DRITTES KAPITEL Ein Zug entgleist

Sie klommen an der Seite des Bruchs hinauf, gerade wie Müller damals, als er Alexander rettete, und sahen die betreffende Ecke des Waldes in der Ferne. Sie hielten gerade auf dieselbe zu und folgten auch dann noch ganz derselben Richtung, als sie sich im Wald befanden.

So mochten sie wohl eine halbe Stunde durch Büsche und Sträucher gestrichen sein, als Müller sagte:

„Nach deinem Rapport müssen wir in der Nähe sein.“

„Ich denke es. Von der Richtung sind wir nicht abgekommen.“

„So laß uns jetzt größere Vorsicht anwenden. Ein Ort, der zu heimlichen Versammlungen dient, ist wichtig genug, um bewacht zu werden. Wir müssen immer annehmen, daß irgend jemand hier steckt, vor dem wir uns nicht sehen lassen dürfen.“

„Wollen wir uns nicht lieber teilen?“

„Du meinst trennen? Ja. Aber verlieren dürfen wir uns trotzdem nicht. Wer das Loch zuerst findet, der gibt dem anderen ein Zeichen.“

„Welches?“

„Kannst du Vogelstimmen nachmachen?“

„Nur den Kuckuck.“

„Das genügt. Also wer das Trou zuerst findet, der schreit Kuckuck.“

Sie trennten sich und schlichen sich nun so vorsichtig wie möglich weiter. Die Bäume traten dichter zusammen, und zwischen den Stämmen wucherte üppiges Unterholz. Nach einer Weile ertönte der Ruf des Kuckucks. Müller wandte sich nach der Seite zu, von der er erschollen war, und stieß bald auf Fritz, welcher vor einem Gebüsch stand, dessen Zweige er auseinandergeschoben hatte.

„Hast du es?“ fragte Müller.

„Ja. Das muß es sein!“

Sie standen vor einer ziemlich tiefen, trichterförmigen Bodensenkung, welche einen Durchmesser von wenigstens sechzig Metern hatte. Der Rand derselben war von Strauchwerk eingefaßt, und selbst bis auf den tiefsten Punkt hinab standen Baum an Baum, und zwischen den Bäumen wucherten Brombeerranken und Farnkräuter. Hier und da war ein großer, mit grünem Moos bedeckter Stein zu sehen. Das Ganze hatte das Aussehen, als sei vor Jahrhunderten hier das Mundloch eines Schachtes zugefüllt worden und die Erde dann nachgesunken.

„Ja, es ist's! Wir sind an Ort und Stelle“, sagte Müller.

„Nicht übel als Versammlungsort!“

„Ja; er liegt tief und faßt mehrere hundert Menschen, die von oben von einem, der nichts ahnt, gar nicht bemerkt werden.“

„Und wie prächtig läßt es sich da lauschen! Man steckt sich einfach in das Gebüsch –“

„Und wird erwischt und tüchtig durchgeprügelt!“ fiel Fritz ein.

„Da müßte man es dumm anfangen.“

„Ob man gut herankommen kann? Diese Leute werden wohl klug genug sein, Wachen auszustellen!“

„So sputet man sich, eher hier anzukommen als sie.“

„Allerdings. Aber leider muß ich heim, da man von meinen nächtlichen Exkursionen keine Ahnung haben darf.“

„Mich erwartet kein Mensch; ich kann also bleiben.“

„Recht so. Es ist jedenfalls besser, den Ort gleich von jetzt an im Auge zu behalten, damit uns nichts zu entgehen vermag. Vorher aber laß uns genau nachsehen, ob wir auch wirklich die einzigen Menschen sind, welche sich hier befinden.“

Sie suchten erst die Umgebung ab, konnten aber nichts Verdächtiges bemerken. Dann stiegen sie in die Vertiefung hinunter, und auch hier war keine Spur zu finden, daß sich jemand vielleicht versteckt habe.

„Ob man hier öfter Versammlungen abhält?“ fragte Fritz.

„Wohl nicht.“

„Warum nicht?“

„Sonst müßte das Moos und das Gerank mehr niedergetreten sein.“

„Das ist richtig. Aber schau! Siehst du, wie regelmäßig hier auf dieser Seite alles wächst und wie jedes Blättchen liegt, als ob es gerade so und nicht anders stehen dürfe?“

„Wahrhaftig! Es ist, als ob man alles mit der Hand geordnet habe.“

„Nun, mit der Hand wohl nicht, aber mit einem Rechen.“

„Das ist wahr, Herr Doktor! Hier wird sehr oft gerecht, das sieht man ganz genau.“

„Diese Entdeckung ist sehr wichtig. Erstens läßt sich daraus schließen, daß derartige Versammlungen häufiger vorkommen, als wir erst dachten, und sodann geht man dabei so vorsichtig um, das niedergetretene Gepflanz mit dem Rechen wieder aufzurichten.“

„Aber warum nur auf dieser Seite und nicht auch anderswo? Die Rechenspur ist nur hier zu bemerken und auch sie ist kaum zwei Ellen breit. Sie kommt von dem Rand des Lochs herab und hier hört sie schon auf.“

„Das bringt mich auf den Gedanken, daß es hier einen Weg gibt, der nach dem Gebrauch stets wieder maskiert wird. Das kann uns heute abend von Nutzen sein. Jetzt aber wird es unter den Bäumen bereits dunkel. Ich muß aufbrechen.“

Nachdem sie aus dem Loch gestiegen waren, fragte Fritz:

„Aber wo treffen wir uns am Abend?“

„Das läßt sich nicht auf die Elle bestimmen. Stelle dich hier an den Rand und blicke gerade nach der Blutbuche hinüber. Auf dieser geraden Linie werde ich mich anschleichen. Ich hoffe, daß ich halb elf Uhr an der Buche sein werde. Finde ich dich nicht da, so bin ich überzeugt, daß du dich auf der angegebenen Linie dem Loch genähert hast, ich werde dann folgen, bis ich dich finde.“

„Und ein besonderes Erkennungszeichen?“

„Brauchen wir nicht. Es könnte uns gefährlich werden. Du hast Waffen bei dir?“

„Genug.“

„Und etwas gegen den Hunger?“

„Das habe ich vergessen.“

„So werde ich dir etwas mitbringen. Also, halte gute Wacht, aber laß dich ja nicht erblicken!“

Sie trennten sich. Fritz suchte ein möglichst gutes Versteck unter den Sträuchern, und Müller wanderte raschen Schritts dem Schloß zu. Die Dämmerung war angebrochen, und als er die Freitreppe emporstieg, sah er Marion aus der Tür ihres Zimmers treten. Indem sie an ihm vorüberschritt, raunte sie ihm zu:

„Zum Kapitän befohlen!“

„Nur Mut!“

Dann begab er sich hinauf in sein Zimmer, ließ aber die Tür offen, um hören zu können, wenn Marion den Alten wieder verließ.

Als das mutige Mädchen bei dem letzteren eintrat, befand sich, gerade wie früher, die Baronin bei ihm. Er zeigte eine womöglich noch finsterere Miene und sagte in zornigem Ton:

„Weißt du, was nach unserer Unterredung zwischen dir und der Baronin in deinem Zimmer gesprochen worden ist?“

„Ja, sehr genau.“

„Und zwar in Gegenwart deiner Gesellschafterin.“

„Nanon war allerdings bei mir.“

„Du hast gesagt, daß wir beide einander wert seien?“

„So war es.“

„Wie hast du das gemeint?“

„Genau so, wie ich es gesagt habe.“

„Diese Worte sind höchst zweideutig. Wüßte ich, daß du die weniger gute Bedeutung beabsichtigt hättest, so würdest du deiner Strafe nicht entgehen.“

„Ich überlasse es euch beiden, die Bedeutung herauszulesen.“

„Du hast gehört, daß ich dir nur bis zu dem gegenwärtigen Augenblick Zeit zur Entscheidung gegeben habe.“

„Das war überflüssig.“

„Ich werde dir das Gegenteil beweisen. Also, was hast du beschlossen?“

„Ich habe meinen Entschluß nicht geändert.“

„So werde ich ihn zu ändern wissen.“

Sie wendete sich nach der Tür und fragte:

„Hast du noch etwas zu bemerken?“

„Jawohl!“ donnerte er sie an. „Ich habe dir nämlich zu bemerken, daß ich dich heute abend mit dem Oberst Rallion in aller Form und Gültigkeit verloben werde!“

Da zuckte sie ganz stolz und kalt die Achseln und sagte:

„Ich möchte doch wissen, wie du das fertigbringen wolltest.“

„Ich werde es dir beweisen.“

„Pah! Ich will dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich würde ‚Nein‘ sagen, und dann wollte ich den Frechen doch sehen, der es wagte, mich als seine Verlobte zu bezeichnen!“

„Ich werde dich sogar zwingen, mich in diese Verlegenheit zu bringen. Du bleibst jetzt hier bei mir, bis ich dich selbst in den Salon führe. Setz dich.“

Da klang ein kurzes, silbernes Lachen von ihren Lippen.

„Mache dich nicht lächerlich“, sagte sie. „Heute mittag war es mir nicht erlaubt, Platz nehmen zu dürfen, und jetzt beliebt es dir, mich zum Sitzen zu befehlen. Wann wirst du nur endlich einmal einsehen, daß ich nicht mehr buchstabieren gehe! Solche Fehler solltest du unterlassen!“

„Das ist stark! Das ist zu stark!“ rief die Baronin, zitternd vor erkünstelter Empörung.

Der Alte stand starr und steif mitten im Zimmer. So etwas war ihm noch nicht passiert, so etwas wagte man ihm in seinem eigenen Zimmer zu sagen. Die Haare seines Schnurrbarts sträubten sich empor, wie die Mähnenborsten einer Hyäne, seine Zähne knirschten aufeinander, und dann stieß er mit vor Grimm heiserer Stimme hervor:

„Das wagst du mir, mir, mir zu sagen, Mädchen! Auf der Stelle kniest du nieder, um mir Abbitte zu tun!“

Er deutete mit der Hand auf den Boden, gerade vor sich hin. Er zitterte am ganzen Körper vor Wut.

„Ich knie vor Gott“, antwortete sie, „nie aber vor einem Menschen, am allerwenigsten vor dir.“

Da stieß er einen geradezu tierischen Laut aus, faßte sie am Arm und schrie:

„Gut, nicht hier, nicht hier! Ganz wie du willst! Aber unten, unten sollst du kniend Abbitte leisten, öffentlich vor den Gästen und vor aller Dienerschaft. Du sollst gezwungen werden, laut zu erzählen von –“

Mit einem kräftigen Ruck zog sie den Arm aus seiner Hand und fiel mit lauter, drohender Stimme ein:

„Gezwungen werden? Ich brauche zum Erzählen nicht gezwungen zu werden. Ich werde freiwillig erzählen, laut und öffentlich, ganz so, wie du es hier verlangt hast, so laut, daß jedermann es hören kann, von dem Fruchthändler Malek Omar –“

Sie machte hier mit Bedacht eine Kunstpause. Die Baronin blickte erstaunt auf. Der Alte aber fuhr erschrocken zurück.

„Von Ben Ali, seinem Gefährten“, fuhr sie fort.

„Was weißt du von Malek Omar!“ rief er.

„Gerade so viel wie von Hadschi Omanah, der mit seinem Sohne ermordet wurde!“

Da fuhr er sich mit beiden Händen nach dem Kopf. Die Haare, so wenig er ihrer hatte, wollten ihm schier in die Höhe stehen. Es wurde ihm blau und rot vor den Augen, es summte und brummte ihm in den Ohren, und er griff nach dem Tisch, um nur einen Halt zu finden.

Aber seine eiserne Konstitution war des Anfalls bald Herr geworden. Er wendete sich zur Baronin:

„Bitte, verlassen Sie uns. Es ist nicht nötig, daß Sie Zeuge der Züchtigung sind, welche ich dieser Person erteilen werde.“

Das war der Baronin genug. Marion gezüchtigt! Vielleicht gar körperlich! Welch eine Genugtuung für die Frau, welche so eifersüchtig auf die Schönheit ihrer Stieftochter war. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, warf einen schneidend höhnenden Blick auf das Mädchen und sagte:

„Verdient hat sie die schärfste Strafe. Nachsicht wäre hier Sünde.“

Damit rauschte sie zur Tür hinaus.

Der Alte wartete wortlos, bis ihre Schritte verklungen waren, sodann kreuzte er die Arme über die Brust und fragte in einem Ton, der fast pfeifend aus der Kehle drang:

„Jetzt heraus! Was weißt du von Hadschi Omanah!“

„Daß er ermordet wurde, er und sein Sohn!“

„Ah! Von wem? Von wem?“

„Von Malek Omar und Ben Ali.“

„Das ist Lüge, dreifache, zehnfache Lüge!“

„Das ist Wahrheit, die lautere Wahrheit.“

„Welchen Grund sollten sie gehabt haben, ihn zu ermorden?“

„Der Dokumente wegen, welche sie ihm abnehmen wollten.“

Er holte tief und ängstlich Atem.

„Woher weißt du das?“ fragte er. „Wer hat es dir gesagt?“

„Das ist mein Geheimnis.“

„Oho! Ich muß es wissen!“

„Du? Du weißt mehr, als ich dir zu sagen brauche. Aber sprich noch einmal von meiner Verlobung oder gar von einer Züchtigung, so wird auch der Richter alles erfahren. Du hast niemals Erbarmen gehabt, nun erwarte auch keines von mir!“

Bei diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Die Tür der Baronin war geöffnet, sie hatte hören wollen, welcher Art die angedrohte Züchtigung sein werde. Sie fand gar nicht Zeit, zurückzutreten, als Marion vorüberging, von der sie keinen einzigen Blick erhielt. Sie begann zu ahnen, daß der Alte dieses Mal unterlegen sei.

Auch jetzt fand Marion die Freundin ihrer wartend. Nanon hatte jedenfalls mehr Angst ausgestanden als Marion.

„Nun, wie ist es abgelaufen?“ fragte sie.

„Sehr gut. Ganz zur Zufriedenheit“, antwortete Marion.

„Das war ja kaum zu denken, da du beschlossen hattest, dich nicht zu fügen.“

„Ich hab mich nicht gefügt und dennoch gesiegt.“

„Infolge des guten Gedankens, von dem du vorhin sagtest, daß er dir während des Spazierganges gekommen sei?“

„Ja.“

„Weicher Gedanke war das?“

„Doktor Müller.“

„Ah! Du hast ihn getroffen?“

„Im Steinbruch.“

„Und der Gedanke kam von ihm.“

„Ja. Er hat mir einen Rat gegeben, ich befolgte ihn und habe alle Ursache, mit der Wirkung zufrieden zu sein.“

„Wenn er dir einen Rat gegeben hat, so mußt du ihn doch um einen solchen gebeten haben?“

„Allerdings.“

„Du hast ihm also von der geplanten Verlobung erzählt? Das scheint mir aber sehr vertraulich, sehr intim zu sein.“

„Vielleicht doch nicht. Er ist der Mann, dem man ganz unwillkürlich mehr erzählt als jedem anderen. Ich wiederhole es: Man muß ihn nicht nur achten, sondern man könnte ihn sogar lieben.“

„Lieben und – küssen, wie du heute sagtest!“

„Oh, gerade jetzt könnte ich ihm einen Kuß geben, einen wirklich herzlichen Kuß für den Rat, mit dem er mich aus dieser drohenden Verlegenheit befreit hat.“ –

Droben ging der Alte zähneknirschend in seiner Stube auf und ab. Er ballte die Fäuste, stieß halblaute, deutliche und undeutliche Flüche aus und murmelte dabei:

„Sie ist mir entgangen, aber nur für heute, höchstens noch für morgen! Wer hat ihr zu diesem Schachzug verholfen? Wer weiß von jener Nacht am Auresgebirge? Kein Mensch! Kein Mensch war dabei. Sollte er selbst geplaudert haben, der Baron, der Verrückte? Ich glaube es nicht. Er verrät nie etwas, nie, selbst in seinen schwächsten Stunden nicht. Aber sie wird beichten müssen, und dann wehe ihr! Ich werde sie doch einsperren, um sie unschädlich zu machen, und dann wird sie nur als Gräfin Rallion ihre Freiheit wieder erlangen!“ –

Unterdessen lag Fritz im Wald und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Es war dunkel geworden. Zeit um Zeit verrann; es mochte gegen zehn Uhr sein, da ließ sich ein Rascheln hören, und nahende Schritte waren zu vernehmen. Zwei Männer kamen, gingen an Fritz vorüber und blieben dann am Rand der Schlucht stehen. Der eine stieß einen ziemlich lauten Pfiff aus. Als keine Antwort erfolgte, meinte er zu dem anderen:

„Wir kommen zu zeitig, es ist noch kein Mensch da.“

„Das ist gut, denn so können wir vorher mit unserer Angelegenheit fertig werden.“

„Also, du stimmst bei?“

„Wieviel pro Mann?“

„Fünftausend Franken.“

„Das ist wenig. Der Kerl soll ja Millionen bei sich haben!“

„Aber das Geld kommt ja alles in unsere Kasse.“

„Und gefährlich ist es!“

„Schwachkopf! Welche Gefahr bringt es denn, einem Verwundeten in die Taschen zu greifen, um ihm das Portefeuille wegzunehmen!“

„Mag sein! Wie viele sind wir?“

„Drei Personen; das ist genug.“

„Das genügt allerdings. Doch wißt ihr auch genau, mit welchem Zug er kommt?“

„Mit dem Mittagszug von Trier aus. Er kommt aus New Orleans, hat einen englischen Namen und heißt, glaube ich, Deep-hill.“

„Wunderlicher Name!“

„Na, also machst du mit? Oder soll ich einen anderen engagieren?“

„Hm! Fünftausend Franken sind ein schönes Geld!“

„Das versteht sich. Es ist ein großer Unterschied, sie zu haben oder nicht. Entschließe dich kurz, ehe die anderen kommen.“

„Also der Alte will es haben?“

„Er hat es sogar befohlen.“

„Na, da mag es denn gewagt sein. Ich werde mich beteiligen.“

„Endlich bist du klug. Na, so komm hinab. Ich glaube, ich höre Schritte.“

Sie stiegen miteinander in das Loch hinab. Jetzt kamen nach und nach andere. Fritz hatte bereits über zwanzig gezählt, als er plötzlich am Arm gezupft wurde. Er lag am Rand des Lochs unter dem Gebüsch.

„Fritz?“ flüsterte es.

„Herr Doktor?“

„Bereits viele hier?“

„Vierundzwanzig.“

„Man hört sie doch nicht reden.“

„Ja, das weiß der Teufel. Sobald sie da hinunter sind, merkt man gar nichts mehr von ihnen.“

„Vielleicht verhalten sie sich still, bis alle zusammen sind.“

„Das ist möglich. Dann aber können wir wohl lauschen.“

„Von welcher Seite kommen sie?“

„Von dieser. Alle hier hart an mir vorüber.“

„Ah, wo der abgerechte Weg hinunterführt! Donner! Hast du das jetzt gesehen?“

„Was?“

„Ein Lichtschein.“

„Man wird eine Laterne anbrennen.“

„Nein. Das kam wie aus der Erde. Wenn ich es mir so recht überlege, daß ein richtiger Weg hinunter führt, und man doch im ganzen Loch keine Spuren findet, so komme ich auf den Gedanken, daß es da eine Höhle oder irgendein Versteck geben muß.“

„Der Gedanke ist nicht schlecht. Dann aber stecken jetzt alle in der Höhle, während wir denken, sie sitzen unten zwischen den Bäumen.“

„Freilich. Wir müssen uns überzeugen, es ist keine Zeit zu versäumen. Ich krieche leise hinab.“

„Ich auch?“

„Ja, komm. Aber vorsichtig, damit wir nicht bemerkt werden. Das kleinste fallende Steinchen kann uns verraten.“

„Und wenn sie uns doch bemerken, was tun wir denn da?“

„Fliehen und wehren. Ergreifen laß ich mich auf keinen Fall. Eher schieße ich einige nieder.“

„Ich einige und mehrere, je nachdem sie es haben wollen.“

Sie legten sich auf den Bauch und krochen nach Indianerart an der Seite des Loches hinab, nach jedem Fußbreit, welchen sie zurücklegten, wartend und lauschend, ob sie sich weiter wagen könnten. So hatten sie beinahe den tiefsten Punkt erreicht, als sie beide erschrocken anhielten. Ein rascher, aber scharfer Lichtstrahl war über sie hinweggeglitten.

„Sapperment! Woher kam er?“ flüsterte Fritz.

„Da, gerade vor uns! Halten wir weiter links, damit er uns nicht trifft. Schau!“

Wirklich fiel jetzt aus der Erde heraus ein ziemlich greller Blitz gerade auf die Stelle, an welcher sie sich eben jetzt befunden hatten.

„Ob man uns bemerkt hat?“ fragte Fritz.

„Nein. Daß uns das Licht berührte, war sicherlich nur Zufall. Aber da haben wir es: Hier ist eine Höhle. Der Eingang ist nur für einen Mann zu passieren und wird durch diesen Stein verschlossen.“

„Aber auf welche Weise?“

„Irgendwelche Mechanik gibt es, das ist sicher. Ich werde morgen hergehen und untersuchen.“

„Schade, daß ich nicht dabei sein kann. Übrigens finde ich vielleicht auch Gelegenheit, ein Abenteuer zu erleben.“

„Wo?“

„Auf dem Bahnhof zu Diedenhofen. Es kommt nämlich ein Verwundeter, der Millionen bei sich führt, dem soll dieses Geld abgenommen werden.“

„Von wem?“

„Von drei von diesen Burschen hier. Zwei belauschte ich. Es soll jeder fünftausend Franken von dem Raub erhalten. Der Verwundete ist aus New Orleans und heißt Deep-hill.“

„Das hast du alles ganz deutlich gehört?“

„Ja. Der Alte hat es anbefohlen.“

„Der Alte? Das wäre ja der Kapitän. Ich wollte bereits sagen, daß du die Polizei requirieren mögest. Hat jedoch der Alte seine Hand im Spiel, so lassen wir die unserige davon weg. Höchstens kannst du dich auf dem Bahnhof nach diesem Mann aus New Orleans erkundigen und ihn privatim und unbemerkt warnen. Horch! Hörst du reden? Sie scheinen beisammen zu sein, denn es kommt keiner mehr, und nun hat die Verhandlung begonnen.“

Man hörte durch die Öffnung, aus welcher das Licht fiel, ein dumpfes Stimmengewirr. Dann plötzlich verschwand der Lichtschein, und es war gar nichts mehr zu hören.

