Johannes Mario Simmel

Hurra, wir leben noch

Roman

Knaur e-books

Buchnavigation

> Buch lesen

> Titel

> Informationen zu Johannes Mario Simmel

> Informationen zum Buch

> Impressum

> Hinweise des Verlags

Die großen Zeiten, die heldischen Zeiten brauchen große, heldische Menschen. Das haben uns die Lehrer in der Schule erzählt, und ich mußte immer denken: Was für ein Unfug. Wenn Helden schon überhaupt nötig sind, dann doch bitte für kleine, schlimme und schwierige Zeiten!

Die letzten dreißig Jahre zum Beispiel waren doch für uns alle wahrhaftig kein Honiglecken – oder? Denken wir nur an den Beginn. Und an heute.

Da gibt es nun einen Mann, der heißt natürlich nicht Jakob Formann, wie er in diesem Buch heißt, sondern ganz anders – und das ist so einer, wie ich ihn mir immer gewünscht habe: ein Held für schlechtes Wetter!

Jakob freilich würde bloß verlegen werden, wenn ihm das jemand mitten ins Gesicht sagte. Denn er findet sich alles andere als heldisch.

Ich habe diesen Jakob Formann, der in Wirklichkeit ganz anders heißt, innig in mein Herz geschlossen. Und darum, und zum Trost und zur Belehrung von uns allen, habe ich seine Geschichte aufgeschrieben.

J. M. S.

Für meine Helena

Wir haben den größten Krieg aller Zeiten angefangen und ihn glorreich verloren. Besonders glorreich verloren haben ihn jene, die ihn gewannen. Danach ging es uns eine Zeitlang miserabel. Danach ging es uns eine Zeitlang derart gut, daß die Welt Bauklötze staunte. Das nannte man das »Wirtschaftswunder«. Dann war diese Periode zu Ende, und es begann uns wieder wunderbar zu gehen. Ohne Zweifel wird alles bald wieder okay sein.

Warum das so ist, hat mir keiner der vielen Experten, die ich befragte, besser erklären können als Kurt Tucholsky, den ich zwar leider nicht mehr befragen konnte, der aber 1930 folgendes geschrieben hat:

DER KREISLAUF DER NATUR

Mein Vater hat einen Cousin, dessen Stiefvater ist mit seinem Großzwilling verheiratet. Und dem sein Onkel pflegt zu sagen: »Mein liebes Kind, da sind nun also die Würmer. Die Würmer werden von den Fröschen gefressen; die Frösche von den Störchen; die Störche bringen die Kinder; und die Kinder haben Würmer. So schließt sich der Kreislauf der Natur.«

[home]

Prolog

Die glücklichen Zeiten der Menschheit sind die leeren Blätter im Buch der Geschichte.

LEOPOLD VON RANKE (1795–1886)

1

Und mit der Wildheit eines Stiers nach vorn.

Und mit aller Wollust dieser Erde wieder zurück.

Nach vorn. Zurück. Ach, welche Wonne, ach, welches Glück. Blödsinniger Werbespruch: ›Nur fliegen ist schöner‹. Das Schönste auf der Welt war und ist und wird zu allen Zeiten bleiben: das da! Und vor. Und zurück. Gibt natürlich viele unter uns, die dabei mächtig schwitzen, dachte er. Richtig tropfen. Den Süßen ins Gesicht. Zwischen die Brüste. Auf den Bauch. Haben mir Frauen erzählt.

Und wieder nach unten. Und wieder – langsam! – nach oben. Ich, dachte er, tropfe niemals. Glückspilz, der ich bin. Heiß wird mir natürlich. Ist ja auch eine Anstrengung. Komisch, so heiß wie diesmal ist mir noch nie gewesen. Man muß schon sagen: gottverflucht heiß.

Und stellte mit blankem Entsetzen fest: Über seine Nase rann ein Schweißtropfen! Fiel abwärts.

Drip!

Und ein zweiter.

Drip!!

Entsetzlich.

Drip!!!

Ein dritter.

Grauenvoll, dachte er. Bin ich heute so aufgeregt? Oder werde ich alt? Oder was ist sonst los? Ich halte ja immer die Augen geschlossen dabei. Konzentriert man sich besser. Aber jetzt will ich doch eines riskieren. (Ein Auge.) Er riskierte eines. Danach ward ihm von einem Sekundenbruchteil zum anderen nicht mehr siedend heiß, sondern eisig kalt.

Ach du liebe Güte!

Kein Wunder, daß ich so schwitze.

Unter mir brennt ein Feuerchen. Wenn der Tank von einem Rolls-Royce, Marke ›Silver Shadow‹, explodiert, und wenn dabei das Benzin in Brand gerät – eijeijei! Ich habe einen Rolls-Royce, Marke ›Silver Shadow‹. Ich habe noch vier andere Autos. Aber mit dem ›Silver Shadow‹ bin ich heute nacht gefahren.

Und vor. Und zurück. Und vor. Und …

Wieso eigentlich, bitte recht herzlich. Riskieren wir mal zwei Augen. Alle, die wir haben.

Ogottogottogottogott!

Er begann plötzlich zu bibbern wie Sülze. Wie sehr viel Sülze. Nur nicht runterfallen, dachte er verzweifelt, nur nicht runterfallen, mitten hinein in das hübsche Feuerchen. Er lag, wie er jetzt feststellte, in der Gabelung zweier Äste eines großen Baumes. Der Baum stand direkt am Abhang einer Schlucht. Links von ihm befand sich die Brücke einer Autobahn mit durchbrochenem Geländer.

Durchbrochenem …

Und jetzt, schlagartig, erinnerte er sich.

Jetzt weiß ich wieder alles! Ich bin auf der verschneiten, vereisten Bahn der vereisten, verschneiten Brücke ins Schleudern geraten. Bei einer Geschwindigkeit von hundertzwanzig Stundenkilometern. Und mit einem Blutalkoholspiegel von ohne jeden Zweifel über zwei Promille. Auf und nieder. Nieder und auf. Aber jetzt macht mir das überhaupt keinen Spaß mehr. Sondern sozusagen im Gegenteil.

Das da, zu meiner Linken, ist eine Brücke. Muß sie sein. Ich erinnere mich, daß ich vor der Brücke ein gelbes Schild mit der Aufschrift WEYARN gesehen habe. Um Gottes willen, das ist ja die Mangfallbrücke! Das Tal da unten, in dem mein Rolls-Royce brennt, schätze ich auf gut und gerne siebzig Meter Tiefe, und ich bin ein hervorragender Schätzer. Und das Vor und Zurück, das mich so entzückt hat vor fünf Minuten noch, kommt vom Vor und Zurück der Äste, in die ich geflogen bin. Offenbar aus dem Rolls geschleudert, als der das Gitter durchbrach. Massel muß der Mensch haben.

Hm.

Feuerchen … Feuerchen …

Mit einem hübschen großen Feuerchen hat doch alles angefangen vor vielen, vielen Jahren. Wo war dieses andere Feuerchen? Warum brannte es?

Er grübelte.

Es kam nicht das geringste dabei heraus.

Infolgedessen fing er an zu beten.

Lieber Gott, ich flehe Dich an, wenn es Dich gibt, errette mich! Bitte! Ich will dann auch an Dich glauben, und ich will allen Menschen sagen, daß es Dich gibt und daß sie an Dich glauben müssen, nur laß mich jetzt mit dem Leben davonkommen. Du hast es schon oft getan, aber so brenzlig war es noch nie, Himmelarsch und – verzeih, lieber Gott, verzeih! Laß die Äste nicht abbrechen. Laß mich nicht hinunter in die Flammen meines ›Silver Shadow‹ fallen. Ich trete auch wieder in die Kirche ein. Ich wäre ja nie ausgetreten, wenn die Kirchensteuer nicht so irrsinnig hoch – hopps, Herrjeses, um Christi willen, jetzt wäre ich fast abgerutscht! Wegen eines sündhaften Gedankens. Meinetwegen sollen sie die Kirchensteuer doppelt so hoch ansetzen, die Geistlichen Herren. Dreimal so hoch! Nur laß mich von dem Baum da runter und in Sicherheit kommen, Vater im Himmel, Du!

Er machte eine kleine Bewegung.

Sogleich knirschten sämtliche Äste, die der Baum besaß. Der Baum selber knirschte auch. Ojojojoj. So geht das nicht. Ich muß zurückrobben. Wie ich in Rußland vorgerobbt bin in diesem Dorf, wie hieß es gleich? Lyubcha hieß es, Donnerwetter, was für ein Gedächtnis ich habe, vorgerobbt mit drei Hohlhaftladungen. Ich bin ein sportgestählter Mensch. Immer gewesen. Ein Stalinpanzer und zwei T 34 sind hochgegangen. Aber keinem Menschen ist ein einziges Haar gekrümmt worden! Weder den russischen Soldaten noch mir. Denn ich habe in einer Scheune gelegen und gewartet, bis sich alle Herren Rotarmisten zur Ruhe begeben hatten. Und ich habe die Panzer auch nicht zum Spaß kaputtgemacht, Du weißt, lieber Gott, was so ein Stalin oder so ein T 34 kostet, wieviel Arbeit darin steckt. Ich habe es einfach tun müssen, weil die verfluchten Hunde von dieser ›Alarmkompanie‹, in die sie mich strafhalber gesteckt haben, nachdem ich die Verlobte jenes Ritterkreuzträgers aufs Kreuz gelegt … Lieber Gott, ich bin besoffen!

Heilige Jungfrau Maria, jetzt ist da unten auch noch der Reservetank explodiert. Schon zum zweitenmal, daß ich mit einem Rolls-Royce solchen Ärger habe. Das erstemal, in Neumexiko, da ist mir einer plötzlich stehengeblieben. Einfach stehen! Die Benzinpumpe total im – verzeih, verzeih, lieber Gott! Da habe ich aus dem nächsten Kaff nach London telegrafiert an Rolls-Royce, daß der Wagen reparaturbedürftig ist. Und die haben zurücktelegrafiert: ›rolls royce niemals reparaturbedürftig stop mechaniker kommt mit nächster maschine bea.‹

So ist es gut! Immer schön weiter zurückrobben! Zwanzig Zentimeter habe ich schon geschafft. Höchstens drei Meter habe ich noch.

In der Tiefe, sehr klein, sehe ich jetzt Menschen auf den Steilhängen herumklettern, Männlein, Weiblein. Höre, sehr undeutlich, ihre Stimmen …

»Der wo in dem Schlitten gsessn is, den gibt’s nimmer, den hat’s zrissen!«

»Nacha müssat aba doch wenigstens der Kopf und die Haxn und ois andere da rumkugeln! I find aba nix!«

»Natürli war er bsoffn! Gschieht eam ganz recht! Bsoffne Sau.«

»Zum erstenmal seit sechs Wocha hob i wieda richtig gschlaffa! Und da muaß si der Depp darenna! Die glaubn aa, sie kenna si ois erlaubn, de Kapitalisten, de dreckatn!«

Ermutigend, solch Stimmchen zu hören. Wahrlich, ich sage euch … Sirenen.

Wieso Sirenen?

Ach, hat wohl jemand die Feuerwehr alarmiert. Kommen sie schon über die verschneiten Felder gebraust, die braven Buben. Schön groß und rot, die Feuerwehrwagen mit den kreisenden Lichtern. Verdammt, jetzt wäre ich fast wieder hinuntergekracht! Langsamer, Mensch, langsamer robben! Und verzeih das ›verdammt‹, lieber Gott, bitte. Kommt alles nur, weil ich blau bin, so blau, so blau. Damals, in Rußland, war ich stocknüchtern. Und bin auf einem Sandboden gerobbt, nicht auf einem vereisten, rissigen Ast. Und kam direkt aus einem Lazarett und nicht direkt vom Wiener Opernball. Und hatte eine Landseruniform an, eine verdreckte, und nicht einen verdreckten Frack wie jetzt. Verdreckt ist er und zerrissen, der Kragen erwürgt mich fast, und mit dem elenden Ding hätte ich mir eben um ein Haar ein Auge ausgestochen. Das elende Ding da ist das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹.

Sie haben es mir heute vormittag – nein, gestern vormittag! – feierlich verliehen. Und Punkt Mitternacht, auf dem Opernball, sind sie dann alle gratulieren gekommen. Jetzt ist es sechs Minuten nach sechs Uhr früh, erkenne ich auf meiner Armbanduhr, die – Dir sei es gedankt – ein Leuchtzifferblatt hat. Vor sechs Stunden also ist das gewesen. Siehst du, Jakob, du kannst noch richtig zählen, du hast noch alle Tassen im Schrank, du erinnerst dich an den Opernball. Bundeskanzler Dr. Josef Klaus (Österreichische Volkspartei, rechts, schwarz, aber ein ganz reizender Mensch) hat den grippekranken Bundespräsidenten Adolf Schärf (Sozialdemokratische Partei Österreich, links, rot, aber auch ein ganz reizender Mensch) vertreten.

Noch langsamer robben!

Das Jahr 1965 fängt an …

Das neue Jahr wird in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Feuerwerk für 50 Millionen Mark begrüßt.

Der Frankfurter Zoodirektor Dr. Bernhard Grzimek kämpft erbittert gegen Leopardenpelze.

Am 5. Januar wird Konrad Adenauer, deutscher Bundeskanzler von 1949 bis 1963, 89 Jahre alt.

Seit 6. Januar bewohnt der arabische Exkönig Ibn Saud das 12. Stockwerk des Wiener Hotels ›Intercontinental‹. Mit ihm sind gekommen: eine ungenannte Zahl seiner insgesamt 22 legitimen Söhne; 40 Hofbeamte; nicht wenige Haremsdamen (wieviel, wird weder von der Polizei noch vom Hotel verraten); drei Ärzte mit Sauerstoff-Flaschen und Blutkonserven. Ibn Saud ist seit 1959 Ehrenpräsident des Kreisverbandes Freiburg im Bund der Kinderreichen.

Am 25. Januar stirbt Winston Churchill, von 1940 bis 1945 und von 1951 bis 1955 britischer Premierminister, 90 Jahre alt.

In der UdSSR ist am 14. Oktober 1964 Nikita Chruschtschow von allen seinen Ämtern entbunden worden. Zu seinen Nachfolgern Leonid Breschnew als Parteichef und Aleksej Kossygin als Ministerpräsident tritt als Staatspräsident Nikolaj Wiktoriwitsch Podgorny.

Am 4. Februar 1965 wird Professor Ludwig Erhard, der »Vater des deutschen Wirtschaftswunders« und seit 1963 Bundeskanzler, 68 Jahre alt.

Seit diesem Jahr starrt man in der BR auf das Gespenst der »Rezession«: Die privaten Einkommen wachsen stärker als die Erträge aus der Leistung der Wirtschaft.

Drittes Passierscheinabkommen (vorher 1963 und 1964) zwischen dem Senat von (West-)Berlin und der DDR: West-Berlinern ist ein zeitlich begrenzter Besuch von Verwandten in Ost-Berlin gestattet.

Man tanzt jetzt »Let Kiss« – zwei Hopser nach links, zwei nach rechts, dann ein Sprung vor, zwei zurück und schließlich drei Hüpfer nach vorn und ein Küßchen für den Partner.

In den USA erhält durch den Krieg in Vietnam die Rüstungsindustrie im Jahr 1965 zusätzlich Aufträge in Höhe von 1 700 000 000 $.

Am 25. Februar findet der Wiener Opernball statt – es ist der zehnte seit Kriegsende. Als die letzten Besucher sich gegen vier Uhr morgens zur traditionellen Gulaschsuppe in der Eden-Bar treffen, wirft dort, wie der Münchner Klatschkolumnist Hunter notiert, ein Unbekannter eine Stinkbombe.

Heute, am 26. Februar 1965, habe ich Geburtstag. Meinen fünfundvierzigsten. Hätte ich mir natürlich auch nicht träumen lassen, daß ich meinen fünfundvierzigsten Geburtstag so – Vorsicht, Gabelung! – verbringen werde.

Sechstausend Gäste sind in der Staatsoper gewesen. Ich war die absolute Attraktion. Hab’ ich mir zumindest eingebildet. Wie sehr viele andere auch. Das österreichische Wunderkind!

»Lassenses brenna, Chef, der Bsoffene is hin, der pickt da oben irgendwo im Schnee!« Eine zwitschernde Stimme aus der Tiefe. Nein, zartes Kind, das da gerufen hat, indessen die braven Buben von der Feuerwehr Schaum zu verspritzen begannen, picken tu ich nicht im Schnee, sondern hier oben auf dem Baum, und hin bin ich auch noch nicht. Der Allmächtige wird mich jetzt nicht sterben und verderben lassen. Hoffentlich.

Dieses ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band‹ macht mich noch wahnsinnig. Eben hätte ich mir fast den Hals aufgeschlitzt daran. Eine Freude haben sie mir bereiten wollen zu meinem Geburtstag. Und dann – Achtung, da kracht ein Zweig! – die Mitternacht! Geht da die Tür von der mittleren Loge auf (ich habe ein paar Freunde eingeladen und drei Logen gehabt), geht da also die Tür auf, und herein kommt der Kreisky und sagt …

2

»…daß der Herr Bundeskanzler auf dem Weg zu Ihnen ist, mein lieber Herr Formann«, sagte Österreichs Außenminister Dr. Bruno Kreisky. »Das ist aber lieb von ihm«, antwortete Jakob gerührt. Die Damen und Herren in seiner Loge erstarrten vor Ehrfurcht. Jakob zog an seiner Frackweste. Er besaß ein Dutzend Fräcke, und obwohl sein Schneider ihm immer wieder versicherte, der Frack sei der Anzug des Gentleman und so bequem zu tragen wie kein anderer, hatte Jakob sich niemals an diese Art von Kleidung gewöhnen können. Er haßte es, wenn er einen Frack anziehen mußte, und so war er denn mit den Jahren immer tiefer in das Hassen seiner Fräcke hineingeraten. Nur ein Sadist konnte so ein Ding erfunden haben! Der Metallknopf, der einem am Kragen die Luft nahm! Der beinharte Hemdeinsatz unter der Frackweste, der einen nicht leger sitzen ließ, sondern immer nur absolut aufrecht und steif, damit man das untere Ende nicht in die … in den Leib bekam! Die Bänder, mit denen Hemd und Weste festgezurrt werden mußten, als wäre man eine Rennjacht! Und die anderen Bänder, die verhinderten, daß die Hose hinunter und die Frackweste hinauf rutschten, indem sie beide verbanden! Die – ach was! Am schlimmsten war die entsetzliche Hitze, die so ein Frack entfachte – und dazu noch ein Opernhaus mit sechstausend Menschen und keiner Airconditioning.

Wann immer er einen Frack tragen mußte, trank Jakob, ehe er sich ins Vergnügen stürzte, ein großes Glas Salzwasser. Das verhinderte Schweißausbrüche – eine Zeitlang wenigstens. Dafür mußte er dann aber auch stets Traubenzuckertäfelchen mit sich tragen. Wegen des Kreislaufs. Ach, dachte Jakob, waren das noch schöne Zeiten damals, 1945, als wir nichts zu fressen und keinen Groschen und nur alte Fetzen und durchlöcherte Schuhe hatten! Und noch nicht wußten, was Ährkondischenning ist …

1965 kostete eine Loge für den Opernball im Ersten Rang offiziell 60 000 Schilling. Im ›Schleich‹ kostete sie das Dreifache. Jakob hatte, nachdem er das erfuhr, freiwillig pro Loge 180 000 Schilling bezahlt, denn er wußte, wie seine liebe, langjährige Freundin Christi Gräfin Schönfeldt, Arrangeurin aller Opernbälle, stets dafür sorgte, daß der Reinertrag dieses großen Festes denen zugute kam, die sehr alt oder sehr jung, auf alle Fälle aber sehr arm und sehr hilflos waren. Vor zwanzig Jahren war Jakob Formann das selber gewesen: sehr jung und sehr arm und sehr hilflos. So wie wir alle 1945 eben. Nein, noch etwas mehr! Danach allerdings war Jakob einiges passiert. Exemplarisches. Darum erzählen wir ja diese Geschichte.

3

»Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, dear Jakob, happy birthday to you!« sang der Kanzler der Bundesrepublik Österreich, Dr. Josef Klaus, und viele, viele sangen mit.

Jakob mußte mit den Tränen kämpfen.

»Ich dank’ dir schön, Herr Kanzler«, sagte Jakob und fuhr sich mit einem Handrücken über die Augen. »Euch allen danke ich!«

Die beiden Herren standen einander in Jakobs mit dunkelrotem Samt ausgeschlagener Mittelloge gegenüber. Von hinten strahlten nun Scheinwerfer herein und verbreiteten eine grauenvolle Hitze. Kameras klickten ununterbrochen. Andere surrten. Fernsehen und Wochenschau. Und in Jakobs Hort, der normalerweise acht, höchstens zehn Personen aufzunehmen imstande war, drängten immer neue Menschen, um dem Geburtstagskind die Hand zu schütteln – Minister (sieben, acht, neun, zählte Jakob mechanisch mit), Generalsekretäre politischer Parteien (eins, zwei, drei, vier), ausländische Diplomaten (elf, zwölf, dreizehn). Jakobs Gäste, allen voran seine geliebte, göttliche Natascha, waren ohne Mitleid auf den Gang hinausgequetscht worden. Hoffentlich bricht die Loge nicht ab und kracht ins Parkett, dachte Jakob. Im Parkett befand sich ein großer Teil dessen, was man ›die Weltprominenz‹ nennt. Ein anderer Teil starrte aus Logen herüber.

Der Salztrick ist im Eimer, dachte Jakob, während er spürte, wie ihm Schweißbächlein über Brust und Rücken zu strömen begannen. Der Klaus sieht auch aus wie aus dem Wasser gezogen.

»Das ist der schönste Moment in meinem Leben, Herr Kanzler«, sagte Jakob. Haben mich also sechs rote Großkopfete hofiert, dachte er, und fünf schwarze, und jetzt noch der Kanzler! Die Kirche und die Kommunisten, sinnierte er, die wirklich außergewöhnlich vieles gemeinsam haben, beileibe nicht nur dies, daß ihre Großkopfeten nicht zum Opernball kommen, haben mir durch ihre Funktionäre ihre besten Wünsche übermitteln lassen. Na, sie haben ja auch alle, alle von mir Wahl- und andere Spenden erhalten, und das nicht zu knapp. Ich bin ein einfacher Mensch. Jeder einzelne von denen will doch eigentlich nur das Beste für die Menschen, wie ich das verstehe. Was soll man da machen? Muß man sehen, hehe, daß man ein gerechter Mensch bleibt und allen geben, dachte Jakob, in Erinnerung versunken, wieder achteinhalb Zentimeter vom Ast des vereisten Baumes über der Mangfallschlucht da bei Weyarn in Oberbayern zurückrobbend. Lieber Gott, hilf …

»Herr Formann, du bist ein Österreicher«, sagte der Kanzler. »Und wir alle sind stolz auf dich!«

»Ich hab bloß a bißl mehr Glück gehabt als andere«, murmelte Jakob verlegen.

»Immer noch die alte Bescheidenheit«, murmelte der Kanzler.

»Schau mal, Herr Formann, ich komm’ doch wirklich in der ganzen Welt herum, aber nirgendwo und bei niemandem hab’ ich so herrliche Eier gesehen wie bei dir!«

(Und wieder elf Zentimeter zurückgerobbt …)

»Herr Kanzler«, sprach Jakob, während an seiner linken Schläfe eine Narbe zu pochen begann, die ein Scharfschütze der Roten Armee, der sehr gut, aber nicht gut genug schoß, ihm einstens beschert hatte, »die Güte meiner Eier ist nicht mein Verdienst.«

Na also. Der Herr Minister für Kultur und Volksbildung. Noch ein Schwarzer!

»Wessen Verdienst denn?« fragte der Kanzler ernst. »Nur das deine. Es sind doch deine Eier! Und auch darüber freuen wir uns alle, und auch darauf sind wir stolz, daß es ein Österreicher ist, der die exquisitesten Eier der Welt hat!«

Beifall ringsum. Jakobs Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Tomate an. Er lächelte und verneigte sich beschämt in die Runde. Nelson Aldrich Rockefeller und seine Frau winkten ihm aus der Loge gegenüber zu. Er winkte zurück.

(Wenn ich mich jetzt wie ein Affe auf den Ast unter mir schwinge, gewinne ich mindestens einen Meter. Und verliere vielleicht das Leben. Er schwang. Der Ast brach nicht. Morgen nichts wie wieder rein in die Kirche!)

Das Orchester spielte den ›Donauwalzer‹, während Jakob den Blick durch die Staatsoper kreisen ließ und Minister, Präsidenten, Filmstars, Scheichs, Industrielle, Wissenschaftler, Künstler, Aristokraten, hinreißend schöne Frauen und hinreißend reiche Millionäre erblickte und grüßte. Und siehe, da ward es ihm übel, ganz plötzlich.

Das kam, weil Jakob keinen Alkohol vertrug. Weil er niemals frivolen Herzens Geistiges trank. Weil er stets auf seine Gesundheit bedacht war. Und das war sehr vernünftig von ihm. Manchmal natürlich, wie an diesem Abend, ging es einfach nicht anders. Seine neunzehn Gäste und er hatten bislang einundvierzig Flaschen ›Roederer Crystal‹ getrunken. Zwanzig leere weitere hatte der Kellner dazugestellt. Und Jakob, des Alkohols ungewohnt, fühlte, daß er blau war und immer blauer wurde.

(Und vor zwanzig Jahren kein Dach über dem Kopf. Schlafen, wenn du Glück hattest, in Wärmestuben. Ein Paar Stiefel für eine Zigarette. Tja …)

Jakobs neunzehn Gäste bewohnten allesamt Luxusappartements im nahen Hotel IMPERIAL Freunde aus Übersee hatte er mit einer Düsenmaschine, Typ Boeing 727, einfliegen lassen. Freunde aus Europa hatte eine ›Mystère‹ herangebracht. Er selber war mit einer zweiten ›Mystère‹ aus Istanbul gekommen. Der Flugpark gehörte ihm ebenso wie ein Fuhrpark von zwei Mercedes, zwei Porsche und einem Rolls-Royce, Typ ›Silver Shadow‹.

»Sei so gut, Herr Formann«, sagte die bekannteste Wiener Gesellschaftsintrigantin, »darf ich dich umarmen?«

»Aber bitte, natürlich«, sagte Jakob und dachte: In Österreich bleibt einem auch nichts erspart!

Und so wurde er denn umarmt und auf die rechte und auf die linke Wange geküßt.

(Genauso, wie ich meine Wahlspenden verteile, dachte er.)

Am Stamme angelangt!

Nun muß ich springen, runter in den Schnee. Jetzt werden wir gleich sehen, ob es Dich gibt, lieber Gott. Wenn es Dich nicht gibt, sause ich nach dem Sprung über den Steilhang ins Tal. Wenn es Dich gibt, bleibe ich oben.

Du kannst es Dir aussuchen, dachte Jakob und sprang.

Er blieb oben.

Längere Zeit konnte er nur liegen. Er keuchte. Er war schweißüberströmt, total erledigt. Seine Hände zitterten wie die eines alten Süffels. Ihm wurde wieder übel, mächtig übel. Alles kreiste um ihn. Vorsichtshalber legte er beide Arme um den Baumstamm und preßte eine Wange an die eisige Rinde. Also gibt es Dich, Gott. Gott sei Dank, dachte er. Das Leuchtzifferblatt seiner Uhr zeigte 6 Uhr 13.

