechte Lage brachte. So stand er eine ganze Weile. Endlich ging ein helles Leuchten über sein Gesicht.

„Es wird sicherlich zu Ihrem Glück sein!“ wiederholte er. „Ah, sie liebt mich! Er hat mit ihr gesprochen. Sie liebt mich; er hat es erfahren. Ich werde glücklich sein – aber nur dann, wenn ich das Richtige finde! Was aber ist das? Was hat er damit gemeint? Ich muß mir ein jedes seiner Worte wiederholen. Er hat mit ganzer Überlegung gesprochen, und ein jedes seiner Worte hat Bedeutung. Er ist ein ganzer Mann, und ich muß erfahren, was er gemeint hat!“ –

Der nächste Tag verging ohne besondere Ereignisse. Müller hatte sich mit seinem Schüler zu beschäftigen, und am Nachmittage fuhr Marion nach Thionville, um ihre neue Freundin, Miß de Lissa, zu besuchen. Der alte Kapitän hatte sich nur während des Mittagessens sehen lassen und kam auch während des Abendbrots nur für wenige Augenblicke in den Speisesaal. Rallion, der jüngere, hütete das Zimmer; sein Vater war abgereist.

So nahte die Zeit, in welcher man zur Ruhe zu gehen pflegt. Müller verschloß seine Wohnung und schlich sich nach derjenigen Marions.

Das schöne Mädchen hatte bereits auf ihn gewartet.

„Willkommen!“ sagte sie. „Sind Sie mit allem versehen?“

„Ja.“

„Die Laterne?“

„Ich habe sie mit.“

„Waffen?“

„Zwei Revolver, also mehr als genug.“

„So wollen wir uns auf unseren Beobachtungsposten zurückziehen. Kommen Sie!“

Sie verlöschte das Licht und führte ihn in die Garderobe, in welcher eine Kerze brannte. Sie verschloß die Tür hinter sich. Man konnte von hier aus durch die dünnen Gardinen alles bemerken, was im Schlafzimmer vor sich ging.

„So, setzen wir uns“, sagte Marion. „Ich habe diese beiden Sessel selbst heimlich herbeigeschafft.“

In der Nähe der Tür standen zwei solche nebeneinander, auf denen die beiden Platz nahmen.

„So! Nun kann es beginnen“, meinte die Baronesse, nachdem sie das Licht ausgeblasen hatte.

„Wird die Zofe hier schlafen?“

„Ja. Ich habe freilich ein – ein gewisses Opfer bringen müssen.“

„Das bedaure ich sehr.“

„Es ging nicht anders; es gab keinen stichhaltigen Grund als nur diesen einzigen.“

Sie sprach nicht weiter. Müller hätte diesen Grund sehr gern kennengelernt, unterließ aber jede Frage, da dies als zudringlich erschienen wäre. Doch sie fuhr freiwillig fort:

„Sie müssen nämlich wissen, daß ich ein sehr romantisch gestimmtes Wesen bin.“

„Davon habe ich noch nichts bemerkt.“

„Oh, doch“, lachte sie leise vor sich hin. „Denken Sie sich: Ich habe über mein Herz verfügt!“ *

„O wehe!“

„Ich bin in dem glücklichen Besitz eines heimlich Angebeteten.“

„Der Beneidenswerte!“

„Es ist mir aber verboten worden, ihm zu gehören.“

„Das ist sehr traurig.“

„Darum sehen wir uns auch nur heimlich.“

„Wie rührend, aber unvorsichtig!“

„Auch heute erwartet er mich!“

„Der Ritter Toggenburg!“

„Ich fliege zu ihm!“

„Glückliche Schwalbe!“

„Aber die Baronin hat eine Ahnung. Sie könnte sich überzeugen wollen, daß ich anwesend bin, daß ich schlafe.“