„Man hat den Eingang verschlossen“, flüsterte Müller. „Es war ein Geräusch zu vernehmen, als ob Steine aneinander gestoßen würden.“

„Es befindet sich kein Mensch im Freien“, antwortete Fritz.

„Nicht einmal eine Wache hat man hier ausgestellt.“

„Desto leichter wird es uns sein, zu untersuchen, in welcher Weise der Verschluß stattfindet.“

„Man wird es innen doch nicht etwa bemerken?“

„Wie sollte man es? Wir vermeiden jedes Geräusch. Und selbst wenn dieses letztere nicht ganz zu umgehen wäre, würde man es kaum gewahren, da ja laut gesprochen wird. Komm.“

Sie schlichen sich zu der Stelle hin, an welcher der Schein aus der Erde gedrungen war. Dort befand sich einer jener mit Moos bewachsenen Steine, welchen sie bereits am Tag bemerkt hatten.

„Dieser Stein scheint die Tür zu sein“, sagte Müller, indem er das Felsstück vorsichtig mit den Fingern betastete.

Auch Fritz tat dasselbe und bemerkte dabei ganz leise:

„Der Stein steht nicht frei, sondern er blickt nur mit der einen Seite aus der Wand des Lochs hervor. Man muß also annehmen, daß er beweglich ist und demnach mit seiner Umgebung nicht fest verbunden sein kann.“

„Ist er wirklich beweglich, was man allerdings glauben muß, so ist er nicht nach außen, sondern nach innen fortzunehmen.“

„Natürlich. Würde er herausgezogen, so wäre ja eine Spur davon zu bemerken. Er würde mit seiner Schwere das Moos zerdrücken. Aber wie bewegt man ihn? Wollen wir es einmal versuchen?“

„Ja, aber höchst vorsichtig. Wir dürfen ihn nur ein ganz klein wenig von seiner Stelle rücken. Komm, stemme an und laß uns schieben.“

Sie knieten nieder, legten die Achseln an und schoben: aber der Stein bewegte sich nicht im mindesten.

„Es muß inwendig einen Verschluß geben“, meinte Müller. „Es bleibt uns nichts übrig, als den Schluß der Versammlung ruhig abzuwarten. Vielleicht hören wir dann, wenn die Leute gehen, etwas, was uns auf die Spur bringt.“

„Oder sehen wir es sogar. Wir müssen uns nur so nahe wie möglich verbergen. Etwa hier unter die Büsche?“

„Ja. Sie stehen kaum eine Elle entfernt und sind so dicht, daß man uns wohl schwerlich bemerken wird.“

„Ich hätte nicht gedacht, daß diese Franzosen gar so dumm sind, daß sie keine Wachen stellen. Bei so geheimen Zusammenkünften ist es unumgänglich notwendig. Nicht einmal auf den Gedanken sind sie gekommen, einen Hund mitzubringen!“

„Der könnte alles verraten.“

„Es müßte nur der Richtige sein. Sie brauchten ihn ja gar nicht draußen zu lassen. Sie könnten ihn mit hineinnehmen und dann, wenn sie gehen, würde er uns ganz sicher entdecken.“

„Hm, ja! Wünschen wir, daß auch im Kriegsfall von den Soldaten der großen Nation kein größerer Scharfsinn entwickelt wird. Komm, verstecken wir uns!“

Sie krochen miteinander unter die erwähnten Büsche. Das Versteck war so gut, daß man nichts von ihnen bemerkt hätte, selbst wenn es nicht so ganz und gar dunkel gewesen wäre wie am heutigen Abend.

Eine Stunde verging, vielleicht auch eine etwas längere Zeit. Da ließ sich ein leises, knirschendes Geräusch vernehmen. Die beiden stießen einander an.

„Jetzt! Paß genau auf!“ raunte Müller seinem Diener zu. Wirklich erschien im nächsten Augenblick der Lichtschein wieder. Man gewahrte ganz genau, daß der Stein weg war, und zwar war er nach innen verschwunden. Der Ausgang verdunkelte sich in kurzen Zwischenräumen. Die Leute kamen, einer nach dem anderen herausgekrochen und entfernten sich dann.

Da sie mit den Köpfen zuerst erschienen, so konnten die zwei Lauscher nicht ein einziges der Gesichter erkennen.

Zwei nur waren stehengeblieben. Zuletzt kam noch einer hervorgekrochen und trat, nachdem er sich aufgerichtet hatte, zu ihnen.

„Nun“, sagte er vernehmlich; „glaubt ihr nicht, daß alles so richtig arrangiert ist?“

„Der alte Kapitän!“ flüsterte Müller seinem Nachbarn zu.

„Ganz gewiß“, antwortete der eine. „Die Leute brauchen eine große Übung, und Waffen sind nebst Munition ja mehr als reichlich vorhanden.“

„Sobald etwas passiert und ich euch brauche, werde ich euch das Zeichen geben. Wir kommen von heute an stets nur hier zusammen.“

„Ich wollte, es ginge bald los!“

„Man hat leider noch keinen Grund zur Kriegserklärung gefunden!“

„Sollte das so schwierig sein?“

„Hm!“ brummte der Alte. „Ich halte es nicht für sehr schwer, und so wird ja auch der Kaiser bald finden, was er sucht. Er will den Krieg, die Kaiserin wünscht ihn noch viel mehr. Gramont steht an der Spitze der auswärtigen Angelegenheiten; er ist ein ausgemachter Feind der Deutschen, er haßt sie und tut alles mögliche, um das Feuer zu schüren. Daher haben wir allen Grund, zu erwarten, daß unsere Hoffnungen sich baldigst erfüllen werden.“

„Und dann! Sacre bleu! Dann marschieren wir nach Deutschland!“

„Nicht wir zuerst. Die glorreiche Armee hat die internationalen Gesetze der Kriegsführung zu respektieren; der Franctireur aber ist ein freier Mann. Wir werden tun, was uns beliebt!“

„Donnerwetter, wir werden reiche Leute!“

„Hoffentlich machen wir unser Geschäft. Wir haben bisher nur Ausgaben gehabt, und zwar höchst bedeutende. Der Deutsche wird bezahlen müssen, und zwar nicht nur mit hundert Prozent! Ich wollte, daß in diesem verdammten Germanien nicht ein Stein auf dem andern bliebe! Ich habe allen Grund, die Rasse zu hassen!“

„Aber man sagt, daß Preußen jetzt sehr stark sei!“

„Wer das sagt, ist ein Dummkopf!“

„Aber die Ulanen!“

„Die Ulanen? Pah! Die haben wir nun erst recht nicht zu fürchten! Der Preuße hat sie von den Russen geborgt.“

„Wieso?“

„Die Ulanen sind die Nachkommen von den asiatischen Reitern, welche sich Anno Vierzehn und Fünfzehn bis an die Seine wagen konnten, weil das Glück zufälligerweise den großen Kaiser verlassen hatte. Ihr habt doch von ihnen gehört?“

„Ja. Es sind kleine Kerls mit großen Bärten.“

Der dritte, welcher bisher geschwiegen hatte, wollte auch etwas sagen; er ließ also sein Licht leuchten, indem er hinzufügte:

„Sie haben kleine Pferde mit großen Mähnen und Schwänzen.“

„Sie stinken nach Talg und stecken voll Ungeziefer!“

„Sie fressen Pfeffer und saufen Schwefelsäure!“

„Ihre Hosen und Röcke sind aus Schweinsleder!“

„Ihre Lanzen gebrauchen sie nur, um Kinder damit aufzuspießen und in das kochende Wasser zu halten!“

„Ja, es ist ein grausames, gottvergessenes Volk; aber es ist dem Aussterben nahe. Das Lazarettfieber hat die meisten hinweggerafft, im Krieg von Schleswig-Holstein sind sie massenhaft erfroren, und Anno Sechsundsechzig haben die Österreicher jämmerlich unter ihnen aufgeräumt.“

„So hätten wir sie ja gar nicht zu fürchten!“

„Nicht im geringsten! Es sind ihrer bloß noch einige Hundert vorhanden, die in der Zeit von einigen Minuten von unseren Mitrailleusen niedergeschmettert werden. Es ist geradezu lächerlich von dem König von Preußen, sich auf dieses Gezücht zu verlassen!“

„Aber tüchtige Artillerie soll er haben!“

„Pah! Eine einzige Mitrailleuse bringt drei oder vier ganze Batterien zum Schweigen!“

„Und die Zündnadel!“

„Die ist zum Totlachen! Hat man je gehört, daß man mit Nadeln Krieg führt?“

„Das ist wahr!“

„Und unser Chassepot! Dem ist kein Gewehr gewachsen!“

„Aber ich las da vor kurzen in der Zeitung, daß der König von Preußen große Generäle habe!“

„So? Wen denn zum Beispiel?“ fragte der Kapitän im verächtlichsten Ton.

„Steinmetz!“

„Der ist altersschwach geworden. Er ist bereits achtundneunzig Jahre alt und kann nur noch mittels Ziegenmilch am Leben erhalten werden.“

„Sodann Seidlitz!“

„Seidlitz ist ein ganz junger, unerfahrener Oberst der Artillerie. Mit dem schießt jeder französische Kanonier um die Wette!“

„Und Ziethen!“

„Ziethen! Was ihr euch einbildet! Sollen wir uns vor Ziethen fürchten! Ihr wißt wohl gar nicht, was er ist?“

„Nun, ein berühmter Husarengeneral. Er soll bereits sehr alt sein und bei dem König von Preußen in großer Gunst stehen. Er hat sogar die Erlaubnis erhalten, an der königlichen Tafel zu schlafen.“

„Das ist wahr; das steht in allen Büchern. Aber ein Husarengeneral ist er nicht, obgleich man es euch weisgemacht hat. Er stammt aus Roßbach und ist Marinelieutenant. Weiter hat er es trotz seines Alters nicht gebracht. Überhaupt braucht man nur zu hören, daß preußische Offiziere an der Tafel schlafen dürfen, so weiß man sofort, was man von der ganzen Armee zu halten hat. Wie soll das während eines Feldzugs werden, wo es ja noch größere Anstrengungen gibt als Essen und Trinken.“

„Aber Moreau soll sehr berühmt und tapfer sein!“

„Das ist er auch. Er ist ein geborener Franzose; aber er ist abtrünnig geworden und zu den Preußen übergegangen. Die Österreicher haben ihm bei Königsgrätz die beiden Beine weggeschossen. Nun könnt ihr euch denken, ob wir diesen Krüppel zu fürchten haben.“

„Und der Generalstabschef der Preußen!“

„Moltke? Der ist ein Phantast und Träumer. Er soll nicht einmal einen Bart haben! Der ist am allerwenigsten schuld, daß die Österreicher in der Schlacht an der Alma geschlagen worden sind. Daß die Österreicher verloren, daran waren nur die Russen schuld, welche es nicht litten, daß die Österreicher durch Rußland in Preußen einfielen.“

„Und sodann sagt man, daß wir es nicht mit Preußen allein zu tun haben werden!“

„Mit wem noch?“

„Sachsen, Bayern –“

„Unsinn!“ fiel der Alte ein. „Das kenne ich besser! Die Sachsen sind stets unsere Verbündeten gewesen; sie sind durch Verträge an uns gebunden, denn Napoleon hat Anno Dreizehn und Vierzehn ihr Land fast um das Zehnfache vergrößert. Bayern, Württemberg und Baden wagen es nicht, gegen uns zu sein, weil wir dort zuerst einfallen würden. Wer soll sonst noch der Verbündete von Preußen sein?“

„Hessen.“

„Das haben wir nicht zu fürchten. Es liegt ganz gegen Rußland hin. Ehe der erste Hesse erscheint, haben wir längst die entscheidenden Schlachten gewonnen und den Feind vor uns hergetrieben.“

„Dann gibt es ein Land, Waldeck genannt!“

„Das liegt ja in England!“

„Reuß!“

„Das gehört zu Norwegen!“

„Und Lippe!“

„Was ihr für Geographen seid! Lippe ist ein Kanton in der Schweiz. Es liegt gegen Italien hinunter! Lassen wir das! Wir werden siegen und brauchen darüber kein Wort zu verlieren! Bleiben wir lieber bei der Gegenwart! Ihr beide habt morgen einen Coup auszuführen, welcher wichtiger ist, als so unbegründete Bedenken. Habt ihr meine Anordnungen kapiert?“

„Vollständig!“

„Also brecht rechtzeitig auf, daß ihr ja nicht etwa den Zug versäumt!“

„Das versteht sich ja ganz von selbst!“

„Lefleur wird bereits vor euch da sein, um seine Pflicht zu tun. Die Hauptsache ist, daß er sich schnell zurückzieht, und daß ihr dafür sorgt, daß kein Verdacht auf euch fällt.“

„Dafür lassen Sie uns sorgen, Herr Kapitän! Wir werden den Bahnwärter aufsuchen.“

„Ah! Warum? Das wäre unvorsichtig!“

„Grad das Gegenteil! Es ist das gewiß eine Schlauheit. Wir werden mit ihm sprechen.“

„Aus welchem Grund?“

„Wenn wir uns mit ihm unterhalten, wird Lefleur desto ungestörter seine Schuldigkeit tun können.“

„Ah, das ist richtig!“

„Und der Bahnwärter kann bezeugen, daß wir bei ihm gewesen sind. Dadurch würde aller Verdacht von uns abgelenkt werden.“

„Nun, ich will zugeben, daß ihr euch das gut überlegt habt. Ihr haltet euch aber nicht unnötig auf!“

„Wir kommen sofort nach Ortry!“

„Ich werde euch erwarten. Macht ihr eure Sache gut, so könnt ihr auch auf eine Extragratifikation rechnen. Ihr wißt, daß ich nicht knausere, wenn ich sehe, daß meine Leute ihre Pflicht erfüllen. Jetzt will ich mich zurückziehen. Gute Nacht!“

„Gute Nacht, Herr Kapitän!“

„Zieht den Keil richtig an, damit der Stein gut schließt!“

„Ihr braucht keine Sorge zu haben!“

Der Alte bückte sich nieder und kroch in das Loch zurück, welches sich dann hinter ihm schloß. Einer der beiden Männer kauerte sich nieder und machte sich mit dem Stein zu schaffen. Als er sich wieder erhoben hatte, sagte der andere, indem er viel leiser redete, als bisher gesprochen worden war.

„Also eine Extragratifikation.“

„Ja. Er ist doch zuweilen splendid.“

„Pah! Das kann er auch. Was bekommen wir? Welchen Teil des Ganzen wird er uns auszahlen? Gib dir einmal die Mühe, es auszurechnen.“

„Ich habe auch bereits daran gedacht.“

„Wir holen die Kastanien aus dem Feuer.“

„Und wagen dabei Freiheit, Ehre und Leben.“

„Er bleibt auf dem Sofa sitzen und wartet ruhig, bis wir ihm die Millionen bringen.“

„Verdammt! Man müßte sich eigentlich ganz gewaltig darüber ärgern.“

„Ärgern? O nein! Ich freue mich im Gegenteil.“

„Wieso? Warum?“

„Ahnst du das denn nicht? Das heißt, ich freue mich, weil ich voraussetze, daß du doch kein Dummkopf sein wirst.“

„Habe ich dir jemals Veranlassung gegeben, mich für einen solchen zu halten?“

„Allerdings nicht. Und darum denke ich auch, daß du mit mir einverstanden sein wirst.“

„Das klingt ja gerade, als ob du mir einen Vorschlag zu machen hättest.“

„So ist es auch. Einen Vorschlag. Und zwar was für einen!“

„So laß hören.“

„Hm! Eigentlich ist es gefährlich sich einem andern mitzuteilen, von dessen Zustimmung man noch nicht überzeugt ist.“

„Traust du mir etwa nicht?“

„Du weißt bereits, daß ich dir mehr traue, als jedem anderen; aber die Sache ist wirklich mit einer ganz außergewöhnlichen Gefahr verbunden.“

„So solltest du auch nicht hier an diesem Ort, im offenen Wald, von ihr sprechen.“

„Oh, hier sind wir sicherer als sonst irgendwo. Oder denkst du etwa, daß der Alte hier mit uns gesprochen hätte, wenn er nicht vollständig überzeugt gewesen wäre, daß es keinen Lauscher gibt?“

„Es kann einer zurückgeblieben sein.“

„Das wagt keiner. Sie haben alle einen viel zu großen Respekt vor dem Kapitän.“

„Wir aber doch nicht. Da könnte es auch anderen einfallen, sich ein wenig zu emanzipieren.“

„Ich sage dir, daß keiner dies wagen wird. Bei uns beiden ist dies etwas anderes. Uns läßt er zuweilen einen Blick in seine Karten tun; das schadet dem Respekt. Ich denke wirklich, daß es keinen besseren Ort gibt, von einem Geheimnis zu sprechen, als dieses Loch.“

„Und wenn der Alte noch anwesend wäre?“

„Er kann uns nicht hören. Der Eingang ist verschlossen.“

„Na, meinetwegen. Also, was hast du vor?“

„Zunächst noch nichts. Ich denke nur daran, daß der Alte alles bekommen soll und wir nichts.“

„Wenigstens fast so viel wie nichts.“

„Wäre es nicht sehr prächtig, wenn er garnichts erhielte?“

„Hm! Wer soll es denn erhalten?“

„Wir.“

„Donnerwetter! Welcher Gedanke!“

„Ist er etwa schlecht?“

„Nein, famos, sogar höchst famos.“

„Was sagst du dazu?“

„Ich muß mir Zeit nehmen. Der Gedanke ist so großartig, daß man sich nicht sofort an ihn gewöhnen kann.“

„Nun, so beeile dich möglichst.“

„Es sind Millionen.“

„Der Alte sagte dies allerdings.“

„Bedenke! Millionen! Herrgott! Und jetzt sind wir solche arme Teufel, daß hundert Francs ein Vermögen für uns bilden.“

„Aber gefährlich ist es, verteufelt gefährlich.“

„Wir haben es da ganz mit derselben Gefahr zu tun. Ob wir das Geld für uns nehmen oder für den Alten, das bleibt sich in dieser Beziehung ganz gleich.“

„Das ist wahr. Aber dann die Folgen!“

„Ich kenne andere Folgen nicht, als daß wir sehr reich sein werden und das Leben genießen können. Sage mir überhaupt, weshalb du gerade unter die Franctireurs gehen willst?“

„Nun, der Beute wegen.“

„Richtig! Ich auch. Warum aber willst du bis später warten, wenn du gleich jetzt eine Beute in Aussicht hast, wie dir eine zweite gar nicht geboten werden kann?“

„Ich gebe dir ja ganz recht; aber der Alte, der Alte.“

„Nun, was ist mit ihm?“

„Er wird uns töten.“

„Pah! Dagegen können wir uns sichern. Haben wir das Geld, wer hindert uns, fortzugehen? Nach Amerika oder sonst wohin, wo er uns gar nicht erreichen kann.“

„Der? Nicht erreichen? Ah, er wäre imstande, uns nachzukommen und zur Rede zu stellen.“

„Das verbieten wir ihm.“

„Er wird von uns Befehle annehmen. Glaube nur das nicht.“

„Er muß sie wohl annehmen. Es kommt dabei nur darauf an, wie er sie erhält.“

„Nun, wie denn?“

„Durch ein Messer oder eine Kugel.“

„Verdammt. Du würdest ihn töten?“

„Warum nicht? Er selbst wird sich keinen Augenblick bedenken, uns eine Kugel durch den Kopf zu jagen, falls er zu der Ansicht käme, daß es ihm vielleicht Nutzen bringt.“

„Aber wir haben ihm Treue geschworen.“

„Dummkopf! Ist dieser alte Kapitän berechtigt, uns einen Schwur abzufordern? Unser Eid hat weder vor Gericht, noch vor sonst wem die geringste Gültigkeit. Aber ich sehe, daß du dich fürchtest. Lassen wir den Gedanken also fallen. Du bist ein Hasenfuß. Wirf dem Alten die Millionen an den Kopf. Du wirst dafür tausend Jahre vom Fegefeuer erlassen bekommen.“

Er tat, als ob er gehen wollte. Der andere ergriff ihn beim Arm und sagte schnell:

„Halt, halt! Ich habe mich ja noch gar nicht dagegen entschieden. Ich habe nur ein Bedenken.“

„Welches denn?“

„Daß er uns vielleicht beobachten und beaufsichtigen läßt.“

„Durch wen?“

„Durch Lefleur.“

„Pah! Dem geben wir einen Schlag auf den Kopf, so sind wir die Aufsicht los. Überhaupt habe ich gar nicht beabsichtigt, mit dir jetzt einen vollständigen Plan zu spinnen. Ich wollte nur wissen, ob du unter Umständen geneigt sein würdest, auf meine Absicht einzugehen.“

„Nun, abgeneigt bin ich nicht.“

„Das ist es, was ich hören will. Das Weitere können wir unterwegs oder auch erst morgen früh besprechen. Es ist dazu noch Zeit, wenn wir das Geld bereits in den Händen haben. Ich glaube, daß du in diesem Fall ganz gern geneigt sein wirst, es zu behalten.“

„Wollen sehen. Aber, ob dieser – dieser – wie war doch der fremde Name?“

„Dieser Deep-hill.“

„Ja, ob dieser Deep-hill auch wirklich kommen wird, wollte ich sagen.“

„Sicher. Der Kapitän hat es gesagt, und der ist stets ganz genau unterrichtet. Man muß zugeben, daß in allem, was er vornimmt, eine genaue und untrügliche Berechnung vorhanden ist.“

„Aber wie erkennen wir ihn?“

„Das wird nicht schwer sein. Ein Amerikaner ist sehr leicht zu erkennen oder zu erfragen.“

„Aber nehmen wir an, daß er noch Leben hat.“

„Nun, so tut ein Messerstich, ein Griff an die Gurgel das übrige. Lassen wir für jetzt solche unnütze Fragen. Wenn der Augenblick des Handelns gekommen ist, so wird sich alles ganz von selbst ergeben.“

„Gehen wir also?“

„Ja. Komm.“

Sie entfernten sich. Erst als ihre Schritte bereits seit Minuten nicht mehr zu hören waren, flüsterte Müller Fritz zu:

„Komm. Jetzt können wir von der Stelle.“

Sie krochen unter den Büschen hervor und dehnten ihre Glieder, welche sich in einer so unbequemen Lage befunden hatten.