4

Seine Armbanduhr hatte 4 Uhr 21 gezeigt, als Herr Walter Horvath zu ihm sagte: »Ich bitt’ Sie um alles in der Welt, Herr Formann, tun S’ das nicht!« Und als Herr Alexander Fleischer hinzufügte: »Das wär’ doch glatter Selbstmord, wär’ das, Herr Formann!«

Die Herren Fleischer und Horvath waren (und sind noch immer) die Nachtportiers des Hotels IMPERIAL.

Jakob, im Frack, eine weiße Nelke im Knopfloch, erwiderte freundlich, aber bestimmt: »Ich brauch’ meinen Rolls!« Er stieß dezent auf und verspürte den würzigen Geschmack der hervorragenden Gulaschsuppe, die er mit seinen Gästen nach Verlassen des Opernballs im Stadtpalais der Gräfin Vera Czerny-Wiskowitsch zu sich genommen hatte. Das Pilsner Urquell, das er dazu durstig getrunken hatte, erhöhte seinen Alkoholspiegel erheblich. »Lassen Sie den Rolls aus der Garage holen«, sagte Jakob und fügte mit gewinnendem Lächeln hinzu: »Bitte schön!« Jakob Formann war, wenn überhaupt, liebenswert betrunken; niemals stänkerte er, niemals suchte er Streit.

Außer den beiden Nachtportiers und ihm befanden sich noch drei Putzfrauen in der Hotelhalle. Jakobs Gäste hatten sich bereits auf ihre Appartements zurückgezogen.

»Bei dem Nebel und dem Schnee und dem Glatteis«, sagte Herr Fleischer nun besorgt. »Ein Wahnsinn ist das, Herr Formann!«

»Gar kein Wahnsinn! Ich muß um neun in München sein! Wichtige Vorstandssitzung um zehn!« Alles war genau geplant, es hätte prima geklappt, wäre nicht der verfluchte Nebel gekommen.

Daß der verfluchte Nebel gekommen war und die Flughäfen von Wien und München geschlossen werden mußten, hatte Jakobs Chefpilot ihm telefonisch mitgeteilt, als er noch bei der gräflichen Gulaschsuppe saß. Fliegen fiel aus.

»Nehmen Sie doch wenigstens einen von Ihren Chauffeuren«, bat Herr Horvath. »Der soll Sie fahren, wenn es denn schon sein muß!«

»Herr Horvath, für was halten Sie mich? Für einen dreckigen kapitalistischen Ausbeuter? Meine Chauffeure haben die ganze Nacht aufbleiben müssen, um uns vom IMPERIAL in die Oper zu bringen und von der Oper zur Gräfin und von der Gräfin zurück ins IMPERIAL!«

»Sie waren doch auch die ganze Nacht auf, Herr Formann!«

»Aber zu meinem Vergnügen, Herr Fleischer!«

»Herr Formann, sein S’ doch vernünftig! Sie können nicht selber fahren! Sie sind übermüdet! Sie sind … sind …«

»Besoffen, meinen Sie!«

»Ich würd’ mir nie erlauben …«

»Besoffen fahr’ ich am besten! Also los, los, los, meine Herren, Beeilung, den Rolls, bitte! Ich habe nicht einmal mehr Zeit, mich umzuziehen. Das tu’ ich dann in meiner Wohnung in München!«

Herr Fleischer und Herr Horvath sahen einander an.

Na ja, sagte der Blick.

5

Na ja, und jetzt sitzt unser Freund am westlichen Steilhang des Tals der Mangfall, total erledigt, zu Tode erschöpft, in weißer Finsternis. Das ›Große Silberne Ehrenabzeichen‹ wollte sich gerade in seine Kehle bohren. Er schlägt danach. Die Armbanduhr zeigt 6 Uhr 13.

Um 6 Uhr 13 am 26. Februar 1965 – und schon geraume Zeit davor – nannte Jakob Formann dies sein eigen: riesige Werke zur Erzeugung von Plastik-Produkten jeglicher Art; neun Fabriken zur Herstellung von Fertighäusern; eine Hochseeflotte, modernste Fahrgast-Motorschiffe, Frachter, Tanker; ein Großklinikum, eine große Illustrierte, ein Anlageberatungs-Büro (mit zahlreichen Außenstellen) für Projekte in Zonenrandgebieten und West-Berlin; ein internationales Reiseunternehmen (Züge, Busse, Schiffe, Flugzeuge – was man halt so braucht); ein mit diesem Reiseunternehmen gekoppeltes Möbelversandhaus, beide wiederum gekoppelt mit einer Immobilienfirma – und diverse andere Kleinigkeiten. Nach dem sogenannten ›Schachtelsystem‹, beziehungsweise als Mitbesitzer war Jakob Formann beteiligt an: den beiden gewaltigsten Brauereien der Welt; einer Lebens- und sonstigen Versicherung; an der bekanntesten deutschen Automobilfabrik. Er besaß vielerlei Aktien. Und Orden, Orden, Orden. Und Eier, Eier, Eier …

Unten, in der Tiefe des Mangfalltales, hatten die braven Buben von der Feuerwehr ganze Arbeit geleistet. Nichts brannte mehr. Die meisten Anrainer waren wieder nach Hause gegangen. Zwei VW-Kombis der Polizei standen nun neben den Löschzügen. Jakob, die Arme immer noch fest um den Baumstamm geschlungen, sah, wie die Feuerwehrleute und die Polizisten diskutierten. Der Rolls war nur noch schaumbespritzter, ausgeglühter Schrott. Wo aber war die Leiche des Fahrers? Das interessierte die Polizisten natürlich. Suchscheinwerfer irrten über die Abhänge, mahnende Rufe durch ein Megaphon erklangen: »Mann! Leben Sie noch! Wo sind Sie? Melden Sie sich! Werfen Sie einen Stein! Geben Sie uns ein Zeichen!«

Jakob öffnete den Mund, um »Hier!« zu brüllen. Der Mund blieb offen – stumm.

Der Schock …

Der furchtbare Schock! Jetzt erst hat er eingesetzt. Ich kann nicht schreien. Ich kann nicht flüstern. Ich kann kein Glied bewegen. Nicht einmal einen kleinen Finger, alle Nägel krallen sich in die Baumrinde. Vielleicht kriege ich einen Herzinfarkt. Oder habe schon einen. Zu blöd. Sterben hätte ich auch im IMPERIAL können. Viel gemütlicher wäre es da gewesen.

6

Neben seinen Flugzeugen und Luxusautos besaß Jakob Formann, am Morgen dieses 26. Februar 1965 mit rapide schwindenden Kräften dem Tod im Mangfalltal entgegenbangend, eine herrliche Jacht und, natürlich, die verschiedensten Domizile: ein Schloß samt Park in Bayern; eine Villa samt Park in Beverly Hills, California; eine Villa samt Park vor Rom; eine ebensolche samt Park auf Cap d’Antibes; ein Haus in Gstaad; ein halbes Dutzend Wohnungen; dazu Jahresappartements in den besten Hotels von Wien, London, New York, Tokio und Rio de Janeiro.

Auch auf dem Höhepunkt seines Erfolgs indessen war er ein Mann geblieben, der die einfachen Freuden des Lebens allen anderen vorzog. Niemals, nicht bei Hitze, nicht bei Kälte, nicht bei Regen, nicht bei Schnee, verzichtete er auf die tägliche Radtour über mindestens zwanzig Kilometer. Er betrieb Ertüchtigungssport jeglicher Art. Es gab keine noch so schmutzige, noch so schwere Arbeit, bei der er nicht sofort mit Hand angelegt hätte, wenn es not tat. Dafür liebten ihn alle, die für ihn schufteten. Und er liebte sie alle. Jederzeit hätte er, vor die freie Wahl gestellt, ein Staatsdiner bei Königin Juliane der Niederlande für eine zünftige Brotzeit mit seinen Arbeitern schießen lassen! (Graubrot mit Schweineschmalz!) Er fühlte sich als einer der ihren, sein Leben lang. Nach dem Vorbild von Ernst Abbe und dem Zeiss-Werk (Gott, sind wir gebildet!) hatte er in seinen Betrieben ein System echter Gewinnbeteiligung eingeführt. Er …

Moment mal!

Natürlich war Jakob Formann auch ein Gauner und ein Haderlump und ein Fallot, und wo er nur konnte, beschiß er und legte er andere herein – genau wie wir das alle tun. Er war eben ein ganz normaler Mensch, der auch häufig genug von seinen Ellbogen Gebrauch machte.

1965 war sein Name weltbekannt.

Er baute gigantische Anlagen in Amerika und in der Sowjetunion, in Japan, Deutschland, Polen und Jugoslawien. Sogar in China! Für Jakob Formann gab es keine politischen Grenzen, keine politischen Schwierigkeiten. Dieser Mann war wahrhaft kosmopolitisch, gleichermaßen begehrt vom Kreml wie vom Weißen Haus. Das kam: Er ließ sich ständig über die verschiedensten Ideologien informieren, langsam und gründlich, denn da war er kein schneller Denker. Alle Ideologien, so befand er stets nach genauer Prüfung (siehe auch unter Spenden für alle politischen Parteien und Kirchen), wollten nur das Allerbeste für die Menschen! Was hätte ihn also an einer einzigen Ideologie stören können? Und was (bei solchen Spenden!) irgendeinen Ideologen an ihm? Letztlich und endlich waren diesem Jakob die Menschen doch lieber als die Ideologien. Das Liebste auf der Welt waren ihm vernünftige Menschen ohne Ideologien.

»Hallo! Hallo! Wenn Sie noch nicht tot sind, geben Sie ein Zeichen!« hallte die von hoher Intelligenz zeugende Formulierung der Megaphonstimme aus der Tiefe zu ihm herauf. Die Lichtkegel der Suchscheinwerfer glitten über die Steilhänge, immer weiter.

Tut mir leid, meine Herren, dachte Jakob traurig. Ich kann Ihnen nicht helfen. Stimme habe ich keine mehr. Zum Zeichengeben bin ich zu schwach. Tot bin ich noch nicht, vielleicht werde ich es bald sein. Mein Hintern ist schon angefroren. Wie lange wird es dauern, bis die Große Kälte meinen Kopf erreicht? Was nützen mir meine Millionen, wenn ich nicht einmal mehr »Hilfe« flüstern kann?

In New York und Tokio, in Moskau und Neu-Delhi, Stockholm und Hamburg, so dachte er benommen und immer benommener, habe ich in der letzten Zeit immer wieder vom Leistungsknick reden gehört, von einer Krise zwischen vierzig und fünfzig. Immer nur gelacht habe ich darüber. Ein sehr dummes Lachen ist das wohl gewesen …

»Hallo! Hallo!«

Ausgerechnet jetzt, dachte er erbittert.

Ausgerechnet jetzt muß mir dieses Gedicht einfallen – Gesang heißt das, Trottel! – dieser Gesang, den meine geliebte Natascha da auf Cap d’Antibes rezitiert hat.

Von Danton. Quatsch! Danton ist dieser Maler mit den hochgezwirbelten Schnurrbartenden, der diese Pfannkuchenuhren malt. Nein, Dante heißt der Kerl! (Jetzt kommt die Kälte schon die Beine herauf.) Die ›Göttliche Komödie‹ hat er geschrieben. Komisch, ausgerechnet der Gesang fällt mir jetzt wieder ein. Wohl schon Agonie …

»Hallo! Hallo!«

Ja, schreit nur schön. Ich kann euch nicht helfen. Wenn ich jetzt sterbe, dann sterbe ich intellell. Ich behalte doch nie auch nur den Namen eines einzigen Dichters oder Musikers oder Bildhauers. Bin immer ein einfacher Mann geblieben. Scheißfrack! Aber an diesem Knick in der Lebensmitte scheint was dran zu sein. Mich wenigstens hat es erwischt. Und wie. Mein lieber Mann!

Gerade in der Mitte meiner Lebensreise

Befand ich mich in einem dunklen Walde,

Weil ich den rechten Weg verloren hatte.

Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen.

Der wilde Wald, der harte und gedrängte,

Der in Gedanken noch die Angst erneuert,

Fast gleichet seine Bitternis dem Tode …

Dem Tode. Da haben wir’s. Warum mußte ich mir gerade diesen Quatsch merken? Jetzt ist die Kälte schon im Bauch. Die Finger frieren ab. Ich kann nicht mehr vernünftig denken …

»Hallo! … Hallo! …« Nur noch ganz verweht und leise drang die Stimme an sein Ohr. Sie ging ihn nichts mehr an.

[home]

1946

Ein ›Wirtschaftswunder‹ hat es nie gegeben!

Professor Dr. ALEX MÖLLER, ehemaliger Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland

1

Auf einem stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt hielt Jakob Formann Wache vor dem Stacheldrahtzaun neben der Einfahrt A des amerikanischen Fliegerhorsts Hörsching in der Nähe von Linz. Er lehnte da um 17 Uhr 30 am 3. November 1946 und hörte seit langem das Dröhnen der Motoren einer ›Flying Fortress‹, die beharrlich über dem Flughafen ihre Runden drehte.

Zuerst hatte Jakob noch den Kopf gehoben und die ›Flying Fortress‹ beobachtet, doch bald war ihm das zu strapaziös geworden. Mochten die Piloten der Maschine besoffen oder verrückt oder beides sein – ihn interessierte es nicht. Er hatte das Dritte Reich, den Krieg in Rußland und zahlreiche weitere lebensgefährliche Ereignisse überstanden und dabei herausbekommen, daß es nicht lohnt, in einer Welt wie dieser über irgend jemanden empört, begeistert, traurig, erfreut, erstaunt, verblüfft, will sagen: auch nur geringstens gefühlsmäßig engagiert zu sein. Es lohnt nicht, wegen irgend jemandem oder irgend etwas den Atem, geschweige denn den Kopf zu verlieren. Jakob Formann war seit Jahren – und, wie er sich ausgerechnet hatte, wohl noch auf Jahre hinaus – vollauf mit Überleben beschäftigt. Solcherlei Erkenntnis hatte ihm seinen stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt beschert.

Die ›Flying Fortress‹ drehte nach wie vor ihre Runden. Sie donnerte über den entspannten ›Civilian Guard‹ Jakob Formann hinweg, der in die Lektüre des Annoncenteils des NEUEN ÖSTERREICH vom Vortag vertieft war.

Der Annoncenteil nahm den größten Raum der nur acht Seiten umfassenden Zeitung ein. Versunken las Jakob, was so gesucht und was geboten wurde …

Gesucht: politisch unbelasteter Mezzosopran; schwarze Breeches-Hosen und Schaftstiefel (ach ja, dachte Jakob) gg. Herrenfahrrad; linker Herrenhalbschuh (42) eines Oberschenkelamputierten gg. rechten; Filzhut gg. Bratpfanne; Kleinbildkamera gg. Kinderwagen; elektrischer Kocher gg. Dachziegel; Christus am Ölberg (Holzplastik) gg. Baumaterial; Kleiderschrank gg. 16 m Vorhangstoff; Rollschrank gg. Rasiermesser; 15 m Seil gg. Beil (nanu, dachte Jakob); gläubiger Landwirtssohn möchte auf diesem Wege prüfen, ob Gott der Herr einen mittleren landwirtschaftl. Betrieb in der US-Zone Österreichs, evtl. auf Rentenbasis, für ihn bereithält; 3500 Gasmasken gg ….

In dem Wachhäuschen beim Eingang A des US-Fliegerhorsts Hörsching begann das Telefon zu schrillen. Scheiße, dachte Jakob, wieder kein Mantel. Er ließ das Telefon einige Male schrillen in der innigen Hoffnung, es werde verstummen. Das weite Gelände des Airfield mit all den Baracken, dem Tower, den Maschinen und Hangars sowie dem oben elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun wurde nachts von mächtigen Scheinwerfern angestrahlt. Noch war es nicht Nacht. Der Winter 1946/47 sollte viel ärger werden als der Katastrophenwinter 1945/46, aber er ließ sich mehr Zeit damit.

Die Stadt Linz befand sich in der amerikanischen Zone Österreichs, nahe der Demarkationslinie zur sowjetischen, und die Umgebung der Stadt Linz war damals ganz außerordentlich trostlos. Am absolut trostlosesten sah es rund um den Fliegerhorst Hörsching aus, was gar manchen Sieger der Neuen Welt ins Krankenhaus brachte. Nach einer vergilbten Statistik dieses Jahres waren es in Hörsching siebenundsechzig Sieger: dreiundsechzig wegen eines HWG-Trippers (depressive Stimmungslage, häufig wechselnder Geschlechtsverkehr) und vier wegen seelischer Defekte (depressive Neurosen). Die Stimmung unter den hier Diensttuenden und Kommandierenden war aggressiv-trostlos.

Das Telefon klingelte weiter.

Gemächlich schritt Jakob Formann nun die geteerte Straße entlang zu dem Wachhäuschen; sie wurde an beiden Seiten ebenfalls von oben elektrisch geladenem Stacheldrahtzaun gesäumt. Etwa zweihundert Meter entfernt stand ein wirtlicher aussehendes, größeres Häuschen. In ihm tat die Militärpolizei Dienst, und vor ihm befand sich ein Schlagbaum. Dahinter erst begann das eigentliche Gelände des Fliegerhorsts.

Jakob betrat den klosettgroßen Holzverschlag, der den österreichischen Bewachern des Airfield zugedacht war, nahm den Hörer des Feldtelefons ans Ohr und meldete sich in makellosem Englisch: »Entrance A, Civilian Guard Jakob Formann speaking!«

Alles Folgende wurde in englischer Sprache erledigt.

1945 – das Ende vom Ende

»Es geht alles vorüber./es geht alles vorbei,/im April geht der Führer/und im Mai die Partei!« Lied deutscher Landser seit 1944.

9. Mai 1945. 00.01 Uhr: Bedingungslose Kapitulation des »Großdeutschen Reiches«.

Bilanz des Zweiten Weltkrieges: 53.3 Millionen Tote in aller Welt, 20 Millionen Heimatlose, Vertriebene und Flüchtlinge in Europa.

Allein in Westdeutschland zerstört: 2.25 Millionen Wohnungen, 4752 Brücken, 4300 Kilometer Eisenbahnschienen.

Gesamtkosten: 3 000 000 000 000 Dollar.

Die Lebensmittelkarten der Stadtverwaltung von Berlin sahen für die Zeit vom 15. bis 31. Mai 1945 vor:

für Schwerarbeiter: Tagesration Brot 600 g, Fleisch 100 g, Fett 30 g, Kartoffeln 400 g, Nährmittel 80 g, Zucker 25 g; Monatsration Salz 400 g, Bohnenkaffee 100 g. Kaffee-Ersatz 100 g, echter Tee 20 g …

für die sonstige Bevölkerung: Tagesration Brot 300 g. Fleisch 20 g, Fett 7 g, Nährmittel 30 g, Kartoffeln 400 g. Zucker 15 g; Monatsration Salz 400 g. Bohnenkaffee 25 g, Kaffee-Ersatz 100 g. echter Tee 20 g.

»Verdiente Gelehrte. Ingenieure. Ärzte, Kultur- und Kunstschaffende sowie die leitenden Personen der Stadt- und Bezirksverwaltungen, großen Industrie- und Transportunternehmen erhalten … Lebensmittelrationen … für Schwerarbeiter.«

»Der Juli ist nun zu Ende, ohne daß wir« (in dem von den Sowjets besetzten Berlin) »ein Gramm Fett bekommen hätten, kein Fleisch, kein Gemüse, kein Obst, kein Salz, keinen Essig, keinen Ersatzkaffee, nur das Brot und einen Teil der Kartoffeln und 620 g Zucker, 600 g Mehl und 7 Suppenwürfel« (Margret Boveri in »Tage des Überlebens«).

»Therese Neumann« (47 Jahre alte, 55 kg wiegende Landwirtstochter im bayerisch-oberpfälzischen Konnersreuth, seit 1926 mit den Wundmalen Christi stigmatisiert und angeblich ohne jede Nahrungsaufnahme lebend) »ist zweifellos der einzige Mensch in Deutschland, der keine Lebensmittelkarte bezieht« (Pfarrer Josef Naber Konnersreuth).

26. Juni 1945: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind entschlossen, die kommende Generation vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zu unseren Lebzeiten zweimal unsagbares Elend über die Menschheit gebracht hat« (Charta der UN).

6. August 1945: Die erste amerikanische Atombombe vernichtet die japanische Hafenstadt Hiroshima.

Von dem Schweizer Arzt und Philosophen Max Picard erscheint das Buch »Hitler in uns selbst«.

Am 6. Oktober 1945 kommt in München die Nummer 1 der »Süddeutschen Zeitung« heraus. Die Druckplatten sind aus dem eingeschmolzenen Bleisatz für Adolf Hitlers »Mein Kampf« gegossen. Aus der Nr. 1 der »Neuen Zeitung« (18. Oktober 1945): Erich Engel hat soeben die Münchner Kammerspiele mit »Macbeth« eröffnet. – Dort spielt auch das Kabarett »Die Schaubude« (mit Texten von Erich Kästner). – Im Ballsaal der Münchner Residenz werden gezeigt: Goldonis »Kaffeehaus«. Lessings »Nathan« und Anouilhs »Antigone«.

20. November 1945 bis 1. Oktober 1946: Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, 12 Todesurteile (vollstreckt am 16. Oktober 1946).

Eine bebende Männerstimme drang an Jakobs Ohr: »Hier ist Colonel Hobson!«

Auch noch dieser Kretin, dachte Jakob und erwiderte in lässigster Haltung, den militärischen Schneid lediglich in der Stimme: »Yessir?«

»Goddammit, endlich! Kommen Sie sofort zu mir in den Tower! Grauenhafte Sauerei hier! Brauche jemanden, der Deutsch und Englisch spricht!«

»Ich komme, Sir«, sagte Jakob, legte den Hörer behutsam nieder und machte sich ohne jede Hast auf den Weg. Seine hervorragenden Englischkenntnisse verdankte er dem Umstand, daß er viele Jahre in England zugebracht hatte; dort vertrat sein Vater eine Wiener Fabrik, die sich mit dem Bau von Holzverarbeitungsmaschinen beschäftigte.

Es dämmerte bereits ziemlich stark. Jakob trug eine blaugefärbte amerikanische Armeehose, ein ebenso behandeltes Armeehemd und ein Armeejackett. Dazu eine Armeekrawatte und einen grüngestrichenen Armeeplastikhelm mit den großen weißen Buchstaben C und G (für Civilian Guard, also Ziviler Wachdienst). Armeestiefel besaß er nicht. Die Fußbekleidung, die er trug, hatte er in einem winzigen tschechischen Ort, Mukulow, ganz nahe der österreichischen Grenze, gestohlen, und weil der Diebstahl schon längere Zeit zurücklag, befanden die Schuhe sich in einem erbärmlichen Zustand.

Die ›Flying Fortress‹ donnerte wieder über den Platz hinweg.

Jakob erreichte die komfortable MP-Baracke und öffnete die Eingangstür, um drei Herren zu sagen, daß etwas faul und er gerufen worden war. MPs und Civilian Guards arbeiteten hier rund um die Uhr, in einem Achtstundenturnus. Die gleichen MPs verlangten stets die gleichen Civilian Guards, und so hatte sich Jakob herzlich befreundet mit drei jungen Männern etwa seines Alters und exakt seines eingangs erwähnten Grundsatzstandpunktes. Es handelte sich um den Master-Sergeant George Misaras (Eltern aus Marghita, Rumänien, in die Vereinigten Staaten eingewandert), um den Gefreiten Mojshe Faynberg, einen bleichen, dicken Jungen mit rotem Haar, Sohn eines Flickschusters aus New Yorks Bronx, und um den Sergeanten Jesus Washington Meyer aus dem Staate Alabama und daselbst aus der Stadt Tuscaloosa. Diese drei jungen Männer hatten den D-Day, die Invasion am Abschnitt ›Omaha Beach‹ der Normandieküste, mitgemacht und sich durch halb Europa gekämpft – ebenso ungern, wie Jakob in den großen Hitlerkrieg gezogen war, um in Rußland zu überleben.

George Misaras saß hinter einem pompösen Schreibtisch (hinter dem vor zwei Jährchen noch ein Gauleiter gesessen hatte), die Schuhe auf der Tischplatte, als Jakob hereinkam. Er hatte sich durch Lektüre eines Comic-Strip-Heftchens fortgebildet. Jesus Washington Meyer und Mojshe Faynberg waren damit beschäftigt, ein neues Pin-up-Foto von Jane Russel an einer Wand zu befestigen, an der schon viele andere Pin-up-Fotos, etwa von Rita Hayworth, Lana Turner oder Betty Grable, prangten.

»Was is’ los, Jake?« fragte Misaras. »Kalt? Willst ’n Schluck heißen Kaffee?«

»Mann, hat die ein Paar Augen! Nein, danke, George«, sagte Jakob.

»Howard Hughes«, sagte Mojshe, Reißzwecken zwischen den Lippen.

»Howard wer?«

»Hughes! Aus rostfreiem Stahl! Komplizierte Konstruktion!«

»Was?«

»Der Beha von der Tante! Ins Kleid gearbeitet. Raffiniert, wie? Hat dieser Howard Hughes eigens für die Jane Russel erfunden. Der erfindet dauernd was. Is’ Multimillionär. Hätte es nicht nötig.«

»Der Colonel hat mich gerade angerufen. Ich soll rauf in den Tower kommen, übersetzen.«

»Was übersetzen?« fragte der riesenhafte Neger Jesus Washington Meyer.

»Keine Ahnung. Bloß: Es ist jetzt niemand beim Eingang.«

»Na und? Ist es dein Airfield?« Mojshe zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hängt’s mit diesem Drecksbomber zusammen, der da über uns rumkurvt.«

»Kann schon sein. Nur: Warum kurvt er? Trouble, sage ich euch!«

»Diese Arschlöcher von Piloten machen mich noch wahnsinnig«, sagte Jesus. »Scheiß auf das ganze Air Corps!«

»Ja, das ist leicht gesagt«, murmelte Mojshe versonnen.

2

»Verrückt!« kreischte Colonel Peter Milhouse Hobson hysterisch, knallrot im Gesicht, die Arme hochwerfend, im obersten Stockwerk des Towers, zwischen drei Soldaten, die vor ihren Radargeräten und Sprechfunkanlagen arbeiteten, hin und her rennend. »Ich werde verrückt, verrückt, verrückt!«

Zwei der drei Fluglotsen wiesen gleichfalls Zeichen psychischer Störungen auf. Sie bellten in ihre Mikrofone, stotterten und fluchten, und viele ihrer Angaben zur Sicherung des umliegenden amerikanischen Luftraums waren falsch. Die beiden sind schon geschafft, dachte Jakob. Der dritte ist es nicht. Der dritte Lotse saß entspannt auf seinem Drehstuhl und blies Kinderkaugummi rhythmisch zu Blasen auf. Als er Jakob sah, kniff er ein Auge zu. Nanu, dachte Jakob, ein Warmer? Ach nein, sicherlich nur ein normaler Mensch.