„Der Knoten löst sich mehr und mehr.“

„So muß also die Zofe an meiner Stelle schlafen.“

„Haben Sie ihr das alles geradeso gesagt?“

„O nein! Das würde mir eine Unmöglichkeit gewesen sein. Ich habe sehr, sehr wenig gesagt, sie aber viel erraten lassen. Hat sie ihre Phantasie zu sehr in Tätigkeit gesetzt, so ist das nun nicht meine Schuld.“

„Sie wird übrigens sehr bald in Erfahrung bringen, weshalb sie veranlaßt wurde, Ihre Stelle einzunehmen. Ah! Sehen Sie? Die Zofe kommt!“

Die Genannte trat ein, mit einem Licht in der Hand. Sie sah sich um, verschloß die Tür des Wohnzimmers und machte es sich dann im Schlafzimmer bequem. Sie nahm einige Bücher aus dem Schrank und blätterte nach Bildern, bis sie müde zu werden schien. Dann entkleidete sie sich, verlöschte das Licht und legte sich schlafen.

Während der letzten zehn Minuten hatte Müller sich vom Stuhl erhoben und war an das Fenster getreten. Als das Licht verlöschte, kehrte er zu seinem Sitz zurück.

„Es ist bereits halb zwölf“, flüsterte Marion. „Wann denken Sie, daß sie kommen?“

„Wer weiß es! Jedenfalls kommen sie nicht eher, als bis sie denken, daß Sie fest schlafen, gnädiges Fräulein.“

„Das ist eine kleine Geduldsprobe für uns.“

„Bitte, ruhen Sie immerhin. Ich werde wachen.“

„Oh, meinen Sie, daß ich schlafen könnte? Nein. Ich bin in so gespannter Erwartung, daß es mir unmöglich wäre, auch nur zwei Augenblicke zu schlafen.“

Von nun an schwiegen beide. Es verging Viertelstunde um Viertelstunde, bis die erste Stunde nahe war. Man hörte die Zofe leise schnarchen. Da zuckte Marion zusammen.

„Hören Sie?“ flüsterte sie.

„Ja. Sie kommen. Sie haben an einen Stuhl gestoßen.“

Beide lauschten mit angehaltenem Atem. Während der Zeit von einigen Minuten war nichts zu hören; dann aber vernahmen sie ein Geräusch, wie wenn Federbetten bewegt werden. Nachher waren Schritte zu vernehmen, auf welche jetzt nicht mehr die vorige Sorgfalt verwendet wurde. Dann wurde es wieder still.

„Es ist geschehen“, sagte Marion leise.

„Sie werden ihren Irrtum bemerken und bald wiederkommen.“

„Gott! Erst jetzt fühle ich so deutlich, welcher Gefahr ich entgangen bin. Monsieur, wie sehr, sehr danke ich Ihnen.“

Er fühlte seine Hand ergriffen. Er faßte ihr Händchen und wagte es, dasselbe an seine Lippen zu ziehen. Sie duldete es. Er küßte diese schöne warme Hand wieder und immer wieder, und sie entzog sie ihm nicht. Er gab die Hand nicht wieder frei; er hielt sie fest zwischen seinen Händen, und sie widerstrebte auch jetzt noch nicht. Ja, nach einiger Zeit fühlte er eine Berührung seiner Schulter. Eine wahrhaft himmlische Wonne durchströmte seinen ganzen Körper. Ihr Köpfchen war auf seine Achsel niedergesunken, und da ließ sie es ruhig und vertrauensvoll liegen.

War sie ermüdet? War sie doch noch eingeschlafen? Er fragte es sich gar nicht. Er hatte gar keinen Raum für diese Frage; er war ja ganz erfüllt von der Wonne, die ihn durchflutete.

So saßen sie nun abermals Viertelstunde um Viertelstunde, ohne zu sprechen, ja sogar ohne sich zu bewegen, bis sich dann unten vom Hof herauf Pferdegetrappel hören ließ.

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