„Zwei schöne Kerls“, flüsterte Fritz dabei.

„Galgenvögel.“

„Eigentlich wäre es unsere Pflicht gewesen, sie unschädlich zu machen.“

„Wie wolltest du das anfangen, ohne uns zu verraten?“

„Sie einfach niederschlagen.“

„Dadurch wäre es doch herausgekommen, daß sich Lauscher hier befunden haben. Nein. Wir mußten sie unbedingt laufen lassen.“

„Vielleicht kann ich sie doch fassen. Was sie eigentlich beabsichtigen?“

„Nun, einen Mordversuch auf diesen Amerikaner Deep-hill.“

„Das versteht sich ganz von selbst, Herr Doktor. Aber wann und wie soll er ausgeführt werden?“

„Hm! Das ist eben die Frage. Er kommt mit dem Mittagszug in Thionville an?“

„Ja, das habe ich genau gehört.“

„Auf dem Bahnhof können sie ihn doch nicht überfallen.“

„Ganz unmöglich. Aber dann unterwegs.“

„Wie es scheint, wird er sich nach Ortry zum Kapitän begeben.“

„Sicher. Und bis dahin will man ihn überfallen. Man muß das auf alle Fälle verhindern.“

„Natürlich! Das wirst du tun.“

„Es wird schwer gehen. Ich fahre ja mit demselben Zuge weiter und habe also eigentlich keine Zeit.“

„Es ist leichter, als du denkst. Du fährt ja mit dem Frühzug nach Trier. Dabei meldest du die Angelegenheit der Bahnpolizei. Die wird den Amerikaner bei seiner Ankunft ausfindig zu machen wissen und ihn warnen. Übrigens ist es ja leicht möglich, daß du ihn während der Fahrt erfragen und dann sogar selbst unterrichten kannst.“

„Wollen sehen. Aber, hm!“

„Was hast du noch für Bedenken?“

„Ich muß dieser lieben Nanon mein Wort halten; ich muß mit ihr fahren; aber ich kann sehr leicht daran verhindert werden.“

„Wieso?“

„Es ist möglich, daß die Polizei mich zurückhält, wenn ich anzeige, was geschehen soll.“

„Wohl schwerlich.“

„Man wird mich ausfragen, auf welche Weise ich von dem Mordanschlag erfahren habe. Wie soll ich da antworten?“

„Nun, die Polizei weiß, daß du Kräutersammler bist. Da kann es ja gar nicht auffallen, wenn du berichtest, daß du dich heute nach Einbruch der Dunkelheit noch im Wald befunden hast. Dort hast du zwei Männer belauscht.“

„Schön! Ich kannte sie nicht, und ich getraute mich auch nicht, etwas gegen sie zu unternehmen, da sie bewaffnet waren, ich aber nicht. Jedoch, soll ich den Kapitän erwähnen?“

„Nein. Wer weiß, ob man dir dann noch glauben würde.“

„Schön! So ist es also abgemacht. Gehen wir jetzt?“

„Nein. Es kann mir gar nicht einfallen, diesen Ort zu verlassen, ohne mich ein wenig umgesehen zu haben. Wer weiß, wozu es gut ist, wenn ich mich orientiere. Wollen einmal nach dem Eingang sehen.“

„Ah, nach dem Keil, von dem der Alte sprach?“

„Ja. Aus seinen Worten schließe ich, daß das Loch nur mittels eines Keils verschlossen und geöffnet werden kann. Dieser Keil muß sich also wohl in einer Ecke des Steins befinden. Suchen wir danach.“

Sie traten an das Felsstück, der eine rechts und der andere links und betasteten die Kanten desselben mit möglichster Genauigkeit.

„Sapperlot! Hier muß es sein!“ sagte nach kurzer Zeit Fritz.

„Wo?“

„Da unten in der Ecke. Ich drückte, und da gab es nach.“

„Laß sehen.“

Müller untersuchte die Stelle, an welche Fritz ihm die Hand leitete und fand allerdings, daß etwas dem Druck seines Fingers nachgab.

„Das ist's!“ sagte er. „Das ist ein Keil, den man zurückschieben kann. Es ist das Ende einer Schnur an ihm befestigt, um ihn wieder heranziehen zu können. So! Jetzt habe ich ihn hineingeschoben. Und nun wollen wir sehen, ob auch der Stein zu bewegen ist.“

Er schob an dem Felsstück, es ließ sich durch einen ganz leichten Druck aus seiner Lage bringen und wich zurück.

„Auf!“ flüsterte Müller. „Jetzt können wir hinein. Komm, Fritz. Das Sesam ist geöffnet.“

„Aber vorsichtig, Herr Doktor!“ meinte der treue Diener. „Nehmen Sie den Revolver heraus.“

„Habe ich schon bei der Hand. Ich krieche voran, und du folgst mir.“

Die Öffnung war groß genug, um einen Mann einzulassen. Das Loch ging kaum drei Fuß tief, dann fühlte Müller, daß er sich erheben könne. Einige Augenblicke später stand Fritz neben ihm.

„Haben Sie Ihre Laterne mit?“ flüsterte er.

„Natürlich! Aber wir müssen uns erst überzeugen, ob wir Licht machen dürfen.“

„Es scheint niemand hier zu sein.“

„Wir wissen ja gar nicht, wo wir uns befinden. Es kann ein tief fortreichender Gang, ein Stollen sein. Machen wir hier Licht, so kann es im Hintergrund bemerkt werden. Untersuchen wir also vorher den Raum im Finstern. Ich rechts und du links. Aber leise und auch mit voller Vorsicht, damit wir nicht irgendwie verunglücken.“

Er tastete sich fort, fühlte eine steinerne Wand, kam an eine Ecke, glitt über dieselbe hinweg und traf dann mit Fritz zusammen.

„Du schon hier!“ sagte er. „Wir befinden uns also in einem viereckigen Keller, wie es scheint. Nicht?“

„Ganz sicher. Haben Sie eine Tür bemerkt?“

„Nein.“

„Ich auch nicht.“

„Aber es muß dennoch eine solche da sein. Der Kapitän kann doch nicht durch die Mauer verschwinden. Brennen wir an.“

Er zog die Blendlaterne aus der Tasche und machte Licht. Jetzt sahen sie, daß ihre Vermutungen richtig gewesen waren. Sie befanden sich in einem viereckigen Raum; die Mauern bestanden aus hartem, gut zusammengekittetem Gestein. Eine Tür war nicht zu sehen.

„Wollen wir sie suchen?“ frage Fritz.

„Natürlich!“

„Wo mag sie sich befinden?“

„Das ist nicht schwer zu sagen. In der Decke natürlich nicht.“

„Richtig!“ lachte Fritz. „Also auf dem Fußboden?“

„Schwerlich! Es muß einen Gang hier geben. Dieser führt in der einzig möglichen Richtung, also geradeaus fort. Folglich kann die verborgene Tür sich nur in der Rückwand befinden, dem Loch gegenüber, durch welches wir hereingekommen sind.“

„So werden wir sie wohl auch finden.“

„Hoffentlich! Vorher aber wollen wir den Stein zurückschieben und den Keil ins Loch stecken. Verschließen wir das Loch, so können wir von draußen nicht beobachtet werden.“

Dies wurde getan. Es ließ sich ganz leicht ausführen. Dann untersuchten sie den Fußboden mit den Absätzen ihrer Stiefel und sogar auch mit den Händen.

„Der Boden ist wirklich massiv“, sagte Fritz. „Es gibt keine leere Stelle, und eine Falltür ist also nicht vorhanden. Nun aber die hintere Mauer.“

Er trat hinzu und begann zu klopfen.

„Halt!“ sagte da Müller rasch. „Nicht klopfen. Wir wissen ja gar nicht, was sich hinter dieser Mauer befindet.“

„Aber wie wollen wir entdecken, wo eine hohle Stelle ist, Herr Doktor?“

„Denke nur nach, lieber Fritz. Du hast hier Stein und überall Stein. Eine Türe im gewöhnlichen Sinn kann es also gar nicht geben. Ich vermute vielmehr, daß der Eingang, den wir suchen, geradeso in einem Loch besteht, wie das ist, durch welches wir hereingekrochen sind.“

„Hm! Ein Stein zum Zurückschieben und ein Keil dabei?“

„Vermutlich. Ein Keil mit einer Schnur daran, um sich seiner auch dann noch bemächtigen zu können, wenn er zurückgezogen ist. Suchen wir.“

„Also unten am Boden.“

„Und so ziemlich gewiß in der Mitte der Mauerbreite.“

Er leuchtete in der angedeuteten Richtung bis nahe an die Erde herab, und sofort rief Fritz:

„Sapperlot! Das nenne ich Scharfsinn!“

„Siehst du etwas?“

„Ja. Hier gibt es eine Schnur. Bitte, halten Sie das Licht näher heran.“

Müller tat dies und bemerkte nun allerdings die dünne Schnur, welche da befestigt war.

„Siehst du!“ sagte er erfreut. „Das ist der Keil. Und hier dieser Mauerstein bildet die Tür. Er geht jedenfalls auch auf einer Rolle wie der andere Eingang. Versuchen wir, ob sich beides bewegen läßt.“

Der Versuch gelang. Sie standen jetzt vor einer Öffnung, welche fast genau derjenigen glich, durch welche sie gekommen waren.

„Kriechen wir hindurch?“ fragte Fritz.

„Natürlich! Doch will ich vorher die Laterne verbergen. Man weiß ja nicht, ob es da drüben offene Augen gibt.“

Er verschloß das Laternchen, dessen Licht jedoch fortbrannte und kroch voran. Fritz folgte ihm. Drüben fühlten beide, daß sie sich in einem schmalen Gang befanden.

„Wohin wird er führen?“ flüsterte Fritz.

„Wir müssen es zu erfahren suchen. Dazu brauchen wir die Laterne, müssen aber erst wissen, ob ich das Licht zeigen darf. Horchen wir einmal.“

Erst nachdem sie sich einige Minuten ganz lautlos verhalten und trotzdem nicht Beunruhigendes gehört hatten, zog Müller die Laterne hervor und ließ das Licht derselben vor sich hinfallen.

„Man sieht kein Ende“, sagte Fritz im leisesten Ton.

„Der Gang führt geradeaus. Folgen wir ihm; aber ganz leise. Und vorher machen wir hier dieses Loch zu.“

Der Stein wurde zurückgeschoben und dann schritten sie vorwärts, aber so leise, daß kaum sie selbst das Geräusch vernahmen, welches sie verursachten. Nach einiger Zeit bemerkten sie rechts eine Türe, welche aus starkem, hartem Holz gefertigt war, dann zur linken Hand eine zweite, später eine dritte und vierte. Diese Türen waren mit Eisen beschlagen und mit sehr festen Schlössern versehen.

„Was mag dahinter stecken?“ flüsterte Fritz.

„Das interessiert mich auch. Wir müssen es erfahren, wenn auch nicht sogleich heut. Für jetzt ist mir die Hauptsache, zu sehen, wo dieser Gang mündet.“

Sie setzten ihren Weg fort. Dabei gebrauchte aber Müller die Vorsicht, nur zuweilen einen blitzartigen Lichtstrahl vor sich hin zu werfen. Er mußte ja immer den Fall annehmen, daß sich vor ihnen Menschen befinden könnten.

So waren sie eine ganz beträchtliche Strecke vorwärts gekommen, als Müller plötzlich stehen blieb, und nach rückwärts greifend, Fritz' Hand erfaßte.

„Pst!“ wisperte er. „Was ist das?“

Sie waren abermals an einer Tür angelangt. Diese war nicht verschlossen, sondern geöffnet und angelehnt. Müller steckte schnell die Laterne in die Tasche und zog die Tür ein wenig zurück. Er erblickte nichts; es befand sich tiefes Dunkel vor ihm. Er öffnete die Tür noch etwas weiter und trat ein. Fritz folgte ihm auf dem Fuß.

„Still!“ flüsterte Müller und lauschte.

Wieder verging eine Weile, dann bemerkte Fritz:

„Da hinten links wird gesprochen.“

„Ja. Ich höre es auch.“

„Ob das ein Zimmer ist oder wieder ein Gang?“

„Ein Gang wohl nicht; ich fühle keine Seitenwände. Aber doch. Nein, das ist keine Mauer, das sind Kisten, welche übereinander stehen.“

„Hier rechts bei mir auch.“

„Wagen wir es einmal.“

Er zog die Laterne hervor und ließ einen schnellen Schein vor sich hinfallen.

„Hast du gesehen?“ fragte er.

„Ja. Es muß ein großes Gewölbe sein. Kisten stehen bis zur Decke empor. Der Gang führt gerade zwischen ihnen hindurch.“

„Ja. Und dann scheint er sich nach links zu biegen, nach der Richtung, in welcher gesprochen wird.“

„Wollen wir es wagen, Herr Doktor?“

„Ja. Komm.“

Die aufeinander geschichteten Kisten bildeten einen Gang, den die beiden verfolgten. Dieser Gang bog plötzlich links ab. Und als sie dort anlangten, gewahrten sie, ziemlich weit entfernt von sich, eine erleuchtete Stelle.

„Auch das wird gewagt“, entschied Müller. „Ich muß wissen, was hier getrieben wird.“

Sie schritten leise, leise weiter. Sie näherten sich der hellen Stelle mehr und mehr, und nun drangen auch die Stimmen immer deutlicher an ihr Ohr. Noch konnten sie keinen Menschen sehen, aber Müller raunte doch seinem Gefährten zu:

„Der alte Kapitän und Graf Rallion, der Vater. Ich erkenne sie an ihren Stimmen. Bleib hier stehen.“

„Um Gottes willen! Wollen Sie allein vorwärts?“

„Ja. Es gibt keine Gefahr. Sollte ich aber rufen, so kommst du sofort nach.“

Er setzte den Weg Schritt um Schritt fort, bis er bemerkte, daß sich zwischen dem Kistenlager ein Viereck öffnete. Dort saßen auf einer Truhe die beiden Genannten. Auf einem Brett vor ihnen stand Wein und die brennende Laterne. Sie rauchten Zigarren und unterhielten sich in ziemlich lautem Ton. Sie ahnten ja gar nicht, daß sie sich nicht allein befanden. Sie hätten das gar nicht für möglich gehalten. Müller hörte, daß der Graf sagte:

„Und dadurch wollen Sie das Mädchen wirklich zwingen?“

„Sicher.“

„Sie wird, befürchte ich, nur obstinater werden.“

„Das treibe ich ihr aus. Finsternis, Durst und Hunger brechen auch den stärksten Willen. Sie muß ja sagen.“

„Vielleicht tut sie das, wird aber ihr Versprechen wohl nicht halten.“

„Da kennen Sie ihren Charakter nicht. Was sie einmal verspricht, das hält sie auch, und sollte es zu ihrem größten Unglück sein.“

„Und wann soll es geschehen?“

„Sobald es paßt. Heute, morgen, übermorgen.“

„Und wenn sie sich dennoch nicht entschließt?“

Da deutete der Alte mit dem Daumen über seine Achsel und rückwärts und sagte, höhnisch lachend:

„Da drinnen? Sich nicht entschließen. Sie wird mir noch gute Worte geben, mir meinen Willen tun zu dürfen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Aber lassen wir das. Ich bin meiner Sache sicher, und Sie können ruhig abreisen.“

„Leider muß ich. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen werden. Jeder Tag kann jetzt das Erwartete und auch das Unerwartete bringen.“

„Nun, wir sind gerüstet, wie Sie sehen. Alle diese Gewölbe sind voller Waffen und Munition, ich wollte, es ginge bereits morgen los.“

„Man wird nicht ermangeln, sich zu beeilen. Man fängt keinen Krieg im Dezember an, und jetzt haben wir bereits den Sommer vor der Tür.“

„Nun, Sie können melden, daß wir hier so ziemlich gerüstet sind. Ich bin bereit, die Rechnung mit Deutschland, welche so lange unberichtigt geblieben ist, einzufordern. Nun aber trinken wir aus und gehen. Es gab heute viel zu schaffen, viel Ärger und Verdruß. Ich bin müde.“

„Ja, gehen wir. Schließen Sie aber die Lieferbücher und den Wein hier vorher in den Kasten.“

„Natürlich! Ah, wo habe ich denn nur die Schlüssel.“

Müller hatte genug gehört. Er kehrte, so eilig dies möglich war, zu Fritz zurück und zog denselben mit sich fort.

„Rasch! Sie gehen.“

Als sie um die Ecke gebogen waren und sich der Tür näherten, konnte Müller es wagen, einen Schein aus der Laterne fallen zu lassen, um den Weg ohne Anstoß finden zu können. Da flüsterte Fritz:

„Sapperment! Zwei Schlüssel!“

„Wo?“

„Hier auf dem Kistenrand, welcher hervorragt.“

„Her damit.“

Müller griff zu, nahm die Schlüssel an sich und trat durch die Tür, welche sie offen gelassen hatten, in dem Gang hinaus. Fritz lehnte sie wieder an, so wie sie dieselbe vorgefunden hatten.

„Jetzt schnell zurück!“ gebot Müller.

Er ließ jetzt die Laterne voll auf den Weg scheinen. Sie eilten den Weg zurück, den sie gekommen waren, aber nur bis zur nächsten Tür, an welcher sie vorhin vorüber passiert waren. Dort zog Müller die Schlüssel hervor.

„Sie wollen doch nicht gar hier hinein?“ fragte Fritz.

„Natürlich! Ob er aufschließen wird?“

Er probierte in fieberhafter Eile. Welch ein Glück! Der eine der Schlüssel öffnete das Schloß. Müller zog die Tür auf und den Schlüssel ab, trat mit Fritz in den Raum, der ihnen finster entgegengähnte, und schloß die Tür von innen wieder zu.

„Was wollen wir denn hier?“ fragte Fritz.

„Der Kapitän suchte die Schlüssel, und wir haben sie. Es ist möglich, daß er glaubt, sie verlegt zu haben; aber ebenso möglich ist es auch, daß er Verdacht schöpft. In diesem Fall kehrt er sicher zurück, um zu sehen, ob sich eine Spur davon finden läßt, daß ein Unberufener hier gewesen ist. Dann muß ich möglichst wissen, was er denkt, und darum verstecke ich mich hier. Wenn wir sofort fliehen, weiß ich doch nicht, welche Ansicht er über das Verschwinden der Schlüssel hat.“

„Aber wir spielen ein gewagtes Spiel.“

„Nicht so sehr, wie du denkst. Hier herein kann er nicht, und übrigens sind wir bewaffnet.“

„Na, ich fürchte mich auch nicht etwa, aber, Herr Doktor, Sie hatten es so eilig, ich dachte, die beiden Kerls wären hart hinter Ihnen her, und nun hört man nichts von ihnen.“

„Sie werden eben nach den Schlüsseln suchen. Horch!“

Er drehte den Schlüssel im Schloß um und öffnete die Tür ein wenig. Durch diese Lücke bemerkte er den Grafen und den Kapitän, welche jetzt in den Gang hinausgetreten waren. Sie sprachen laut miteinander, jedenfalls ein gutes Zeichen für Müller. Hätten sie Verdacht gehabt, so wäre ihre Unterhaltung jedenfalls eine leisere gewesen.



Die beiden Türen waren vielleicht fünfzig Fuß voneinander entfernt. Diesem Umstand war es zu danken, daß Müller hörte, was gesprochen wurde.

„Nein“, sagte der Kapitän, „ich habe sie nicht hierher gelegt. Ich habe sie mit mir genommen. Ich mußte doch die Zelle und auch die Truhe aufschließen.“

„Ja. Aber dann gingen wir vor nach der Tür, um die Kisten zu zählen.“

„Da hätte ich die Schlüssel mitgehabt?“

„Sie haben sie da auf eine der Kisten gelegt, wie ich glaube.“

„Dann müßten sie noch da liegen.“

„Hm! Befinden wir uns wirklich ganz allein hier?“

„Ohne allen Zweifel.“

„Nun, sie müssen am besten wissen, ob jemand Zutritt hat. Ich glaube mich in Beziehung der Schlüssel nicht zu irren.“

„Und doch irren Sie sich. Ich habe sie ganz hinten mitgehabt. Sie sind mir jedenfalls zwischen zwei Kisten hinabgefallen. Es ist mir unangenehm, aber ich habe keine Zeit zu suchen und alles umzustürzen.“

„Aber was wird hier mit der Tür?“

„Die bleibt einstweilen angelehnt. Ich muß wieder zurück, um sie zu verschließen.“

„Haben Sie denn noch andere Schlüssel?“

„Gewiß. Ein Schlüssel geht leicht verloren, ich befinde mich darum im Besitz doppelter Hauptschlüssel.“

„Donnerwetter! Hauptschlüssel waren es? Ist das nicht ziemlich unvorsichtig von Ihnen?“

Die Frage mochte den Alten wohl ärgern. Er antwortete:

„Lassen Sie mich in Ruhe. Ich bin kein Schulknabe, sondern alt genug, um zu wissen, was ich tue. Wenn sich unser Lager leert, werden sich die verlorenen Schlüssel ganz sicher wiederfinden. Basta! Gehen wir.“

Der Alte zog den Grafen mit sich fort. Da sagte Fritz leise:

„Gratuliere, Herr Doktor! Hauptschlüssel! Donnerwetter!“

„Ja, das ist ein Zufall, dem wir vielleicht sehr viel zu verdanken haben werden. Wie gut, daß du sie bemerktest.“

„Und ebensogut, daß Sie gerade dort die Laterne aufmachten. Ich hätte übrigens den Alten für klüger gehalten. Er ist wirklich leichtsinnig.“

„Das denke ich nicht. Er kann es wirklich nicht für möglich halten, daß jemand in seiner Gegenwart in diesen unterirdischen Raum eindringt, um ihm seine Hauptschlüssel zu stehlen.“

„Nun können wir alles genau durchsuchen.“

„Für heute werden wir das unterlassen.“

„Ah! Wie schade! Warum?“

„Hast du nicht gehört, daß der Alte zurückkehren wird? Ich werde mich sehr hüten, mich von ihm überraschen zu lassen.“

„Wir müßten nur vorsichtig sein.“

„Aber wir wissen nicht, ob diese Vorsicht hinreichend sein wird. Die beste Vorsicht ist jedenfalls, für heute auf alles weitere zu verzichten. Wir kennen die Räumlichkeiten nicht. Es ist sehr leicht möglich, daß man in eine Falle gerät, von der man keine Ahnung hatte.“

„So gehen wir also?“

„Nein, wir bleiben.“

„Sapperment! Diese beiden sind ja fort!“

„Ganz richtig. Aber ich bleibe dennoch, bis der Alte wieder da gewesen ist. Ich muß sehen, ob er zuschließt und dann beruhigt ist. Es kommt für mich viel darauf an, zu wissen, ob er Unruhe oder gar Bedenken hegt.“

„Schön! So können wir uns einstweilen hier umsehen.“

Müller schloß die Tür wieder zu und öffnete dann die Laterne vollständig. Auch hier befanden sie sich in einem großen Gewölbe, welches bis an die Decke mit Kisten und Fässern angefüllt war.