Im Tower lief stets ein Tonband, das auch mit den Telefonleitungen verbunden war. Dieses Band zeichnete alle Gespräche auf für den Fall, daß es zu Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten oder, Gott behüte, einem Unglück kam. Kam es, Gott behüte, zu einem Unglück und gab es dabei, Gott behüte, Verletzte oder gar Tote, so konnte man mit Hilfe des Tonbands jederzeit feststellen, wer woran Schuld trug. Eine äußerst praktische Anlage. Die Luftwaffe der Vereinigten Staaten, der wir an dieser Stelle unseren tiefempfundenen Dank aussprechen, hat uns aus ihren Archiven jenes exemplarische Band zur Verfügung gestellt, das am frühen Abend des 3. November 1946 gerade lief.

Ton ab! Band läuft.

»Rufen Hörsching Tower … Hier ist Flug Eins-acht-eins …«

»Ich verstehe Sie, Eins-acht-eins. Was gibt’s?«

»Was sollen diese ewigen Warteschleifen, Hörsching Tower? Wir haben hier schon alle den Drehwurm!«

»Nur noch ein Weilchen, Eins-acht-eins. Wir haben jetzt einen Dolmetscher hier. Es wird sich gleich alles klären. Over!«

»Gleich klären? Wissen Sie, was Sie mich können, Hörsching Tower? Sie können …«

»Kein Wort weiter, Eins-acht-eins! Machen Sie sich nicht unglücklich! Colonel Hobson steht neben mir. Hört jedes Wort. Er bringt Sie vors Kriegsgericht!«

»Kriegsgericht, ha! Ich habe in diesem Scheißkrieg zweiunddreißig Tageseinsätze über deutschen Städten geflogen und lebe noch immer! Glauben Sie, ich habe vor Ihrem Colonel Angst?«

»Und ich war über Monte Cassino und über Saint Lô und habe vierzig Einsätze überlebt! Glauben Sie, Sie können sich mit mir anlegen, Captain? Sie bleiben auf tausend Meter und drehen noch zehn Minuten Ihre Runden. Over! … Was suchen denn Sie hier?« Die letzten Sätze hatte Colonel Hobson gesprochen.

»Sie haben mich rufen lassen, Sir.«

»Ich Sie? Niemals!«

»Aber ja doch, Sir. Wegen des Bombers, Sir. Ich bin Civilian Guard Jakob Formann!«

»Ach so. Entschuldigen Sie, Formann. Hahaha! Ist gar kein Bomber!«

»Sir, das ist eine ›Fliegende Festung‹! Ich bin lange genug hier, um …«

»Das ist eine umgebaute ›Fliegende Festung‹. Eine als Transporter umgebaute! Verstanden?«

»Nein, Sir.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß ich nicht verstanden habe, Sir!«

»Sie, wenn Sie mir frech kommen, bringe ich Sie …«

Das Folgende unverständlich, weil Motorengeräusch alles übertönt. Geräusch wird leiser.

»Hier ist der Captain. Sorry, Gentlemen. Habe auf den falschen Hebel gedrückt. Kann vorkommen. Wird wieder vorkommen, wenn ihr uns nicht bald sagt, was wir tun sollen!«

»Mann, steck dir doch deinen Hebel in den Arsch!«

»Ruhe! Der Befehlshabende hier bin ich! Und ich dulde diesen Bordellton nicht!«

»Hr-rm. Sofern ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Sir: Wenn das da über uns ein Transporter ist und kein Bomber, dann müssen die Passagiere doch auch langsam durchdrehen, weil die Maschine immer im Kreis fliegt, Sir!«

»Ist ja auch schon passiert!«

»Was ist auch schon passiert, Sir?«

»Na, was Sie sagen! Sind schon welche ausgekrochen.«

»Au … au … ausgekrochen, Sir?«

»Ja doch, verflucht!«

»Au … au … aus der Maschine, Sir?«

»Aus ihren Schalen, dämlicher Kraut!«

»Entschuldigen Sie, Sir, aber Menschen haben keine Schalen.«

»Wer redet denn von Menschen?«

»Sie, Sir!«

»Niemals! Niemals habe ich …«

»Chörsching Tower! Chierr Vienna Center … Chierr Vienna Center. Chörsching Tower, bitte kommen!«

»Das sind die Russen, Mann! Los, los, los, gehen Sie ran!«

»Vienna Center … Vienna Center … Hier ist Hörsching Tower! Es spricht der Dolmetscher.«

»Freundschaft, Genosse Dolmetscher, Freundschaft! Chörren zu und übbersetzen Colonel Chobson: Chabben nicht gefunden Genossen Generalmajor Tschurasjew. Tutt uns leid, Chörsching Tower. Obberbefehlshaber von sowjetische Besatzungstruppen in Österreich, Genosse Generalmajor Tschurasjew, ist gefarren auf Semmering. Mit Genossin Gemahlin. Abgestiegen Chotell Panhans …«

Hin- und Herübersetzen Jakobs.

»Colonel Hobson läßt ihnen mitteilen: Dann fliegt die Maschine eben so in den Korridor ein, Vienna Center!«

»Dann fliegt Maschinn ebben nicht so in Korridor ein! Sagen das Colonel Chobson! Schlimme Sache sonst! Amerikanskaja aggressija! Over!« Jakob übersetzt. Der Colonel flucht.

Dann wieder Jakobs Stimme: »Wenn Sie schon nicht Menschen gesagt haben, dann haben Sie aber Passagiere gesagt, Sir!«

»Passagiere, ja! Aber Menschen, nein! Westmorelands!«

Jetzt sehr starke Motorengeräusche.

Dann:

»…wissen nicht, was Westmorelands sind, Sie – wie heißen Sie?«

»Formann, Sir. Jakob Formann, Sir. Nein, Sir, weiß nicht, was Westmorelands sind.«

»Küken, Formann! Hochgezüchtete Küken! Über Ihnen! Vierzigtausend! Vierzigtausend!«

»Yesssirr, Colonel, Sir!«

»Passen Sie auf, Formann: Gestern früh startete drüben eine ›Fliegende Festung‹. Alles klar?«

»Alles klar, Sir.«

»Unsere ›Fliegende Festung‹, alles klar? Die da oben, kapiert?«

»Kapiert, Sir.«

»An Bord eine Ladung angebrüteter Eier von Westmoreland-Hühnern für österreichische Landwirtschaftsbetriebe, die daniederliegen. Spende des ›American Friends Committee‹. Alles …«

»…klar, ja, Sir!«

»Maschine hatte Defekt in Treibstoffleitung! Stellte sich bei Zwischenlandung in Frankfurt heraus. Aufenthalt wegen Reparatur: Sieben Stunden!«

»Verstehe, Sir. Die ›Fliegende Festung‹ hätte Linz sieben Stunden früher erreicht und den Luftkorridor zu Mittag passiert, und alle vierzigtausend Eier sind so angebrütet, daß die erste Schale erst gebrochen wäre, wenn das letzte Ei den Bauernhof erreicht hätte.«

»Phantastisch, wie schnell … äh … äh … Wie heißen Sie?«

»Jakob Formann, Sir.«

»…wie schnell Sie das begriffen haben, Formann.«

»Gesunder Menschenverstand einfach, Sir.«

»Das sagen Sie so. Wenn Sie wüßten, was für ein Idiot ich … äh, mit was für Idioten ich es zu tun habe, dann …«

Die Maschine muß direkt jetzt über den Tower geflogen sein, so laut ist an dieser Stelle das Motorengeheul.

Danach: »Verstehen Sie jetzt die grausige Situation, in der wir uns befinden, Formann?«

»Yes, Sir!«

Stoptaste drücken. Band steht.

3

Als wir den Krieg mit Hilfe der ›Vorsehung‹ verloren hatten, teilten die Sieger Deutschland und Österreich in Besatzungszonen auf. Berlin und Wien lagen tief in den sowjetischen Zonen. Westalliierte Flugzeuge mußten den Weg nach Berlin oder Wien auf vorgeschriebenen ›Luftstraßen‹ zurücklegen. In Österreich gab es einen einzigen Luftkorridor. Der durfte ›aus Sicherheitsgründen‹ nur bei Tageslicht benützt werden. Nachts nicht und nicht nach Einbruch der Dämmerung solcher Art, daß die Sichtweite weniger als vierhundert Meter betrug.

Am 3. November 1946 ging die Sonne um 7 Uhr 19 auf, und um 16 Uhr 48 ging sie unter. Dann kam die Dämmerung, die tiefe Dämmerung und endlich die Nacht, in der es verboten war, in den Luftkorridor einzufliegen. Als die ›Fliegende Festung‹ über dem amerikanischen Fliegerhorst Hörsching zu kreisen begonnen hatte, war es 17 Uhr 10 gewesen, und Vienna Control hatte ›Njet!‹ gesagt.

Jetzt, um 17 Uhr 42, dreht die ›Fliegende Festung‹ noch immer ihre Runde.

Es ist mittlerweile sehr dämmrig geworden.

Und Samstag ist es dazu.

4

Ton ab! Band läuft weiter.

»Verflucht noch mal, Herr Kollege, die Küken müssen nach Wien und von dort auf die Bauernhöfe! Sie wissen es so gut wie ich, daß ein neugeborenes Küken die erste Nahrung und die erste Flüssigkeit nur an dem Ort zu sich nehmen darf, an dem es dann immer bleibt.«

»Ach, leckt’s mich doch am Arsch!«

»Sie als befreiter Österreicher und Dolmetscher im Provost Marshal Office in Wien wollen also die Verantwortung für den Tod von vierzigtausend unschuldigen Küken auf Ihre Schultern laden?«

»Ich will überhaupt nix laden! Heut ist Samstag! Da sind die Hohen Herren alle weg! Der Provost Marshal ist nicht da, das habe ich Ihnen schon zweimal gesagt! Der ist übers Weekend nach Salzburg gefahren, mit seiner Frau!«

»Wer ist denn sein Stellvertreter?«

»Colonel Worsley. Steht hier neben mir. Er sagt gerade, daß er nichts tun kann. Versuchen Sie’s doch bei den Engländern, Herr Kollege. Die sind schließlich auch eine Schutzmacht Österreichs! Heil … äh, ’tschuldigung, Servus!«

Klick.

»Der Kerl hat aufgehängt!«

Jakob übersetzt.

Allgemeines Fluchen.

»Hörsching Tower! Hier Eins-acht-eins … Bitte kommen!«

»Was gibt’s?«

»Vierunddreißig weitere ausgekrochen, Colonel, Sir!«

»Machen Sie mich nicht wahnsinnig!«

Jetzt eine neue Stimme, lupenreines King’s English, schneidig: »Kommandantur Wien, McIntosh!«

»Wer ist denn um Gottes willen nun wieder McIntosh?«

»Colonel McIntosh, Vertreter Seiner Exzellenz, des Herrn britischen Stadtkommandanten.«

»Aha. Und der ist also auch mit seiner Frau …«

»No, Sir. Der ist mit einem Freund zur Jagd nach Kärnten.«

»Jagen, fischen, vogelstellen, das hält jung die Junggesellen …«

»Haben Sie den Verstand verloren, Formann?«

»Ach, das fiel mir gerade so ein, Sir.«

»Reißen Sie sich gefälligst zusammen, Kerl! Hallo, Colonel! Hören Sie: Wir haben über unseren Köpfen …«

»Vierzigtausend bebrütete Eier, ja, ja. Ich weiß, ich weiß. Die Herren amerikanischen Verbündeten haben uns bereits unterrichtet. Ich bin beauftragt, Sir, Ihnen mitzuteilen, daß das Britische Empire in dieser Angelegenheit strikteste Enthaltsamkeit üben muß. Warum versuchen Sie es nicht bei Seiner Exzellenz, dem Herrn französischen Stadtkommandanten? Auch Frankreich ist für das befreite Österreich verantwortlich!«

Auf dem Band ist nunmehr ein gräßliches Durcheinander von Stimmen und Geräuschen zu hören. Dann erklingt eine neue, helle Stimme, die in melodischem, leicht singendem Wienerisch mitteilt, Seine Exzellenz, der französische Stadtkommandant von Wien, sei nach Berlin geflogen – einer Einladung Jean Cocteaus folgend.

»Jean wer?« (Jakob fragt.)

»Cocteau, Süßer! Monsieur Cocteau zeigt im Maison de France am Kurfürstendamm seinen neuen Film ›La Belle et la Bête‹ mit Jean Marais. Zur Sache, Chéri! Der Vertreter des Herrn Stadtkommandanten läßt bestellen, daß er die Infamie der Engländer, die Grande Nation in diese Affäre hineinzuziehen, durchaus erwartet hat. Es möge sich indessen niemand täuschen: Frankreich hat nicht die Absicht, sich eines Problems anzunehmen, das ausschließlich Amerika und Rußland angeht. Adiööööh, Liebling!«

Folgt Jakobs Übersetzung.

Dann die Stimme des Colonel Hobson, eiskalt: »Jim, geben Sie mir OMGUS in Berlin. General Robert Loosey!«

»Hörsching Tower! …Hier ist Eins-acht-eins … Wieder dreizehn ausgekrochen. Over!«

»Haben Sie endlich Berlin, verflucht! Jim?«

»Ja. Vermittlung OMGUS sagt, daß General Loosey nicht da ist.«

»Dann geben Sie mir Generalmajor Lucius D. Clay!«

»Wollte ich schon. Ist auch nicht da.«

»Sondern wo?«

»Weiß Vermittlung nicht, Colonel, Sir. General Loosey soll irgendwo bei Frankfurt sein. In Bad Nauheim.«

»Wo?«

»Bad Nauheim, Sir. Mit Frau und Tocher und Schwiegersohn und drei Enkelkindern … Wann kommt Loosey zurück, Frankfurt!«

»Er übernachtet in Nauheim. Hat sich fürs Weekend freigenommen, Sir. Fliegt erst Montag früh zurück nach Berlin.«

»Da muß doch irgendein Diensthabender in Berlin sein, gottverdammt, Jim!«

»Ist auch einer, Colonel, Sir!«

»Geben Sie mir den Kerl!«

»Ich habe Berlin auf Standleitung, Colonel, Sir!«

»Also nichts wie her mit dem Diensthabenden! Mit dem rede ich jetzt mal ein Wörtchen! Und wenn der kneift, rufe ich Washington, Saustall, verfluchter!«

»Hörsching Tower! … Hörsching Tower! … Hier Eins-acht-eins! … Wieder einundzwanzig ausgekrochen!«

»Geburtenzahlen werden ab sofort immer erst gemeldet, wenn das nächste Hundert voll ist, Eins-acht-eins! Herrgott! Gebt mir fünf Minuten Zeit, dann sieht die Sache anders aus!« schrie der Colonel. Die Lautstärke hat seine Stimme völlig verändert, dachte Jakob. Er fühlte sich schwindlig. Die Narbe an seiner Schläfe begann zu pochen. Das Gesicht rötete sich und nahm einen idiotischen Ausdruck an, wie stets, wenn Jakob Formann ganz intensiv nachdachte. Seine gesamte Intelligenz stülpte sich dann sozusagen nach innen, und für die Fassade (das Gesicht zum Beispiel) blieb nichts, aber auch gar nichts übrig. Er wirkte stets wie ein armer Trottel, wenn er gerade alles andere als ein armer Trottel war. Raum und Zeit verschwammen für ihn, und gleich einem eigenwilligen Echo von des Colonels Gebrüll schmetterte eine andere Stimme in Jakobs innerem Ohr: »Nun, deutsches Volk, gib mir die Zeit von vier Jahren und dann urteile und richte mich!«

Es war die Stimme des Adolf Hitler.

5

1933, am 1. Februar, war es, als der Kerl das geschrien hat. Noch in Deutschland. Da war ich dreizehn Jahre alt. Und im Gymnasium. Ich war ein schlechter Schüler, von Latein über Physik bis Mathematik in allen Fächern der Faulste – der ›Klassen-Idiot‹. Aber ein schlauer Idiot, weiß der Himmel.

1938 schrie der Kerl noch immer, jetzt auch in Wien. Eigentlich hätte ich 1938 die Matura machen müssen. (Abitur nennen sie das in Deutschland.) Habe ich? Einen Dreck habe ich! Ein Jahr vorher haben sie mich nämlich aus der Schule gefeuert. Weil ich ihnen wohl zu schlau gewesen bin. Und zu frech. Also habe ich mich halt ein bißchen beschäftigt, bis zum Februar 1939. Und, wupp, war ich auch schon beim Reichsarbeitsdienst. Steine klopfen. Autobahn bauen. In verstunkenen Baracken schlafen. Abitur? Ha! Nach einem halben Jahr Arbeitsdienst bin ich sofort zum Barras überstellt worden. In eine verstunkene Kaserne. Und habe ich strammstehen gelernt. Griffe kloppen, Menschen töten. In der Deutschen Wehrmacht. Am 1. September 1939 ist es dann losgegangen. Noch im gleichen Jahr war ich schon im schönsten Schlamassel. Bin drin geblieben, bis ich in Gefangenschaft geriet, 1945. Aus der habe ich mich dann selber entlassen; aber das steht nicht zur Diskussion. 1945, im November, bin ich in Wien angekommen. Abgerissen, ausgehungert, halb erfroren. Haus weg. Eltern weg. Alles weg.

»Gib mir die Zeit von vier Jahren …«

Vier Jahre!

Ich habe ihm sieben Jahre gegeben, dem Sauhund! Sieben Jahre habe ich ihm geben müssen wie so viele Millionen andere arme Kerle. Erstaunlicherweise lebe ich noch. Aber wie! Als ›Civilian Guard‹. Bin nichts. Habe nichts. Außer meinen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt. Den will ich auch behalten! Aber je länger ich mir das Theater ansehe, das dieser idiotische Colonel da mit den vierzigtausend Westmoreland-Küken aufführt, das Theater, das sie alle, alle diese verehrungswürdigen Sieger aufführen mit den vierzigtausend Küken, desto größer wird meine Wut über die verlorenen Jahre. Ich habe den Krieg nicht angefangen. Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob ich ihn wirklich verloren habe, Himmel, Arsch und Zwirn! Diese blödsinnigen Eier …

Eier? Mit Eiern hat’s doch schon mal was gegeben in meinem Leben! Ich muß mich nur daran erinnern! Wie war das bloß? Und wo? Das wird mir schon wieder einfallen. Muß mir wieder einfallen. Denn jetzt hole ich mir meine verlorenen Jahre zurück, verflucht! Jetzt führe ich meinen Krieg, meinen eigenen Krieg, verdammt! Auf meine Weise! Zu meinem Wohle! Auf eigene Rechnung und Gefahr! Für mich – und nicht für Ehre, Führer, Vaterland und diesen ganzen Scheiß! Ich habe die Schnauze voll! Gestrichen voll! Nun laßt mich mal ran! Nun gebt auch mir mal ein paar Jahre Zeit! Sieben Jahre Zeit gebt mir, ihr Hohen Herren ringsherum, und dann urteilt und richtet mich!

Himmelherrgottnochmal, wenn ich bloß wüßte, wie das damals mit den Eiern war!

Langsam. Von vorn.

In Krakau war es, das weiß ich bestimmt.

Was war das? Was? Ich muß es genau wissen, dann kann ich dieses Rindvieh von Colonel vielleicht reinlegen und meinen Krieg anfangen! Krakau … Krakau … Im Lazarett lag ich da mal … Das Lazarett war in der Universitätsklinik … Und da war die blonde Friederike … Süßes Mädchen … Hat in der Klinik gearbeitet … Und mir erzählt, was sie da machen. Was sie da machen … etwas mit Eiern … Was haben sie da bloß gemacht mit den Eiern?

6

Das Band ist inzwischen weitergelaufen. In seiner Erinnerung an die Zeit in Krakau wühlend, hörte Jakob das Gekläff des Colonels, der nun den Diensthabenden bei OMGUS, Berlin, am Apparat hat: »… und ich sage Ihnen, Major: Wenn wir nicht wollen, daß die Kommunisten uns überrennen, dann müssen wir einig und starken Herzens …«

Was war mit den Krakauer Eiern los?

»…als freie Bürger einer freien Welt …«

Sie haben so ein Geheimnis darum gemacht, da in der Universitätsklinik. Auch der süßen Friederike habe ich mein Ehrenwort geben müssen, daß ich niemals ein Wort darüber verlieren werde. Worüber nur, verflucht? O Gott, ist dieser Colonel ein Trottel! Wie leicht könnte ich den aufs Kreuz legen, wenn ich nur wüßte, wie das damals mit den Eiern gewesen ist … Irgendwas mit Brüten … Die haben auch angebrütete Eier gehabt, da in Krakau … Ein Forschungsinstitut innerhalb der Universitätsklinik … Strengstens gegen die Außenwelt abgeschirmt …

»Hörsching Tower! … Hier Eins-acht-eins …«

»Was gibt’s, Eins-acht-eins?«

»Ach, nichts Besonderes, Hörsching Tower. Es geht uns nur der Sprit aus. Wir sind bereits auf Reserve!«

»Wir haben vielleicht mal eine Schlacht verloren, Eins-acht-eins, aber nicht den Krieg, alles klar?«

Und auf diesen Eiern da in Krakau haben sie irgendwas gezüchtet … Was, zum Teufel?

»Sie sind mir verantwortlich, Major! Ich muß sofort eine Entscheidung von General Loosey haben! Wir rufen Washington!«

Jetzt fällt’s mir wieder ein! Auf Eiern, auf angebrüteten Hühnereiern, haben die da in Krakau die Erreger einer Krankheit gezüchtet …

»Ich sage Ihnen, die Eier können nicht bei uns runterkommen, Major! … Warum nicht? Herrgott, wegen der Begleitpapiere! Die sind aus Versehen in New York auf dem Flughafen liegengeblieben! New York sah keine andere Möglichkeit, als den Text nach Frankfurt Rhein Main Control durchzufunken …«

»Dringendes Staatsgespräch Washington! … Dringend Staat Washington!«

»…Rhein Main Control hat den Text sofort weiter nach Tulln gefunkt. … Nein, Tulln, das ist der Wiener Ausweichflughafen. … Was? … Natürlich liegt Tulln in der Sowjetischen Zone! Das ist ja die Sch … die Schwierigkeit! Die Sowjets akzeptieren den gefunkten Text nicht! Sie wünschen die Papiere! Und eine beglaubigte russische Übersetzung! Die ist auch in New York liegengeblieben! Aber die Eier müssen nach Wien, ist das endlich klar, Major, oder bin ich von lauter Idioten umgeben?«

Fleckfieber-Erreger! Jetzt weiß ich es wieder! Weil doch so viele arme Landserschweine an Fleckfieber verreckt sind …

»Hören Sie, Major! Wenn diese Sowjets glauben, sie können mit uns machen, was sie wollen, dann haben sie sich aber geschnitten!« Um Himmels willen, dachte Jakob. Der Verrückte will die ›Fliegende Festung‹ tatsächlich gegen den Widerstand der Russen nach Wien durchbrechen lassen! Das muß ich verhindern, unter allen Umständen! Vierzigtausend Eier, an die muß ich ran! Die Eins-acht-eins mit den Eiern, das wird jetzt meine Sache! Übel, übel, diese Waffenbrüderschaft der vier Alliierten. Wir können uns einen Dritten Weltkrieg so ohne jede Atempause – gut, gut, daß wir alle fünfundzwanzig Jahre einen anfangen, daran haben wir uns schon gewöhnt –, doch so ohne jede Atempause können wir uns einen Dritten Weltkrieg nicht leisten! Hauptsache aber: die vierzigtausend Eier …

»…Treibstoff noch für einunddreißig Minuten …«

»Na und wenn schon, Eins-acht-eins! Der Colonel spricht jeden Moment mit Washington!«

Wie komme ich an die vierzigtausend Eier ran, verdammt?

»Bedaure, Sir, Colonel, Sir, aber Vermittlung Washington sagt, General Eisenhower ist zum Golfspielen gefahren.«

»Golfspie … Ungeheuerlich! Hat der Mann denn überhaupt kein Pflichtbewußtsein? Geben Sie mir den Präsidenten!«

»Den Pr … Pr … Präsidenten, Sir, Colonel, Sir?«

»Etwas nicht klar, Jim?«

»Do … do … doch, Sir, Colonel, Sir, alles klar. Ver … Ver … Verbindung mit dem Pr … Pr … Präsidenten …«

»Washington? Washington? Hier Colonel Hobson, Hörsching Airfield bei Linz, Austria … Nein, nicht Australia! Austria! Habe hier einen schweren Krisenfall … Muß unbedingt Mister President sprechen! … Eine Minute warten? …Ich danke, Mister Secretary of State, ich danke …«

»Hörsching Tower! Chierr Vienna Center … chierr Vienna Center …«

»Was ist, Vienna Center? Hier ist Dolmetscher Hörsching Tower!«

»Freundschaft, Genosse Dolmetscher, Freundschaft! Chabben gefunden Genosse Tschurasjew auf Semmering … chabben gerade gesprochen mit ihm …«

»Ja. Ja. Ja. Und?«

»Genosse Generaloberst Tschurasjew chatt telefoniert von Semmering mit Moskau … Wir chierr chabben abgechörrt und auf Band genommen alle Ihre Gespräche! Wissen, Sie stehen in Verbindung mit Weiße Chaus! Treiben Konflikt auf Spitze! Bitte serr, können chabben! Befehl von Genosse Generaloberst Tschurasjew nach Blitzgespräch mit Genosse Stalin: Wenn ›Fliegende Festung‹ eindringt in sowjetischen Luftraum, wir werden antworten auf diese schwerste Provokazje! Befell an Genossen Oberbefehlschabber Sowjetische Luftwaffe Austria: Sofort zehn Jaks gestartet, um abfangen ›Fliegende Festung‹ und zur Landung zwingen …«

Danach:

»Boy, o Boy, da sind sie schon! Guck mal auf meinen Radarschirm! Die hellen Punkte da entlang der Luftstraße … Eins … zwei … drei … zehn, tatsächlich. Na, das wird fröhlich!«

»Hörsching Tower … Hörsching Tower … Colonel Hobson?«

»Jawohl!«

»Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist jetzt sprechbereit für Sie!«

»Ich … oh … äh … äh …«

»Bitte??«

»Ich danke! Hat sich erledigt! Nicht mehr nötig, Mister Secretary of State! Bin absolut Herr der Lage …«(Geräusch eines fallenden Hörers.) »Los, los, los, Jim, Joe, Tommy, holt die verfluchte Eins-acht-eins runter!«

»Eins-acht-eins! Lande-Information: Sie haben Landebahn fünfnull … Starker Seitenwind von links! Mit Böen!«

»Scheiß auf den Seitenwind! Hauptsache, wir landen endlich!«

Jetzt aber nichts wie ran, dachte Jakob bebend. (»Gib mir die Zeit von vier Jahren, und dann urteile und richte mich!«) Und fuhr zu dem kleinen Colonel herum. »Sir!«

Der Colonel fuhr auch herum. Vor Schreck.

»Wahnsinnig geworden, Mann?«

»Ladung muß natürlich sofort nach Landung verbrannt werden, Sir!« sagte Jakob.

Scharf. Sehr scharf.

»Ladung muß was?« Der Colonel starrte ihn an.

»Verbrannt werden! So schnell wie möglich!« Gott, wie ich es hasse, dieses Kommandogebrüll, aber jetzt muß es her, es geht um meinen Krieg, um meine Zukunft! Alle im Kontrollraum des Tower starren mich an! Ich muß von hinten anfangen, um sie meschugge zu machen, dachte Jakob und schnarrte los: »Schon mal was von Enteneiern gehört, Gentlemen?«

Die Herren nickten.