„Jedenfalls Waffen und Pulver“, meinte Fritz. „Donnerwetter! Ein einziges Lichtfünkchen in eines dieser Fässer und die ganze Prosit die Mahlzeit flöge in die Luft. So eine Güte möchte ich mir tun.“

„Und mit in die Luft fliegen.“

„Oho! Ich würde mich beizeiten salvieren. Man müßte eine Zündschnur legen, welche lang genug wäre, so, daß man sich bis zum Augenblick der Explosion in Sicherheit befände.“

„Es wäre jammerschade um diese reichen Vorräte.“

„Jawohl. Welch eine Beute für uns.“

„Und doch kann, selbst wenn wir Sieger wären, sehr leicht der Fall eintreten, daß uns diese Beute verloren geht.“

„Wieso? Lieber würde ich sie in die Luft sprengen als zugeben, daß sich die Franctireurs mit diesen Gewehren gegen uns bewaffnen.“

„Eben diesen Fall meine ich ja.“

„Also doch in die Luft. Hm. Wir müssen auf alle Fälle sehen, aus was diese Vorräte bestehen.“

„Ja, wir werden diese Gänge und Gewölbe genau untersuchen. Freilich gehört dazu viel Zeit.“

„Und dabei werden wir von dem Alten überrumpelt.“

„Ich dachte eben auch daran. Man müßte ein Mittel finden, ihn abzuhalten, herunter zu kommen.“

„Welches Mittel meinen Sie?“

„Man müßte darüber nachdenken.“

„Warum erst viel nachdenken? Ein solches Mittel ist sehr leicht gefunden.“

„Bist du wirklich so außerordentlich scharfsinnig?“

„Ja. Ich habe bereits eins.“

„Das geht ja außerordentlich schnell.“

„Schnell denken und gut denken, das ist ein Vorzug, den der Soldat haben muß.“

„Nun, so sage dein Mittel.“

„Man macht den Alten krank und bettlägerig, so daß er sein Zimmer nicht zu verlassen vermag.“

„Der Gedanke ist nicht schlecht. Aber wie willst du eine Krankheit hervorbringen?“

„Sie vergessen, daß ich Kräutersucher bin.“

„Ja, und außerordentlicher Pflanzenkenner. Aber ich weiß denn doch nicht, ob man sich auf dich verlassen könnte. Du wirst deine Studien wohl schwerlich weiter gemacht haben als bis zum Wegebreit und zur Brennessel.“

„Oho! Ich kenne meine Mittel. Ich würde dem Alten ein Tuch voll Stechapfel geben.“

„Nicht übel.“

„Oder eine Schürze voll Tollkirschen.“

„Das wirkt.“

„Einen Tragkorb voll Taumellolch.“

„Immer besser.“

„Oder einen Sack voll Bovist und Fliegenschwamm.“

„Dann wären wir den Kapitän ganz und gar los. Nein, eines solchen Radikalmittels wollen wir uns ja nicht bedienen.“

„Nun, so weiß Doktor Bertrand etwas Besseres. Ich wende mich an ihn und bitte ihn um ein Mittel, durch welches der Mensch absolut unfähig wird, das Bett zu verlassen.“

„Das ist zu gefährlich.“

„O nein. Das Mittel soll nur auf einige Tage wirken.“

„Gewiß. Ich würde vor der Anwendung eines solchen Medikamentes auch gar nicht zurückschrecken. Aber ich meine, daß es für uns gefährlich ist.“

„Wir nehmen die Medizin doch nicht ein.“

„Nein. Ich weiß nicht, ob ich mich dem Doktor anvertrauen könnte.“

„Oh, der ist verschwiegen. Ihm können Sie Ihr ganzes Vertrauen schenken.“

„Möglich. Aber er gehört jetzt zur hiesigen Bevölkerung, und da ist es jedenfalls besser, daß man sich gar nicht an ihn zu wenden braucht. Aber horch! Man kommt.“

Er öffnete leise die Tür. Er hatte sich nicht geirrt, denn er sah den Kapitän zurückkehren. Dieser trug eine Laterne in der Hand und einen Schlüssel in der anderen. Er schloß die betreffende Tür zu und entfernte sich dann.

„Ob er wirklich ganz ohne allen Verdacht ist?“ fragte Fritz.

„Ganz und gar. Er hat ganz das Aussehen und Tun eines Mannes, welcher nicht die geringste Ursache zu irgendeiner Befürchtung hegt.“

„Nun, dann segne ihn der Himmel für dieses Vertrauen. Wir werden uns alle Mühe geben, es zu täuschen. Gehen wir nun?“

„Warten wir einige Augenblicke. Ich muß, ehe ich von hier aufbreche, erst überzeugt sein, daß er sich vollständig zurückgezogen hat.“

„Und wann untersuchen wir diese Räume?“

„Sobald wie möglich.“

„Das ist mir unangenehm, da ich morgen und übermorgen nicht anwesend bin.“

„Nun, es ist mir auch lieber, dich dabei zu haben. Wenn also nicht ein Grund zur Eile eintritt, so werde ich warten, bis du zurückgekehrt bist.“

„Ich danke! Wissen Sie, welche Ansicht ich über den Gang da draußen hege?“

„Nun?“

„Daß er in kerzengerader Richtung nach Schloß Ortry führt!“

„Das ist auch meine Meinung. Das Schloß und das Waldloch liegen gerade in derselben Richtung auseinander, welche der Gang einschlägt. Meine Vermutung geht sogar noch weiter als die deinige.“

„Daß der Gang noch weiter als bis zum Schloß führt?“

„Nein, weiter nicht. Ich meine aber, daß er zwei Seitengänge in sich aufnimmt.“

„Ah! Woher oder wohin?“

„Rechts nach dem alten Turm und links nach der Ruine, in der du beinahe ergriffen worden wärst.“

„Sapperlot! Das ist sehr leicht möglich. Es hat früher eine Ritterburg hier gegeben, und man weiß ja, daß sich unter diesen Raubnestern gewöhnlich viele Gänge, Gewölbe und Verließe befanden. Wie gut, daß wir die Schlüssel haben.“

„Die werden hierbei nur wenig nützen, wenn mich meine Vermutung nicht täuscht.“

„Es sind ja Hauptschlüssel, die alles schließen.“

„Doch nur Türen.“

„Nun ja, das meine ich ja.“

„Ich aber denke, daß die Gänge geradeso durch einen Stein verschlossen werden, wie derjenige, in dem wir uns gegenwärtig befinden.“

„Das kann allerdings zutreffen. Übrigens ist uns das so ziemlich gleich. Wir kennen ja das Geheimnis.“

„Und werden es auszunützen wissen. Halte dich nur nicht zu lange bei dem Begräbnis auf. Man weiß nicht, was passieren kann, und in unserer Lage muß jede einzelne Minute ausgenützt werden.“

„Das weiß ich. An dem Begräbnis liegt mir eigentlich gar nichts. Viel lieber säße ich mit Nanon im Wald zusammen.“

„Auf dem Kräutersack.“

„Ja, Herr Doktor. Jedenfalls ist mir dies noch angenehmer, als mit ihr bei Sturm und Donner durch die Mosel zu schwimmen.“

„Glaub's, lieber Fritz. Nun aber wird der Alte völlig verschwunden sein. Wir wollen also gehen.“

Sie brachen auf. Müller verschloß die Tür und steckte die Schlüssel ein. Auf dem Rückweg bediente er sich ganz ohne Scheu der Laterne; er war überzeugt, daß jetzt ein Grund zu weit getriebener Vorsicht nicht vorhanden sei. Sie gelangten, nachdem sie den beiden Zugangssteinen ihre ursprüngliche Lage wieder gegeben hatten, in das Freie und traten den Heimweg an.

An dem Ort, wo dies schon einige Male geschehen war, trennten sie sich. Dabei wurden nicht viele Worte gemacht, da alles Nötige bereits besprochen worden war.

Müller gelangte auf seinem gewöhnlichen Weg, nämlich dem Blitzableiter, in sein Zimmer, wo er sich zur Ruhe legte.

Fritz hatte einen weiteren Weg. Er ging mit sich über sehr Verschiedenes zu Rate. Besonders ging ihm der Gedanke an das Mittel, den alten Kapitän krank zu machen, im Kopf herum, und als er bei der Heimkehr noch Licht in der Studierstube des Doktors Bertrand bemerkte, klopfte er leise an die Tür desselben und trat dann ein.

Der Arzt wunderte sich nicht wenig, noch mitten in der Nacht diesen Besuch zu erhalten.

„Monsieur“, fragte er. „Es muß etwas sehr Notwendiges sein, was Sie zu mir führt. Ist jemand krank?“

„Nein, Herr Doktor“, lächelte der Wachtmeister. „Es ist vielmehr sogar jemand ganz tot, und eine andere Person soll erst krank werden.“

„Ganz tot? Ah! Eine Leichenschau? Und krank werden? Das verstehe ich nicht.“

„So muß ich mich verständlicher machen.“

„Ich bitte Sie darum. Setzen Sie sich, und stecken Sie sich hier eine von diesen Zigarren an.“

„Mit Vergnügen, denn Sie pflegen nichts Schlechtes zu rauchen.“

Fritz wußte ganz genau, wie er es mit dem Arzt hielt. Dieser hatte ihm genug Andeutungen gegeben, daß er sich gegebenenfalls auf ihn verlassen könne. Der Wachtmeister brannte sich ganz ungeniert eine Zigarre an, nahm Platz und sagte:

„Ich bin Ihr Diener, Herr Doktor, Ihr Kräutermann, also Ihr Untergebener und da –“

„Ah pah, lieber Herr“, fiel da der Doktor schnell ein. „Sie beginnen mit vollständig falschen Prämissen. Ich bin nicht Ihr Herr, Ihr Prinzipal, sondern Ihr Freund und stelle mich Ihnen zur Verfügung.“

„Danke bestens! Würden Sie mir einen Urlaub von zwei Tagen geben?“

„Gern. So lange Sie wollen. Sie wissen ja ebensogut wie ich selbst, daß Sie nicht von mir abhängig sind. Sie wollen reisen?“

„Ja. Zu dem Toten, von welchem ich sprach, und den Sie glücklicherweise nicht zu beschauen brauchen. Er wird nicht wieder lebendig. Er ist ein Verwandter von Mademoiselle Nanon, nämlich ihr Pflegevater. Sie will beim Begräbnis gegenwärtig sein, und da hat sie mich gebeten –“

„Sie zu begleiten?“ fiel der Arzt ein.

„Ja, so ist es.“

Bertrand lächelte vielsagend, verbeugte sich und meinte:

„Gratuliere.“

„Zu der Leiche? Ah, das ist nicht gebräuchlich.“

„Nein, sondern zu der Eroberung.“

„Hm. Das ist eine zweifelhafte Geschichte. Nicht ich habe sie, sondern sie hat mich erobert.“

„Es ist ganz das gleiche Glück. Wie ich Mademoiselle Nanon kenne, so würde ich sie selbst heiraten, wenn –“

„Wenn ich es mir gefallen ließe, Herr Doktor. Da ich das aber auf keinen Fall tun werde, so – verstanden?“

„Verstanden“, lachte Bertrand. „Also über das eine sind wir uns klar. Wie nun das andere?“

„Der, welcher krank werden soll? Na! Hm! Ich kenne nämlich einen Menschen, einen schlechten Kerl, um den es gar nicht schade wäre, wenn ihn der Teufel holte.“

„Das ist sehr unchristlich gedacht.“

„Sehr christlich sogar, denn das Christentum lehrt ja von einem Teufel, welcher umhergeht und die Menschen verschlingt. Übrigens war dieses ‚Teufel holen‘ nur ein bildlicher Ausdruck. Ich meinte den Tod anstatt den Teufel und wollte sagen, daß es nicht schade wäre, wenn dieser Mensch zu seinen Ahnen versammelt würde.“

„So, so. Weiter.“

„Dennoch will ich ihn nicht ganz und gar tot machen.“

„Sehr mild und liebenswürdig.“

„Ja; ich finde das auch. Er soll nämlich nur für kurze Zeit krank werden.“

„Das ist ein ganz eigentümlicher Vorsatz, lieber Herr.“

„Ich habe nämlich alle Gründe dazu.“

„Und ich errate, warum Sie zu mir kommen, um es mir zu sagen.“

„Das ist mir lieb. Ich wünsche nichts Unbilliges; ich verlange und beabsichtige nichts, was verbrecherisch wäre. Der Mann, von welchem ich spreche, hat nämlich gewisse Absichten, welche ich nicht zustande kommen lassen darf. Ich kann sie aber nur dann verhindern, wenn es mir möglich ist, ihn für einige Tage an das Zimmer, an das Bett zu fesseln.“

„Hm! Er ist es also, der krank werden soll? Ich will nicht fragen, von wem Sie sprechen. Ich kenne Sie und vertraue Ihnen. Aber eins muß ich fragen: Weiß der Herr Doktor Müller von der Sache und billigt er sie?“

„Ganz und gar.“

„Hat er gesagt, daß Sie sich in dieser Angelegenheit an jemand, an mich wenden sollen?“

„Nein. Ich selbst habe ihm diese Proposition gemacht.“

„Und er hat seine Genehmigung erteilt?“

„Er hat sie mir nicht gerade verweigert; er hat das Gespräch abgebrochen.“

„Ich verstehe das. Er hat gewußt, daß ich Ihnen nicht zu Diensten stehen darf.“

Er machte bei diesen Worten eine so eigentümliche Miene, daß Fritz ein geistig wenig begabter Mensch gewesen wäre, wenn er ihn nicht sofort verstanden hätte. Er sagte darum:

„Das weiß auch ich. Es war auch gar nicht meine Absicht, eine Bitte an Sie zu richten. Aber die Sache begann, mich zu interessieren, und da ich noch Licht bemerkte, glaubte ich, Sie für einen Augenblick stören zu dürfen. Gibt es wirklich Mittel, Krankheiten hervorzurufen?“

„Gewiß!“

„Aber diese Mittel sind gefährlich?“

„In der Hand des Laien, ja. Der Arzt ist öfters in der Lage, sie anzuwenden.“

„Sapperlot! Der Arzt macht also öfters seine Patienten krank?“

„Ja, und zwar, um Schlimmeres abzuwenden. Ich werde Ihnen dies an einem Beispiel erklären. Ich impfe eine Person, das heißt, ich bringe einige vorübergehende unschädliche Pusteln hervor, damit diese Person vor der oft lebensgefährlichen Blatternkrankheit bewahrt bleibe.“

„Das ist leicht einzusehen. Ich bin ebenso. Ich habe im Krieg als Soldat einem Feind mit dem Säbel eins in den Arm versetzt, damit ich ihm nicht den Kopf entzwei zu hauen brauchte. Auch mein Mittel ist, wie Sie zugeben werden, in der Hand des Laien gefährlich. Ihre Mittel sind nur in der Apotheke zu haben?“

„Eigentlich. Doch gibt es auch Ärzte, welche eine Hausapotheke besitzen.“

„Das ist bequem.“

„Und zuweilen auch notwendig. Es gibt mitunter Patienten, denen man den Gang in die Apotheke oder die Geldausgabe ersparen will oder ersparen kann. Kommt zuweilen jemand zu mir, den der Zahn schmerzt, warum soll ich ihn erst in die Apotheke schicken, wenn ich selbst ein Mittel habe, welches fast augenblicklich hilft?“

„Sapperlot! Das ist gut. Das freut mich. Weil ich gerade fürchterliche Zahnschmerzen habe.“

„Seit wann?“

„Seit drei Tagen.“

„Wo sitzen sie denn?“

„Rechts im Schneidezahn und links in den zwei hintersten Backenzähnen.“

„O weh! Wollen Sie einmal zeigen?“

„Ja. Hier!“

Er trat mit der ernsthaftesten Miene vor den Arzt hin und öffnete den Mund so weit er konnte. Bertrand nahm mit ebenso ernster Miene das Licht zur Hand, leuchtete in die Mundhöhle, führte den Finger ein und fragte:

„Ist das der betreffende Schneidezahn und sind dies die beiden Backenzähne?“

„Ja, sie sind es.“

„Nun, dann haben Sie die Güte, einen Augenblick zu warten. Ich werde Sie sofort bedienen. Zahnschmerz ist ein böses Ding. Man kann ihn nicht schnell genug los werden.“

„Das ist wahr. Ich will Vivat rufen, wenn er endlich einmal vorüber ist.“

„Das wird in zwei Minuten der Fall sein.“

Der Arzt hatte, als er in die Mundhöhle leuchtete, zwei glänzende Reihen der prachtvollsten gesündesten Zähne gesehen, dennoch brachte er jetzt einen Kasten herbei, welcher ein sehr verhängnisvolles Äußeres hatte. Er öffnete ihn, und Fritz erblickte eine Sammlung jener allerliebsten Instrumente, Schlüssel und Geißfüße, bei deren bloßem Anblick der Schmerz zu verschwinden pflegt.

„Was ist das?“ fragte er, einigermaßen bestürzt.

„Das sind meine Zahnbrecher.“

„Alle Teufel! Sind denn die bei mir notwendig?“

„Leider sehr.“

„O weh! Das ist eine verdammte Geschichte.“

Es war dem Wachtmeister jetzt zumute, als ob ihn alle zweiunddreißig Zähne schmerzten.

„Es muß aber überstanden werden“, meinte Bertrand. „Der Schneidezahn wird wohl noch zu retten sein; aber die beiden Backenzähne sind unwiderruflich hin und verloren. Die müssen heraus.“

„Das brauchen sie mir aber nicht anzutun, nachdem sie bereits so lange Zeit mit mir zusammen gelebt haben.“

„Sie sind ganz angefressen.“

„Das ist eigentümlich. Wer soll sie angefressen haben, da sie es doch sind, deren größte Leidenschaft das Fressen war? Gibt es denn nicht eine friedlichere Auskunft? So eine Art freiwillige Vereinbarung?“

„Die gibt es allerdings.“

„So möchte ich bitten!“

„Ich muß Ihnen aber sagen, daß Ihnen damit nicht gedient sein kann.“

„Warum?“

„Diese Vereinbarung hat keinen langen Bestand. Der Zahnnerv läßt sich vorübergehend betäuben, fängt aber bald wieder an.“

„Aber es ist doch humaner, menschlicher gehandelt, wenn ich diesen Nerv nicht sofort töte, sondern ihm vorderhand einen kleinen Klaps gebe, damit er gewarnt ist.“

„Das ist Ihre Ansicht, aber die meinige nicht. Also, wollen wir?“

Er zog den größten seiner Schlüssel hervor und machte eine Bewegung, als gelte es, einem Elefanten den Stoßzahn aus dem Kopf zu drehen.

„Danke bestens!“ wehrte Fritz ab. „Lassen Sie die Zange, wo sie ist, und versuchen wir es lieber einmal mit einigen Tropfen. Haben Sie nicht Zimttinktur oder Odoatine?“

„Ich habe beides, kann Ihnen aber den Schmerz nicht lindern. Ein ganz neues Mittel gibt es allerdings, welches den Zahnschmerz augenblicklich und für immer stillt; aber ich kann dieses Mittel nur genauen Bekannten geben.“

„Warum?“

„Es hat eine gefährliche Seite. Ein Tropfen auf den Zahn stillt alles Weh; eine größere Quantität aber in das Essen oder Trinken macht den, der es genießt, tagelang zum Patienten, der das Bett nicht verlassen kann.“

„Das ist heimtückisch.“

„Ja. Und wie leicht kommt eine Verwechslung vor.“

„In das Essen, anstatt auf den Zahn“, nickte Fritz verständnisinnig.