»Darf ich als bekannt voraussetzen, daß man Enteneier ohne Gefahr für Leib und Leben keinesfalls roh essen darf?«

»Was soll das, Formann!« schrie der Colonel. »Daß man Enteneier nicht roh essen darf, weiß jeder Trottel!«

»Eben! Und zwar, weil sie Bakterien enthalten. Gefährliche Bakterien! Von Typhus, zum Beispiel!« schrie Jakob. »Erreger von Flecktyphus, zum Beispiel!« Ich bin ein Genie. Wie gut, daß mir doch noch eingefallen ist, was mir damals Friederike in Krakau erzählt hat, vom Fleckfieber und von den Eiern. »Unbeschreiblich gefährlich, Sir!« Hobson nickte, plötzlich stumm und bleich, die Lippen zusammengepreßt.

»Eins-acht-eins, Sie nähern sich dem Gleitpfad …«

»Deshalb so gefährlich, Sir, weil es genügt, daß ein einziger Mann sich ansteckt, um eine Seuche ausbrechen zu lassen! Sie wissen, so eine Fleckfieber-Epidemie …«

Epidemie!

Ich bin wirklich ein Genie!

Vor nichts haben die Amerikaner und die Russen und die anderen Sieger so viel Angst wie vor Epidemien! Gerade jetzt! Jakob sah mit Genugtuung, daß der Colonel sich setzen mußte.

»Eins-acht-eins! Gut auf Gleitpfad … Jetzt gehen Sie über den Gleitpfad … Bringen Sie Ihre Maschine nach unten!«

»Ich war mal im Lazarett in Krakau, Sir. In der Universitätsklinik. Da hat es eine Versuchsstation gegeben, gleich nebenan …«

»Ver … ver …«

»Versuchsstation, ja! Diese Erreger brauchen einen Nährboden, wenn man sie züchten will!«

»Wer wollte sie denn züchten, um Gottes willen?«

»Na wir, die Deutschen! War ganz streng isoliert, das Versuchsgelände!«

»Aber … aber warum denn das Zeug auch noch züchten, wenn es schon in der Natur vorkommt?«

»Eins-acht-eins, Sie sind immer noch zu hoch … Bringen Sie Ihre Maschine langsam tiefer … Nun sind Sie auf …«

»Weil … nein, andersherum, Sir!« (Jetzt muß ich höllisch aufpassen!) »Also: Es sind so viele Soldaten an Fleckfieber gestorben, es hat so viele Epidemien gegeben« (immer noch mal drauf rumtrampeln, er hat wieder gezuckt!), »daß die Ärzte versucht haben, Fleckfieber-Erreger zu züchten, um daraus ein Serum gegen das Fleckfieber zu gewinnen. Alles klar?«

»Absolut«, flüsterte der Colonel. Er verstand kein Wort. Nur Epidemie.

Und so was war auf vierzig Einsätzen und hat Monte Cassino und Saint Lô überlebt, dachte Jakob. Es sind immer die Guten, Gescheiten, die es erwischt. Trottel wie der da, die haben ihren eigenen Schutzengel!

Er sprach jetzt immer schneller: »Und was, glauben Sie, hat man als Nährboden für die Erreger benützt?«

»Was … was, Formann?«

»Eier, Sir. Hühnereier, Sir. Angebrütete Hühnereier!«

»Good God Almighty!«

Jetzt muß ich von Eiern im allgemeinen reden, dachte Jakob. Einmal von Enteneiern, dann von Eiern an sich. Sonst kommt der Trottel noch dahinter, daß die Amis ja nicht gerade vierzigtausend angebrütete Eier rüberschicken, weil sie unbedingt eine Monsterepidemie auslösen, sondern weil sie armen Bauern helfen wollen! Was denn, Ei ist Ei! Und je mehr Lametta einer trägt, desto dämlicher ist er. (Scheint die Regel zu sein. Habe ich auch bei uns den ganzen Krieg über beobachten können.)

»Nun stellen Sie sich vor, Sir, in so einem Entenei sind Fleckfieber-Erreger! Und es kommt unter die Leute!«

Der Colonel bewegte nur stumm die Füße hin und her.

»Die Folgen sind nicht abzusehen, wie?« hetzte Jakob. »Die Seuchen, die Epidemien! Die armen Toten! Vierzigtausend Eier« (jetzt sage ich einfach nur noch Eier!) »kommen da gerade runter … Vierzigtausend bebrütete Eier! Damit können sie halb Europa ausrot …«

»Hören Sie auf, Formann! Das ist ja grauenvoll!«

»Eins-acht-eins! Sie sind jetzt dreihundert Fuß unter Gleitpfad. Bringen Sie Ihre Maschine hoch … Sie nähern sich jetzt dem Gleitpfad …«

Ich muß noch schneller sprechen, dachte Jakob selig. Enteneier, Hühnereier, Hühnereier, Enteneier, der Kerl darf überhaupt nicht mehr wissen, wo ihm die Eier … wo ihm der Kopf steht! Noch zehnmal hin und her, und der Colonel ist fix und fertig.

»Ich will wahrhaftig nicht in Panik machen, Sir«, log Jakob. »Aber nach dem, was ich da in Krakau mitgekriegt habe, bin ich allergisch gegen Eier!

Angebrütete besonders! Und aus vielen Eiern, die da ankommen, sind sogar schon Küken gekrochen. Falls es – Gott soll es verhüten! – eine Riesenepidemie unter GIs und Zivilisten gibt …«

»Bitte, Formann, bitte! Wenn das wahr ist …«

»…dann wird man natürlich den Verantwortlichen suchen und ihn zur Rechenschaft ziehen! Und das mit Recht«, fuhr Jakob unerbittlich fort. »Sie wußten es nicht, Sir, das mit den Eiern. Es war nur Christenpflicht, Sie aufzuklären!« Verflucht, wenn wir schon den Krieg verloren haben, weil wir so blöd waren, ihn anzufangen, statt an die Vernunft zu glauben, warum soll ich dann meinen Krieg nicht gewinnen?

Der Colonel sah Jakob starr an.

Nanu, der wird doch nicht wider Erwarten Verstand haben? dachte Jakob entsetzt.

Der Colonel fuhr hoch, schlug einem der drei schwer arbeitenden Fluglotsen auf die Schulter und brüllte: »Veterinary Branch, aber sofort!«

»Eins-acht-eins! Sie gehen jetzt über den Gleitpfad … Halten Sie Ihre Sinkgeschwindigkeit ein …!«

»Veterinary Branch, Sir?«

»Stellen Sie eine Verbindung her, oder ich schieße Sie über den Haufen, Mann!« tobte Hobson. Er mißtraut mir also nur und will Gewißheit haben, dachte Jakob, und ihm war mau. Wenn der Mann von der Veterinary Branch nun einen Lachkrampf kriegt, bin ich vierzigtausend Eier los. Schwermut überkam ihn. Grundlos. Denn als der mit dem Tode bedrohte Lotse eine Verbindung hergestellt hatte, hörte Jakob zu seiner grenzenlosen Erleichterung Colonel Hobson in die Telefonmuschel brüllen: »… Ihre Antwort sei ja oder nein, kein Herumgerede, Captain Robbins! Ich frage Sie noch einmal: Sind vierzigtausend mit Fleckfieber-Erregern infizierte angebrütete Eier lebensgefährlich?« Der Herr sei gelobt für die Produktion von Idioten, dachte Jakob und wischte sich Schweiß von der Stirn. Veterinär-Offizier Robbins brüllte so laut zurück, daß Jakob seine Stimme hörte.

»Sie sind besoffen, wie?«

»Was erlauben Sie sich, Mann?«

»Nicht zu fassen …«

»Antworten Sie mir augenblicklich, oder ich bringe Sie vor ein Kriegsgericht! Bei mir landen gerade vierzigtausend solche Eier!«

»Bei Ihnen … Allmächtiger im Himmel!« ertönte ein Stöhnen. »Also sie sind gefährlich?« keuchte Hobson.

»Gefährlich? Lebensgefährlich! Vernichten! Vernichten! Vernichten!« kreischte es aus der Membran des Hörers. »Jesus Christ, da fragt der Mann, ob solche Eier gefährlich sind!«

»Man wird doch noch fragen dür …«, begann Hobson. Da hatte der Gesprächspartner schon den Hörer in die Gabel geknallt.

Colonel Hobsons Antlitz war weiß wie Schnee.

So ist das Leben, dachte Jakob voll wilder, aber stiller Begeisterung. Gott, ich danke Dir dafür, daß Du auch Volltrottel geschaffen hast.

Der Volltrottel stierte ihn an und flüsterte mit feuchten Augen: »Sagen Sie mal, Formann, wie heißen Sie mit dem Vornamen?«

»Jakob.«

»Darf … darf … darf ich Jake und du zu Ihnen sagen?«

»Meinetwegen.«

»Aber du mußt Peter zu mir sagen!«

»Okay, Peter.«

»Niemals werde ich dir das vergessen, Jake. Niemals, hörst du?«

»Hab’s gehört, Peter.«

»Glaub mir das, Jake!« (Ich glaub’s dir aufs Wort, dachte Jakob.) »Mein Gott, warum hast du auf der anderen Seite kämpfen müssen? Einen Mann wie dich … einen Mann wie dich, Jake, hätte ich mir in meinem Offizierskorps gewünscht!«

»Danke, Peter.«

Der Colonel erhob sich federnd und sprach mit gepreßter Stimme: »Ladung wird sofort ausgeladen und verbrannt, alles klar?«

Jakob sah zu den anderen.

Die anderen sahen, wie die riesige ›Fliegende Festung‹ zur Landung ansetzte. Nur Tommy, der Lotse mit dem Kinderkaugummi, sah Jakob an. Und kniff wieder ein Auge zu.

Jakob trat schnell zu ihm.

Tommy flüsterte: »Ich spreche Deutsch – aber das weiß keiner.«

»Und?«

»Und außerdem studiere ich Biologie.«

»Mit zehn Prozent bist du dabei«, flüsterte Jakob.

»Mit zwanzig.«

»Mit fünfzehn.«

»Okay, mit fünfzehn, Jake«, flüsterte Tommy und blies seinen Gummi so weit auf, daß er platzte. Im gleichen Moment hatte die ›Fliegende Festung‹ Bodenberührung und schoß mit den radierenden Pneus ihrer Räder über die seit langem beleuchtete Landebahn.

Es war genau 18 Uhr 58.

Es war ein historischer Augenblick: der Beginn von Jakob Formanns meteorhafter Karriere.

7

Der Hase mußte sich an seinem Fahrrad festhalten und dreimal ansetzen, bevor er flüsterte: »Vierzigtausend?«

»Ja«, sagte Jakob mit einem freundlichen Blick seiner tiefdunklen Augen.

»Und du radelst sofort weiter nach Theresienkron und alarmierst sämtliche Bauern. Sie sollen sich darauf vorbereiten, daß die vierzigtausend kommen – im Lauf der Nacht!«

»Aber das ist doch Diebstahl, Bärchen!« sagte der Hase.

»Jetzt gilt Moral nur für die Sieger!«

»Da hast du natürlich auch wieder recht«, sagte der Hase.

Das Gespräch zwischen dem Bären und dem Hasen fand außerhalb des Fliegerhorsts statt, neben dem oben stromgeladenen Stacheldrahtzaun. Gleißendes Licht warfen Scheinwerfer über das ganze Gelände, über Tower, Hangars, Mannschaftsunterkünfte und draußen, weit entfernt, am Ende einer Landebahn, über die ›Fliegende Festung‹. Denn da in der Nähe, auf einem Flecken ausgedörrten Ackers, sollte nun auf Befehl des Colonel Hobson die gesamte Fracht der Eins-acht-eins mit Benzin übergossen und verbrannt werden.

Der Hase war schlank, hatte aufregende Kurven genau dort, wo sie hingehören, außerdem rehbraune Augen mit langen Wimpern und braunes Haar. Der Hase hieß Julia Martens. Er trug ein kornblumenblaues Kleid mit weißen Abnähern und weiße Schuhe. Der Hase hatte am 3. November 1946 nur ein einziges Kleid und ein einziges Paar Schuhe. Sonst besaß er noch selbstgefertigte, einigermaßen abenteuerlich aussehende Hosenanzüge. Und für seinen Bären hatte der Hase einen ebenso abenteuerlichen Anzug genäht. Derselbe war jedoch so beschaffen, daß Jakob – Multimillionär von 1965 – doch lieber in seinen eingefärbten Sachen herumlief. Im übrigen ist es jedermann bekannt, daß Verliebte sich zärtlich Tiernamen geben. Und Julia, genannt Hase, und Jakob, genannt Bär, liebten einander.

Jakob hatte aus Gründen, über die noch zu sprechen sein wird, seine Stellung als Dolmetscher bei der amerikanischen Militärpolizei in Wien Knall und Fall aufgeben und mit Hilfe des liebenswerten Generals Mark Clark in einer Verbindungsmaschine nach Linz fliegen müssen. Im gleichen Flugzeug: George Misaras, Mojshe Faynberg und Jesus Washington Meyer. Jakobs Problem war gewesen, in Linz eine Wohnungzu finden. Und etwas zu essen. In den großen Städten verhungerten die Menschen, als würden sie dafür bezahlt. Und im Radio konnte man hören, das ehemalige Großdeutsche Reich sei so zerstört, daß dreißig Kubikmeter Schutt auf den Kopf der Bevölkerung kamen. Und daran waren die Deutschen selber schuld und durften es nie vergessen! Schon um sechs Uhr früh standen Schlangen vor dem Wohnungsamt. Jakob stand auch da. Ein erschöpfter Beamter saß hinter einem Schreibtisch, auf dem sich Briefe häuften. Er war mit einer kreischenden Dame beschäftigt.

Jakob sah schnell, daß hier nichts zu holen war. Er ging. Als er aus dem Amt auf die Straße hinaustrat, fuhr ihn ein schönes, junges Mädchen in einem kornblumenblauen Kleid mit ihrem Fahrrad über den Haufen. Er war selber schuld, denn er hatte nicht aufgepaßt. Die Hübsche war furchtbar aufgeregt, aber bei Jakob fand sich nur eine Platzwunde am Schädel. Er erzählte ihr, daß er keine Bleibe habe. Sie erzählte ihm, daß sie ihm eine besorgen werde. Nicht in Linz! Außerhalb! In dem kleinen Ort Theresienkron, da beim Ami-Fliegerhorst Hörsching. In den Dörfern gab es immer noch Platz. Das Mädchen, zum Beispiel, hatte ein riesengroßes Zimmer bei der Pröschl-Bäuerin. Jakobs Platzwunde wurde verbunden, dann setzte er sich auf den Gepäckträger des Rades, das dem schönen Mädchen gehörte, und sie strampelte mit ihm nach Theresienkron zur guten Frau Luise Pröschl. Es waren nur sieben Kilometer zu strampeln, aber sie brauchten für die Reise einen halben Tag. Sie hatten nämlich gleich festgestellt, daß sie einander geistig gut verstanden. Auf der Fahrt nach Theresienkron (Jakob mußte das Mädchen um die Hüften fassen, um nicht vom Gepäckträger zu fallen), entdeckten die beiden andere Gemeinsamkeiten. Es war ein sonniger Tag. In einem kleinen Wäldchen stellten sie dann fest, daß sie einander tatsächlich auf jedem Gebiet außerordentlich gut verstanden! (Hier ist anzumerken, daß es kaum eine Frau gab, die sich nicht binnen kürzester Zeit mit unserem Jakob außerordentlich gut verstand. Kein Wunder: Jede Frau spürte, daß dieser Jakob Formann, der sich so ungezwungen gab, über ein außerordentlich gutes Verständnis für Frauen verfügte.)

Als sie endlich ankamen, sah die lebenserfahrene Pröschl-Bäuerin sogleich, daß es sich hier um einen akuten Notfall handelte und vermietete Jakob und dem Mädchen, das Julia hieß, ohne zu zögern die halbe Etage im ersten Stock ihres Hauses. Mit Küchenbenützung.

Das mit dem ›Hasen‹ und dem ›Bären‹ ergab sich dann ganz zwanglos in der folgenden Nacht.

Der Hase arbeitete in einem Verlag in Linz. Tatsächlich, es gab schon wieder Verlage! Mit dem Fahrrad strampelte der Hase jeden Morgen nach Linz, und jeden Abend strampelte er zurück. Jakob, auf seinen Gesundheitszustand bedacht in Krieg und Frieden, absolvierte täglich und bei jedem Wetter eine Tour zu Rade (Nachkriegsbeute), fünf Kilometer zum Fliegerhorst, fünf Kilometer zurück.

1946 – zaghafter Anfang

1946–1950: Demontage in Westdeutschland (Wert bis Februar 1948 bereits 12,5 Milliarden D-Mark).

Neujahr: Erste Gefangenenpost aus der Sowjetunion.

11. Januar: Nahezu auf den Tag genau 9 Monate nach Einmarsch der Amerikaner wird in Almeding, Bayern, der erste Negersprößling geboren und Lorenz getauft.

5. März: Konrad Adenauer (am 6. 10. 45 als Oberbürgermeister von Köln von den Engländern »wegen Unfähigkeit« entlassen) Vorsitzender der CDU in der Britischen Besatzungszone.

März: In der französischen Zone 1075 Kalorien täglich. Die »Entnazifizierung« wird deutschen Behörden übertragen.

1. April: Wiederbeginn der Vorlesungen an der Münchner Universität, am 8. April an der Technischen Hochschule München.

22. April: Durch Zwangsvereinigung von KPD und SPD wird in Berlin für die Sowjetzone die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) gegründet.

April: Erste Modenschau der Münchner Meisterschule für Mode (53 Modelle).

10. Mai: Kurt Schumacher Vorsitzender der SPD.

Juni: An Litfaßsäulen ein Plakat: WER EINEN SCHIEBER ANZEIGT, IST KEIN DENUNZIANT!

22. Juli: Erste CARE-Pakete treffen in Bremerhaven ein.

Juli: Schwarzmarktpreise in Berlin: 1 kg Mehl RM 11,–; 1 Paar Schuhe RM 420,–; 20 amerikanische Zigaretten RM 150,–; 1 kg Bohnenkaffee RM 1100,–; 1 Ei RM 12,–; 1 Schachtel Streichhölzer RM 5,–.

Dezember: US-Soldaten dürfen deutsche Frauen heiraten.

In Vietnam ruft Ho Tschi Minh zum Kriege gegen die Franzosen auf.

ENIAC – erster voll elektronischer Computer (USA).

Volkswagenwerk Wolfsburg beginnt mit Serienproduktion des »Käfers«.

Bühne: Carl Zuckmayer, »Des Teufels General«, Uraufführung in Zürich.

Bücher: Erich M. Remarque, »Arc de Triomphe«; Theodor Plivier, »Stalingrad«; Erich Kästner, »Das fliegende Klassenzimmer«; Eugen Kogon, »Der SS-Staat«. Die ersten drei ro-ro-ro-Zeitungsdrucke: Hemingway, »In einem anderen Land«; Tucholsky, »Schloß Gripsholm«; Gide, »Die Verliese des Vatikan«.

Filme: »La Belle et la Bête« (Frankreich, Cocteau); »Die besten Jahre unseres Lebens« (USA, William Wyler); »Gilda« (USA, Charles Vidor). Erster deutscher Nachkriegsfilm: »Die Mörder sind unter uns« von Wolfgang Staudte.

Schlager: »Gib mir einen Kuß durchs Telefon.«

»George, Mojshe und Jesus machen mit«, sagte Jakob am Abend des 3. November 1946 zu Julia, vor dem Stacheldrahtzaun stehend. »Andere auch.«

»Dann kann ja nichts schiefgehen«, rief Julia aufgeregt.

»Unberufen«, sagte Jakob.

»Da kaufen wir dir aber auf dem Schwarzmarkt feste, warme Schuhe!« rief der Hase.

»Und du bekommst einen Wintermantel, einen ganz feinen«, sagte Jakob.

»Auch schwarz. Im NEUEN ÖSTERREICH wird und wird keiner zum Tausch angeboten, ich hab’ wieder im Annoncenteil nachgeschaut, bevor das Theater hier angefangen hat. Jetzt fahr aber los, Hase!«

»Okay, Bärchen!« Der Hase schwang sich auf das klapprige Rad und trat in die Pedale wie ein Sechstagefahrer.

8

In einer Höhe von dreitausend Metern über der Stadt St. Pölten kreisend, konnte Hauptmann Grigorij S. Oronewitsch zwei Stunden später aus der Kanzel einer Jak-Maschine seinem Vorgesetzten über Funk mit Genugtuung melden, daß die Amerikaner neben dem Fliegerhorst Hörsching die Ladung der ›Fliegenden Festung‹ auf freiem Feld verbrannten. Frohen Herzens vernahm der Kommandeur des Jak-Geschwaders die Meldung des Hauptmanns Grigorij S. Oronewitsch. Kurze Zeit später war Außenminister Molotow im etwas weiter entfernten Moskau frohen Herzens. Und gleich darauf stopfte sich der Genosse Stalin schmunzelnd sein Pfeifchen und bemerkte zu seinem Geheimdienstfreund Lawrentij Berija: »Das ist die einzige Art, wie man mit unseren Waffenbrüdern im Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, mit diesen Wallstreet-Gangstern, umgehen kann!«

Colonel Peter Milhouse Hobson lag zur gleichen Zeit am Stadtrand von Linz im requirierten Haus eines getürmten Ortsgruppenleiters gleichfalls frohen Herzens im Bett und lächelte jedesmal selig, wenn es in seinem Schlafzimmer besonders hell wurde, weil wieder Kisten ins Feuer geworfen worden waren. Na, wie habe ich das hingekriegt? dachte er. Weltkrieg verhindert. Seuche verhindert – wenn das nicht eine Beförderung gibt! Vielleicht werde ich Brigadegeneral?

Diese Nacht war erfüllt von emsiger Tätigkeit zahlreicher Amerikaner und befreiter Österreicher. Die ›Operation Chicken‹, wie George Misaras sie getauft hatte, leiteten Jakob Formann und Tommy Lewis, der dritte Fluglotse, der deutsch sprach und Biologie studierte. Tommy Lewis wurde im Laufe der folgenden Jahre auf Grund seiner fünfzehnprozentigen Beteiligung reicher und reicher. Heute ist er in Chicago ein ganz ungewöhnlich reicher Mann, der zur Verblüffung seiner Freunde und Nachbarn nach der Entlassung aus der Army (1948) niemals auch nur einen einzigen Tag gearbeitet hat. Die fünfzehn Prozent haben genügt.

Jakob und Tommy hatten einen idiotensicheren Plan entwickelt, nachdem die Mannschaft der ›Flying Fortress‹ sich aufs Ohr gehauen hatte und sofort tief und traumlos eingeschlafen war. Auch die beiden anderen Lotsen des Nachmittags waren abgelöst worden. Jakob machte in dieser Woche immer von 16 bis 24 Uhr Dienst, und für den gleichen Zeitraum waren seine drei MP-Freunde eingeteilt, die er in den Plan eingeweiht hatte. Sie waren voller Hilfsbereitschaft. Misaras sorgte dafür, daß seine Crew sofort von einer anderen abgelöst wurde. Die neue Crew war der alten durch gemeinsame Schiebereien innig verbunden.

Am aufgeregtesten war Mojshe. »Mein Großvater«, gab er bekannt, »hat zehn Kilometer hinter Tarnopol auch Hühner gehabt!«

Als er dann mit seinen Freunden in das Innere der ›Fliegenden Festung‹ kletterte, sackte er allerdings auf dem Pilotensitz zusammen vor Schreck und stöhnte: »Gott der Gerechte …!« Alle stöhnten. Fast alle.

Misaras: »Gott steh uns bei!«

Jesus: »Das muß der alte Herr mit dem weißen Bart jetzt aber auch wirklich tun!«

Jakob stöhnte nicht. Ihm hatte es vor Schreck das Stöhnen verschlagen: Eintausend Kisten zu je vierzig Stück – da waren sie, im Laderaum der umgebauten ›Fliegenden Festung‹. Ein furchterregender Anblick. Daran änderte auch nichts, daß aus vielen Kisten leises Piepsen erscholl. Im Gegenteil!

Stumm ließ Jakob sich auf den Sitz des Copiloten sinken.

»Andererseits«, sagte Mojshe, der sich schon wieder erholt hatte, »ist das nicht unsere Angelegenheit! Colonel Hobson hat Befehl gegeben, die Fracht zu verbrennen. Mündlich und schriftlich. Jake und dieser Tommy Lewis haben sich sofort freiwillig gemeldet. Der Colonel, dieses Arschloch, hat Tommy gesagt, er kann so viele Kumpels und Laster und Benzin anfordern, wie er braucht! Die Kumpels werden die Kisten auf die Laster laden.«

»Ja, und wir vier, wir fahren nur die Laster hin und her.«

»Na bitte!«

»Was ist denn dieses ganze Zeug da drüben?« fragte Jesus.

»Das«, belehrte ihn Mojshe, »sind Brutmaschinen. Haben die gleich mitgeliefert. Das Feinste vom Feinen. Elektrisch beheizt, da sind die Anschlüsse! Küken brauchen nämlich Wärme. Habt ihr Strom in eurem Drecksnest?«

»Ja«, sagte Jakob. »Und Gott sei Dank Drecksnest. In Linz fällt der Strom doch dauernd aus, oder es gibt Sperren. Wir haben am Bach unseren eigenen Generator.«

»Und womit willst du die Küken füttern?«

»Maiskörner und Fischmehl«, sagte Jakob.

»Aber in deinem fucked-up Austria gibt es doch weder …«

»Im beschissenen Österreich nicht, Burschi«, sagte Jakob und wies in den Laderaum. »Aber hier. Denkst du, unsere amerikanischen Freunde und Helfer liefern uns Küken ohne was zu fressen? Da hinten, die Säcke! Was steht drauf?«

»›Mais und Fischmehl United States Army‹ steht darauf«, murmelte Jesus beeindruckt. »Woher hast du gewußt, daß die Säcke auch in der Maschine sind?«

»Hab’ ich mir ausgerechnet«, sagte Jakob bescheiden.

»Deine Küken können aber doch noch keine Maiskörner runterwürgen, Jake!«

»Natürlich nicht! Die kriegen zuerst Wasser und dann Spezialfutter! Da drüben, die anderen Säcke!« Er sah aus der Einstiegluke, denn ein schwerer Laster hatte neben dem umgebauten Bomber gehalten.

»Wir bringen die Trucks«, flüsterte der GI am Steuer. Er trug Arbeitskleidung und Schildmütze. Auf Motorhaube und an die Seiten des Lasters waren große weiße Sterne gemalt und die Buchstaben USACE – UNITED STATES AIR CORPS EUROPE.

»Okay. Ihr kommt rein und ladet aus. Wir fahren die Trucks«, sagte Jakob.

»Wie viele seid ihr?«

»Vier Laster, dreißig Mann hat Tommy angefordert.«

»Na, dann hurtig, meine Herren, hurtig«, sagte Jakob. »Und daß mir keiner ein Ei klaut. Da ist der Tod drin!«

9

Hei, war das ein Feuerchen!

Dreißig Meter hoch stiegen die Flammen! Was so erstklassiges Flugbenzin ist, das brennt vielleicht!