„Und vierzig Tropfen, anstatt eines einzigen.“

„Ja; man verzählt sich zuweilen. Man müßte also mit diesem Mittel sehr vorsichtig sein. Riecht es stark?“

„Nein, gar nicht.“

„Welche Farbe hat es?“

„Es ist hell wie Wasser.“

„Schmeckt es schlecht?“

„Es hat gar keinen Geschmack. Gerade darum ist es so außerordentlich gefährlich, weil es von dem, der es genießt, also gar nicht bemerkt wird.“

„Sind die Nachwehen schlimm?“

„Die gibt es nicht. Das ist wieder eine gute Seite dieses Mittels.“

„So ist es mir doch noch lieber als alle Ihre Zangen und Bohrer. Darf ich es versuchen?“

„Ja. Hier haben Sie das Fläschchen. Also einen einzigen Tropfen, nicht aber vierzig.“

„Sapperlot! Wenn ich mich nun verzähle und gar achtzig nehme?“

„Das ist unmöglich, es enthält nicht mehr als vierzig Tropfen.“

„Wie gescheit. Da bin ich beruhigt. Und die Rechnung?“

„Ich nehme nichts, stelle aber die Bedingung, daß ich Ihnen die beiden Backenzähne ziehen darf, wenn diese Tropfen nicht helfen sollten.“

„In diesem Fall helfen sie sicher. Gute Nacht, mein bester Doktor.“

„Gute Nacht, und glückliche Reise, mein Lieber.“

Als Fritz sich in dem Stübchen befand, welches er bewohnte, warf er einen Blick auf die farblose Flüssigkeit, welche sich in dem Fläschchen befand.

„Gewonnen“, sagte er. „Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Dieser gute Doktor ist doch ein braver Kerl. Der alte Kapitän aber wird dran glauben müssen. Nun lege ich mir den Reiseanzug bereit und schlafe noch ein Stündchen.“

Er tat dies, ohne zu besorgen, daß er die Zeit verschlafen werde. Er war Soldat und hatte die Gewohnheit, stets dann zu erwachen, wenn es notwendig war. Während er sich ankleidete, unterhielt er sich mit sich selbst.

„Und nun soll ich bei der Polizei Anzeige machen. Es ist vielleicht besser, ich unterlasse es. Ich muß wirklich gewärtig sein, daß man mich festhält. Vielleicht treffe ich diesen Amerikaner unterwegs. Und ist dies nicht der Fall, so gebe ich, wenn ich in Thionville auf dem Bahnhof eintreffe, einen Zettel mit der Warnung ab. Ehe sie mich da festhalten, bin ich wieder fort. Ja, so und nicht anders wird es gemacht. Der Herr Rittmeister wird es mir wohl verzeihen, wenn ich dieses Mal nicht ganz genau nach Order handle.“

Jetzt war Fritz reisefertig. Er hatte einen neuen Anzug angelegt und machte darin eine sehr gute Figur. Er begab sich nach dem Bahnhof und löste sich ein Retourbillet zweiter Klasse. Er konnte sich dies bieten. –

In Trier angekommen, hatte er so viel Zeit, daß es ihm nicht einfallen konnte, auf dem Bahnhof zu warten. Er machte also einen Rundgang durch die Stadt und begab sich dann in das erste Hotel derselben, wo er sich eine Flasche Wein geben ließ. Außer ihm befand sich nur noch ein Gast im Zimmer.

Dieser war ein Mann von entschieden fremdländischem Aussehen. Sein Teint war dunkel und sein Haar kraus. Ein stattlicher Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Der Fremde machte einen hocharistokratischen Eindruck und war ein wirklich schöner Mann. Sein Auge war feurig, und seine Bewegungen zeugten von Kraft und Gewandtheit. Seine Kleidung und Wäsche war die eines reichen Mannes, der sich zu tragen weiß. Er mochte vierzig oder wenig mehr Jahre zählen, hätte aber, um das Herz einer Dame zu erobern, getrost mit einem Jüngling in die Schranken treten können.

Er las die Zeitung, langweilte sich jedoch offenbar, denn er legte das Blatt von Zeit zu Zeit fort und warf einen Blick zum Fenster hinaus. Während einer solchen Lesepause musterte er Fritz. Dieser schien einen befriedigenden Eindruck auf ihn zu machen, denn er erhob sich, schritt einige Male im Zimmer auf und ab und wendete sich dann mit der Frage an den Wachtmeister:

„Entschuldigung, Monsieur, auch Sie scheinen hier nicht geboren zu sein.“

„Nein. Ich bin hier fremd“, erwiderte Fritz sehr höflich.

„Sind Sie aus dem Süden oder dem Norden?“

„Aus dem Süden, Monsieur.“

„Weit von hier?“

„Nicht sehr.“

„Dann sind Sie zu beneiden. Das Reisen ist zuweilen eine viel größere Anstrengung für den Geist als für den Körper. Die Einförmigkeit der Fahrt, die Gleichheit des Hotellebens ist geradezu schrecklich. Da sitze ich und warte, bis der Zug nach Metz abgeht. Welche Langeweile. Was tut man dagegen?“

Seine rasche Sprache, seine ungeduldigen Bewegungen, das reiche, interessante Spiel seiner Mienen, alles dies zeigte den Südländer an.

„Sie reisen nach Metz?“ fragte Fritz.

„Nicht ganz. Ich steige in Thionville aus.“

„Dorthin fahre ich zunächst auch. Ich bin aus Thionville, obgleich ich heute weiter fahre.“

„Aus Thionville, Monsieur? Ah, erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen plaziere?“

„Gewiß. Man langweilt sich zu zweien weniger.“

„Mit welchem Zug fahren Sie?“

„Halb zwölf.“

„Ich ebenso. Ist Ihnen die Umgegend von Thionville bekannt?“

„Einigermaßen.“

„Kennen Sie den Namen Ortry?“

„Ja. Es ist ein Schloß in der Nähe der Stadt.“

„Wem gehört es?“

„Einem Baron de Sainte-Marie.“

„Wohnt dort nicht auch ein alter Herr, welcher Kapitän der Garde des ersten Kaiserreichs gewesen ist?“

„Jedenfalls meinen Sie Kapitän Richemonte?“

„Ja, diesen.“

„Er wohnt allerdings auf Schloß Ortry.“

„Ist er jetzt dort anwesend?“

„Ja. Ich habe ihn erst gestern gesehen.“

„Das ist mir lieb. Ich muß zu ihm. Sind Sie ihm vielleicht persönlich bekannt?“

„Nein. Wir stehen einander ziemlich fern.“

„Aber seine Verhältnisse kennen Sie?“

„Nur vom Hörensagen.“

„Ist er reich?“

„Darüber wage ich nicht, ein Urteil zu fällen.“

„Er soll ein großer Patriot sein?“

„Das ist wahr; vornehmlich ein Feind der Deutschen.“

„Das hörte ich. Man sagt, daß er sogar mit Personen des kaiserlichen Hofes in Verbindung stehe?“

„Haben Sie dabei einen gewissen Namen im Sinn?“

„Graf Rallion.“

„Ja; sie kennen sich. Der Graf war jetzt einige Tage hier, wird aber heute abgereist sein.“

„Wie schade.“

„Sein Sohn, der Oberst, ist noch anwesend.“

„Nun, das beruhigt mich. Es wurde mir erzählt, daß der alte Kapitän Richemonte den Mittelpunkt gewisser Agitationen bilde.“

Bei dieser Frage blickte er Fritz durchdringend an.

„Ja. Er versammelt alle um sich, welche sich auf einen Krieg mit Deutschland freuen.“

„Sind Sie auch bei diesen Versammelten?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht zu denen gehöre, welche sich überhaupt über einen Krieg freuen können, Monsieur.“

„Aber man ist doch Patriot.“

„Und kann dabei die schönsten Hiebe erhalten.“

„Pah! Frankreich wird siegen!“

„Möglich.“

Fritz sagte das, indem er so gleichgültig mit der Achsel zuckte, als ob ihn das alles ganz und gar nichts angehe.

„Möglich, sagen Sie?“ fuhr der Fremde fort. „Wahrscheinlich, ja, sogar gewiß ist es, daß Frankreich siegt. Wer das Gegenteil sagt, der kennt die Franzosen nicht.“

„Und die Deutschen wahrscheinlich noch weniger.“

Der Fremde fuhr ganz erschrocken auf.

„Was!“ rief er. „Meinen Sie etwa, daß die Preußen den Franzosen überlegen seien?“

„Was läßt sich da sagen? Sie haben sich noch nicht gemessen. Der Preuße hat sich mit dem Dänen und dem Österreicher gemessen und hat gesiegt. Der Franzose hat sich dem Österreicher, dem Russen, dem Mauren, dem Chinesen und Mexikaner als überlegen gezeigt. Nun aber lassen wir diese beiden wirklich aneinander geraten, so wird sich zeigen, wer den anderen niederringt.“

„Monsieur, Sie sind ein schlechter Patriot.“

„Wir befinden uns hier auf deutschem Boden. Man muß vorsichtig sein.“

„Pah! Wir sprechen unter uns, und niemand weiter ist zugegen. Ich bin so überzeugt, von dem Krieg zwischen Frankreich und Preußen und von unserem Sieg, daß ich von sehr weit herkomme, um dem Vaterland meine Kräfte anzubieten.“

„Vielleicht bringen Sie da ein Opfer, welches Sie später bereuen werden.“

„Ich werde es nicht bereuen. Ich bin stolz auf mein Vaterland, obgleich ich in demselben sehr unglücklich gewesen bin. Ich hasse die Deutschen, ich hasse sie.“

Sein schönes, großes, dunkles Auge schleuderte dabei einen Blitz, vor welchem man hätte erschrecken können. Dann fragte er:

„Sie sind wohl ein Freund der Deutschen?“

Fritz streckte behaglich seine starke, kräftige Gestalt, zog die Achseln empor und antwortete:

„Ich lasse alle Nationalitäten gelten. Ich bin kein Menschenfresser. Jedes Individuum und so auch jedes Volk hat die Berechtigung, zu existieren. Man verkehrt, wenn man ein gebildeter Mann ist, mit jedem Menschen höflich; in ganz derselben Weise verkehren so auch die Völker untereinander.“

„Was Sie da sagen, klingt ganz gut, ganz schön, ganz vortrefflich. Aber dazu gehört ein Blut, welches sehr, sehr langsam durch die Adern rollt. Sie sind nicht im Süden geboren?“

„Nein.“

„Nun, dann haben Sie keine Ahnung von der Glut unseres Pulsschlags. Wir Südländer lieben mit Feuer und hassen mit verzehrenden Flammen. Haben Sie einmal geliebt?“

„Hm! Ja!“

„Sind Sie verheiratet gewesen oder noch verheiratet?“

„Nein.“

„Haben Sie Kinder gehabt, schöne, liebe, herzige Kinder, die Ihre Abgötter gewesen sind?“

„Folglich auch nein.“

„Nun, dann dürfen Sie auch nichts sagen, dann müssen Sie schweigen; dann können Sie zwischen Frankreich und Deutschland nicht unterscheiden.“

Er war aufgesprungen und schritt erregt im Zimmer auf und ab. Er war der echte Typus des Südländers: schön, rasch, glühend, mutig, sogar herausfordernd, aufrichtig, unmittelbar, sich ohne Rückhalt und Bedenken gebend.

Fritz dagegen ließ ein breites, behagliches Lächeln sehen und fragte:

„Welchen Unterschied gibt es denn eigentlich zwischen diesen beiden? Ist das eine verheiratet und das andere nicht? Hat das eine schöne, liebe, herzige Kinder, die man wie Abgötter liebt, und das andere dumme, häßliche Kretins und Wechselbälge, welche nicht wert sind, daß man sie anblickt?“

„Sie übertreiben! Sie verstehen mich falsch! Wissen Sie, ich hatte eine Frau, ein Weib; sie war eine Deutsche. Ist damit nicht alles gesagt?“

„Ja. Man sagt, daß die deutsche Frau ein Muster der Treue, Häuslichkeit, Sparsamkeit und Unbescholtenheit sei, eine zärtliche Frau und eine liebevolle, verständige Mutter, die sich allerdings keine Abgötter erzieht.“

„Monsieur, da haben Sie mit schlechten Pferden gepflügt. Die, welche mein Weib wurde, trug allerdings einen französischen Namen, war aber trotzdem eine Deutsche. Ich liebte sie abgöttisch und –“

„Ah, wieder ein Abgott“, lächelte Fritz.

„Ja, sie war mein Idol. Ich sollte meinem Vater eine andere bringen; ich gehorchte ihm nicht, da ich diese Deutsche liebte, und wurde verstoßen.“

„Bloß deshalb, weil sie eine Deutsche war? Da möchte ich ein Wörtchen mit Ihrem Vater sprechen, aber im Vertrauen, so unter vier Augen, ohne Zeugen, damit man später nicht in Ungelegenheiten kommt.“

„Herr, er hatte recht.“

„Wieso?“

„Sie schenkte mir zwei Töchter, wahre Bilder, sonnige, liebliche Töchter –“

„Nun, das war ja sehr schön und lobenswert von ihr.“

„Hören Sie weiter. Eines Tages mußte ich verreisen. Ich blieb lange Zeit abwesend, monatelang, fast ein ganzes Jahr.“

„Das ist freilich unangenehm, wenn man die Seinen liebhat; das kann ich mir denken.“

„Als ich zurückkehrte, war meine Frau verschwunden.“

„Donnerwetter!“

„Und die Kinder mit.“

„Himmeldonnerwetter! Wohin?“

„Weiß ich es?“

„Haben Sie nicht gesucht und geforscht?“

„Monatelang, jahrelang, Tag und Nacht.“

„Und nichts gefunden?“

„Keine Spur.“

„Da haben Sie jedenfalls nicht richtig gesucht. Eine Frau und zwei Kinder verschwinden nicht, ohne so eine Art von kleiner Fährte zurückzulassen.“

„Sie hatte alle Ursache, jede Spur zu verbergen und zu vertilgen.“

„Wieso?“

„Sie ging mit einem anderen durch.“

„Alle Teufel!“

„Ja; sie war eben eine Deutsche.“

„Hören Sie, Monsieur, haben Sie etwa die Ansicht, daß alle deutschen Frauen ihren Männern durchgehen?“

„So ziemlich.“

„Dann sind Sie es freilich wert, daß Ihnen die Ihrige durchgebrannt ist.“

„Monsieur!“ rief der Fremde drohend.

„Ach was, Monsieur hier und Monsieur dort! Sie sagen, was Sie denken, und ich sage, was mir beliebt, damit sind wir fertig. Haben Sie denn übrigens Beweise, daß Ihre Frau mit einem anderen durchgegangen ist?“

„Ja.“

„Welche?“

„Mein Vater und andere sagten und bewiesen es mir.“

„Ihr Vater? Der Sie wegen ihr verstieß? Ah, das ist ja recht interessant. Wer war denn der Halunke, der Sie Ihnen entführte?“

„Ein Unbekannter.“

„Sehr schön! Also der berühmte Unbekannte, der alles tut, was dann anderen aufgebürdet wird. Und die Kinder nahm sie mit?“

„Ja, beide.“

„Hören Sie, Monsieur, ich glaube, daß da Ihre südliche Natur Ihnen mit dem Verstand fortgelaufen ist. Haben Sie denn alles reiflich und weislich geprüft?“

„Alles, alles!“

„Na, dann werde der Teufel daraus klug. Ich will mich fressen lassen, wenn eine Deutsche so leicht durchbrennt wie eine Südländerin! Mir würde meine Frau nun erst gar nicht abhanden kommen. Sodann ist Ihr Vater Ihr Zeuge und Gewährsmann, Ihr Vater, der nicht gewollt hat, daß Sie diese Deutsche heiraten sollten? Das ist wenigstens bedenklich. Und endlich hat Ihre Frau die Kinder mitgenommen? Eine leichtsinnige Frau, die Ihrem Mann davonfliegt, pflegt ihm die Kinder zurück zu lassen.“

„Sie hat sie eben liebgehabt.“

„Schön; sie hat also Herz besessen, sie ist eine Mutter gewesen. Eine brave Frau aber nimmt einem guten Manne seine Kinder nicht weg, zumal wenn sie eine Deutsche ist. Geht sie mit den Kindern von ihm fort, so hat sie ihre Gründe dazu und tut es sicherlich mit blutendem Herzen. Hat sie Ihnen denn nichts, gar nichts zurückgelassen?“

„Einen Brief, ein elendes, kaltes, nichtssagendes Schreiben.“

„Das haben Sie sich natürlich heilig aufgehoben?“

„Wozu? Das ist mir ganz und gar nicht eingefallen. Ich habe ihr Porträt und ihren Brief meinem Vater zum Vernichten zurückgelassen und bin ausgezogen, meine Kinder zu suchen.“

„Ohne sie zu finden.“

„Wie ich bereits sagte.“

„Verzeihung! Wie alt waren Sie, als Sie heirateten?“

„Zwanzig Jahre.“

„Und als Ihre Frau Sie verließ?“

„Zweiundzwanzig.“

„Und Ihre Frau war noch jünger?“

„Zwei Jahre.“

„Ja, so etwas kann, wie es scheint, einem Südländer recht gut passieren. Er verliebt sich mit achtzehn Jahren, macht einem Mädchen Wunder was vor, heiratet mit zwanzig gegen den Willen des Vaters, verreist mit einundzwanzig auf ein Jahr, läßt die arme Frau mit zwei Kindern während dieser langen Zeit schutzlos zurück, allen Angriffen und Intrigen preisgegeben, findet sie dann verschwunden, glaubt den Schwindel, den man ihm vormacht, und schimpft nun auf Deutschland, daß es pufft! Hören Sie, Monsieur, ich bin jedenfalls ein anderer Kerl, als Sie damals waren, aber solche Dummheiten sind mir denn doch nicht eingefallen.“

„Monsieur!“ rief der Fremde abermals drohend.

„Ach was. Wollen Sie mich wirklich fressen, so wünsche ich Ihnen gesegneten Appetit. Etwas unverdaulich bin ich aber, das muß ich Ihnen bemerken. Wohin sind Sie denn gelaufen, um Ihre Kinder zu suchen?“

„Durch ganz Frankreich, durch England und Amerika.“

„Ohne allen Anhalt? Ohne den Namen des sogenannten Verführers zu kennen?“

„Wie sollte ich ihn erfahren haben?“

„Hm! Die reine Flamme, der reine Wind und das reine Wasser. Wenn das zusammenkommt, so kocht und zischt und sprudelt es über den Rand und Deckel hinweg, und wenn dann die Suppe fertig ist, so ist sie angebrannt, und man verdirbt sich den Magen. Und nachher? Was haben Sie dann angefangen?“

„Interessiert Sie das?“ fragt der Fremde, der es nicht leiden mochte, daß Fritz sein Verhalten in dieser Art und Weise beleuchtete.

„Hm, ganz und gar nicht“, antwortete dieser.

„Warum fragen Sie da?“

„Weil Sie selbst mit diesem Gespräch begonnen haben. Habe ich Sie etwa aufgefordert, mir die Geheimnisse Ihres Herzens und Lebens mitzuteilen? Sie haben das Gespräch angefangen. Sie haben mich nach allem möglichen gefragt, und nun ich aus reiner Höflichkeit an der Unterhaltung festhalte, tun Sie pikiert und beleidigt! Ist das im Süden so gebräuchlich?“

„Monsieur, sparen Sie Ihre Fragen.“

„Gut, so brauchen Sie nicht zu antworten. Gehen Sie zu Ihrer Zeitung zurück, und lassen Sie mich in Ruhe!“

„Sie werden grob?“

„Ja; das ist so meine Gewohnheit! Wenn ich mich über einen Menschen freue, so werde ich grob.“

„Gut! Brechen wir ab! Sie sind mit den Regeln des Anstandes und der Höflichkeit noch nicht bekannt.“

„Das ist Ihr Glück, denn sonst würde ich mich versucht fühlen, Ihnen diese Regeln beizubringen.“

Er wendete sich kaltblütig ab. Der Fremde aber konnte nicht zur Ruhe kommen. Er ging im Zimmer auf und ab; seine Brust arbeitete, und seine Augen sprühten Blitze. Endlich setzte er sich doch wieder zu seiner Zeitung nieder.

Fritz trank langsam seine Flasche aus, rief den Kellner, um zu zahlen und ging fort, ohne dem anderen einen Gruß zu gönnen.

Er begab sich auf den Bahnhof, um die Ankunft des Zuges zu erwarten.

Einige Zeit, nachdem er es sich im Wartezimmer bequem gemacht hatte, kam auch der Südländer. Beide nahmen keine Notiz voneinander.

Das Zeichen ertönte: der Zug nahte, und die Glocke läutete zum ersten Mal. Alles eilte nach dem Perron. Fritz nahm sich Zeit. Er wußte, daß der Bedächtige und dabei Umsichtige immer am besten kommt. Der Zug fuhr vor, und die Coupés wurden geöffnet.

„Fünf Minuten Aufenthalt!“ riefen die Schaffner.

Eben wollte Fritz auf den Perron treten, als ein anderer durch die Tür geschossen kam. Es war ein kleiner, sehr dicker Kerl mit einem riesigen Kalabreserhut auf dem Kopf. Er hatte es so eilig, daß er sich gar keine Zeit nahm, Fritz zu bemerken. Darum rannte er mit aller Gewalt gegen diesen an, taumelte zurück, glitt aus, stürzte zur Erde und setzte sich dabei auf seinen goldenen Klemmer, der ihm bei der Karambolage von der Nase gerutscht war.

„Himmeldonnerwetter!“ fluchte er. „Was stehen Sie denn da, wie ein Ölgötze! Können Sie nicht Platz machen?“

„Männchen, Männchen“, antwortete der Wachtmeister lachend. „Stehen Sie auf, gehen Sie heim, und sündigen Sie hinfort nicht mehr, sonst wird Ihnen etwas noch viel Ärgeres widerfahren. Dieses Mal ist nur der Klemmer zum Teufel gegangen.“

Der Dicke blickte nieder, erhob sich einen Zoll und zog das optische Instrument unter sich hervor.

„Himmelelement!“ rief er. „Beide Gläser in Stücke! Da muß der Teufel drinnen sitzen. Sie alter, großer Urian sind an dem ganzen Unglück schuld!“

„Das ist wahr, denn wenn ich nicht dagestanden hätte, so wären Sie so gütig gewesen, an einen anderen zu rennen. Welchen Namen darf ich denn eigentlich beim heutigen Datum in mein Stammbuch schreiben?“

„Ich heiße Hieronymus Aurelius Schneffke; das ist doch klar wie Pudding! Ich bin – Herrjeses, ich soll ja einen kleinen Imbiß für die Damen bestellen. Es läutet bereits zum zweiten Mal!“

Er raffte sich, so schnell als es ging, vom Boden auf und eilte in gerader Richtung weiter, auf die nächste Tür zu. Er öffnete und rief hinein:

„Zwei kalte, deutsche Beefsteaks mit Zubehör! Aber schnell! Es hat Eile!“

„Wollen Sie das telegrafieren, mein Lieber? Wohin denn?“ so fragte eine Stimme.