Kiste um Kiste flog in das Feuerchen! Die Männer, welche da arbeiteten, schwitzten. Sie ließen ein paar Flaschen Bourbon kreisen und sangen wüste Lieder. Immer neue Laster brachten immer neue Kisten. Andere Laster (vier insgesamt) rollten in einiger Entfernung an dem Feuerchen vorüber, verschwanden in der Dunkelheit, kehrten wieder nach einer Weile und rollten durch den Eingang B zu der ›Flying Fortress‹. Die elektrische Beleuchtung bei Eingang B war aus unerklärlichen Gründen gerade in dieser Nacht ausgefallen.

Die Männer in der ›Flying Fortress‹ hoben, behutsam wie Gehirnchirurgen, Kiste nach Kiste auf die vier Laster, die von Jakob und seinen MP-Freunden gefahren wurden. Ein Haufen andere Männer – von Tommy Lewis überwacht – wuchteten andere Kisten auf andere Laster – alles, was sich an Holz und Kartons hinter der Mess Hall des Airfield bereits zu bedrohlichen Höhen schichtete: leere Holzkisten und Pappschachteln, in denen Verpflegung, geistige und ungeistige Getränke, Zigaretten, Zigarren, Schallplatten, die Bücher der Fliegerhorst-Bibliothek angeliefert worden waren – ein Skandal, wie es da hinter der Mess Hall aussah. Da mußte wirklich mal Ordnung gemacht werden, meinten Tommy Lewis und Jakob Formann. Natürlich fuhren auch Laster mit Flugbenzin hinaus auf den wüsten Acker unter dem Tor B, das seit Adolf Hitlers Tod nicht mehr geöffnet worden war. Pfeifend, saufend, ein munteres Liedchen auf den Lippen – so arbeitete die zweite Mannschaft fröhlicher Dinge.

Jakob, dessen Truck als erster mit den Kisten aus der ›Fliegenden Festung‹ vollgeladen worden war, rollte denn auch als erster an dem hübschen großen Feuerchen hinter Tor B vorbei. Die Jungs dort, die unentwegt Abfall und alte Kisten ins Feuer warfen, winkten ihm grölend nach. Jakob hupte anerkennend und holperte sodann (in den Kisten piepste es gequält) über den Acker bis zu der Straße nach Theresienkron. Hier konnte er schneller fahren. Im Rückspiegel sah er Lichter. Das ist Mojshe mit dem zweiten Laster, dachte er. Hinter ihm wurde kurz das Fernlicht aufgeblendet. Na also, dachte Jakob zufrieden. Wenn den Knaben da auf dem Acker bloß nicht das Zeug ausgeht, bevor wir das letzte Küken draußen haben. Mein Gott, was für ein schönes Feuerchen! (Es war, geneigter Leser, jenes schöne Feuerchen, das unser Freund zwanzig Jahre später, in einer Astgabel über der Mangfallschlucht hängend, vergebens sich ins Gedächtnis zu rufen bemüht war, das hübsche große Feuerchen, mit dem, wie er 1965 rückblickend mit Fug und Recht meinen konnte, alles begonnen hatte.) Damit hätten wir auch das klargestellt.

10

Kein Mensch in Theresienkron schlief in dieser denkwürdigen Nacht, die noch heute, dreißig Jahre später, festlich begangen wird mit Musik und Tanz, gewaltigem Fressen und noch gewaltigerem Suff. Nur die Babys und die ganz Alten und Siechen waren in Ruhe gelassen worden. Im übrigen hatte, wie Jakob bei seinem ersten Eintreffen gerührt sah, der Hase alles bis ins letzte vorbereitet. Bauern, Bäuerinnen, der Geistliche Herr, Knaben und Mädchen standen bereit, um die anrollenden Laster abzuladen. In Windeseile geschah diese Arbeit. In gleicher Windeseile wurden die einzelnen Kisten zu den einzelnen Höfen (eine in das Gärtlein hinter dem Kirchlein) gebracht – auf Leiterwagen, Kinderwagen, einem Leichenwagen mit zwei halbverhungerten Pferden. Jakob sah, wie der Hase das Entladen und Verteilen leitete. Hätte Julia den Krieg geführt anstelle unserer ach so tapferen Generäle, dachte Jakob erschrocken, dann hätten wir ihn, Gott soll abhüten, am Ende noch gewonnen! Er rief nach ihr. Sie winkte. Ach ja, dachte er, ich weiß schon, was ich habe an meinem Hasen. Wendete und fuhr zurück zum Fliegerhorst.

Als Jakob das nächste Mal Mojshe traf, hatte der Mann, der alles wußte, folgendes mitzuteilen: »Natürlich ist das Interesse an Hühnern in unserer Familie erhalten geblieben. Zu Hause« (er meinte: in Amerika) »hat man gerade festgestellt, daß Hennen besser legen, wenn Schlagermusik ertönt!«

»Blödsinn.«

»Gar kein Blödsinn, Jake! Frankie-Boy haben sie am liebsten! Das habe ich erst vorige Woche in STARS AND STRIPES gelesen. Schau mal: Bei uns in den großen Warenhäusern gibt es längst Dauerberieselung mit Fumu.«

»Mit was?«

»Funktioneller Musik. Die versetzt die Kunden in die rechte Kaufstimmung. Vor ein paar Jahren haben verschiedene Forscherteams so ein Fumu-Experiment auf Hühnerhöfen gemacht. Zwei Gruppen von Hennen getrennt, A und B. A keine Fumu. B dauernd Fumu.«

»Na und?«

»Was ich dir sage, Jake! Mittlere Werte: Unter Musikberieselung lebende Hennen haben in hundertfünfundvierzig Tagen neunhundertfünfzig Eier gelegt – hundertfünf mehr als die, die schlagerlos gelebt haben. Wie gesagt, vor allem Frank Sinatra macht müde Hennen munter! Du mußt dir unbedingt alle seine Platten besorgen und einen Plattenspieler. Viele Plattenspieler!«

»Woher?«

»Mojshe wird sehen. Mojshe wird organisieren. Mojshe weiß auch schon, wo er Platten und Plattenspieler organisieren wird!«

»Nämlich?«

»Nämlich Mojshe hat Freunde beim ›Blue Danube Network‹!« (›Blue Danube Network‹ war das österreichische Gegenstück zum ›American Forces Network‹, kurz AFN, in der US-Zone Deutschlands.) »Das nächste Mal, wenn ich frei habe und nach Wien komme, schau ich mich da mal um …«

Stunde um Stunde verrann.

Langsam leerte sich der Riesenrumpf des ehemaligen Bombers. Zahlreiche Küken wurden in diesen Stunden geboren. Die Bodenmannschaft, die das Feuerchen unterhielt, zeigte sich immer ausgelassener. (Sechs Flaschen Bourbon!) Ist doch schön, wie allen die Arbeit von der Hand geht, dachte Jakob, als er wieder einmal an der Brandstelle vorüberrumpelte.

Gegen drei Uhr früh war er gerade neuerlich beim Beladen, da schlenderte der Fluglotse Tommy Lewis heran. Er fühlte – Biologiestudent! – Verantwortung. »Sehr wichtig! Noch etwas, was du noch nicht wissen wirst. Und du mußt jetzt eine Menge wissen!« Jakob nickte gramvoll. Das war ihm schon selber klargeworden. »Die Futteraufnahme bei Hühnern ist komplizierter, als du denkst. Versuche haben erwiesen, daß Hennen im Vergleich zu Hähnen eine wesentlich höhere Pickgenauigkeit haben.«

»Sag das noch mal!«

»Ja, ich weiß, da muß man eine höllisch präzise Aussprache haben. Pickgenauigkeit! Und zwar ergeben sich die Probleme aus dem nur schwach entwickelten Bewegungsapparat der Hühneraugen!«

»Aha.«

»Das Huhn richtet immer abwechselnd ein Auge auf das entdeckte Korn und ermittelt so die Entfernung. Dann kommt es zu einer Reflexbewegung, die die Wissenschaftler ›Pickschlag‹ nennen. Der ›Pickschlag‹ erfolgt aus einer Entfernung von ein bis drei Zentimetern. Kannst dich drauf verlassen. Ich vergesse nie eine Zahl.«

»Weiß ich.«

»Na ja, und die Pickgenauigkeit bei den Hennen liegt zwischen achtundvierzig und zweiundneunzig Prozent. Die Hähne müssen ihre Hälse bis zum Sattwerden viel öfter senken. Bei ihnen beträgt die Treffsicherheit nur vierzehn bis zweiundfünfzig Prozent.«

11

Ein neuer Tag hatte längst begonnen, eine schwache Herbstsonne war aufgegangen (um 7 Uhr 19), als die große Operation beendet war, als vierzigtausend Küken – alle waren sie mittlerweile ausgekrochen – zum erstenmal Speis und Trank erhalten hatten. Die Brutmaschinen strahlten behagliche Wärme auf die lieben Kleinen, der Generator am Bach lief mit voller Kraft. Auf die Bauernhöfe von Theresienkron verteilt, schliefen vierzigtausend Küken sowie neunhundertsiebenundachtzig von insgesamt neunhundertneunundachtzig Einwohnern des winzigen Ortes. Die zwei, die noch nicht schliefen, waren Jakob und sein Hase. Sie kamen als letzte in ihre Wohnung im Haus der guten Frau Luise Pröschl, denn sie hatten bis zum letzten Augenblick darüber gewacht, daß keine verräterische Spur auf den plötzlichen Reichtum der armen Leute von Theresienkron hinweisen konnte.

Um 7 Uhr 49 betraten sie ihr Heim.

»Das hast du großartig gemacht, Hase«, sagte Jakob lobend. »Und ich danke dir.«

Julia fiel ihm leidenschaftlich um den Hals und rief: »Und du hast es auch großartig gemacht, Bärchen, und ich liebe dich so!«

»Mmmm«, machte er animiert. Julia hatte den Namen Hase erhalten, weil sie sich so weich anfühlte und alles anknabberte. (Im Augenblick Jakobs Unterlippe. Das klingt harmlos, aber sie hatte ja erst begonnen.) »Mmmmm-mmmm«, machte Jakob wieder. Er hatte den Namen Bär nicht nur erhalten, weil er bei bestimmten Tätigkeiten brummte, sondern auch noch auf Grund anderer Aktivitäten, welche die schöne Leserin, der kluge Leser sich selber ausmalen mögen.

»Weißt du, Bärchen«, sagte der Hase, »ich denke, daß wir jetzt, zur Feier des Tages, ein schönes, warmes Bad nehmen und dann … und nachher können wir bis zum Nachmittag schlafen, und wenn wir aufgewacht sind, zu unseren vierzigtausend Kleinen gehen. Was hältst du von meiner Idee?«

»Mmmmm!!!« machte Jakob. Dann fiel ihm etwas ein. »Wir haben aber doch kein warmes Wasser!«

Der Hase senkte züchtig den Kopf und bekannte: »Ich habe die liebe Frau Pröschl gebeten, daß sie uns in der Badestube einen großen Bottich mit heißem Wasser füllt. Sie hat’s getan, bevor sie schlafen gegangen ist, ich habe nachgesehen. Bärchen, Bärchen, wohin rennst du? … Warte doch auf mich … Ich will doch mit dir zusammen … Gott, hat der Bär es eilig!«

12

»Don’t know why, there’s no sun in the sky! Stormy weather! Since my man and I ain’t together, it keeps raining all the time …«, ertönte die aufregend heisere Stimme der berühmten schwarzhäutigen amerikanischen Blues-Sängerin Lena Horn. Es stimmte übrigens gar nicht! Im Gegenteil, da war eine Sonne am Himmel, keine Rede von stürmischem Wetter, keine Rede davon, daß es unentwegt regnete, und schon gar keine Rede davon, daß Julia und ihr Mann nicht zusammen waren. Mehr zusammen als der Hase und der Bär konnten zwei Menschen auf dem Bett mit den rot und weiß karierten Decken überhaupt nicht zusammensein! ›Stormy weather‹ war nun aber einmal des Hasen und des Bären Lieblingslied, und sie spielten es immer, wenn sie so sehr zusammen waren, wie ein Mann mit einer Frau nur zusammen sein kann. (Vorausgesetzt, eine Steckdose für den uralten Plattenspieler befand sich in der Nähe, natürlich. Wenn sie im Wald und auf der Heide da suchten ihre Freude, mußten sie ohne das Lied auskommen. Deshalb blieben sie so gern zu Hause.)

»…stormy weather! Just can’t keep my thoughts together …«

Mit jeder Sekunde fiel es auch Jakob und Julia schwerer, ihre Gedanken zusammenzuhalten.

»Bärchen, mein geliebtes Bärchen …« Der Hase strich zärtlich über des Bären tiefdunkles Haar.

»Ach, Hase, Hase …«

»…I’m weary all the time … the time … so weary all the time …«

Draußen trampelten schwere Schuhe die Holztreppe herauf. Die beiden hörten nichts davon.

»…since he went away, cold fear walked in to wreck me! If he stays away ol’ rockingchair will get me …«

Draußen trommelten Fäuste gegen die Tür.

Die beiden hörten nichts. Sie waren zu sehr bei der Sache.

»Formann!« schrie eine Männerstimme. Englisch. »Jake Formann, gottverflucht noch mal! Machen Sie auf!«

»Da will mich wer sprechen, Hase.«

»Ach, so eine Gemeinheit, und ich war gerade kurz vor …«

»Was ist los?« brüllte der Bär in höchster Erregung. Und in englischer Sprache.

»Öffnen Sie sofort die Tür!«

»Ich denke nicht daran!« tobte der Bär.

Der Schreier muß dem Akzent nach Texaner sein, dachte er.

»Wenn Sie die Tür nicht sofort öffnen, treten wir sie ein!«

»Mein Gott, ist das peinlich«, flüsterte der seidenweiche Hase.

»Tut mir leid«, sagte Jakob und zog sich von Julia zurück. »Du kennst die Texaner nicht. Die sind zu allem fähig.« Zornig brüllte er: »Ich bin nackt! Ich muß mir was anziehen!«

»Aber schnell!«

Jakob fuhr in eine Unterhose der US-Army und raste zur Tür. Der Hase zog die rot und weiß karierte Decke hoch bis zum Hals.

»Ich zähle bis drei!« schrie der Kerl draußen. »Eins … zwei …«

Jakob hatte die Tür erreicht und sperrte auf. Ein riesiger Texaner (also mit Akzenten kenne ich mich aus, dachte der Bär) trat in den Raum, gefolgt von zwei kleineren Sergeanten.

»First Lieutenant Dooley vom Provost Marshal Linz«, brüllte der Texaner.

»Was fällt Ihnen ein?« brüllte Jakob zurück. »Was wollen Sie hier?«

Der Oberleutnant aus Texas wies ein Dokument vor.

»Wissen Sie, was das ist, Formann?«

»Immer noch Mister Formann für Sie! Das ist ein Haftbefehl!«

»Richtig. Ausgestellt auf wen?«

»Ausgestellt auf Jakob Formann«, sagte Jakob hochnäsig. Den Schreck bekam er mit Spätzündung. Er sprang richtig in die Höhe dabei. »Jakob Formann!« schrie Jakob Formann. »Das bin doch ich! Aber … aber wieso? Wie lautet die Anklage?«

»Mord an vierzigtausend Küken!«

13

HEUTE UND JEDEN ABEND UM 19 UHR:

DER HEILIGE GEIST WIRD ZU UNS KOMMEN!

(MIT ERLAUBNIS DER MILITÄRREGIERUNG)

Die Worte standen auf einer Papptafel, die neben den Eingang einer Kirche gehängt worden war. Ja, bei den Brüdern herrscht jetzt Hochbetrieb, dachte Jakob. Krieg anfangen, Krieg verlieren, Neunte Symphonie von Beethoven spielen, Händchen falten, in die Kirche gehen …

»Now get the hell out of this jeep, you son-of-a-bitch«, sprach der amerikanische Befreier. Jakob stieg aus.

Die Kirche befand sich im Zentrum von Linz. Das Zentrum von Linz war im Krieg arg zerbombt worden. Trümmerschutt von eingestürzten Häusern und Dreck aller Art, dazwischen die Reste von zerstörten Wohnungseinrichtungen, verstopften hier immer noch die Straßen. Autos der Amerikaner (andere gab es nicht) fuhren Slalom durch die Ruinenstrecken. Die Trümmer waren noch immer da – nicht etwa, weil man, auch in Linz, der österreichischen Devise frönte ›Ana wird’s scho wegrama!‹ –, nein, nicht deshalb, sondern weil man in Linz auf Anordnung der Militärregierung sogenannte ›Ziegelschupfbrigaden‹ aus ehemals großkopfeten Parteigenossen und ›Goldfasanen‹ zusammengestellt hatte. Die beherrschten alle möglichen Berufe, in denen sie jetzt Berufsverbot hatten. Das Trümmerwegräumen war ihre Strafe! Sie hatten es nur nie gelernt. Aber wie es so geht, waren viele, die das Schaufeln gelernt hatten, auch stramme Nazis gewesen und standen jetzt gleichfalls unter Berufsverbot. Sie hätten den Schutt wegräumen können! Aber sie durften nicht. Zur Strafe!

Der Kirche gegenüber befand sich ein großes Gebäude, in dem bis vor kurzem noch die Gestapo residiert hatte. Dieses Gebäude war natürlich stehengeblieben. Jetzt residierte hier der Provost Marshal. »Da rein!« Der Texaner schubste Jakob ins Haus. Die beiden Sergeanten folgten mit schußbereiten Pistolen. Jeder Versuch des Küken-Genozid-Täters, auszureißen, war sinnlos.

Jakob wurde in den zweiten Stock geführt. Ein Gang. Eine Tafel mit der Aufschrift OFFICE PROVOST MARSHAL. Mechanisch steuerte Jakob die Richtung. Der Texaner packte ihn an den Schultern, drehte diese um neunzig Grad und wies auf eine kleine Tür am Ende des dunklen Ganges. Also marschierte Jakob gelassen, wie es seinem Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt wohl anstand, den dunklen Gang hinunter. Der Texaner klopfte, riß die Tür auf, salutierte (so taten’s auch die beiden Sergeanten) und meldete Jakob Formanns Ankunft. Dann stieß er den Verhafteten in ein kleines Büro und knallte die Tür hinter ihm zu.

Jakob taumelte vorwärts und kam erst knapp vor einem Schreibtisch zum Stehen. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann in Uniform, der eine Nickelbrille trug.

Der Mann erhob sich.

Jakob lächelte gewinnend und sagte englisch: »Habe die Ehre, Lieutenant, Sir. Schönes Wetter heute, nicht wahr?«

Der Lieutenant, der einen bedrückten Eindruck machte, antwortete darauf höflich deutsch, mit Frankfurter Akzent: »Wohlsein.«

»Ich habe nicht geniest, Lieutenant, Sir«, sagte Jakob.

»Ich habe auch nicht gesagt, daß Sie geniest haben, Herr Formann.«

»Sie haben aber ›Wohlsein‹ gesagt.«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich so heiße. John Albert Wohlsein.«

»Sehr erfreut, Lieutenant Wohlsein.«

Die Herren schüttelten einander die Hände. Wohlsein hielt eine Packung Lucky Strike hin. Graziös nahm Jakob sie an sich.

»Lieutenant stammen aus Frankfurt?« forschte Jakob.

»Aus Offenbach, Herr Formann. Bitte, setzen wir uns doch.«

Es folgte eine längere Pause.

Wohlsein preßte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und sah immer bedrückter aus.

»Warum sehen Sie so bedrückt aus, Sir?« fragte Jakob, der Mitleid empfand.

»Weil ich immer bedrückter werde«, antwortete Wohlsein. Seiner Gemütslage entsprach der Helligkeitsgrad des Büros. Obwohl draußen die liebe Sonne lachte, war es im Zimmer dämmrig. Das Fenster hatte nämlich keine Glasscheiben. Die meisten Fenster in den Städten Österreichs und Deutschlands hatten damals keine Glasscheiben. Alles war bei Luftangriffen zerbrochen. Jeder half sich, wie er konnte. In Wohlseins Büro trug die Fensteröffnung eine Sperrholzplatte mit sehr vielen Ausschnitten. In den Ausschnitten klebten Röntgenaufnahmen der Innereien zahlreicher Unbekannter. Man sah die verschiedensten Körperteile – Brustkörbe, Lungen, Schädel, Mägen, Därme. Voll dankbarer Erinnerung an nicht wenige Lazarettaufenthalte, die alle sehr lehrreich für ihn gewesen waren, erkannte Jakob jegliches Organ sogleich. An den hellen Stellen der Aufnahmen sickerte Tageslicht in das Büro, das meiste kam durch die Aufnahme eines prächtigen Thorax o.B.

»Warum werden Sie denn immer bedrückter, Sir?« fragte Jakob.

»Weil ich der Adjutant des Provost Marshal bin.«

»Aha.«

»Seinem Adjutanten überträgt der Provost Marshal immer die unangenehmsten Aufgaben. Hier, in diesem Abstellraum. Er sitzt vorne in einem herrlichen Raum und bei schönstem Tageslicht. Seine Affären läßt er mich hier, in diesem dreckigen Loch, in Ordnung bringen. Abseits. Versteckt. Damit möglichst keiner weiß, daß bei uns ab und zu was passiert.«

»Aha«, sagte Jakob zum zweitenmal und dachte, zu dem provisorischen Fenster blickend: Mit dem Magengeschwür ist, wer immer, hoffentlich gleich zum Chirurgen gerannt!

Wohlsein schlug kraftlos auf ein paar Papiere, die vor ihm lagen.

»Schöne Schweinerei«, sagte er dazu.

»Was, bitte?«

»Das da ist ein Rapport, den uns Colonel Hobson vom Hörsching Airfield gestern abend noch geschickt hat.«

»Eiweh«, sagte Jakob.

»Sie haben leicht Eiweh sagen«, beklagte sich Wohlsein. »Aber ich muß sehen, wie wir diesen fucked-up shit aus der Welt schaffen.« Er fügte hastig hinzu: »Colonel Hobson ist ein vorbildlicher Offizier!«

»Ich habe Colonel Hobson nur …«

»Halten Sie bloß den Mund, Herr Formann, ja? Enteneier! Fleckfieber! Epidemie, Seuchengefahr! Alle Westmorelands verbrennen, auf der Stelle! Vierzigtausend Westmorelands!« Wohlsein erhob sich zu seiner ganzen riesigen Größe und trat an das eigenwillige Fenster. Er wandte Jakob den Rücken.

Eijeijeijeijei, dachte der.

Na ja. Wie Gott will. Was werde ich kriegen? Zwei Jahre? Drei Jahre? Fünf? Und meine Freunde? Ich nehme alle Schuld auf mich, das ist klar. Aber wird das helfen?

»Hören Sie mal zu, Herr Formann«, sagte Wohlsein dumpf, während er, die auf dem Rücken ineinander verkrampften Hände öffnend und schließend, durch einen Gebärmutterhals auf die Straße hinausblickte. »Habe ich Ihr Ehrenwort …«

»Selbstverständlich! Mein großes!«

»Lassen Sie mich ausreden, bitte, lieber Herr Formann!« (Lieber, hat er gesagt! Was ist jetzt los?) »Habe ich Ihr Ehrenwort, daß Sie niemals eine einzige Silbe über das verlauten lassen werden, was da mit den Eiern passiert ist? Was der Colonel angeordnet hat?«

»Sie haben es, Sir.« (Was soll denn das?)

»Wenn Sie wirklich schweigen – und alle anderen Beteiligten auch, ich muß alle noch einzeln verhören –, wenn Sie alle miteinander wirklich schweigen, immer, unter allen Umständen – dann ist der Provost Marshal – und ich bin befugt, Ihnen das in seinem Namen verbindlich zu erklären – bereit, Gras über die Sache wachsen zu lassen. Sie dürfen dann auch Ihre Eier behalten. Und niemand wird bestraft. Den tapferen Colonel Hobson werden wir – hrm – mit einer anderen Aufgabe betrauen.« Ach, so ist das! dachte Jakob und schwieg. »Antworten Sie, Herr Formann!« Und Jakob schwieg. Wohlsein fuhr herum. Er weinte nun beinahe. »Stellen Sie sich vor, es kommt heraus, was für Kommandanten wir haben! Die Russen kriegen Lachkrämpfe! Aber wenn Sie und die anderen jetzt dichthalten, können Sie die Eierproduktion ganz groß aufziehen und den Vertrieb unter der notleidenden Bevölkerung selber organisieren!«

Da war aber auch schon Jakobs angeborene Unverschämtheit zum Durchbruch gekommen. »Und um mir dieses Angebot zu machen, wird ein Haftbefehl für mich ausgeschrieben, und ich werde wie ein gemeiner Verbrecher aus dem Bett geholt?«

»Ein unglücklicher Zufall! Der Provost Marshal hat den Befehl gegeben, ohne sich über den Sachverhalt ganz im klaren zu sein! Er hat da doch immer noch geglaubt, die Küken sind tatsächlich verbrannt worden! Während man Sie hergeholt hat, habe ich mit dem Provost Marshal gesprochen und ihm mitgeteilt, daß Sie nur Abfall verbrannt haben …«

»Woher wissen denn aber Sie das?«

»Criminal Investigation Department! Ich habe Spezialisten zur Brandstelle gejagt! Ich selber habe mich überzeugt!«

»Wovon überzeugt?«

»Daß Sie nur Abfall verbrannt und die Küken gestohlen haben! Das habe ich schnellstens dem Provost Marshal mitgeteilt! Er bedauert sein Verhalten ganz außerordentlich …«

»Dafür kann ich mir was kaufen!«

»… und läßt Sie durch mich bitten, Ihre Festnahme zu vergessen! Sie werden von uns auch in jeder nur möglichen Weise unterstützt werden …« Jetzt aber nix wie ran, dachte unser Freund und tobte weiter: »In jeder nur möglichen Weise unterstützt? Daß ich nicht lache! Bin ich bis jetzt von Ihnen jemals unterstützt worden? Schauen Sie mich doch an! Diese gefärbten Dreckslumpen! Und hier …« Jakob hob einen Fuß. »Wasser kommt in die Schuhe! Der Winter ist schon da! Meine Freundin hat nicht mal einen Mantel!«

»Sie werden selbstverständlich beide von uns eingekleidet. Wozu haben wir die PX-Läden?«

(PX war die Abkürzung für ›Post Exchange‹, und das wiederum bedeutete Warenhäuser, in denen Amerikaner und ihre Frauen alles, aber auch wirklich alles kaufen konnten.)