Er blickte auf und sah zu seinem Schreck, daß er in das Telegrafenbüro geraten war.

„Heiliges Pech! Rechtsum kehrt!“ rief er und warf die Türe zu. „Aber wo ist denn –? Ah, hier! Da steht es: Re – re – ja ja, das muß die Restauration sein! Schon vier Minuten vergangen!“

Er riß diese andere Türe auf und befahl, indem er eintrat:

„Zwei deutsche Beefsteaks nebst Zubehör! Aber fürchterlich schnell! Es hat die höchste Eile!“

Dabei zog er sein Portemonnaie hervor, öffnete es und erkundigte sich, indem er sich gleich mit der bloßen Hand den Schweiß von der Stirn wischte:

„Was kosten beide?“

Keine Antwort.

„Was sie kosten!“

Er vernahm keine Antwort. Nun strengte er seine Äuglein, welche er nicht mit Gläsern bewaffnet hatte, weil diese zerbrochen waren, an und sah zu seinem Schreck, daß sich kein einziger Mensch in dem Raum befand. Er fuhr also wieder hinaus und versuchte, die Schrift zu enträtseln.

„Re – re – reser – reserviertes Zimmer“, las er. „Da hört doch alles und verschiedenes auf! Denke ich da, weil es mit Re anfängt, muß es Restauration heißen! Nun aber eiligst, eiligst!“

Unterdessen war Fritz auf den Perron getreten und hatte sich nach den Waggons erster und zweiter Klasse umgesehen. Er schritt auf dieselben zu. Ein Coupé stand offen; er warf einen Blick hinein und erkannte Madelon. Ja, das war sie, an der Seite einer anderen, aber verschleierten Dame. Rasch stieg er ein.

„Ihr Diener, Fräulein Köhler!“ grüßte er.

„Ihr – Herr Wachtmeister!“ rief sie. „Ist's möglich! Was tun Sie hier in Trier?“

„Fritz, Fritz“, rief da die andere, indem sie schnell den Schleier zurückwarf.

„Gnädiges Fräulein! Wie, Sie hier! Oh, das ist eine Überraschung! Aber, wie ich sehe, sind Sie nicht allein? Hier befindet sich ein fremder Handkoffer.“

„Ein kleiner Maler reist mit uns. Er will uns mit kalten Beefsteaks ergötzen.“

„Ah, der Dicke, der mit mir zusammenrannte, zu Boden stürzte und seinen Klemmer zerquetschte?“

„Ist er wieder gestürzt?“

„Ja.“

„Von Berlin aus das achte Mal! Aber, Fritz, ist Ihre Anwesenheit eine zufällige?“

„Nein. Ich habe von Mademoiselle Nanon den Befehl, Fräulein Madelon zu empfangen und – ah, da kommt noch ein Passagier! Unterwegs das weitere! Erlauben Sie mir, mich Ihnen gegenüber zu setzen, Fräulein Köhler!“

Der, welcher jetzt in das Coupé stieg, war der Fremde, welcher mit Fritz im Hotel die Unterredung gehabt hatte. Er grüßte artig und nahm Platz.

Der dicke Maler hatte während dieser Zeit endlich glücklich die Worte: ‚Wartezimmer zweiter Klasse‘ gefunden.

Eben wollte er die Tür öffnen, da läutete es zum dritten Mal, und die Maschine ließ einen gellenden Pfiff hören.

„Donner und Doria, jetzt pressiert's bedeutend!“ rief er und stürzte in das Zimmer. Er riß einen Stuhl um und segelte in größter Angst und Eile auf das Buffet zu.

„Zwei deutsche Beefsteaks mit Zubehör! Aber schnell, schnell. Es ist keine Sekunde zu verlieren!“

„Warm oder kalt?“ fragte man.

„Donnerwetter! Kalt natürlich! Was kosten sie?“

„Zwölf Groschen beide.“

„Hier!“

Er warf das Geld auf den Tisch.

„Das langt nicht, Verehrtester!“

„Nicht? Wieso?“

„Das ist kein Achtgroschenstück, sondern ein Dreier.“

„Der Kuckuck hole alle Dreier und Achtgroschenstücke!“

Er verbesserte den Fehler und griff nach den Tellern.

„Adieu!“ rief er und sprang davon.

„Halt! Sollen die Beefsteks ins Coupé?“

„Ja!“ brüllte er zurück.

Seine Stimme klang vor Angst und Wut wie diejenige eines angeschossenen Löwen.

„So lassen Sie das Porzellan und Messer und Gabel hier, mein Herr!“

„Habe keine Zeit!“

Damit war er zur Tür hinaus. Ein Kellner lief ihm nach. Sämtliche Coupés waren bereits geschlossen, und der Zug setzte sich eben in Bewegung. Die beiden Damen hatten dem Schaffner gemeldet, daß ein Passagier fehle; er hatte auch so lange wie möglich gewartet, aber nun war es nicht länger gegangen. Den Mädchen tat der eigentümliche, aber doch herzensgute Reisegefährte leid. Sie standen am Fenster. Da kam er aus der Tür gesprungen, mit beiden Beinen, und in jeder Hand einen Teller.

„Halt! Halt! Die Beefsteaks!“ brüllte er mit Riesenstimme. „Ich muß auch noch mit!“

Alle Köpfe fuhren neugierig an die Fenster.

„Zurück!“ rief der Inspektor. „Es ist zu spät!“

„Unsinn! Ich habe bezahlt!“

Er stürzte vorwärts.

„Die Teller her, die Teller!“ rief es hinter ihm.

Der Kellner war es, der ihn einzuholen trachtete. Herr Hieronymus Aurelius Schneffke blickte sich wütend um; das war die Ursache, daß ihn sein Verhängnis abermals ereilte. Der pflichteifrige Schaffner hatte nämlich, als der Maler nicht erschien und es die höchste Zeit gewesen war, den Koffer des Säumenden aus dem Coupé gerissen und ihn auf den Perron gestellt. Gerade als Hieronymus angesichts seiner beiden Damen den bereits sich bewegenden Wagen erreichte, blickte er sich nach dem Schaffner um; er sah den Koffer nicht und stolperte über denselben weg. Hut, Teller, Messer und Gabeln, Senfbüchse und Beefsteaks flogen fort; er selbst aber kollerte eine ganze Strecke auf dem Boden hin. Als er endlich fest auf dem Bauch lag, kam ihm die oft bewährte Geistesgegenwart. Er richtete sich halb empor und rief, indem er den Blick auf das offene Fenster seines verlorenen Paradieses richtete:

„Meine verehrtesten Damen, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich Ihrem geneigten –“

Die übrigen Worte konnte man nicht hören. Sie verhallten im Kreischen der Räder und im Gelächter der zahlreichen Zeugen seiner spaßhaften Niederlage.

„Zum neunten Mal!“ sagte Emma, indem sie wieder Platz nahm.

Ihr gegenüber saß der Fremde, während Fritz bei Madelon Platz genommen hatte. Diese letztere konnte sich noch immer nicht das Wunder seiner Anwesenheit erklären, während er nicht wußte, wie er es sich zu deuten habe, daß das Fräulein von Königsau mitgekommen war.

„Sie sagen, daß Nanon Sie geschickt habe?“ fragte Madelon in gedämpftem Ton.

„Ja, so ist es, Fräulein“, antwortete er.

„Kennen Sie sie denn?“

„Ja, sehr gut.“

„Sind Sie etwa in Ortry gewesen?“

„Vorübergegangen bin ich. Werden Sie hingehen?“

„Auf der Rückreise, ja.“

„Dann bin ich gezwungen, Ihnen ein Geheimnis mitzuteilen. Wollen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, es zu verschweigen?“

„Gern!“

„Herr Rittmeister von Königsau ist dort.“

„Ich weiß es bereits.“

„Wirklich? Wer hat es Ihnen gesagt?“

„Fräulein Emma.“

„Wissen Sie auch die Gründe seiner Anwesenheit dort?“

„So ziemlich.“

„Um Gottes willen!“

„Haben Sie keine Sorge! Ich halte es mit Deutschland, lieber Herr Wachtmeister!“

„Pst! Ich bin nicht Wachtmeister, sondern Pflanzensammler! Die Hauptsache ist, daß Mademoiselle Nanon keine Ahnung haben darf, wer ich bin, und wer der Herr Rittmeister ist!“

„Darf sie auch nicht wissen, daß wir uns kennen?“

„Auf keinen Fall!“

„Ich habe sie nach dem Bahnhof von Thionville bestellt.“

„Sie wird Sie dort erwarten.“

„Und gleich mitfahren?“

„Ja. Ich werde das Vergnügen haben, Sie zu begleiten.“

„Ah! Schön! Aber wie kommt das?“

„Mademoiselle Nanon war so gütig, sich meinem Schutze anzuvertrauen.“

„Das sind Rätsel, auf deren Lösung ich gespannt bin.“

„Ich hoffe, daß diese Lösung nicht übermäßig lange auf sich warten lassen wird. Aber bitte sagen Sie mir, was die Gegenwart des gnädigen Fräuleins zu bedeuten hat.“

„Das ist ein Rätsel für Sie, auf dessen Lösung Sie ebenso warten müssen wie wir.“

„Schön! Ich füge mich. Aber will sie nach Ortry?“

„Ich glaube.“

„Sapperment! Das ist gefährlich. Weiß der Herr Rittmeister, daß sie kommt?“

„Kein Wort!“

„So ist das – verzeihen Sie mir – eine Unvorsichtigkeit. Ah, dieser Kerl macht sich an sie?“

„Wer ist er?“

„Ein Südländer, der die Deutschen haßt, weil seine Frau eine Deutsche war und ihm mit zwei Kindern davongelaufen ist.“

„O weh! Der Arme!“

Sie warf dabei einen mitleidigen Blick zu dem hinüber, von welchem die Rede war, was dem guten Fritz nicht gar sehr gefallen wollte.

Der Fremde hatte bisher Emma gemustert. Ihre Erscheinung machte einen augenblicklichen, unmittelbaren und tiefen Eindruck auf ihn. Sie war schön. Sie glich ganz der Figur eines Germaniabildes. Sie saß da so rein, so mild und doch so selbstbewußt und kräftig. Er konnte das Auge nicht von ihr wenden.

Und ihr erging es mit ihm ebenso. Dieses Eigenartige in seiner Erscheinung frappierte sie. Er hatte etwas Leidendes und doch auch wieder Trotziges an sich und war dabei ein selten schöner Mann. Auf sein Alter hin taxierte sie ihn gar nicht. Ein Mann fragt sich beim Anblick einer Dame fast stets, wie alt ist sie. Eine Dame tut dies einem Herrn gegenüber nicht. Wenigstens nicht sogleich. Sie läßt das Wesen und nicht das Alter auf sich einwirken. Ein junger Backfisch kann sich unsterblich in einen silberhaarigen Mann verlieben.

So trafen und begegneten sich ihre Blicke, bis Emma sich an Madelon mit der Frage wandte:

„Wie heißt die nächste Station?“

„Wellen, mein Fräulein“, antwortete schnell der Fremde. „Über Karthaus sind wir bereits hinweg.“

„Ich danke Ihnen Monsieur!“

Sie verneigte sich bei diesen Worten leicht. Er zog sogleich sein Täschchen und reichte ihr eine Visitenkarte. Sie las den Namen: „Benoit Deep-hill, New Orleans.“

Auch sie griff in ihr Täschchen. Aber durfte sie ihren wirklichen Namen merken lassen? Es war leicht möglich, daß dieser Herr nach Thionville ging oder gar mit Ortry in Beziehung stand. Sie hatte noch die Karte einer Freundin, einer Engländerin, bei sich und reichte ihm diese hin. Er las: „Miß Harriet de Lissa, London.“

„Ah, Sie sind Engländerin, Mademoiselle?“ fragte er, sichtlich erfreut über diese Entdeckung.

„Ja“, antwortete sie, indem sie leicht errötete.

„Das weckt sehr liebe Erinnerungen in mir. Sooft ich in London war, habe ich mich der wahrhaft großartigsten Gastfreundschaft Ihrer Landsleute zu erfreuen gehabt. Das tut wohl, wenn man ein Fremdling ist allüberall.“

Das klang so traurig, und sein Auge nahm dabei einen so trüben Ausdruck an. Sie fühlte, daß dieser Mann sehr viel gelitten haben müsse.

„Sollte Ihnen die Heimat verlorengegangen sein, Monsieur?“ fragte sie.

„Leider! Die Heimat und die Familie.“

„Dann beklage ich Sie! Wer dies beides missen muß, dem ist das Edelste und Beste versagt. Doch kann man Verlorenes ja wiederfinden und Eingestürztes von neuem errichten!“

„Wer baut gern auf Trümmern! Ein Glück ist da nicht mehr zu erwarten.“

Er wendete sich halb ab und richtete den Blick auf das Fenster. So konnte sie sein Profil bewundern. Was war es doch, das an diesem Mann einen solchen Eindruck auf sie machte? Sie bemerkte, daß auch Madelon den Blick kaum von ihm wandte.

Sie spielte mit seiner Karte; dabei entglitt dieselbe ihrer Hand, ohne daß er es bemerkte. Fritz sah es und bückte sich rasch, um sie diensteifrig aufzuheben. Dabei fiel sein Auge auf den Namen. Er machte eine Bewegung der Verwunderung und gab die Karte dann zurück. Der Fremde war nun doch aufmerksam geworden; er bemerkte den Blick, welchen Fritz auf ihn warf, und zuckte, aber kaum bemerkbar, die Achsel. Das konnte der ehrliche Wachtmeister nicht auf sich sitzen lassen.

„Entschuldigung!“ sagte er. „Ist das Ihre Karte, Monsieur?“

„Wessen sonst?“ antwortete der Gefragte rauh.

„Sie heißen wirklich Deep-hill?“

„Ja.“

„Sie kommen aus New Orleans?“

„Ja. Aber was berechtigt Sie zu diesen Fragen, nachdem wir uns bereits zur Übergenüge ausgesprochen haben?“

„Sie werden mir schon erlauben müssen, mich für Sie zu interessieren!“

„Ich kann Sie nicht hindern, aber verbieten kann ich es Ihnen, mir dieses Interesse zu zeigen.“

„Verbieten können Sie es; ich werde mich aber nach diesem Wunsch ganz und gar nicht richten.“

„Monsieur!“

„Pah! Geraten wir nicht wieder aneinander! Ich habe Sie gesucht, und jedenfalls ist es ein Glück für Sie, daß ich Sie gefunden habe.“

Der Amerikaner konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

„Ein Glück für mich, daß ich Sie treffe?“

„Allerdings.“

„Das ist ja interessant! Sie haben meine Karte gelesen. Darf ich wissen, wer Sie sind, Monsieur!“

„Eine Karte kann ich Ihnen nicht geben. Mein Stand rechnet solche Dinge zu den Luxussachen; aber sagen kann ich Ihnen, daß ich als Pflanzensammler bei Doktor Bertrand in Thionville engagiert bin.“

Das Erstaunen des Fremden verdoppelte sich. Sein südliches Wesen, welches gewohnt war, sich rücksichtslos ganz so zu geben, wie es war, konnte auch hier nicht widerstehen.

„Glückliches Land, wo die Kräutersammler erster und zweiter Klasse fahren können und dürfen“, sagte er.

„Das gebe ich zu. In anderen Ländern fahren flüchtige Bankdirektoren und ruinierte Ölprinzen erster Klasse, Monsieur. Übrigens ist zwischen einem Pflanzensammler und einem Dollarsammler kein gar so großer Unterschied. Es muß eben jeder Mensch das Recht haben, seine eigenen Liebhabereien denjenigen anderer Leute vorzuziehen. Meine Passion ist nun einmal das Pflanzensuchen, und das ist ein großes Glück für Sie.“

„Aber Sie glauben wohl, daß ich das nicht begreife?“

„Ich glaube es und fordere daraus für mich das Recht und die Pflicht, mich Ihnen zu erklären. Nicht wahr, Sie werden in Ortry von dem Kapitän Richemonte erwartet, und Sie kommen im Interesse Frankreichs?“

„Monsieur, eine solche Frage darf ich Ihnen nicht gestatten, zumal sie kein guter Franzose zu sein scheinen.“

„Ich sympathisiere mit allen braven Franzosen, mein Herr! Sie tragen Millionen bei sich?“

Der Amerikaner fuhr überrascht zurück.

„Wer sagt das?“ fragte er.

„Ich weiß es. Wollen Sie es bestreiten?“

„Ich kann es zugeben und dennoch bestreiten. Warum beschäftigen Sie sich mit dieser Tatsache?“

„Weil dieselbe für Sie verhängnisvoll werden kann; denn sie kann Ihnen das Leben kosten.“

„Herr, Sie scherzen!“

„Ich spreche im vollsten Ernst.“

„Wie kommen Sie zu Ihrer Behauptung?“

„Ich weiß ganz genau, daß man Sie töten will, um Ihnen Ihr Geld abzunehmen.“

„Ah! Das sollte einem doch schwer werden.“

„Auch zweien oder dreien?“

„Ich bin bewaffnet!“

„Was hilft Ihnen ein Revolver gegen die List und bei einem plötzlichen, unerwarteten Überfall?“

„Das ist wahr. Aber wer ist es, der mich töten will?“

„Vielleicht könnte ich Ihnen antworten, aber ich ziehe es vor, Tatsachen sprechen zu lassen. Ich glaube nicht, daß Sie Ortry lebendig erreichen würden, wenn ich Sie nicht getroffen hätte. Ich bin Ihnen ja entgegengereist, um Sie zu treffen und zu warnen.“

Die beiden Damen wußten nicht, was sie dazu sagen sollten. Sie schwiegen. Der Amerikaner wurde bedenklicher und sagte:

„Aber wie haben Sie von dem Anschlag erfahren?“

„Ich befand mich gestern abend im Wald. Ich hatte mich verspätet und belauschte zufällig das Gespräch zweier Männer, welche in meine Nähe kamen. Sie sprachen davon, daß ein Master Deep-hill aus New Orleans heute mit dem Mittagszug in Thionville eintreffen werde und Millionen bei sich trage. Der Raub sollte geteilt werden. Sie sprachen ferner von einem Dritten, der bereits vor ihnen an Ort und Stelle sein sollte.“

„An welcher Stelle?“

„Das weiß ich leider nicht. Das Gespräch bewegte sich meist in Ausdrücken, welche nicht vermuten ließen, daß der Plan bereits bis ins einzelne vorher besprochen worden war.“

„Haben Sie nicht sofort die Polizei benachrichtigt?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Konnte sie mehr tun, als das, was ich getan habe, nämlich Ihnen entgegenzufahren, um Sie zu warnen?“

„Aber man konnte die Kerls ergreifen.“

„Das können wir jetzt wohl auch noch.“

„Mir ist es ein Rätsel, wie diese Strolche erfahren haben können, daß ich mit Millionen komme. Nur zwei Personen haben davon gewußt.“

„Ich kenne diese beiden.“

„Wirklich? Wer sind sie?“

„Der alte Kapitän und Graf Rallion.“

„Monsieur, wenn Sie das wissen, so sind Sie ganz sicher einer der Unserigen!“

„Darüber habe ich mich nicht zu äußern“, antwortete Fritz zurückhaltend.

„Und sind vielleicht noch mehr eingeweiht, als der Kapitän selbst.“

„Ich habe keinen Grund, Ihnen zu widersprechen oder Ihre Vermutung zu bestätigen; aber ich nehme an, daß Sie nicht vergessen werden, daß ich meine Angelegenheit zu der Ihrigen gemacht habe.“

„Sicherlich nicht! Aber wie haben die Leute, von denen Sie sprachen, von mir erfahren können? Richemonte und Rallion sind beide verschwiegene Charaktere!“

„Vielleicht sind sie belauscht worden!“

„Das ist das Wahrscheinliche.“

„Ich denke es auch.“

„Aber der Ort, an welchem ich überfallen werden soll! Das wäre die Hauptsache! Haben Sie darüber gar keinen Wink aufgefangen?“

„Hm! Man sprach von einem Bahnwärter.“

„Bahnwärter gibt es auf der Strecke, nicht aber auf dem Bahnhof. Gibt es zwischen Thionville und Ortry dergleichen Beamte?“

„Nein. Es gibt da keine Bahn.“

„Sonderbar! In welcher Weise wurde dieses Bahnwärters Erwähnung getan?“

„Die beiden wollten zu ihm gehen und sich mit ihm unterhalten, um dann beweisen zu können, daß nicht sie die Tat begangen hätten.“

„Und doch wollen sie mich berauben.“

„Es schien ganz so, als ob vor der Beraubung etwas zu geschehen habe. Die beiden Männer schienen anzunehmen, Sie bereits in einem Zustand zu finden, welcher die Beraubung erleichtert! Für den Fall, daß Sie noch lebten, wurde der Messerstich und der Griff an der Gurgel erwähnt.“

Da erbleichte der Amerikaner.

„Herrgott!“ rief er entsetzt. „Jetzt wird es licht; ich beginne zu ahnen. Aber das wäre ja fürchterlich.“

„Was, was, was?“ fragten die drei wie aus einem Munde.

„Sollte der dritte, von dem Sie sprechen, den Zug entgleisen lassen wollen?“

Da fuhr Fritz auf, daß er mit dem Kopf an die Decke stieß und rief.

„Das ist's; das ist's! Er will Steine auf die Schienen legen. Die beiden anderen kommen wie ganz zufällig hinzu. Wagen werden zertrümmert, Menschen verwundet und getötet. In der dabei entstehenden entsetzlichen Verwirrung ist es nicht schwer, den Amerikaner herauszufinden. Man nimmt ihm die Brieftasche aus dem Rock. Ist er tot, so geht das sehr leicht; ist er nur verwundet, so genügt ein Druck auf die Gurgel, ihn vollends kaltzumachen.“

Die Damen waren sprachlos vor Schreck gewesen. Jetzt aber rief Emma:

„Jetzt gilt es zu handeln! Man darf um Gottes willen keine Zeit verlieren. Wo befinden wir uns?“

Fritz riß sein Fenster hüben und der Amerikaner das seinige drüben auf.