»Und wie soll ich mit meinen Mitarbeitern all die vielen Wege zurücklegen – vielleicht zu Fuß?«

»Es steht natürlich ein Jeep zu Ihrer Verfügung.«

»Der mir bei der ersten Kontrolle weggenommen wird, worauf ich wegen Diebstahls von Heereseigentum wieder bei Ihnen lande!«

»Sie bekommen einen Jeep mit dem Zeichen des Roten Kreuzes und alle erforderlichen Dokumente und Passierscheine und einen Brief ›To whom it may concern‹ mit der Aufforderung an alle US-Dienststellen, Sie nach besten Kräften zu unterstützen. Sind Sie nun zufrieden?«

»Nein.«

Wohlsein stöhnte. »Was darf’s denn noch sein?«

»Sir, ich habe heute nacht vierzigtausend Küken gestohlen. Und nur ich und sonst niemand weiß, wie man die Küken richtig behandelt. Aber was weiß ich da schon wirklich?«

»Auch daran ist gedacht, Herr Formann! Sie und ich, wir fahren heute nachmittag ins Lager Glasenbach.«

»Glasenbach? Das ist doch das Lager, in dem die ganzen hohen Nazis sitzen! So ein feiner Mann bin ich doch nicht!«

Der Lieutenant Wohlsein kam vom Fenster zu Jakob und strich mit der Hand lächelnd über dessen Schulter. »Im Lager Glasenbach sitzt Professor Karl Wilhelm Donner. Sie kennen den Namen? Natürlich. Wer kennt ihn nicht? Ein Genie von einem Flugzeugkonstrukteur! Toller Mann! Den stellen wir Ihnen auch zur Verfügung!«

»Ich brauche niemanden, der mir Flugzeuge baut, ich brauche jemanden, der …«

»Professor Donner hat sich als Hobby seit vielen Jahren für Hühnerzucht und für Eier und für Experimente mit Eiern interessiert. Er ist der größte Experte Europas auf diesem Gebiet!«

»Halten Sie mich bitte nicht für einen Querulanten, Sir! Aber ich möchte nicht unbedingt mit einem ehemaligen SS-Mann zusammenarbeiten. Der macht sonst nicht nur Experimente mit meinen Hühnern, sondern auch mit mir!«

»Donner war kein SS-Mann! Bloß Förderer des Freundeskreises des Reichsführers SS! Hat immer nur aus Idealismus gehandelt. Ich weiß es. Denn ich habe ihn oft genug verhört.«

»Wenn er immer nur aus Idealismus gehandelt hat, warum sitzt er dann in Glasenbach?«

»Machen Sie etwas gegen die Vorschriften, lieber Herr Formann! Professor Donner war auf unseren Listen ein ›Automatic Arrestee‹, also unter allen Umständen sofort zu verhaften. Seine Leidenschaft war es ein Leben lang, Flugzeuge zu bauen. Tja, aber er darf keine mehr bauen. Also wird er mit Leidenschaft Hühner züchten! Sind Sie jetzt endlich zufrieden?«

»Nein.«

»Formann!«

»Ich habe noch einen Wunsch!«

»Nämlich welchen?« fragte Wohlsein, am Ende seiner Kräfte, leicht schwankend.

»Ich will keinen gewöhnlichen Wintermantel für meine Freundin. Es muß einer aus Pelz sein!« erklärte Jakob mit Entschiedenheit und mit einem gewinnenden Lächeln.

14

»Hy … hy … hy …«

»Herr Formann, ich muß doch sehr bitten! Hören Sie sofort mit diesem blöden Gelächter auf!«

»Ich ka … ka … kann nicht! Hy … hy … hy …!«

»Herr Formann, wenn Sie sich nicht augenblicklich beherrschen, löse ich diese Versammlung auf!«

»Ich bin ja schon still. Verzeihen Sie, Herr Professor!« sagte Jakob, hochrot im Gesicht. Er preßte eine Hand gegen den Mund.

»Das will ich hoffen. Wie ich also sagte: Eier aus der Westmoreland-Familie sind Hybrid-Eier. Aus ihnen kommen Hybrid-Hühner. Das hat nichts mit der Hybris zu tun, an die Sie denken, Herr Formann!« (Jakob dachte gar nicht an Hybris. Er hörte das Wort zum erstenmal.) »Nicht also mit Selbstüberheblichkeit oder frevelhaftem Hochmut, besonders den Ewigen Göttern gegenüber!« (Eiweh, dachte Jakob.)

»Seien Sie Herrn Formann nicht gram, Herr Professor«, bat der Hase. »Er ist ein sehr einfacher Mensch.«

Professor Dr.-Ing. Dr. phil. Dr. h.c. Dr. e.h. Karl Wilhelm Donner, der Mann, der für Hitler alle die schönen Flugzeuge gebaut hatte, war ein weißhaariger Herr mit stahlblauen Augen und sah stets grollend aus. Siebenundfünfzig Jahre Groll. Er trug noch die etwas schäbig gewordene und all der schönen Rangabzeichen, Orden und Ehrenzeichen entblößte Uniform der Waffen-SS. Er war ja auch erst seit drei Stunden aus dem Lager Glasenbach raus, man hatte ihm andere Kleidung in Aussicht gestellt, doch im Moment war keine Minute zu verlieren. Für vierzigtausend ging es um Tod oder Leben.

»Die Grenze zwischen Mensch und Gott einzuhalten«, donnerte Donner, »ist ein Hauptmotiv der altgriechischen Religion. Und Hybris ist daher ein Hauptmotiv ihrer Dichtung – denken Sie an Prometheus, Bellerophon, Ixion! Tja, aber das griechische Wort ›hybrid‹ bedeutet auch noch etwas anderes, nämlich: von zweierlei Art, zwittrig! Hybrid-Eier sind also Produkte der Kreuzung zweier Arten von besonderer Güte. Jeder einigermaßen Gebildete – Sie natürlich nicht, Herr Formann …«

»Sagen Sie mal, wie reden Sie eigentlich mit Ihrem Befreier?«

»…kennt außer dem Hybrid-Huhn auch noch das Hybrid-Schwein, den Hybrid-Weizen und den Hybrid-Mais …« Professor Donner hielt seine Antrittsrede im größten Schweinestall des größten Bauern von Theresienkron. Seine Zuhörer standen, lehnten und hockten dicht gedrängt auf Stroh oder Schweinetrögen und lauschten begierig jedem Wort. Sie mußten doch mit der Materie vertraut werden! Gewiß, man hielt Hühner. Aber doch nur die ganz gewöhnlichen Mistkratzer! Nun aber ging es um kostbare Hybrid-Hühner! Viele Anwesende machten sich Notizen. Auch Jakob hörte jetzt aufmerksam zu. Schließlich war es pures – toi, toi, toi! – Gold, das da über Donners grimmige Lippen floß!

Im Anschluß an die Donner-Worte sprach Jakob. Er informierte die Zuhörer über alles Geschehene und Geplante, rief jedermann zu größtem Fleiß und größter Anstrengung auf und machte dann – am 4. November 1946! – als erster Westeuropäer einen Vorschlag, der damals in einer knappen Viertelstunde akzeptiert wurde, während er überall sonst in Westeuropa noch heute, dreißig Jahre später, auf heftigsten Widerstand stößt. Jakob Formann schlug vor, aus Theresienkron ein ›Kollektiv‹ zu machen. Nach kommunistischem Vorbild, inmitten einer kapitalistischen Zone. Hier sollten alle im Besitz der Produktionsmittel sein! Niemand sollte eigenwillig handeln dürfen! Gewinnausschüttung des Unternehmens: jedes halbe Jahr. Ein fünfköpfiger Vorstand, darin Professor Donner, Julia Martens und Jakob Formann; Verkaufs-und Verhandlungsbeauftragter mit Abnehmern: Jakob Formann. Alle Rechte für weitere Unternehmen, Filialen, Zweigstellen und dergleichen vorbehalten 1946 by Jakob Formann. Der Hochwürdige Herr Pfarrer (die ihm zugeteilten Hühner hatte er im Windschatten an der Rückseite des Kirchleins untergebracht) leitete die Abstimmung. Ergebnis: hundert Prozent Ja-Stimmen. (Noch besser als unter Hitler und Stalin!) Hochwürden, der eine besonders schöne Schrift besaß, nahm alles zu Protokoll.

Und dieses Protokoll, ein ebenso denkwürdiges wie wertvolles Schriftstück, verwahrten sie zuletzt in einer eisernen Kassette, die der guten Frau Pröschl gehörte. Es war eine schwere Kassette, und man konnte sie nur mit zwei Schlüsseln öffnen.

15

»Heinrich hat stets nur auf meinen Rat gehört und stets nur meinen Rat gesucht«, sagte Donner dieses Abends später vollen Mundes zu Jakob und Julia, bei denen er Unterschlupf gefunden hatte. (Die Wohnung war groß genug.) Der Hase hatte als Vorspeise dünne, wohlschmeckende Oblaten, bestrichen mit einem Saucenfleisch, dessen Rezept Mojshe Faynbergs Geheimnis war, serviert. »Gesegnete Mahlzeit, Herr Professor, ich bringe die Mazzes!«

»Was für ein Heinrich?« fragte Jakob.

»Heinrich Himmler«, antwortete Donner, während Jakob die Mazzes aus dem Munde fielen, »der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei!«

»Inwiefern hat dieser Scheißhund – entschuldige, Hase! – auf Ihren Rat gehört?« lärmte Jakob. »Und auf was für einen Rat? Haben Sie dem Reichsheini vielleicht auch geraten, mit seinen verbrecherischen Ausrot …«

Der Professor fiel ihm empört ins Wort.

»Niemals! Wofür halten Sie mich? Mein Chefkonstrukteur bis 1933 – gut, ein Jude, aber sonst ein hochanständiger Mensch! – war einer meiner besten Freunde! Schlimm, grauenvoll, was da passiert ist … Könnte ich noch ein wenig von dieser vorzüglichen Speise haben, liebe gnädige Frau?«

»Aber gerne«, sagte der Hase und legte nach. »Nicht zuviel, Herr Professor, nachher gibt es noch Schaschlik. Und meine Mutter war Russin.«

»Ein wundervolles Volk, die Russen!« schwärmte der Professor, während er wie ein reißender Wolf über die neue Portion Mazzes herfiel. »Dieses Ertragenkönnen von Leiden … Diese Helden der Roten Armee …« Jakobs Schläfe begann zu pochen.

»Auf welchem Gebiet hat Himmler also auf Sie gehört?«

»Auf dem Gebiet der Hühnerzucht.« Donner hob die Brauen. »Ja, haben Sie denn nicht gewußt, daß der Reichsfüh … äh, daß dieser Kriegsverbrecher Hühner gezüchtet hat?«

Der Bär und der Hase starrten Donner an wie vom Donner gerührt. »So ist es. Natürlich, das wissen nur wenige.« Der Professor nickte eifrig. »Heinrich wollte … er war doch Rassenfanatiker, nicht wahr … also er wollte mehr als Rassehühner. Er wollte das Herrenrassehuhn züchten. Gott, was haben wir herumexperimentiert auf seinem Hof in Waldtrudering …«

»Wo?«

»In Waldtrudering bei München.«

»Himmelherrgott, da hat das Schwein Hühner gezüchtet?«

»Er und seine Frau Marga. Ach ja, lang ist’s her. Dann ist die Marga weggezogen, oder er hat sie rausgeschmissen, ich weiß es nicht.«

»Gibt’s ihn noch?«

»Er hat sich doch umgebracht!«

»So, und jetzt kommt das gute Schaschlik …«

»Nicht den Himmler! Den Hof in Waldtrudering natürlich!«

»Ach, riecht das herrlich! Sicherlich gibt’s den noch«, sagte Donner.

»Warum?«

»Weil ich dort unsere erste Filiale eröffnen werde«, antwortete Jakob.

16

»Wissen Sie, wie ich Sie nenne, Jake?« fragte General Mark Clark.

»Nein, Herr General«, sagte Jakob interessiert. »Wie denn?«

»Ich nenne Sie den ›Mann, der immer rennt‹! Warum rennen Sie so, Jake?«

»Ich weiß nicht«, antwortete unser Freund verlegen. »Ich will gar nicht rennen. Es rennt sich mir sozusagen von selber!«

Hier log Jakob Formann: Er wußte sehr wohl, warum er so rannte. (»Nun, deutsches Volk, gib mir die Zeit von vier Jahren und dann urteile und richte mich!«) Jakob hatte dem Gröfaz sieben Jahre gegeben! Sieben Jahre! Und die wollte er jetzt wiederhaben und mal feststellen, ob er den Krieg wirklich verloren hatte! Wenn man das will, muß man schon rennen! Aber einem amerikanischen General kann man so was nur sehr schwer erklären.

»Ich kapiere es einfach nicht«, sagte der große, schlanke und liebenswürdige Mark Clark. »Hier in Wien sind Sie dauernd gerannt, bis ich Ihnen bei dieser Werwolf-Affäre das Leben retten mußte. Vorher sind Sie gerannt – mit der ganzen Roten Armee am Schwanz.« (Damit spielte der General auf die selbstherrliche Weise an, in welcher Jakob – mit einer Dame natürlich! – sich und hundertfünfzig Kameraden aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und von einem Lager namens Opalenica, welches sich unweit der großen Stadt Poznan – früher Posen – befand, durch Deutschland, Böhmen und Österreich bis nach Wien ›gerannt‹ war.) »Kaum in Hörsching«, fuhr der General fort, »sind Sie hinter vierzigtausend Eiern her, und jetzt habe ich Sie schon wieder nach Wien einfliegen lassen müssen im Kurierflugzeug, weil es keinen Landweg für Sie gibt. Die Sowjets lachen zwar sehr über Sie, sie möchten Sie aber auch ganz gerne erwischen für das, was Sie bei ihnen angestellt haben. Immer noch nicht genug: Jetzt jagen Sie auch mich seit Wochen mit diesem verrückten Eierprojekt für ganz Österreich und für Deutschland dazu! Mein Freund General Lucius Clay hätte mir fast den Kopf abgerissen, als ich ihm in Berlin Ihre irren Vorschläge unterbreitet habe.«

»Diese Vorschläge sind in keiner Weise irre, Herr General! Sie haben Hand und Fuß und sind bis ins letzte ausgearbeitet! Kleine Kinder wissen überhaupt nicht, was das ist, ein Ei!«

»Okay, okay, nun geben Sie schon Ruhe! Nachdem Sie mir von Ihren himmelstürmenden Plänen am Telefon erzählten, habe ich sie bei unserem nächsten Treffen in Berlin auch Lucius und McNarney vorgetragen.«

»Und?«

»Und nach dreistündigem Gefluche waren die Herren einverstanden!«

»Jiii – pppiiieee!« schrie Jakob.

»Noch ein bißchen lauter«, sagte Clark. »Dann kommen gleich die Sowjets über den Gang und nehmen Sie hopp und fragen Sie, was aus den hundertfünfzig Deutschen und dem Sergeanten Wanderowa geworden ist.« General Mark Clark war amerikanischer Stadtkommandant der Viermächtestadt Wien. Seine Diensträume hatte er im Palais Auersperg, in dem die drei anderen Mächte gleichfalls ihre Büros hatten.

Der General saß in einem Fauteuil hinter einem Schreibtisch, neben sich an einer Stange die Fahne der Vereinigten Staaten. Jakob saß in einem Fauteuil vor dem Schreibtisch, neben sich einen Damenregenschirm amerikanischer Machart. (Sehr bunt.) Der Hase und er waren mittlerweile im Linzer PX eingekleidet worden. Jetzt, Ende November 1946, regnete es häufig.

»Es sind also alle einverstanden?« fragte Jakob ehrfürchtig.

»Ja. Ich habe in Berlin einen langen Vortrag darüber gehalten, daß man schließlich und endlich allen Deutschen und Österreichern helfen muß, nicht nur denen in Theresienkron, wohin ein Meschuggener verschlagen worden ist. Sie bekommen alle nötigen Passierscheine, Bevollmächtigungen der amerikanischen Besatzungsmacht und auch ein paar Mark, wenn Sie nach Deutschland fahren. Eine Bedingung allerdings ist dabei.«

»Ojweh.«

»Nix ojweh! Was ich Ihnen jetzt sage, behalten Sie gefälligst für sich. Es ist vertraulich: Die Engländer und wir werden am ersten Januar 1947 unsere Zonen in Deutschland zusammenlegen zur sogenannten ›Bi-Zone‹. Das wird dann eine gemeinsame Verwaltung und ein vereintes Wirtschaftsgebiet geben.«

»Na prima!« Jakob freute sich. »Da kann ich ja bis rauf nach Flensburg fahren!«

»Sie haben nicht ganz verstanden, Jake. Die Bedingung heißt, daß Sie sich verpflichten, zwanzig Prozent des Gesamtanfalls an Eiern, wenn Ihr Laden einmal läuft und die Hennen richtig legen – wann wird das eigentlich sein? …«

»So in sechs, acht Monaten.«

»…also dann verpflichten Sie sich, zwanzig Prozent der Anfallquoten an die britische und die amerikanische Armee zu verkaufen. Unseren Leuten hängt dieses Eipulver schon zum Hals heraus!«

»Wo ist der Vertrag?«

»Hier. Lesen Sie ihn genau durch, Jake!«

»Ich hab’ doch Vertrauen zu den Vereinigten Staaten von Amerika«, brummte Jakob, während er schon unterschrieb.

17

Unter der Rubrik ›Beförderungen‹ in STARS AND STRIPES vom 29. November 1946 findet man dies:

Für außerordentliche Verdienste wurde Full Colonel Peter Milhouse Hobson (Cedar Rapids, Iowa) mit sofortiger Wirkung der zeitweilige Rang (temporary rank) eines Generalmajors verliehen. Generalmajor Hobson, bislang der Befehlshaber des Hörsching Airfield bei Linz (Austria), tritt zum 1. Dezember dieses Jahres seinen Dienst im Hauptquartier der Amerikanischen Streitkräfte in Deutschland, Heidelberg, als Leiter der Kulturabteilung an.

18

»Ich habe immer nur Flugzeuge bauen wollen, die die Menschen in die ganze Welt bringen«, sagte Professor Donner. Er kam gerade vom täglichen Vortrag im Schweinestall. Der Hase kochte. Donner und Jakob saßen im Wohnzimmer, tranken PX-Whiskey und rauchten PX-Zigarren.

»Dann, als der Führer … äh … Hitler an die Macht kam und mich rief, habe ich darauf bestanden, nur Flugzeuge zu bauen, die die Heimat schützen. Aber der Füh … pardon, aber der Hitler hat nur gebrüllt, daß er von mir Maschinen für den Angriff haben will!«

»Und die haben Sie ihm geliefert«, sagte Jakob und nahm einen großen Schluck.

»Sie können leicht reden und ein großer Held sein!« rief Donner aufgebracht. »Sie können keine Flugzeuge bauen! Was glauben Sie, was mir passiert wäre, wenn ich mich geweigert hätte? Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen«, fügte er gedämpft hinzu. »Ich war natürlich auch fasziniert von den unbegrenzten Möglichkeiten, die der Hitler mir geboten hat!«

»Tja«, machte Jakob.

»Was heißt ›tja‹?« brauste Donner auf.

»Was gibt’s denn heute abend Gutes, Hase?«

»Kohlrouladen, Bärchen!« erscholl es aus der Küche.

»Ich will wissen, was ›tja‹ heißt!« donnerte Donner. Plötzlich fiel er in sich zusammen und Zigarrenasche auf seine hübsche hellblaue Hose (er war inzwischen auch neu eingekleidet worden im PX) und murmelte ergeben: »Ich verstehe schon, was Sie mit ›tja‹ meinen, Herr Formann. Wissen Sie, was ich jetzt, wo Sie mich aus dem Lager geholt haben, neben meiner Beratertätigkeit als Eierspezialist hier, machen möchte?«

»Was?«

»Häuser bauen! So viele wie möglich!«

»Erst mal können vor Lachen! Es ist doch nichts zum Bauen da!«

»Und ob was da ist!« Donner schlug auf den Tisch.

»Was soll das heißen?«

Professor Dr.-Ing. Dr. phil. Dr. h.c. Dr. e. h. Karl Wilhelm Donner sagte Jakob, was das heißen sollte: Natürlich war die Produktion von Flugzeugen in den letzten Kriegsjahren immer schwieriger geworden. Die Bombenteppiche … Infolgedessen wurden Donners Betriebe verlagert – in stille Bergtäler Österreichs und Bayerns, unter die Erde, in Stollen, Tunnels und Höhlen.

»Jetzt haben wir aber wieder Unterkünfte für unsere Arbeiter gebraucht. Und Baracken für das ganze Material, nicht wahr?«

»Mmmmmm«, machte Jakob, der Bär. In seinem Kopf begannen sich schon viele kleine Rädchen zu drehen.

»Diese Unterkünfte und Baracken mußten schnell zu errichten sein«, erzählte Donner. »In Fertigbauweise! Eins – zwei – drei – und so ein Haus hatte dazustehen! Alles vorfabriziert! In meinem Stab hatte ich einen hochqualifizierten Fachmann für diese Bauten. Herrgott, riechen die Kohlrouladen gut, liebe gnädige Frau! Der Mann heißt Jaschke. Ingenieur Karl Jaschke. Er kam von Christoph und Unmack in Niesky.«

»In wo?«

»Niesky!« Der Professor buchstabierte. »Das ist in der Lausitz. Die einzige Stadt Deutschlands mit einem slawischen Namen, den die Nazis nicht germanisiert haben! Weil diese Stadt nämlich weltbekannt gewesen ist für ihre hervorragenden Tropenbaracken und Fertighäuser!«

»Wie hieß denn Ihr Jaschke vor der Germanisierung?«

»Haben Sie gerne Paprika zu den Rouladen, Herr Professor?«

»Soviel wie möglich! Herrlich! Jaschke.«

»Was, Jaschke?«

»Der Jaschke hieß immer Jaschke. Der ist von dort. Sehr fromme evangelische Bevölkerung. Pfeffer natürlich auch, liebe gnädige Frau! Viel Pfeffer! ›Herrenhuter‹ sind das da in der Lausitz, nennen sich ›Brüdergemeinde‹. Der Jaschke, der ist auch ein strammer Bruder.«

An Jakobs Schläfe begann die Narbe zu pochen.

»Wo lebt denn der jetzt?«

»In Murnau. Mit Frau und Kindern. Ich habe mal einen Brief von ihm ins Lager geschmuggelt bekommen. Ist ein feiner Kerl, Herr Formann! Sie würden sich glänzend mit ihm verstehen!«

»Ich werde mich glänzend mit ihm verstehen, Herr Professor!« Die Schläfe klopfte wild. »Woraus sind denn diese Häuser gebaut worden?«

»Na, aus Holz und Aluminium, Spanplatten, Eternit … Das kann Ihnen alles der Jaschke sagen.«

»Wo befindet sich denn noch Aluminium und Holz und Eternit und all das, Herr Professor? Ah, Hase, das riecht wirklich wunderbar! Hoffentlich sind auch Zwiebeln drin!«

»Aber natürlich! Ich mache ein paar mehr für euch.«

»Herzlichsten Dank, liebe gnädige Frau. Ja, bitte, noch zwei. Das ist ja eine Delikatesse, Gott im Himmel! Das Material hat der Jaschke alles sichergestellt, hat er geschrieben. Versteckt. Wie gesagt, ich würde sofort anfangen, Häuser zu bauen. Tja, aber mich läßt man ja nicht. Ich bin schon glücklich, daß ich hier auf Ihre Eier aufpassen darf. Bei Ihnen ist das anders, Herr Formann. Sie haben eine weiße Weste. Sie dürften jetzt … Sie könnten jetzt …«

»Ja«, sagte Jakob Formann verträumt, »ich könnte jetzt …«

19

Und dann kam das gesegnete Weihnachtsfest!

Es war nun schon sehr kalt geworden, und in Deutschland und Österreich waren die ersten fünfhundertdreiundachtzig von insgesamt sechstausendfünfhunderteinundvierzig Menschen erfroren, die in diesem Katastrophenwinter 1946/47 erfrieren sollten. Die Zahl der an Krankheiten Verblichenen ging in die -zigtausende. Ach, war es da traut und heimelig bei der guten Frau Luise Pröschl!

Jakob und der Hase hatten – mit Erlaubnis der Militärregierung – das halbe PX geplündert, und so bekamen am Heiligen Abend viele Einwohner von Theresienkron viele Geschenke. Professor Donner weinte, als er die neuen farbstrotzenden Krawatten und den Lammfellmantel sah, den der Hase für ihn aus dem PX geholt hatte.

»Wenn Ihnen was nicht gefällt, können Sie es jederzeit umtauschen. Nun hören Sie schon endlich auf zu weinen, lieber Herr Professor!«

»Ach, ich will ja, aber ich kann nicht!« schluchzte der. »Jetzt hat wirklich die Neue Zeit begonnen, in der alle Menschen Brüder sind!« (Nicht zu fassen, wie ein gescheiter Mensch sich so irren kann!)

Und die amerikanischen Freunde vom Fliegerhorst Hörsching kamen mit einem Zweitonner. Auf dem waren Konserven, K-Rations, Whiskey und ein herrlicher Riesenweihnachtsbaum aus wetterfestem Pappmaché, der wurde auf dem Dorfplatz aufgestellt und mit vielen elektrischen Kerzen bestückt. Dafür erhielten die Freunde von den braven Theresienkronern bislang versteckt gehaltene Ehrendolche der SS und Hitler-Bilder. Auf solch Gelump waren alle Amis in Europa ganz wild. Es gab auch Deutsche Kreuze in Gold, von den Landsern lieblos ›Spiegeleier‹ genannt, und Gefrierfleischorden. Und vierzigtausend Küken bekamen Extraportionen Mais und piepsten begeistert im Chor.

Und der Provost Marshal schickte mehrere Fünftonner voll Kohle, auf daß niemand frieren mußte – wenn man schon in ganz Europa fror, dann keinesfalls in Theresienkron! (Der Provost Marshal bekam des Führers Werk ›Mein Kampf‹ in Goldschnitt und Leder! Das war einstmals das Hochzeitsgeschenk für den Bürgermeister von Theresienkron gewesen. Der große, starke Mann hatte Tränen in den Augen gehabt, als er den Prachtband verschenkte, aber er sagte: »Ich weiß schließlich, was sich gehört!«)

Und Jakob bescherte den Hasen mit einem – wirklich und wahrhaftig! – garantiert echten schwarz und weiß gefleckten Kaninchenmantel (aus dem PX natürlich) und mit Stiefeln und einem bunten Kopftuch! Und der Hase bescherte dem Bären einen garantiert echten Diplomatenkoffer samt Geheimschloß und einen Wintermantel!

Und Mojshe Faynberg und Jesus Washington Meyer durften (als zwei Weihnachtsmänner mit roten Mänteln und Kapuzen und Säcken auf dem Rücken) alle Kinder von Theresienkron bescheren, und wir sind ganz sicher, daß beide, der Jude und der Neger, niemals und von niemandem mehr geliebt wurden als in dieser Heiligen Nacht! Mojshe, der die schönste Stimme hatte, sang unermüdlich für jede neue Besucherschar auf dem Dorfplatz, vor dem Pappmaché-Weihnachtsbaum mit den elektrischen Kerzen immer wieder: »Stille Nacht, Heilige Nacht …«

Und siehe, das Fest nahm kein Ende und dauerte Tage und Nächte, und dann kam Silvester, und da fing alles noch einmal von vorne an!

20

Jakob und der Hase zogen sich in jener Nacht bald zurück, und alle respektierten das, denn am 1. Januar wollte Jakob nach Deutschland aufbrechen, und also galt es, Abschied zu nehmen.

In dem großen Bett ihres Schlafzimmers nahmen Bär und Hase drei Stunden und einundfünfzig Minuten lang voneinander intimen Abschied, und es war so schön, wie es noch nie gewesen war. Und deshalb mußte der arme Hase natürlich zuletzt, so gegen drei Uhr früh, fürchterlich weinen und war nur mit größter Anstrengung des Bären zu beruhigen.

Die beiden saßen auf dem Bett und streichelten und herzten einander, und der Hase dachte, wie unendlich er den Bären liebte, und der Bär dachte an den Ingenieur Karl Jaschke, und ob er den wohl in Murnau treffen würde und ob das Haus vom Himmler ausgebombt war oder noch stand.

Verdammet uns den Jakob nicht! Er war kein schlechter Mann. Der Kern war gut. Und wenn er liebte, dann liebte er wirklich. Genauer: Wenn er zu lieben glaubte, dann glaubte er auch wirklich zu lieben. Die normale Liebe der normalen Männer kannte er nicht, da fehlte ihm einfach etwas. Er war ein guter Liebhaber, und er war zärtlich zu seinen Frauen, aber Gott hatte ihn solcherart geschaffen, daß er ehrlich und wahrhaftig nicht wußte, was das ist: wahre Liebe. Sagt, kann man ihm dafür böse sein? Der liebe Gott hatte da doch etwas verabsäumt, nicht er! Liebe, das bedeutete für Jakob Zärtlichkeit, Fürsorge, Höflichkeit – solange die Frau da war. Sie fehlte ihm im allgemeinen nicht, wenn sie dann nicht mehr da war (oder wenn er dann nicht mehr da war), denn es gab so viele hübsche Frauen, und Jakob hatte Glück bei ihnen: Ihm gefielen sie alle. Aber darüber konnte er doch nicht das Ziel aus den Augen verlieren, das er sich gesetzt hatte!

»Hase, Hase, Hase«, sagte Jakob in dieser Nacht, den Rücken der schluchzenden Julia streichelnd, »so höre doch auf zu weinen, ich bitte dich.« (Und mein rechter Arm schläft auch gleich ein.)

»Wie kann ich denn aufhören zu weinen?« schluchzte sie von neuem auf. (O Gott!) »Morgen abend fährst du weg, so weit weg, und keiner weiß, wann du wiederkommst.«

»Sobald ich kann, Hase, komme ich wieder, das ist doch klar!« (Und wenn der Hof vom Himmler zu haben ist, wo kriege ich die Menschen her, die da mit mir arbeiten, da und anderswo – bis rauf nach Flensburg?)

»Das ist gar nicht klar, Bärchen! Ich … ich hab’ so schreckliche Angst, daß du überhaupt nicht mehr wiederkommst!«

»Was ist das für ein Unsinn, mein geliebter Hase! Na, na, na! Bitte nicht mehr weinen!« (Und wenn ich den Ingenieur Karl Jaschke in Murnau wirklich finde, können wir gleich mit den Fertighäusern anfangen.)

»Niemals, Bärchen, niemals im Leben wird dich eine Frau mehr lieb haben können als ich, das ist unmöglich!«

»Das weiß ich, Hase. Und es wird dich auch niemals im Leben ein Mann mehr lieb haben als ich!« (Und wenn irgendwelche verfluchten Hunde das ganze Material geklaut haben für die Häuser?)

»Aber die Weiber! So einen wie dich wollen sie alle!«

»Hase! Nun hör aber wirklich auf, bitte, ja? Du weißt doch, daß ich fortfahren muß, nicht?« (Hoffentlich bescheißt dieser Jaschke mich nicht.)

»Ha-hase und Bä-bär gehören zusammen?« stammelte Julia.

»So ist es, Hase.« (Und wenn jemand in dem Haus vom Himmler drinsitzt, wie krieg’ ich den raus?)

»Fü-hür immer?«

»Für immer.« (Vielleicht kann ich ihn bei mir anstellen, den Kerl, der vielleicht im Haus vom Himmler wohnt. Großer Gott, wenn da etwa alles voller Flüchtlinge steckt? Na also. Jetzt ist der rechte Arm eingeschlafen!) Jakob küßte den Hasen noch einmal ganz zärtlich auf den Hals und ließ sich dann auf das Kissen sinken. Sofort war der Hase über ihm.

»Schwör mir das!«

»Ich schwöre es dir!« (Gott, bin ich plötzlich müde. Ich muß in Deutschland gleich sehen, daß ich über den General Clark und den General Clay und den General Loosey Empfehlungsschreiben bekomme.) »Ich lasse dir den Jeep da und die Papiere. Fahr vorsichtig! Und im Schreibtisch liegt eine Vollmacht.«

»Was für eine Vollmacht, Bärchen?«

Schwerer und schwerer fällt mir das Reden, dachte Jakob, während er mit Mühe antwortete: »Ich erkläre in der Vollmacht, daß, für den Fall, daß ich länger als ein Jahr nicht wiederkomme und … oder … unauffindbar bin …«

»Neiiin!!« heulte Julia auf.

»…du an meine Stelle trittst mit allen Rechten und allen Pflichten.«

»Ich will nicht! Ich will nicht!«

»Du mußt, Hase, du mußt!« Jetzt brauche ich schon Streichhölzer, um sie mir zwischen die Lider zu stecken, sonst bin ich in einer Minute weg. »Alles, was mir hier gehört, gehört dann dir!«

»Wenn dir etwas zustößt, will ich auch nicht mehr leben!«

»Mußt … leben … mußt … an … Hühner denken … Riesenbetrieb … Riesenverantwortung … Außerdem … alles rein theoretisch … Vorsichtsma …« Und dann war Jakob weg, aber total.

21

Der Bahnhof von Linz war zerstört. Der ›Orient-Expreß‹ fuhr weiter draußen ab, unter freiem Himmel. Dieser Himmel war schwarz, aber die Nacht war weiß, weiß von Schnee. Und in dieser weißen Finsternis, in welcher der Sturm nur zwei schwache Lampen schaukeln ließ, standen am Abend des 1. Januar 1947 zwischen Gleisen, Trümmern, Bombentrichtern und in eisiger Kälte Julia, Professor Donner, George, Jesus und Mojshe, um Jakob Formann das Geleit zum Abschied zu geben. Ein amerikanischer Transportoffizier stand gelangweilt neben seinen drei Mann Begleitpersonal. Drei französische Schaffner wieselten geschäftig herum. Der Zug führte zwei Schlafwagen, einen Schlafwagen der Ersten Klasse sowie einen Speisewagen und durfte nur von alliiertem Personal benutzt werden.

Jakob hatte ein Schlafwagenabteil bekommen. Die alliierten Damen und Herren fanden das unbegreiflich. Ein Österreicher! Ein Zivilist! (Der Provost Marshal hatte sich über die kostbare ›Mein Kampf‹-Ausgabe in Leder und Goldschnitt überhaupt nicht beruhigen können.)

Der befreite Österreicher stand beim Einstieg seines Wagens. Der Hase neben ihm hielt seine Hand ganz fest. Und Jakobs blauer Mantel war mit Kaninchenhaaren übersät. (Sie hatten auf dem Weg zum Bahnhof – die drei Ami-Freunde waren mit einem Weapons-Carrier gekommen – ununterbrochen voneinander Abschied genommen.) Und nun wünschten alle Jakob Glück und Gesundheit und Erfolg.

Jesus Washington Meyer sprach: »Da habe ich ein Geschenk für dich, Jake.«

»Was ist das?« fragte Jakob etwas angeekelt, als er sah, was in Jesusens Hand lag.

»Eine Hasenpfote ist das«, erklärte Jesus. Sie war klein und vertrocknet und ganz hart. »Die hat mir Pa gegeben«, sagte Jesus. »Als ich zur Army mußte. Diese Pfote hat Pa sein ganzes Leben lang Glück gebracht. Mir auch, Jake! Oder glaubst du, ich hätte sonst diesen fucked-up Krieg so gut überstanden? Mein Pa hat die Pfote von seinem Pa bekommen. Diese Pfote ist schon sehr lange in unserer Familie. Wer immer sie besitzt, Jake, hat Glück, no shitting! Du wirst an meine Worte denken. Nur vertrauen mußt du der Pfote natürlich!«

»Ja, aber du brauchst sie doch selber, Jesus …«

»Hell, ich darf doch irgendwann wieder nach Hause. Du mußt in diesem beschissenen Europa bleiben! Du brauchst sie mehr als ich!«

»Ich danke dir also auch schön, Jesus. Bist ein feiner Kerl!«

»Ach, halt die Fresse«, sagte Jesus.

»All aboard!« schrien die amerikanischen Begleitmannschaften.

»En voitures!« schrien die drei französischen Schaffner.

»Ja also …«, sagte Jakob.

Der Hase schluchzte gramvoll auf, dann küßte er den Bären viele, viele Male. (Dabei wechselten noch viele, viele Kaninchenhaare den Besitzer.) Und stammelte: »Komm wieder … komm wieder …«

»Natürlich, Hase«, sagte Jakob, der sich bereits in Waldtrudering und Murnau und Flensburg sah, und, visionär, auch in Jerusalem und Madagaskar und Nord- und Südamerika.

»Jetzt steig ein«, würgte der Hase hervor. »Schnell!«

Jakob strich Julia noch einmal über das Kopftuch, dann kletterte er in den Wagen und ließ das Türfenster herab, um zu winken. Schnee peitschte in sein Gesicht. Türen flogen zu. Die Pfeife der Lokomotive heulte. Der Hase winkte und schrie, aber der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen, als der ›Orient-Expreß‹ nun anruckte und langsam in die Nacht hinausglitt. Jakob winkte.

Der Zug ging in eine Kurve. Jakob sah Julia nicht mehr. Er schloß das Fenster und ging den Gang des Waggons hinauf. Bett 31. Die Tür zum Abteil stand offen. Der Herr von Nummer 32, dem Unterbett, saß auf demselben und fraß Schokolade, einen großen Riegel. Er hatte den Mund so voll, daß er nur ein ungläubiges Würgen herausbrachte. Auch Jakob mußte sich am Türrahmen festhalten, so verblüfft war er, diesen Herrn zu sehen.

»Franzl«, sagte er atemlos. »Wie kommst denn du hierher? Dich haben sie doch in Wien eingesperrt!«

Aber Franzl sprang, starren Blicks, in die Höhe, schoß zur Tür hinaus und den Gang entlang.

Jakob blickte ihm kopfschüttelnd nach. Dann setzte er sich auf das untere Bett. Immer noch schüttelte er fassungslos den Kopf. Doch jetzt kam Müdigkeit über ihn. Er ließ sich zurückfallen und schloß die Augen.

22

»Noch einen Whiskey, Jakob?«

»Du weißt doch, ich trinke keinen Alkohol.«

»Nur damit du nicht krank wirst!«

»Dann gerne, Franzl.«

»Wieder nur on the rocks!«

»Wieder nur on the rocks!«

»Na, also dann cheers, mein Alter!«

»Cheers, mein Guter!«

Diese ebenso geistreiche wie gediegene Konversation hatte am Abend des 11. November 1945 in einer Villa in dem exklusiven Wiener Randbezirk Pötzleinsdorf und daselbst in einem großen Badezimmer stattgefunden. Nun, am Abend des 1. Januar 1947 im Türrahmen seines Schlafwagenabteils stehend und den schokoladefressenden Herrn auf dem Unterbett betrachtend, fiel Jakob alles, was damals passiert war, wieder ein – in einer Sekunde.

Ein Badezimmer!

Jakob lag nackt in der Wanne, wohlig Whiskey aus einem Kristallglas schlürfend (obwohl er Antialkoholiker war – aber die Gesundheit ist des Menschen höchstes Gut!), in wunderbar warmem, weichem Wasser. Es war das erste Bad seit seiner Selbstbefreiung aus russischer Gefangenschaft. Er hatte ein Bad nötig. Er hatte einen Whiskey nötig. Er hatte ein Dach über dem Kopf nötig. Es gab nichts, was Jakob nicht nötig gehabt hätte an diesem Novemberabend des Jahres 1945.

Auf dem geschlossenen Klosett saß der Mann, den er Franzl genannt hatte, in einem erstklassigen Kammgarnanzug, mit Seidenhemd samt eingestickten Buchstaben F und A, einer Foulardkrawatte und glänzenden Halbschuhen. An seinen kurzen, dicken Fingern blitzten mehrere große Ringe. Er hatte ein gedunsenes Gesicht mit winzigem rotem Mund, zusammengewachsene Augenbrauen und brillantineglänzendes, sorgsam gescheiteltes dunkelblondes Haar. Seine Augen waren grau und vermittelten den Eindruck von unendlicher Weisheit und Güte.

Der Mann, kleiner als Jakob und viel beleibter, hieß Franz Arnusch. Vor zwei Stunden war Jakob, erst seit zwei Tagen in Wien, noch verzweifelt durch die Stadt geirrt auf der Suche nach einem warmen Platz für die Nacht. Er hatte in diesen zwei Tagen erfahren, daß Vater und Mutter von Bomben erschlagen worden waren, daß in der elterlichen Wohnung (Billrothstraße 29) drei obdachlose Familien saßen, die um nichts in der Welt hinausgesetzt werden konnten, da es sich um Flüchtlinge handelte, die das Wohnungsamt dort nicht eingewiesen hatte und daher nach messerscharfer Logik auch nicht wieder ausweisen durfte.

Mit der bescheidenen Hoffnung auf eine Wärmestube in der Rotenturmstraße war Jakob gerade zwischen der ausgebrannten Staatsoper und dem gegenüberliegenden ausgebrannten ›Heinrichshof‹ dahingeschlichen, als er zwei Bullen von Männern erblickte, die einen großen zusammengerollten Teppich zu einem Auto schleppten. Aus dem Teppich erklangen verzweifelte Rufe: »Hilfe! Hilfe! So helft’s mir doch! Die entführen mich!« Solcherart pflegten muskelstrotzende Herren in jenen Tagen sehr häufig andere Herren in Wien, Wien, nur du allein, abzutransportieren. Rein in den Teppich. Rein in den Wagen. Und nichts wie weg. Von den Transportierten hörte man nie wieder. Diese Art des Menschenraubs war derart gang und gäbe, daß sich kaum jemand auch nur um die Schreie des Opfers kümmerte. Jakob hörte denn auch eine junge Frau zu ihrem Begleiter sagen: »Jöh, schau, Karli, da entführen s’ wieder einen!«

»Ja, Mitzi«, sagte der Karl, »mach ma, daß ma weita kommen!« Und sie enteilten, indessen der Teppichinhalt weiter um Hilfe schrie.

Jakob hatte nachgedacht. Lange und gründlich. Wie stets.

Nun schritt er vor. Er trat zu den Teppichträgern und sprach höflich und sanft: »Grüß Gott, meine Herren. Entschuldigen Sie, wenn ich mich in Ihre Angelegenheiten einmische – aber sind Sie sicher, daß Sie dem Herrn im Teppich gesundheitlich auch nicht schaden?«

»Was is los, du Hundsgfraas, du ang’spiebens?«

»Ich meine: Mangel an Sauerstoff kann zu schlimmen Folgen führen«, erläuterte Jakob und sprach nicht weiter, weil ihm der menschliche Schrank, der das Ende der Teppichrolle trug, wuchtig in den Hintern trat. Jakob kam auf Glatteis ins Rutschen und krachte zu Boden, jedoch nicht, ohne vorher, sozusagen in einer Reflexbewegung, dem menschlichen Schrank, der den Teppich vorne trug, seinerseits in den Hintern getreten zu haben. Der Herr vorne und Jakob saßen auf dem Pflaster.

Der Träger hinten konnte den Teppich allein nicht halten. Der Teppich krachte gleichfalls zur Erde und rollte sich hurtig auf. (Echter Smyrna.) Aus seinem Inneren schälte sich ein fetter Herr.

Die beiden Gorillas verloren den Kopf und flüchteten. Der fette Herr, noch nicht ganz bei Sinnen, stürzte sich auf Jakob, der eben wieder aufgestanden war, und begann wie von Sinnen auf ihn einzuschlagen, wobei ihm undruckbare Worte aus dem Munde flossen. Jakob schlug zurück. Heftig, weil gekränkt über solcherlei Vergeltung einer guten Tat. Die Herren gingen in den Clinch. Sie besorgten es einander ordentlich, bis der Fette plötzlich von seinem Tun abließ und entgeistert stammelte: »Ja … aa … kob?«

»Fra … a … anzl«, stammelte Jakob, genauso entgeistert.

Danach lagen sie einander in den Armen, und der Arnusch Franzl hatte Tränen in den Augen. Immerhin – die beiden kannten einander seit ihrer Schulzeit. Immerhin – der Freund hatte dem Freunde das Leben gerettet! »Wer waren denn die?« hatte Jakob gefragt.

»Schweine. Glauben, ich hab’ sie reingelegt. Haben mich entführen wollen«, hatte der Arnusch Franzl geantwortet. »Ich werde dir nie genug danken können. Komm weg jetzt, schnell. Mein Wagen steht in der Operngasse.«

Sie waren fortgerannt, dann war der Franzl zurückgeeilt und hatte den echten Smyrna geholt.

»Warum liegenlassen? Als ob wir’s zum Wegschmeißen hätten! Du kommst zu mir!«

»Ich komme …«

»Zu mir! Na was denn?« sagte der dicke Arnusch, während er zunächst den Smyrna und danach den abgerissenen, verhungerten Jakob in seinem ansehnlichen Wagen (amerikanisches Modell) verstaute und losbrauste. Jakob hatte kaum ein Wort herausbringen können. Erst jetzt, in der Wanne und unter dem Einfluß des ungewohnten Whiskeys, erholte er sich langsam.

»Franzl, um alles in der Welt, sag mir, wie du so ein Haus hast kriegen können! Doch nicht mit Schleich allein!« Franzl machte eine abschätzende Handbewegung. »Eben! Also wie dann? Unter uns können wir doch ganz offen sein!«

»Noch einen Schluck, Jakob?«

»Ich werd’ ja besoffen …«

»Ja und? In zwei Stunden kommen ein paar Katzen …« Franzl berührte mit drei Fingerspitzen die Lippen, um anzudeuten, daß es sich um ganz besonders hübsche Mädchen handelte. »Mir ergeben wie Sklavinnen. Kannst eine haben. Meinetwegen auch alle drei.«

»Eine gerne. Zu mehr bin ich zu kaputt. Auf dein Wohl, lieber Franzl!«

»Auf unser Wohl, lieber Jakob!« Die Aschenkrone der Zigarre wuchs. Der Franzl betrachtete zuerst sie und dann seinen Schulfreund wohlwollend.

»Red weiter!«

»Wieso weiter? Ich habe dich was gefragt! Wie kommst du zu so einer Villa und zu so einem Wagen? Du hast mit Ach und Krach die Matura gemacht. Ich nicht mal die. Aber du warst doch fast so blöd wie ich.« Der Whiskey machte sich bemerkbar. In Whiskey veritas. »Ein Angeber warst du auch. Und ein Spinner.«

»Aber ein schlauer Spinner, lieber Jakob, der gewußt hat, was er spinnt!«

»Das stimmt, lieber Franzl. Du hast so viele Drehs und Tricks gekannt wie keiner von uns. Du warst natürlich auch nicht beim Barras, was?«

»Ich war unabkömmlich in der Heimat.«

»Klar. Wo hast du dich denn rumgedrückt?«

»Beim Wiener Finanzgericht, lieber Jakob.«

»Finanz … ach so, klar! Geld, was? Dafür hast du dich schon immer interessiert, für Geld!«

»Da siehst du wieder einmal, wie es so geht im menschlichen Leben«, sagte der untersetzte, wohlgewandete Franz Arnusch. »Natürlich habe ich diese Villa und das alles hier nicht nur mit blödem Schleich gekriegt!«

»Sondern wie?«

»Sondern gescheiter! Transaktionen mit Geld! Diese Zeit jetzt, das ist eine Zeit, da kannst du die wildesten Sachen machen mit Geld. Devisen! Echte Dollars! Script Dollars! Francs! Pfunde! Was du willst. Na, und das tu ich. Ich helfe, wo ich kann. Und meine Partner sind mir eben dankbar.«

»Mit wem schiebst du denn, lieber Franzl?«

»Ach, weißt du, eigentlich mit allen. Sind mir alle gleich lieb und wert. Muß ja jeder sein Scherflein beitragen, jetzt. Furchtbar, was man diesen armen, unschuldigen Menschen in Österreich angetan hat.«

»Von wem hast du die Villa?«

»Von den Christlichen.«

»Auch den Wagen, die Anzüge, den Whiskey, alles?«

»Nein.«

»Von wem denn?«

»Von den Kommunisten.«

»Und wen hast du gewählt, bei der ersten Nachkriegswahl?«

Der Mann auf dem Klo zuckte die Achseln.

»Mich haben sie doch nicht wählen lassen.«

»Warum nicht, Franzl, mein Guter?«

»Na, weil ich doch ein Nazi war, Jakob, mein Bester!«

»Du bist schon eine Sau, Franzl, mein Guter.«

»Natürlich bin ich eine Sau, Jakob, mein Bester.«

»Aber du untertreibst! Du bist eine zu große Sau!«

»Das ist ja gerade das Feine, Jakob, mein Guter«, sagte Franzl. »Wenn man eine zu große Sau ist, dann hilft einem schon wieder der liebe Gott!«

23

Man kann sich an unheimlich viel erinnern in einer Sekunde.

Und Jakob Formann hätte sich noch an viel mehr erinnert, wenn in der zweiten Sekunde, nachdem er den mit Schokolade gefüllten Mund des erstarrten Franz Arnusch erblickt hatte, dieser ihm nicht heiser stöhnend entgegengestürzt wäre mit irrem Ausdruck im Gesicht. Jakob wich zur Seite. Wie eine Gewehrkugel schoß der Franzl den Gang des nun sehr schnell fahrenden, manchmal ruckenden Schlafwagenwaggons hinab und war verschwunden. Jakob sah ihm kopfschüttelnd nach, dann trat er in das Abteil und setzte sich seinerseits auf das Unterbett. Es wird schon was passieren, dachte er ohne Erregung, wie es seinem bereits mehrfach erwähnten Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt entsprach. Danach wurde er sogar ein wenig philosophisch. Das Ergebnis seiner Bemühungen auf diesem Gebiet läßt sich etwa in diese Worte kleiden: Manche Menschen sorgen dafür, daß etwas geschieht; manche Menschen sorgen dafür, daß nichts geschieht; manche Menschen sehen zu, wie etwas geschieht; und die überwältigende Mehrheit der Menschen hat keine Ahnung, was überhaupt geschehen ist. Zu der überwältigenden Mehrheit gehöre auch ich.

Was ist jetzt mit dem Franzl los? Hat er platterdings den Verstand verloren? Ist er imstande und stürzt sich bedenkenlos aus dem dahinrasenden ›Orient-Expreß‹ in den eisigen Schneesturm hinaus? Ich hänge doch sehr an ihm und habe ihn immer sehr bewundert. Weil er so gescheit ist. Er wird schon nicht. Aber wo ist er hin? Na, wir werden ja sehen …

Jakob lehnte sich im Unterbett zurück und gedachte wieder der Vergangenheit. Seine Erinnerungen waren das, was man dreißig Jahre später ›nostalgisch‹ nennen würde …

Damals, im November 1945 zu Wien, hatte sich der reiche Franzl des armen Jakob angenommen und ihm ein Zimmer in der großen schönen Villa, in welcher es nachts oft viel Krach gab (die Katzen!), zur Verfügung gestellt. Durch seine Beziehungen zu den Alliierten (der Franzl hatte zu allen Menschen Beziehungen!) wurde Jakob Dolmetscher in der Military Police Station an der Ecke Martinstraße und Währingerstraße. Auf dieser MP-Wache lernte er die Herren George Misaras, Jesus Washington Meyer und Mojshe Faynberg kennen. Hier wurden sie Freunde. Drei Monate später erhielten sie den Auftrag, nach Pötzleinsdorf zu fahren und den Franzl Arnusch auf Antrag der Wiener Staatsanwaltschaft zu verhaften. Er hatte es ein bißchen übertrieben.

Wahrlich keine angenehme Aufgabe für Jakob!

Er sagte es dem Franzl auch, als sie kamen, um ihn abzuholen. Da wieder eine Katzenparty im Schwange war, hatte der Franzl nur einen kleinen roten Slip an. Er bat, sich ankleiden zu dürfen. Die Bitte wurde ihm gewährt. Als sie dann mit ihm und Jakob auf dem Rücksitz des Jeeps und mit Mojshe am Steuer zum Untersuchungsgefängnis des Landesgerichts in der Lastenstraße (das ›Graue Haus‹ geheißen) rasten, stammelte Jakob unentwegt Entschuldigungen. Es war ihm wirklich scheußlich zumute! Ausgerechnet seinen Wohltäter brachte er jetzt hinter Gitter.

Franz Arnusch strich Jakob über das Haar, sprach tröstend auf den Gebrochenen ein, sagte, derselbe dürfe weiter in der Villa leben – jedenfalls in dem einen Zimmer, alles andere würde ja jetzt wohl abgeholt oder versiegelt werden –, und sprach mit Würde: »Der Gerechte muß viel leiden. Aber der Herr hilft ihm.« Wunderbarerweise wußte Franzl sogar die Bibelstelle, denn salbungsvoll schloß er: »Vierunddreißigster Psalm, Vers zwanzig.«

24

»Jakob! He, Jakob, wach auf!«

Unser Freund fuhr empor. Jemand rüttelte ihn am Arm und watschte ihn sanft ab. Er schlug die Augen auf. Über ihn geneigt stand, verschmierte Schokolade um die bläulichen Lippen, der Franzl Arnusch.

»Was ist? Wer hat …?« Jakob brauchte einige Zeit, um zu sich zu kommen.

»Warum bist du wie ein Irrer weggestürzt, als du mich gesehen hast?«

Der Franz Arnusch sagte nur: »Komm mit!«

»Wohin?«

»Zum Boß. Er will dich sehen. Unbedingt.«

»Ich gehe jetzt schlafen. Dein Boß hat wohl nicht alle!«

»Jakob, das ist ein Befehl!«

»Für wen ein Befehl?«

»Für mich! Ich habe den Befehl, dich zum Boß zu bringen!«

Leise wiegend jagte der Zug nun dahin, durch den Sturm, die Nacht, den Schnee.

»Dein Boß kann mich mal … Ich laß mir nix befehlen! Ich weiß ja überhaupt nicht, wer das ist!«

»Jakob, du bist erledigt, wenn du nicht kommst!«

»Schon gut, Burschi. Geh zur Seite. Ich will mich ausziehen.«

»Herrgott, Jakob, verstehst du nicht? Du bist erledigt, wenn du nicht zum Boß kommst!«

»Hab’s gehört«, antwortete Jakob, aus seinen Hosen steigend.

»Herrgott, und ich bin auch erledigt!« schrie der nervöse Devisenfachmann auf. »Willst du nicht wenigstens wissen, wieso ich überhaupt hier bin und einen Boß habe, und wieso ich nicht mehr im Gefängnis sitze?«

Jakob ließ sich, nur halb bekleidet, auf das untere Bett fallen.

»Ach so, ja! Wieso sitzt du nicht mehr?«

Der Franzl schloß die Abteiltür, ließ sich neben Jakob sinken und erzählte, warum er nicht mehr saß …

25

Der Schlüssel der Zellentür im Wiener Landesgericht drehte sich geräuschvoll im Schloß. Die Zelle teilte Franzl schon seit vier Monaten mit einem ehemaligen Gauredner und Goldenen Parteigenossen. Die beiden hatten sich rasch befreundet und spielten gerade eine Partie Schach. Nun blickten sie interessiert auf. Man schrieb den 22. April 1946.