„Königsmachern ist schon vorüber!“ rief der erstere.

„Wie viele Stationen haben wir noch?“

„Königsmachern ist die letzte vor Thionville. Wenn etwas geschieht, so geschieht es hier, bald gleich. Wo ist die Notleine? Wir müssen ein Zeichen geben!“

Er langte hinaus, Deep-hill drüben. Aber sie fanden die Leine nicht.

„Auf mit den Coupés“, sagte Fritz. „Ich laufe auf dem Trittbrett hin.“

Er langte zum Fenster hinaus und öffnete die Tür. Der Amerikaner tat auf seiner Seite ganz dasselbe. Sie traten auf die Trittbretter hinaus, und ganz in demselben Augenblick ertönte von der Maschine das schrille, bekannte und entsetzliche Rot und Warnungssignal.

Der Zug passierte eine Kurve. Fritz befand sich an der inneren Seite derselben und konnte infolgedessen einen Teil der Bahnstrecke, welche vor der Maschine lag, übersehen.

„Herrgott Steine, große Steine auf den Schienen!“ rief er. „Der Zug kann bis dahin nicht halten. Es gibt ein entsetzliches Unglück. Monsieur, hinaus mit den Damen. Abspringen und sofort zur Seite eilen.“

Er langte in das Coupé, erfaßte Madelon und riß sie hinaus. Er war stark und sie schmächtig und nicht schwer. Er tat einen Satz vorwärts. Es gelang. Noch einige Sprünge, und er rutschte mit dem Mädchen die hohe Böschung hinab.

Der Amerikaner war ebenso geistesgegenwärtig und entschlossen wie der Deutsche.

„Heraus, Miß!“ rief er.

Emma erkannte, daß es keine andere Rettung gäbe und überließ sich seinem Arme. Er war nicht von riesenhaftem Körperbaue, aber er entwickelte in diesem Augenblick eine Riesenkraft. Die Maschine heulte; die Bremsen kreischten; die Räder brüllten. In den Coupés ertönten vielstimmige Rufe des Entsetzens. Deep-hill umfaßte Emma mit seiner Linken, hielt sich mit der Rechten an der Griffstange fest, holte aus und tat den entscheidenden Sprung. Er kam auf die Füße, knickte zwar unter seiner Last zusammen, raffte sich aber sofort wieder empor und schoß mit ihr die hohe Böschung des Damms hinab.

Es geschah dies keine Sekunde zu früh.

Ein Krach, ein fürchterlicher, entsetzlicher Krach, als seien Berge von Erz und Stein zusammengebrochen, ertönte. Ein rasendes Rollen, Pfeifen, Heulen, Wogen, Dröhnen und Stampfen folgte. Das Entsetzliche war geschehen. Der Zug war entgleist und krachte, sich überstürzend, den Damm hinab.

Was nun geschah, läßt sich unmöglich beschreiben. Ein ganzer Berg von Trümmern bedeckte die Stelle. Die Wagen hatten sich überschlagen, waren ineinandergerammt, lagen auf der Seite, auf dem Rücken oder standen hinten oder vorne in die Höhe.

Von Menschenstimmen war wohl eine Minute lang gar nichts zu hören. Dann aber begann ein Wimmern, Stöhnen, Rufen, Schreien, Heulen, Beten und Brüllen, welches jeder Schilderung spottet.

Hart hinter der Unglücksstelle waren zwei Paare zu sehen, das eine auf der rechten und das andere auf der linken Seite des Damms. Emma lag ohnmächtig im Gras, und der Amerikaner kniete bei ihr. Hat sie Schaden genommen? fragte er sich. Er hoffte jedoch, diese Frage mit nein beantworten zu können. Er öffnete ihr das Kleid, damit die Lunge freiere Bewegung erhalten möge. Dabei sah er, von welcher Schönheit dieses reizende Mädchen war.



„Herrlich, herrlich!“ flüsterte er. „So vollkommen, ja tadellos, kann nur eben eine Engländerin sein. Was war Amély dagegen, der kleine Kolibri. Könnte ich die Liebe dieser Göttin erringen.“

Und auf der anderen Seite kniete Fritz bei Madelon. Auch sie hatte die Augen geschlossen, öffnete sie aber jetzt und blickte verwirrt um sich.

„Lebe ich noch?“ fragte sie.

„Ja, Sie leben, Fräulein“, antwortete Fritz. „Wir sind der Gefahr noch im letzten Moment entronnen. Gott sei Dank für diese Rettung.“

„Und wo ist Fräulein Emma?“

„Drüben auf der anderen Seite jedenfalls.“

„Ist auch sie gerettet?“

„Ich hoffe es.“

„Sie hoffen es nur? Sie wissen es nicht genau?“

„Nein. Ich konnte ja noch nicht hinüber. Der Zug ist da drüben hinabgestürzt. Gott! Er wird sie doch nicht dennoch gepackt und zerschmettert haben.“

„Wir müssen sehen. Hinüber, hinüber.“

Sie hatte im Moment alle Spannkraft zurückerhalten. Sie klomm mit einer Eile den Damm hinan, als ob sie nicht soeben den fürchterlichsten Schreck erlebt habe, den man sich nur denken kann.

Fritz vermochte kaum, ihr zu folgen, hielt sich aber doch an ihrer Seite. Droben angekommen erblickten sie die beiden anderen. Emma lag noch immer bewußtlos.

„Sie ist tot!“ rief Madelon erschreckt.

„Nein“, antwortete der Amerikaner laut, „sie lebt; sie atmet. Kommen Sie!“

Jetzt ging es schnell hinab. Madelon kniete nieder, beschäftigte sich eine Minute mit der Freundin und sagte dann:

„Es scheint nur eine Ohnmacht zu sein. Lassen Sie uns allein, Messieurs. Ihre Hilfe wird auch anderweitig gebraucht.“

„Das ist wahr. Kommen Sie!“ sagte Fritz.

Sie eilten der Schreckensstelle zu. Es war ein Anblick des Grauens. Die Lokomotive hatte sich tief in die Erde gewühlt. Sie zischte, dampfte und ächzte noch jetzt wie ein sterbender Drache, der seine Wut gefesselt fühlt. Die Körperteile des Heizers und Maschinisten lagen in der Nähe, fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Auch in und bei den Waggons sah es fürchterlich aus. Die Geretteten und nur leicht Verwundeten hatten sich unter den Trümmern mühsam hervorgearbeitet; die übrigen aber waren noch von den Lasten gebannt, die auf ihnen lagen. Die Geretteten und die Leichtverletzten begannen nun die Nachforschung nach den Armen, welche weniger glücklich gewesen waren. Fritz arbeitete mit dem Amerikaner allen voran.

Da blickte er zufällig auf. Von weiter vorn kamen drei Männer gerannt, einer in der Uniform eines Bahnwärters, die beiden anderen in Zivil.

„Monsieur“, raunte er dem Amerikaner zu, „jedenfalls sind das die beiden.“

„Ja, sie müssen es sein. Wir nehmen sie fest.“

„Aber auf frischer Tat.“

„Wieso? Die Tat ist vorüber und wird ihnen wohl kaum bewiesen werden können, wenn Sie sie nicht genau zu rekognoszieren vermögen.“

„Ihre Gesichtszüge habe ich nicht gesehen; aber dennoch werden wir sie überführen.“

„Auf welche Weise?“

„Haben Sie den Mut, den Toten zu spielen?“

„Das wäre nicht schwer; aber der Messerstich, der Griff an die Gurgel.“

„Pah! Ich werde sie scharf überwachen.“

„Gut! Dann habe ich Ihren Plan verstanden und bin bereit, ihn mit auszuführen.“

„Nehmen Sie vorher die Wertpapiere aus der Brieftasche.“

„Das ist nicht nötig. Diese teuflischen Schufte haben sich getäuscht. Meine Papiere haben nur in meinen eigenen Händen Wert. Selbst wenn ihnen der Coup gelungen wäre, hätten sie keine Centime erhalten.“

„Dann also rasch! Sie sind vorn bei der Lokomotive, Sie aber, Monsieur, dürfen von ihnen vorher nicht bemerkt werden.“

„Wohin aber?“

„Hier ist dieses Coupé erster Klasse. Es ist ziemlich demoliert. Ich bedecke den Körper mit den Trümmern; so bemerkt man nicht, daß Sie unverletzt sind. Durch das Lampenloch von oben beobachte ich die Kerls. Tut einer etwas nur im geringsten bedrohliches für Sie, so schieße ich ihn mit dem Revolver über den Haufen. Also hinein!“

Der Amerikaner kroch in das arg beschädigte Coupé, und Fritz bedeckte ihn mit den Trümmern, so daß nur der Kopf und ein Teil des Oberkörpers zu sehen war.

„So! Warten Sie“, sagte er dann. „Jetzt hole ich vorerst noch einen Zeugen.“

Der Oberschaffner war unbeschädigt geblieben. Er leitete jetzt die Rettungsarbeit, während man die Hilfe erwartete, nach welcher gesendet worden war. Fritz näherte sich ihm und gab ihm einen Wink, abseits hinter einen umgestürzten Waggon zu kommen, wo sie von den beiden zukünftigen Franctireurs nicht beobachtet werden konnten.

„Was wünschen Sie?“ fragte der Beamte.

„Wollen Sie die Verbrecher haben, welche diesen Unfall hervorbrachten?“

„Herr, wenn Sie die mir verschaffen könnten!“

„Sie sind hier.“

„Hier? Unmöglich!“

„Und doch! Es ist keine Zeit zu langen Auseinandersetzungen; hören Sie nur kurz folgendes: Ich belauschte gestern im Wald zwei Männer, welche davon sprachen, daß mit diesem Zug ein Amerikaner komme, welcher ein Vermögen in seiner Brieftasche trage, Sie wollten ihn ermorden – nach seiner Ankunft in Thionville, wie ich vermutete. Ich fuhr ihm entgegen, um ihn zu warnen. Ich traf ihn. Aber diese Schurken hatten einen anderen Plan, als ich erraten konnte. Sie ließen den Zug entgleisen und sind jetzt gekommen, scheinbar, um Hilfe zu leisten, in Wirklichkeit aber, um den Amerikaner zu suchen und ihm noch rechtzeitig die Brieftasche abzunehmen.“

„Ah, wir werden sie bedienen. Wo ist der Herr?“

„Er hat sich dort in das Coupé erster Klasse gesteckt, um den Toten zu spielen.“

„Ich muß ihn sehen.“

Der Beamte trat zu dem Amerikaner und bat, das Taschentuch sehen zu dürfen. Deep-hill zog es hervor und reichte es ihm hin.

„Gut“, meinte der Oberschaffner. „Jetzt kenne ich es. Wollen sehen, ob sie die Probe bestehen.“

„Aber warten Sie noch einen Augenblick“, bat Fritz. „Ich muß auf den Wagen, um zu verhindern, daß sie ihn töten.“

„Das ist vorsichtig und löblich gehandelt. Da liegt ein Fetzen Wachsleinwand. Werfen wir ihn hinauf, damit Sie sich darunter verstecken können. Ich werde es bewerkstelligen, daß die Schufte hierherkommen. Das weitere wird sich dann finden.“

Der Oberschaffner entfernte sich. Fritz kroch auf den Wagen, unter das Glanzleinen, und zog den Revolver. Er konnte durch das Laternenloch alles genau beobachten. Der Amerikaner lag wirklich wie eine Leiche unter den Trümmern. Sein Rock war vorn geöffnet, so daß man sehr leicht zur Tasche gelangen konnte.

Der Beamte war an seinen früheren Standort zurückgekehrt, um seines Amtes weiter zu walten. Er beobachtete die beiden Männer, welche sich scheinbar eifrig bei der Rettungsarbeit beteiligten, sich aber nur wenige Augenblicke an einer und derselben Stelle verweilten. Jetzt, da er aufmerksam gemacht worden war, mußte er bemerken und überzeugt sein, daß sie nach einem Gegenstand suchten. Er trat ihnen näher, sagte einige belobende Worte und fügte dann hinzu:

„Da hinten gibt es auch noch Arbeit, Leute. In der zweiten Klasse saßen einige Weinreisende, und in der ersten Klasse fuhr ein Amerikaner. Man hat noch nichts von ihnen erblickt.“

Er sah ganz deutlich, wie sie sich erfreut ansahen. Sie wurden da gerade auf das, was sie suchten, hingewiesen; darum ließen sie sich den Befehl nicht zum zweiten Mal geben. Der Beamte wendete sich ab und tat gar nicht so, als ob er sie beobachte.

„Das trifft sich gut!“ flüsterte der eine dem anderen zu. „Also in der ersten Klasse liegt er. Ich brenne vor Begierde, ob er das Geld bei sich hat.“

„Das wird sich sofort zeigen. Komm!“

Sie traten an das Coupé und blickten hinein.

„Donnerwetter! Der muß ganz zerquetscht sein“, sagte der eine.

„Man sieht es, daß er tot ist.“

Die meisterhaft verteilten Trümmer täuschten sie.

„Oben ist er noch gut erhalten. Also, zugegriffen.“

Der Sprecher fuhr nach der Rocktasche und zog das Buch hervor. Er öffnete es und sagte, beinahe zu laut für die Lage, in der sie sich auch ohne Beobachtung befunden hätten:

„Alle tausend Teufel! Sieh, diese Zahlen. Lauter Zehn-, Zwanzig- und Fünfzigtausend.“

„Rasch weg damit.“

„Schön! Da hab ich's nun in meiner Tasche. Aber was nun? Gehen wir?“

„Nicht gleich. Das würde auffallen. Sehen wir erst in die zweite Klasse. Man hat nach Thionville und Königsmachern Nachricht gegeben. Es kann jeden Augenblick Hilfe kommen. Sobald diese eingetroffen ist, machen wir uns davon.“

„Bleibt es bei unserem Plan?“

„Ja. Der Alte bekommt keinen Heller.“

„Und Lefleur?“

„Der mag im Buchsbaum jetzt auf uns warten. Was geht er uns an? Wir haben nichts gefunden.“

„Dann vorwärts also.“

Sie entfernten sich und machten sich an anderen Wagen zu schaffen. Dabei gelang es Fritz, unbemerkt von dem seinigen herabzukommen und wieder zu dem Oberschaffner zu gelangen.

„Haben sie es?“ fragte dieser.

„Ja.“

„Das paßt! Hören Sie! Man sendet von Thionville Hilfe. Ich höre das Rasseln der Räder. Warten wir, bis diese da ist, und dann nehmen wir die Teufel fest.“

„Auch sie wollen nur das Nahen der Hilfe abwarten, um sich dann sogleich zu entfernen.“

„So ist es notwendig, sie zu bewachen. Wollen Sie das tun?“

„Gern.“

„Sie haben einen Revolver, wie ich bemerkte, Monsieur? So schießen Sie, ehe Sie einen der Kerle entkommen lassen, ihn lieber kaputt. Ah, da kommt eine Maschine mit Waggons. Gott sei Dank! Diese Hilfe ist sehr nötig.“

Er eilte fort. Fritz aber machte sich an die beiden Männer und tat, als ob er sie bei ihrer Arbeit unterstützen wolle.

Auf die Nachricht von dem Eisenbahnunfall war von Thionville sofort ein Zug abgelassen worden. Er enthielt Beamte, Militär und einige Ärzte. Diese Passagiere sprangen sofort aus den Waggons, als die Maschine vor der Unglücksstelle hielt. Der Oberschaffner eilte sofort auf den Offizier zu, welcher die Truppen anführte, und sagte:

„Mein Kapitän, ich ersuche Sie dringend, zunächst dafür zu sorgen, daß von den Personen, welche bisher hier gegenwärtig gewesen sind, keine den Ort verlassen darf.“

„Warum dies?“ fragte der Hauptmann.

„Die Urheber des Unglückes befinden sich unter ihnen.“

„Sacre bleu! Ist denn dieser gräßliche Sturz des Zuges vom Damm beabsichtigt worden?“

„Ja. Man hat Steine auf die Schienen gelegt.“

„Und Sie kennen die Täter?“

„Ja. Ich werde sie Ihnen nachher bezeichnen.“

„Gut, mein Lieber. Diese Kerls werden ihren Lohn finden.“

Die Maschine wurde ausgehängt und ging nach Thionville zurück, um die Wagen, welche man dort schleunigst von der Richtung nach Metz her requiriert hatte, nachzuholen. Die Soldaten, welche ausgestiegen waren, erhielten den gegebenen Befehl so laut, daß es jedermann hören konnte, jeden niederzuschießen, welcher ohne Erlaubnis ihres Kommandanten versuchen sollte, den Platz zu verlassen. Sie verteilten sich infolgedessen so, daß sie das ganze Terrain vollständig beherrschten.

Die beiden Kerls, welche den Amerikaner ausgeraubt hatten, waren gerade jetzt beschäftigt, einen Toten unter den Trümmern eines Wagens hervorzuziehen. Fritz stand an der anderen Seite dieser Trümmer, um zu versuchen, dieselben ein wenig emporzuheben. Er konnte also gerade in diesem Augenblick nicht hören, was sie sprachen.

„Tausend Donner!“ fluchte der eine halblaut. „Hast du es gehört?“

„Natürlich! Der Kerl schreit ja laut genug. Was sagst du dazu?“

„Verdammt unangenehm.“

„Sie müssen der Ansicht sein, daß das Unglück mit Absicht hervorgerufen worden ist.“

„Ja, und daß die Täter sich noch hier befinden.“

„Was ist da zu machen?“

„Pah! Sie können nichts, gar nichts wissen.“

„Aber wenn sie die Brieftasche bei uns finden.“

„Wie können sie denn wohl auf die Idee kommen, uns zu durchsuchen? Das ist unmöglich.“

„Sehr möglich sogar ist es. Es gibt hier unter den zerstreut herumliegenden Gegenständen manches, was zum Einstecken reizt. Wie nun, wenn man den Gedanken faßt, alle, welche mithelfen, dann zu durchsuchen?“

„Das wird man nicht tun. Das wäre eine Schande, eine Beleidigung, ein monströser Undank gegen diejenigen, welche herbeigeeilt sind, um zu retten und zu helfen.“

„Meinetwegen! Aber besser ist besser. Ich werde doch lieber versuchen, mich davonzumachen.“

„Das ist allerdings das sicherste. Aber wie sollen wir es bewerkstelligen, ohne daß es auffällt?“

„Sehr einfach: Wir tragen einen der Verwundeten nach den Waggons, welche droben auf dem Damm stehen. Jenseits desselben gleiten wir hinab und schleichen uns davon.“

„Sollte da oben nicht auch ein Wächter stehen?“

„Bis jetzt noch nicht.“

„Gut! Komm. Der Kerl hier ist tot. Unsere Bemühung um ihn ist völlig nutzlos. Heda, Kamerad!“

Dieser Ruf war an Fritz gerichtet. Dieser hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Wenn er auch zwar ihre Worte nicht zu verstehen vermochte, so konnte er doch zwischen den Trümmerstücken hindurch ihre Gestalten bemerken und sich also von ihrer Anwesenheit überzeugen. Er antwortete:

„Was gibt es? Zieht doch! Bringt ihr ihn nicht heraus?“

„Nein. Übrigens ist er tot. Gehen wir also dahin, wo unsere Hilfe nötiger ist.“

Sie entfernten sich, indem sie gedachten, von ihm fortzukommen. Aber im nächsten Augenblick stand er bei ihnen und sagte: „Recht habt ihr. Da vorn sind wir notwendiger. Also kommt.“

„Verdammter Kerl!“ fluchte der eine, sah sich aber doch gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Unterdessen hatte Emma von Königsau ihre Besinnung wiedererlangt. Es war ein wahres Wunder, daß es den Rettern der beiden Mädchen geglückt war, den gefährlichen Sprung vom Trittbrett herab ohne Schaden zu vollführen. Dies war nur dem Umstand zu verdanken, daß die Bremsen bereits gegriffen hatten und die Wagen also bereits langsamer gerollt waren.

Als sie die Augen aufschlug, erblickte sie Madelon. Ein zweiter Blick zeigte ihr nach vorwärts die gräßliche Verwüstung, und sofort war ihr das letzte Erlebnis wieder gegenwärtig.

„Gott, mein Gott!“ rief sie. „Du bist gerettet.“

„Und du auch!“ jubelte die Freundin. „Dem Allmächtigen sei Dank! Kannst du dich erheben?“

Emma versuchte, sich aus ihrer liegenden Stellung emporzurichten. Es gelang. Zwar war es bei dem blitzschnellen Herabgleiten vom Bahndamm nicht sanft hergegangen, und sie fühlte an mehreren Stellen ihres Körpers Schmerzen, doch waren dieselben nicht bedeutend, und sie erkannte, daß sie sich im vollständigen Gebrauch ihrer Glieder befand.

„Ja, es geht; dem Himmel sei Dank!“ antwortete sie, indem sie ihre Gelenke prüfend bewegte. „Aber wo ist er?“

„Wer?“

„Der Fremde, welcher mit mir vom Wagen sprang. Ist auch er gerettet?“

Es lag im Ton ihrer Frage und ihrem schönen, jetzt so bleichen Gesicht ein Ausdruck von Besorgnis, wie man sie fremden, gleichgültigen Personen gegenüber nicht zu hegen pflegt.

„Ja, er ist gerettet“, antwortete Madelon.

„Und Fritz?“

„Der Brave, Kühne! Auch er ist ohne Schaden davongekommen.“

„Aber die anderen armen Menschen! Himmel, wie sieht es dort aus! Schrecklich! Entsetzlich!“

„Man wird dort weiblicher Hilfe sehr bedürfen.“

„So müssen wir eilen! Komm schnell, liebe Madelon.“

„Gern, gern! Vorher aber wollen wir uns über dich erst klarwerden. Das ist notwendig.“

„Wieso klarwerden?“

„Du hast dem Amerikaner nicht deine richtige Karte gegeben, wie ich bemerkte?“

„Nein. Ich glaubte, vorsichtig sein zu müssen.“

„Welche denn? Ich muß wissen, wie ich dich zu nennen habe.“

„Es stand auf dem Kärtchen: Harriet de Lissa, London.“

„Gut, so bist du also eine Engländerin, und wir haben uns zufälligerweise im Coupé getroffen. Aber weiß Fritz auch davon?“

„Nein. Unterrichte ihn, wenn du eher mit ihm sprechen solltest, als ich!“

Sie verwendeten noch einen kurzen Augenblick dazu, ihr Reisegewand, welches beschädigt worden war, in Ordnung zu bringen, dann begaben sie sich nach den Trümmern des verunglückten Zuges, wo ein allerdings nicht für jedermann zu ertragender Anblick ihrer wartete. –

Nanon hatte sich nach Thionville fahren lassen, um dort ihre Schwester zu erwarten und zu ihr gleich in dasselbe Coupé zu steigen. Der Zug war signalisiert worden, aber die bestimmte Zeit verging, ohne daß er eintraf. Es mußte unbedingt etwas geschehen sein, und zwar in nicht großer Entfernung von der Stadt.

Da plötzlich hörte sie laute Rufe, die sich wiederholten und im Ton des Schreckens beantwortet wurden:

„Der Zug ist verunglückt! Zwischen hier und Königsmachern!“

Diese Worte konnte sie verstehen. Das Bewußtsein schwand ihr. Als sie es wiedererlangte, sah sie einige Personen um sich beschäftigt, von denen eine jetzt die Frage aussprach:

„Sie erwarteten wohl Bekannte?“

„Ja, meine Schwester“, hauchte sie.

„Gerade mit diesem Zug?“

„Ja. Und ich hörte, er sei verunglückt.“

„Das ist allerdings wahr. Es soll entsetzlich sein.“

„Gott, mein Gott. Ich muß hin.“

Sie wollte fort, aber sie zitterte an allen Gliedern und sank wieder auf ihren Sitz nieder.

„Fassen Sie sich, Mademoiselle!“ sagte der Mann in beruhigendem Ton. „Jedenfalls sind nicht alle verletzt, und man darf hoffen, daß Ihre Schwester sich unter den Unverletzten befindet.“

Das gab ihr einigen Trost und auch die verlorene Kraft.

„Ich danke, Monsieur“, sagte sie. „Aber ich muß fort; ich muß hin und zwar sogleich.“

Sie erhob sich, um fortzueilen, er aber hielt sie mit sanfter Gewalt zurück und sagte:

„Warten Sie, Mademoiselle. Man hat bereits nach Hilfe geschickt. Es wird Militär kommen, auch Ärzte werden gesucht. Glücklicherweise ist eine geheizte Maschine vorhanden. In einigen Minuten werden einige Wagen nach der Unglücksstätte fahren.“

„Aber wird man mich mitnehmen?“

„Eigentlich würde man dies wohl kaum tun; aber ich werde dafür sorgen, daß Sie einen Platz finden.“

Der Mann war Bahnhofsbeamter und hielt Wort. Er selbst brachte Nanon in ein Coupé. So kam es, daß sie mit dem Militär zugleich an dem Schreckensort ankam. Als sie die dortige Verwüstung erblickte, brach sie in die Knie, und es dauerte einige Zeit, ehe sie wieder so viel Kraft gewann, die Böschung herunterzuklettern. Sie hätte laut jammern mögen; da aber erblickte sie einen, den sie hier nicht erwartet hätte, zumal sie auf dem Bahnhof vergeblich nach ihm gesucht hatte, obgleich er von ihr dorthin bestellt worden war – Fritz Schneeberg, den Pflanzensammler.

Das gab ihr ihre ganze Beweglichkeit zurück. Im Nu stand sie bei ihm. Er kniete mit zwei Männern bei einem Verwundeten an der Erde. Sie ergriff ihn beim Arme und sagte:

„Monsieur Schneeberg! Sie hier? Gott sei Dank! Wo ist meine Schwester?“

Er erhob sich mit vor Freude glänzendem Gesicht, deutete den Damm entlang und antwortete:

„Keine Sorge, Mademoiselle Nanon! Dort kommt sie eben!“

Sie stieß einen Schrei des Entzückens aus und eilte mit weit geöffneten Armen der Geretteten entgegen, welche mit Emma soeben sich näherte.

„Madelon, Madelon! Meine Schwester! Du bist gerettet!“

Die Angerufene warf einen scharfen Blick auf die so eilig Herbeifliegende, breitete ebenso wie diese ihre Arme aus und jauchzte:

„Nanon! Du hier! Gott, welch ein Wiedersehen!“

Sie lagen sich in den Armen; sie herzten und küßten sich; sie streichelten einander liebkosend die Wangen und schluchzten dabei vor Freude und Glück.

„Ich glaubte dich tot und verloren“, sagte Nanon.

„Gott sei Dank! Ich bin gerettet.“

„Ohne mit zerschellt zu werden! Welch ein Wunder!“

„Ja, es war ein Wunder, welches nur die Kühnheit vollbringen konnte.“

„Die Kühnheit? So ist es nicht ein Zufall, daß ich dich so unversehrt vor mir sehe?“

„Nein. Der Zug war noch in Fahrt, und die Maschine gab das Rotsignal, da ergriff mich einer der Passagiere, riß mich aus dem Wagen und sprang mit mir vom Trittbrett herab.“

„Welch eine Verwegenheit! Und welch eine Geistesgegenwart! Ist dieser Held ebenso unverletzt wie du?“

„Ja, und ich danke Gott und allen Heiligen dafür.“

„Ich ebenso. Vor allen Dingen aber gehört auch dem mutigen Mann unser Dank. Wo ist er?“

Über Madelons Gesicht breitete sich ein fröhliches, erwartungsvolles Lächeln, als sie, vorwärts deutend, antwortete:

„Der hohe, kräftige Herr, welcher dort bei den Verwundeten beschäftigt ist.“

Nanon blickte nach der bezeichneten Stelle und fragte:

„Der? Wirklich der?“

„Ja, freilich.“

Das schlug sie in höchster Überraschung und Freude die Händchen zusammen und rief:

„Das ist ja Monsieur Schneeberg, mein Freund und Bekannter.“

„Allerdings, liebe Nanon.“

„Und der hat dich gerettet, der? Das ist ja gar nicht möglich.“

„Warum sollte es nicht möglich sein?“

„War er denn im Zug? War er mit in deinem Coupé?“

„Ja. Er stieg in Trier zu uns ein.“

„Das begreife ich nicht. Ich hatte ihn doch nach dem Bahnhof in Thionville bestellt. Ich muß hin zu ihm, sofort, um ihm zu danken.“

„Ja, tue das; aber laß dir vorher diese Dame vorstellen. Meine Schwester Nanon – Miß de Lissa aus London, welche auf ganz dieselbe Weise gerettet worden ist wie ich.“

Fragen und Antworten waren einander so schnell gefolgt, daß vom ersten bis zum letzten Wort nur Sekunden vergangen waren. Erst jetzt nahm Nanon Notiz von Emma von Königsau. Sie verbeugte sich vor ihr und fragte:

„Auch Sie sind durch Schneeberg gerettet worden, Miß?“

„Wenn auch nicht direkt, aber doch mittelbar“, antwortete die Gefragte. „Wäre er nicht in unser Coupé gestiegen, so lägen auch wir beide zerschmettert unter den Wagen.“

„Der brave, gute Mensch! Ich muß wirklich sogleich hin zu ihm.“

Sie eilte fort, und die beiden anderen folgten ihr.

Fritz war eben beschäftigt, bei dem Verband eines Verunglückten mit Hand anzulegen, als Nanon seinen Arm ergriff.

„Monsieur, Sie sind es gewesen, der Madelon gerettet hat?“

Er nickte ihr freundlich zu und antwortete:

„Es war kein Verdienst von mir, sondern der reine Zufall, Mademoiselle. Sprechen wir später davon. Jetzt müssen wir diesen armen, beklagenswerten Leuten unsere ganze Aufmerksamkeit zuwenden.“

„Ja, ja, Sie haben recht. Jetzt ist der Schreck vorüber, und ich kann helfen.“

Die drei Mädchen wendeten sich an die beiden Ärzte, welche mit dem Zug gekommen waren, und baten sich deren Befehle aus.

Die beiden Franctireurs befanden sich noch bei Fritz, oder vielmehr, dieser befand sich noch bei ihnen; er war ihnen nicht von der Seite gewichen. Jetzt hatten sie den Verwundeten ergriffen, um ihn nach dem Coupé zu tragen. Fritz wollte jetzt mit angreifen, allein der eine sagte abwehrend:

„Das ist nicht nötig. Wir bringen ihn allein fort.“

„Den steilen Damm hinauf?“

„Ja, wir sind keine Schwächlinge.“

„Aber nicht in das Coupé hinein. Dazu gehören drei.“

Bei diesen Worten faßte er mit an. Es fiel ihm gar nicht ein, zurückzubleiben, und die beiden anderen konnten nichts dagegen tun, obgleich sie ihn innerlich verwünschten. Aber sie verständigten sich gegenseitig durch einen kurzen Blick, daß jetzt die geeignetste oder wohl gar die höchste Zeit zu ihrer Entfernung gekommen sei.

Sie glaubten ganz und gar nicht, daß Fritz alles wisse. Er aber hatte auch diesen Blick aufgefangen und fühlte sich Manns genug, ihre Flucht zu vereiteln. Als sie langsam mit dem Verwundeten die Böschung emporstiegen, trat der Oberschaffner, der erst jetzt Zeit dazu fand, zu dem Offizier.

„Kapitän“, sagte er, „die beiden Männer dort sind es, welche ich meine.“

Dabei deutete er nach den dreien.

„Ah! Der hohe, starke Mensch nicht, der mit bei ihnen ist?“

„Nein. Ihm vielmehr haben wir ihre Entdeckung zu verdanken. Er hält sich zu ihnen, um sie zu beobachten.“

„Schön! Sie werden aber Gelegenheit zum Entkommen suchen. Ich werde das verhindern.“

Er winkte zweien seiner Untergebenen und gab ihnen einen leisen Befehl. Sofort machten sie ihre Gewehre schußfertig.

„Aber nur dann, wenn sie auf meinen Zuruf nicht achten“, fügte er hinzu. „Sucht dann, sie nur zu blessieren, nicht aber zu töten. Wir müssen sie lebendig haben.“

Die drei waren beim Coupé angekommen. Einer der beiden Männer sagte zu Fritz:

„Es kann nur einer voran. Sie sind der stärkste von uns, wie es scheint. Steigen Sie ein, indem Sie den Verwundeten bei den Schultern nehmen.“

„Hm!“ dachte Fritz. „Wartet, ihr Burschen. Mich betrügt ihr schon lange nicht. Ich will euch zum Spaß den Willen tun; das wird eine Falle, in die ihr selbst springt.“

Er faßte den Blessierten an und stieg langsam und vorsichtig, um ihm keine Schmerzen zu verursachen, rückwärts hinauf in das Coupé. Die beiden anderen hoben und schoben nach. Aber als der Verunglückte nun noch nicht ganz auf der Bank lag, flüsterte der eine:

„Jetzt oder nie. Vorwärts!“

Er wendete sich um und schritt langsam und sich ganz unbefangen stellend, den Waggons entlang, um dann um den letzten derselben herumzubiegen und auf die andere, unbewachte Seite zu kommen. Der Offizier aber bemerkte es:

„Halt, ihr beiden da oben!“ rief er. „Bleibt stehen.“

Sie taten, als ob sie den Ruf gar nicht gehört hätten, und schritten weiter.

„Halt! Steht, oder es gibt Feuer!“

Da blickte der eine rückwärts und raunte dem anderen zu:

„Donnerwetter! Sie haben uns im Verdacht. Da sind wir verloren, wenn wir gehorchen. Die Kerls mögen nur zielen. Zwei oder drei schnelle Sprünge, so sind wir um den Wagen herum und den Damm drüben hinab. Vorwärts.“

Im nächsten Augenblick flogen sie am letzten Wagen vorüber.

„Feuer!“ kommandierte der Kapitän.

Fritz hatte, im Coupé noch mit dem Verwundeten beschäftigt, das Verschwinden der beiden sofort bemerkt. Rasch warf er zur offenen Tür hinaus ihnen einen Blick nach.

„Richtig!“ brummte er vergnügt. „Sie wollen auf die andere Seite. Wartet! Dort werde ich euch ‚guten Tag‘ sagen.“

Er öffnete die jenseitige Tür, sprang hinaus, zog den Revolver und eilte bis zur Ecke des letzten Wagens. In demselben Augenblick hörte er das letzte Kommando des Kapitäns. Die Schüsse krachten, aber die Kugeln schlugen durch die beiden Wagenwände, ohne zu treffen, und dann kamen die Flüchtigen um die Ecke gesprungen.

„Willkommen!“ rief Fritz ihnen entgegen. „Habt ihr es so eilig? Halt! Stehenbleiben.“

Die beiden erkannten die Gefahr, in welcher sie schwebten. Der vordere holte aus, um Fritz den Revolver aus der Hand zu schlagen, empfing aber noch eher einen solchen Fausthieb, daß er zu Boden stürzte und für einige Augenblicke seine Beweglichkeit verlor. Der andere riß sein Messer heraus und stürzte sich auf Fritz; aber der tapfere Ulanenwachtmeister empfing ihn mit einem Fußtritt in den Unterleib, so daß auch er niederstürzte und das Messer fallen ließ. Im Nu hatte Fritz seinen Revolver in die Tasche gesteckt und kniete auf den beiden, ihnen mit seinen kraftvollen Fäusten die Kehlen zusammenpressend.

In diesem Augenblick kamen mehrere Soldaten und auch der Kapitän um die Wagenecke gerannt.

„Ah!“ rief dieser letztere ganz außer Atem. „Da sind sie ja.“

„Ja, da liegen sie“, lachte Fritz. „Die Arbeit ist bereits getan. Am besten ist's, Sie lassen sie binden.“

Dieser bestimmte Ton mißfiel dem Offizier.

„Ich denke, daß ich es bin, der zu bestimmen hat, was hier geschehen soll.“

„Ich habe nichts dagegen“, antwortete Fritz, indem er die Hände von den Gefangenen nahm, seinen Hut, der ihm entfallen war, wieder aufsetzte und sich erhob. „Aber bitte, keine Unvorsichtigkeit wieder, Herr Kapitän.“

„Was meinen Sie mit Ihrer Unvorsichtigkeit?“ fragte dieser in zornigem Ton.

„Die beiden Kugeln, welche diese Männer treffen sollten, sind durch den Wagen gegangen. Wie nun, wenn ich getroffen worden wäre?“

„Pah! Sie selbst wären schuld gewesen. Wußten wir, daß sie hinter dem Waggon steckten? Wer hat Ihnen überhaupt geheißen, nach dieser Seite zu gehen?“

„Ich, Herr Kapitän! Hätte ich das nicht getan, so wären die beiden Schurken entkommen. Ehe Ihre Leute erschienen wären, hätten diese Kerls da unten im Gebüsch Deckung gefunden.“

„Das fragt sich sehr, Monsieur.“

„Und überdies liegen in dem Waggon, durch den die Kugeln gegangen sind, Verwundete, welche sehr leicht getroffen werden konnten. Das hätte man sich überlegen sollen.“

„Ah, wer sind Sie, daß Sie es unternehmen, einen solchen Ton anzuschlagen?“

„Das tut hier nichts zur Sache. Die Hauptsache ist vielmehr, daß Sie sich dieser zwei Männer versichern, sonst gehen sie abermals durch.“

Er nickte dem Offizier grüßend zu und kletterte wieder den Damm hinab. Der letztere aber gab sich Mühe, seinen Ärger zu verbeißen und ließ die Gefangenen binden und in ein leeres Coupé bringen, vor welches er eine Wache stellte.

Die beiden Franctireurs meinten, daß sie sich nur durch die größte Dreistigkeit zu retten vermöchten.

„Herr Kapitän“, fragte der eine. „Was haben wir getan, daß Sie auf uns schießen und uns dann ergreifen und fesseln lassen? Wir sind uns keines Unrechts bewußt.“

Aber in diesem Augenblick brachte Fritz den Oberschaffner und den Amerikaner herbei.

„Fragt diese Herren“, antwortete der Offizier.

Als sie den Amerikaner sahen, war es ihnen, als ob sie einen Geist erblickten.

„Ihr habt diesen Herrn bestohlen“, sagte der Oberschaffner, indem er auf Deep-hill deutete.

„Wir wissen nichts davon.“

„Oh!“ meinte Fritz. „Gerade der, welcher dies behauptet, hat die Brieftasche dort an der Brust stecken.“

Er stieg in das Coupé und zog sie ihm heraus.

„Hier ist sie, Monsieur Deep-hill. Sehen Sie nach, ob etwas fehlt. Diese beiden Spitzbuben sprachen von hohen Banknoten.“

Deep-hill öffnete das Portefeuille, zählte nach und antwortete lächelnd:

„Es fehlt nichts. Übrigens hätten die Räuber sich wohl sehr geirrt. Das hier sind keine Banknoten, sondern Anweisungen an meinen Kassierer, die ich erst noch zu unterschreiben hätte, ehe sie honoriert würden. Jetzt sind sie keinen Sou wert.“

„Das vermindert aber nicht die Schuld dieser Menschen“, bemerkte der Oberschaffner. „Sie haben Steine auf die Schienen gelegt, um den Zug entgleisen zu lassen und dann diese Tasche zu stehlen. Sie sind schuld an dem Tod und der Verwundung so vieler Menschen. Sie sind ohne Gnade dem Tod verfallen.“

„Man beweise uns das!“ rief der eine. „Wir können unser Alibi bringen. Wir haben beim Bahnwärter gestanden, als das Unglück geschah.“

„Das wissen wir bereits. Aber euer Kamerad legte die Steine, während ihr um das Alibi besorgt wart. Ihr werdet uns nicht entgehen. Wo ist dieser Kamerad?“

„Wir haben keinen.“

„Schön! Man wird euch schon zum Geständnis bringen! Mein Kapitän, bitte, sorgen Sie dafür, daß diese Menschen nicht abermals einen Fluchtversuch unternehmen können.“

„Das sollen sie wohl bleiben lassen!“

Sie begaben sich alle wieder hinab zu den Wagentrümmern, wo es noch so vieles zu tun gab; vorher aber postierte der Offizier einen Soldaten an das offene Coupéfenster. Dieser Posten mußte sich auf das Trittbrett stellen, um die Verbrecher unausgesetzt im Auge zu haben, und erhielt den strengen Befehl, sofort auf sie Feuer zu geben, wenn sie die geringste verdächtige Bewegung machen sollten. Hören aber konnte er doch nicht, was sie leise, ganz leise einander zuraunten:

„Du, wir sind verloren!“

„Der Teufel hole den Hund, der uns angehalten hat! Wer mag er sein?“

„Ich kenne ihn nicht!“

„Ich auch nicht! Es wäre gelungen! Nun aber ist's aus!“

„Man scheint alles zu wissen!“

„Auch von Lefleur, der im Buchsbaum jetzt auf uns wartet. Wie mag man das erfahren haben?“

„Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir sind belauscht worden!“

„Aber von wem?“

„Das werden wir vor dem Gericht erfahren.“

„Hölle und Teufel! Sind wir einmal dort, so gibt es keine Rettung mehr!“

„Hier auch nicht.“

„Oho!“

„Ah! Hast du einen Gedanken?“

„Ja; aber leiser, viel leiser. Wir dürfen die Lippen gar nicht bewegen, sonst merkt dieser vermaledeite Posten, daß wir uns unterhalten!“

„Na, die da unten machen genug Lärm, so daß unser Flüstern unhörbar wird. Also, welchen Gedanken hast du? Streng dich an! Wir gehen einem schauderhaften Tod entgegen.“

„Hm! Bisher scheint uns niemand erkannt zu haben. Wenn wir entkämen, wüchse mit der Zeit Gras über die Geschichte. Wir müßten auf einige Jahre verschwinden.“

„Natürlich! Aber wie hier hinaus und fort?“

„Wir werden nur auf der einen Seite bewacht, da auf der anderen aber nicht – –“

„Was nützt uns das?“

„Wenn wir öffnen könnten!“

„Der Kerl wendet doch kein Auge von uns!“

„Man müßte ihm Veranlassung dazu geben!“

„Das wäre zwar eine Möglichkeit; aber wir sind gefesselt. Wie wollen wir das Coupéfenster niederlassen, um die Tür aufzubekommen!“

„Das ist wahr. Und selbst wenn wir hinaus könnten, zu entkommen wäre doch nicht möglich, da wir mit diesen gefesselten Händen nicht rasch genug laufen könnten.“

„Hölle! Hätten wir ein Messer!“

„Das ist's! Das meinige ist mir entfallen. Laß uns nachdenken! Jetzt ist die einzige, die letzte Zeit zur Rettung!“

„Du! Ah, da fällt mir etwas ein!“

„Wirklich! Was?“

„Denkst du, daß uns der Alte im Stich lassen wird?“

„Der Kapitän? Meinst du ihn?“

„Ja, natürlich!“

„Hm! Eigentlich sollte man denken, daß ihm an unserer Befreiung ebensoviel liegen sollte als uns selbst.“

„Freilich! Aber dieser Kerl ist unberechenbar.“

„Er muß sich doch sagen, daß wir ihn verraten werden, wenn er uns aufgibt!“

„Es fragt sich, ob er sich etwas daraus macht. Er hat zu viele Mittel in den Händen, sich rauszureden!“

„Still!“ gebot jetzt der Posten, der nun doch bemerkt haben mußte, daß die beiden miteinander sprachen.

„Wir reden ja nicht!“ erhielt er grob zur Antwort.

„Ich habe es gesehen und gehört. Sprecht ihr noch einmal, so erhaltet ihr einen Knebel in den Mund!“

Sie warfen ihm wuterfüllte Blicke zu, mußten aber seinem Befehl Gehorsam leisten.

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