Der ihnen bekannte freundliche Wärter mit dem Glasauge ließ einen Herrn in Schlotterzivil eintreten.

»Tut mir leid, daß ich stören muß«, sagte der Schlotterzivilist (er schlotterte, abgemagert, in einem alten Anzug, der ihm einmal gepaßt hatte), »aber ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Arnusch. Sie, Herr Gloggnitz, möcht’ ich bitten, inzwischen mit dem Herrn Wärter draußen auf dem Gang zu warten. Dies ist ein Gespräch unter vier Augen!«

»Scheiße«, sprach der Arnusch Franzl, »in drei Zügen wären Sie matt gewesen, Herr Gloggnitz. Na ja, wie es eben so geht im menschlichen Leben.« Die Redensart liebte der Franzl und gebrauchte sie häufig. Seine Zellentür fiel zu. Der Schlüssel drehte sich wieder. Dort, wo der Gauredner gesessen hatte, saß jetzt der Schlotterzivilist. Er sah sich das Schachbrett an und schüttelte den Kopf.

»Wie kann der Trottel seinen König derartig bloßstellen?«

»Nicht wahr? Und so was war Gauredner! Wundert es Sie da, daß wir den Krieg verloren haben? Übrigens, mit wem habe ich die Ehre?«

»Doktor Schostal«, sagte der Abgemagerte.

»Aha«, sagte Franzl.

»Von der österreichischen Zollbehörde! Ich komme im Auftrag des Alliierten Kontrollrats!«

»Aha«, sagte der Franzl zum zweitenmal.

»Ich komme ohne jeden Umschweif zur Sache«, versprach Dr. Schostal. »Sie«, er stach mit einem Finger nach Franzl, »Sie kennen doch alle prominenten Schieber in Österreich und in Deutschland. Die Großen und die Kleinen. Die Devisenschieber! Auf dem Gebiet sind Sie doch ein Genie!«

»Was ist los? Wollen Sie mir Komplimente machen?«

»Genau das will ich. Wir suchen sie, diese ganz großen Schieber! Merken Sie noch immer nichts?«

»Ich glaube schon«, sagte der Franzl.

»Na also! Dann kommen Sie doch zu uns, Herr Arnusch! Wir brauchen Sie!«

Eine halbe Stunde später (es mußten noch gewisse Bedingungen festgelegt werden, die Franzl stellte), verließ Jakobs Schulfreund in Begleitung Dr. Schostals die Zelle.

»Auf Wiedersehen«, sagte der freundliche Wärter aus purer Gewohnheit. Das irritierte den Franzl ein wenig.

Er wurde (als Tarnung) Chef eines Teams zur Bekämpfung des Zigaretten-Schwarzhandels. Daneben hatte er Spezialaufträge, die ganz großen Devisenschieber betreffend. Zu diesem Zweck erhielt er Pässe, Ausweise, Visa, die Erlaubnis zu reisen und Geld.

Nun reiste der Franzl. Viel und weit!

Er kümmerte sich aber auch um die nicht so Großen, zum Exempel eben um die Zigarettenschieber. Mit drei echten Zollbeamten ging er auf Pirsch. Bei Schwechat, in der Nähe von Wien, wo dreißig Jahre später ein gewaltiger Flughafen stehen sollte, machten sie einen fetten Fang: Sie erwischten einen Lastwagen mit zwei Millionen Zigaretten. Die drei echten Zollbeamten freuten sich und dachten an Beförderung. Der Franzl klärte sie auf: »Unter- oder Oberbeamter, das ist doch alles Unsinn! Titel sind leerer Wahn. Geld allein macht glücklich. Eine Million behalten wir uns, die andere liefern wir ab.«

So geschah’s. Alle waren zufrieden.

Einen zweiten Laster erwischten sie bald danach, als dessen Motor, mit der schweren Fracht den Riederberg heraufkeuchend, streikte und der Fahrer aussteigen mußte. Das Team war rasch zur Stelle und beschlagnahmte drei Millionen Zigaretten. Franzl teilte brüderlich. »Glatte Rechnung, gute Freunde«, sagte er. »Der Staat kriegt nichts, denn der Staat ist nicht unser Freund …«

26

»Das waren natürlich kleine Fische«, erzählte Franzl seinem Schulfreund Jakob, der wieder hellwach geworden war, indessen die Achsen des Waggons hetzten und die Pfeife der Lokomotive klagend schrie. »Die Großen mit den Devisen, das ist mein Rebbach, nach wie vor! Mein ursprüngliches Gebiet, nicht wahr? Ich arbeite schwer, mein Lieber. Dauernd unterwegs. Ab und zu muß ich halt auch so einen Devisenschieber hochgehen lassen! Da blutet mir jedesmal das Herz! Aber es lohnt sich! Ich habe interessante Verbindungen angeknüpft. Unsere Aktionen erstrecken sich bereits fast über ganz Europa.«

»Was kann man dabei verdienen?«

»Millionen, mein Bester, Millionen! Wir haben aber auch ein Millionen-Dollar-Gehirn als Boß, kann ich dir sagen. Der will dich sprechen. Und da sagst du nein?«

»Wer hat nein gesagt?« erkundigte sich Jakob.

(Gebt mir sieben Jahre Zeit …)

»Du!«

»Da mußt du dich aber verhört haben, mein Guter.« Jakob kroch wieder in seine Hosen und machte sich präsentabel. Was für eine unruhige Nacht … »Wo müssen wir hin?«

»Nach vorn. Übernächster Wagen. Erste Klasse. Einzelabteil.«

»Vorwärts, Kamerad«, sagte Jakob.

Nachdem sie ihr Abteil versperrt hatten (es gab so viele kriminelle Subjekte in jenen Tagen!), schlingerten sie zum übernächsten Wagen vor. Hier klopfte der Franzl an eine Abteiltür, dreimal lang, einmal kurz, zweimal lang. Die Tür ging auf.

»Da ist Herr Formann, Boß«, sagte Franzl demütig.

Jakob sah in das Abteil. Der Boß lag im unteren (und einzigen) Bett. Der Boß war kein Mann. Der Boß war eine Frau. Eine Frau in einem sehr ausgeschnittenen roten Seidennachthemd, eine sehr schöne Frau mit hellblauen Augen und blauschwarzem Haar, das ihr über die bloßen Schultern fiel.

Jakob klappte gegen das Gangfenster zurück.

»Der Werwolf!« keuchte er.

In der Tat, er war es.

Präziser gesagt: Es war die Werwölfin.

27

Auf flog die Tür der Wache.

»’ttention!« schrie George Misaras und stand selber stramm. Jesus und Mojshe nahmen Haltung an. Jakob, als befreiter Österreicher, brauchte derlei Unfug (bis auf weiteres) nicht mitzumachen. Das erste, was er sah, war eine sehr hübsche junge Frau mit hellblauen Augen, blauschwarzem Haar, das ihr über die Schultern fiel, und Kurven, Kurven … Jakob unterdrückte einen Pfiff, zum Glück, denn unmittelbar hinter dem Mädchen erschien ein höchstens zwanzig Jahre alter First Lieutenant. Stichelhaarig, blond – wenn’s Gott dem Allmächtigen gefallen hätte, ein idealer SS-Typ. Der Leutnant hielt der sehr jungen Frau einen Arm brutal auf den Rücken gedreht. Seine andere Hand preßte dem beklagenswerten Geschöpf einen riesigen Colt in die Rippen.

Das war in der Nacht zum 13. August 1946, die dem heißesten Tag dieses Jahres folgte. Es herrschte immer noch eine Affenhitze …

Misaras salutierte übertrieben zackig. Der Leutnant war weiß vor Wut. Sofort schnauzte er los: »Sie sind der Ranghöchste?«

»Yesssirrr, Lieutenant, Sir!«

Der blonde Held der Neuen Welt ließ seine Blicke über die anderen Anwesenden schweifen. Dabei fiel ihm etwas auf.

»Der beschissene Zivilist da, wer ist das?«

»Unser Dolmetscher, Sir. Was kann ich für Sie tun, Sir, Lieutenant, Sir?« Der First Lieutenant mußte Gefühle empfinden, die selbst Napoleon niemals empfunden hat. Er schnauzte (aber sein Stimmbruch war immer noch nicht ganz vorüber): »Werwolf gefangen, Master-Sergeant!«

»Wo ist er, Sir?«

»Steht vor Ihnen, Master-Sergeant! Können Sie nicht sehen?«

»Der … der … das Mädchen da, Sir?«

(Erläuterung für jüngere Leser: Als der Krieg schon vollkommen verloren war, schickte Hitler auch noch alte Männer und Kinder an die Front, dieweilen er im tiefen Keller der Reichskanzlei saß. Bevor er sich dann tapfer umbrachte, gab er noch Befehl, daß auch nach der Niederlage junge Menschen als ›Werwölfe‹ weiterkämpfen und dem Feind größtmöglichen Schaden zufügen sollten. Ein paar Idioten taten das dann – ganz kurze Zeit.)

»Da staunen Sie, was?« kläffte der First Lieutenant. »Jawohl, die elende Bestie hier ist ein Werwolf! Hätte mich um ein Haar erwischt. Aber ich war schneller!«

»Wohl getan, Sir, Lieutenant, Sir«, sagte George unerschütterlich ernst. Mojshe, Jakob und Jesus sahen einander fassungslos an. Ein Irrer? »War schon in West Point stets schneller als jeder andere!«

(West Point ist die amerikanische Militärakademie.)

Ich wette, du hast in diesem fucked-up Krieg keinen einzigen Schuß gehört, du Milchgesicht, dachte George, während er sich ernst erkundigte: »Was hat das Mädchen – pardon, der Werwolf! – getan, Sir?«

Die junge Frau heulte plötzlich los wie ein Schloßhund, den Riesenrevolver immer noch im Rücken. Unabhängig voneinander dachten die drei Freunde besorgt: Das Heldenarschloch ist imstande und schießt uns das Girl hier in der Station über den Haufen! So was Blödes – da glaubt der, anderthalb Jahre nach Kriegsende, noch an den Werwolf!

»Fragen Sie ihn doch!« schnarrte der Lieutenant.

»Spricht der Werwolf englisch?«

»Nein.«

»Dann brauchen wir den Dolmetscher. Jake, komm her.«

»Vorsicht mit dem verfluchten Scheißzivilisten!« krächzte der First Lieutenant, der offenbar nicht anders reden konnte als ein zackiger deutscher Äh-Äh-Leutnant aus Kaiser Wilhelms Zeiten. Das weißblonde Haar war kurz geschoren, das Gesicht mit dem viel zu langen Kinn und der viel zu niedrigen Stirn war nun hektisch gerötet. »Ist der Dolmetscher nach Waffen durchsucht? Vielleicht ist der auch ein Werwolf!«

»Sicherlich nicht, Sir.«

»Werden es schon merken, wenn Sie sein Messer zwischen den Rippen haben! Keine Ordnung in diesem Land! Keine Disziplin! Keine Wachsamkeit!«

»Yesssirrr, Lieutenant, Sir!« brüllte George Misaras, während er dachte: Du weißt ja noch nicht einmal, wie man sich nach dem Scheißen abwischt. Er sprach gemessen: »Wir brauchen den Dolmetscher, Sir. Das Mädchen versteht nicht englisch. Wenn Sie uns bitte die Einzelheiten bekanntgeben wollen?«

Der Blonde hatte seine Sternstunde. Er entschloß sich zu einem abgehackten: »At ease!« Danach brauchten die drei Amis wenigstens nicht länger strammzustehen. »Robert Jackson Connelly mein Name.« Der Blonde kam in Fahrt. »War abends im ›Hawaii-Club‹. Bißchen tanzen. Coca-Cola trinken. Ich trinke niemals Alkohol, verstanden?«

»Yessssssirrrrr!« brüllten die drei MPs so laut, daß der Abstinenzler zusammenfuhr.

»Wie heißen Sie?« fragte Jakob die heulende junge Frau. »Und weinen Sie nicht. Es passiert schon nix.«

»Was sagt der fucked-up Nazi?« brüllte Connelly.

Jakob hatte die Schnauze voll. »Ich bin kein fucked-up Nazi, Sir«, sagte er mit größter Höflichkeit und in makellosem King’s English. »Ich habe das Mädchen nach seinem Namen gefragt.«

»Die kleine Mörderin heißt …«

»Hilde Korn«, sagte die junge Frau schluchzend. Soviel Englisch bekam sie noch mit.

»Weiter, Sir, wenn ich bitten darf«, sagte Misaras. Er war nicht zu erschüttern. Mojshe und Jesus vorläufig auch nicht – Männer, die in der Normandie unter schwerstem Beschuß die Steilküste hinaufgeklettert sind und den Westwall überrannt haben, kann man nicht so leicht erschüttern. Auch einen Mann nicht, der drei Jahre Rußland überlebt und sich einen stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt zugelegt hat.

»Weiter …« Der West-Point-Mann straffte seinen Körper noch mehr.

»Um zehn den Club verlassen. Dieser Werwolf da sagt, ich soll noch zu ihr kommen. Hätte eine Wohnung. Sonst wahrlich nicht meine Art, verstanden?«

»Absolut, Sir, Lieutenant, Sir!«

»Hübsch, das Werwolf-Aas, nicht wahr? Ging also mit. Jeder geht mit einer Hübschen. Aber nicht jeder geht mit einem Werwolf!«

»Weiter, Sir, bitte.«

»Ich schone mich nicht, Sergeant. Ehrlich sei der Mann, aufrecht und treu! War angetan von dieser … Bestie. Drängte mich, sie zu kohabitieren.«

»Drängte ihn zu was?« flüsterte Mojshe, an Jesus gewandt.

»Zu ficken, Idiot«, flüsterte Jesus, an Mojshe gewandt.

»Bin schließlich ein Mann, verstanden?«

»Verstanden, Sir, Lieutenant, Sir. Wenn Sie es sagen!«

»Nehmen gemeinsam Bad. Bestie heuchelt Liebe und Leidenschaft. Gehen ins Bett. Dann geschieht’s.«

»Geschieht was, Sir?«

»Werwolf attackiert mich.«

»In welcher Weise, Sir?«

»Küßt mich …«

»Na ja …«

»Abwarten, Master-Sergeant, verdammt! Küßt Mund, Stirn, Augen, Brust … gleitet dann blitzschnell hinab … Wie gesagt, ich schone mich nicht … und nahm mein, Sie wissen schon was, zwischen die Zähne!«

»Hrm-mmm!«

»Zwischen die Zähne! Drücke ich mich klar genug aus?«

»Absolut, Sir.«

»Ich ihr sofort mit der Handkante eins ins Genick. Nahkampfausbildung West Point.«

»Gibt nichts Besseres, Sir, Lieutenant, Sir!« sagte Misaras.

Mojshe murmelte etwas und verschwand (trotz Westwall und Invasionserfahrung) blitzschnell im Hinterzimmer der Wache. Der hat Angst, daß es ihm jetzt in die Hosen geht, weil er nicht lachen darf, dachte Jakob. Aber ich? Was mache ich? Ich kann nicht verschwinden. Und wenn ich lache, ist alles aus. Die Rote Armee ist schon hinter mir her. Da hat mir dieser West-Point-Supertrottel gerade noch gefehlt. Der läßt mich hochgehen, wenn ich lache.

Jesus half sich in seiner Weise. »Unfaßbar«, würgte er hervor und verschwand gleichfalls. Nur George Misaras blieb eisern Herr der Lage. »Jake! Setz dich an die Maschine und nimm ein Protokoll auf. Frag das Girl, ob es das wirklich getan hat!«

»Hast du das wirklich getan?« fragte Jakob.

»Ja doch«, schluchzte die Blauschwarze. Sie hatte einen norddeutschen Akzent. »Besoffen waren wir beide, ich war geil, und da habe ich ihm einen blasen wollen, verstehst du das vielleicht?«

Jakob nickte stumm. Er konnte nicht sprechen. Er hatte Angst zu platzen. »Das ist doch das Natürlichste von der Welt! Alle anderen Amis sind selig, wenn unsereins so was tut. Aber ich … Mir muß so was passieren, Herrgott! Der ist ja noch eine männliche Jungfrau, Mensch!«

»What does she say?« Jakob übersetzte falsch.

»Lüge!« brüllte Connelly. »Von wegen sie war geil!«

»Ich kann es nicht begreifen, Sir«, sagte George Misaras. Der Kerl hat Drahtseile statt Nerven, dachte Jakob voller Hochachtung. »Warum tat sie es? Was, Sir, vermuten Sie, hat das Mädchen damit bezweckt?«

»Das fragen Sie noch, Master-Sergeant?« tobte Connelly. »Haben Sie nicht für einen Cent Verstand? Dieser Werwolf wollte ihn natürlich abbeißen, und ich wäre verblutet, hilflos verblutet!«

28

Also tippte Jakob den ›Desk-Blotter‹, den laufenden Tätigkeitsbericht der Wache, um ein Stück weiter voll. Connellys Aussage. Die Aussage der Hilde Korn. Immer mit drei Durchschlägen. Er tippte allerdings etwas eigenwillig. Man kann sagen, er tippte ironisch. Sehr ironisch. Man kann sogar sagen: unverschämt ironisch.

Dann schrieb er einen Haftbefehl für Hilde Korn aus.

»Ich komm’ jetzt in’n Knast?«

»Tut mir leid. Ja.«

»Mensch, Junge, hat dir noch nie ’ne Frau einen geblasen?«

»Doch, natürlich.«

»Na und? Hast du sie eingesperrt?«

»Nein. Aber ich bin auch kein amerikanischer First Lieutenant.« Jakob tippte: ›… 23 Uhr 46: Dem Werwolf Handschellen angelegt …‹

»Ich komme mit«, erklärte Connelly.

»Aber das ist wirklich nicht nötig, Sir …«

»Ich komme mit!«

»Und dafür kriegt der Scheißer noch die höchste Auszeichnung für Tapferkeit vor dem Feind!« flüsterte Misaras, über Jakob gebeugt.

»Und wird General«, flüsterte Jakob und tippte: ›First Lieutenant Connelly begleitet Crew mit entsicherter Waffe, um jedes Entkommen des Werwolfs zu verhindern. Jeep ab Station zu Dependance Landesgericht Neubaugürtel: 23 Uhr 54.‹

Eine Stunde später saß die fünfundzwanzigjährige Hilde Korn, wohnhaft Wien 18, Kreuzgasse 232, zweiter Aufgang, dritter Stock, in einer besonders gesicherten Zelle.

Eine Stunde später verabschiedeten sich die Herren Misaras, Faynberg und Formann vor einer requirierten Villa von dem First Lieutenant Connelly. Der West-Point-Mann sprach: »Wohl getan, Boys. Laßt euch mein Entrinnen vor dem sicheren Tod eine ernste Warnung sein!«

Und dreizehn Stunden später standen die Boys und Jesus Washington Meyer dazu vor dem großen, schlanken General Mark Clark, dem amerikanischen Stadtkommandanten von Wien, in dessen Arbeitszimmer im Palais Auersperg.

29

»Ich habe heute früh Ihren Bericht gelesen, Formann«, sagte Mark Clark.

»Ich bin vor Lachen fast erstickt. Die Franzosen und die Russen brüllen noch immer vor Lachen. Die Engländer haben noch immer nicht begriffen, was an der Sache so komisch ist. Dieses Fräulein ist natürlich schon wieder frei – auf meine Anweisung. Ich habe es hierherbringen lassen und ihm ein CARE-Paket geschenkt für das Versprechen, keinem Menschen etwas von diesem Erlebnis zu erzählen. Süßes Fräulein, wirklich!«

»Herr General finden ihre Adresse auf dem Desk-Blotter!«

»Formann!!«

»Verzeihung, Herr General. Es sollte nur ein freundlicher Hinweis sein.«

»Sie scheinen nicht zu wissen, Herr Formann, daß diese Art von Liebesbezeigung, selbst unter Eheleuten, in mehreren Staaten Amerikas heute noch gegen das Gesetz verstößt und mit Gefängnisstrafen geahndet wird.«

Gott schütze Amerika, dachte Jakob und sagte: »Ist dem in der Tat so, Herr General?«

»Dem ist in der Tat so. Und jetzt Schluß mit dem Quatsch! Wir kommen zum ernsten Teil. Mein sowjetischer Kollege hat zuerst auch sehr gelacht und ist dann zum ernsten Teil gekommen. Sie sind doch aus sowjetischer Gefangenschaft ausgebrochen …«

»Es hat mir alles so lange gedauert, Herr General!«

»Ruhe! Ausgebrochen und haben gleich hundertundfünfzig deutsche Gefangene mit befreit und sind mit einem gewissen Sergeanten Jelena Wanderowa verschwunden. Deshalb muß jetzt alles sehr schnell gehen.«

»Was, Sir?« fragte Jakob.

»Ich hasse es, einen guten Dolmetscher zu verlieren«, sagte Mark Clark,

»Aber Sie müssen aus Wien verschwinden, augenblicklich! Und zwar in westlicher Richtung! Die Sowjets haben noch einiges Interesse an Ihnen, Herr Formann.«

»Man kann’s verstehen«, sagte Jakob demütig. »Aber wie komme ich aus Wien raus? Nach Tulln, zum Flughafen, müßte ich doch durch die Russische Zone. Und mit einem Auto wäre es dasselbe. Also ausgeschlossen.«

»Absolut ausgeschlossen! Wien ist eine Insel in der Sowjetischen Zone. Genau wie Berlin. Das wird noch einmal sehr unangenehme Folgen haben – für Berlin. Oder für Wien. Oder für beide Städte!« (Merke: Es ist nicht wahr, daß alle Generäle Idioten sind.)

»Also wie komme ich nach dem Westen?«

»Hinten im Park auf der Wiese steht eine Kuriermaschine. Muß ich noch weitersprechen?«

»Keinesfalls«, beteuerte Jakob.

»Und Sie drei«, Mark Clark wandte sich an Jakobs MP-Freunde, »werden ebenfalls schleunigst Wien verlassen. Strafversetzt. Zum Fliegerhorst Hörsching bei Linz. Die Säcke mit all Ihren Sachen werden Ihnen nachgeschickt. Nur raus jetzt!«

»Warum strafversetzt, Sir?« fragte Misaras. »Wir haben doch überhaupt nichts getan!«

»Sie nicht, aber ich«, sagte der Generalmajor. »Wenn das rauskommt, schiebe ich es natürlich auf Sie!«

»Natürlich«, sagte Mojshe. »Wie’s der Brauch ist.«

»Seien Sie bloß ruhig, Private Faynberg! Wissen Sie, wer dieser Connelly ist?«

»Na, ein …«, begann Mojshe, aber Jesus hielt ihm schnell den Mund zu.

»Das natürlich auch«, sagte Mark Clark. »Und außerdem ist er der Sohn eines der einflußreichsten Senatoren in Washington! Mit dem hat er heute nacht noch telefoniert! Und heute früh hat dieser Senator mit mir telefoniert und mich zusammengeschissen! Also keine Widerrede! Sie müssen alle raus aus Wien – sofort!«

»Und diese junge Frau …«

»Stammt aus Deutschland. Displaced Person. Wird mit dem nächsten Transport abgeschoben. Keine Spuren! Dieser Senator kommt jetzt nach Wien!« sagte Mark Clark.

30

»Der Werwolf!« hatte Jakob gekeucht, während er gegen ein Fenster im Schlafwagengang des ›Orient-Expreß‹ taumelte.

In der Tat, er war es.

Präziser gesagt: Es war die Werwölfin.

»Der Formann!« sagte die Frau im Bett (man könnte hinzufügen: schmatzend) und räkelte sich noch ein wenig mehr. Eine Schulter war schon blank. Die Achsen des ›Orient-Expreß‹ pochten. Zu beiden Seiten des Zuges, der da durch die Nacht raste, stoben weiße Schneeflügel empor bis zu den Wagendächern. Die Stimme der schwarzen Hilde hatte sich in den letzten Monaten völlig verändert. Sie war rauh und tief geworden. Der heulende Werwolf von einst als ganzer hatte sich verändert! Den schmiß so leicht nichts mehr um. Der heulte so leicht nicht mehr los.

»Ha … hallo«, sagte Jakob und schluckte, denn die eine Nachthemdseite rutschte lebensgefährlich. Die schwarze Hilde räkelte sich wie ein Aal.

»Sonst hast du nichts zu sagen, Formann? Keine Freude? Keine Überraschung?«

»Wenn Sie sich noch ein bißchen mehr räkeln, stehen Sie im Freien, Fräulein Korn«, sagte Jakob. Er war auf einmal gleichfalls heiser.

»Seit wann denn ›Sie‹?« fragte die schwarze Hilde beleidigt. Und räkelte sich. Na also. Eine war draußen. Und was für eine. Mein lieber Mann! Hilde bedeckte lässig ihre Blöße.

»Na, schließlich hatte ich bisher nur die Ehre, Sie ein einziges Mal zu sehen, Fräulein Korn, und da mußte ich Sie einsperren.«

»Aber da hast du ›du‹ zu mir gesagt, Formann! Und außerdem heiße ich nicht Fräulein Korn, sondern Mrs. Fletcher.«

Es war alles ein bißchen viel auf einmal für Jakob.

»Mrs. Fletcher … Wieso? … Sie wurden doch längst nach Deutschland gebracht … gleich damals, nachdem …«

»Denkste.«

»Und du bist der … hrm … Boß vom Franzl?«

»Das ist der Boß von uns allen«, sagte Jakobs Schulfreund Franz Arnusch hastig. »Wir sind eine … eine Organisation, verstehst du?«

»Organisation von was?«

»Na von …«

»Laß mich mit dem Kleinen allein, Franzl! Hau ab!«

»Jawohl, Boß!«

Der Franzl haute ab.

Jakob stand vor der schwarzen Hilde dem Bett gegenüber an die Wand gepreßt und starrte auf sie herab. Er hielt sich an der Türklinke fest. Das hätte noch gefehlt, daß er gleich auf sie draufgefallen wäre bei diesem Schwanken des Wagens!

»Was … was ist das für eine Organisation, Hilde?« fragte er endlich. Ein Auge … zwei Augen hat die Person!

»Laureen.«

»Was?«

»Laureen ist jetzt mein Vorname. Nicht mehr Hilde. Laureen Fletcher.«

»Pardon! Also, was ist das für eine Organisation, Laureen?«

»Steh nicht so steif rum. Setz dich aufs Bett.« Er ließ sich daraufplumpsen. In ihre Magenkuhle. (Sie lag auf der Seite.) Ist ja wirklich zu blöd, dachte er. Ich bin ein erwachsener Mann! »Ich habe so etwas wie eine offene Handelsgesellschaft mit Filialen in verschiedenen Ländern. Du bist der einzige, der zu mir Laureen sagen darf. Brauchst mich nicht Boß zu nennen.«

»Sehr freundlich, Laureen.«

»Ich handle mit den verschiedensten Artikeln. Ich würde sagen, daß die Basis aller meiner Geschäfte die menschliche Dummheit ist.«

»Da hast du dir eine goldene Basis ausgesucht, Laureen!«

»Übrigens heiße ich nicht nur Fletcher. Ich habe eine ganze Menge Namen und Pässe. Und Perücken.«

»Selbstverständlich.«

»Und wie heißt du mit Vornamen?«

»Jakob, und meine Freunde sagen Jake zu mir.«

Die ehemalige schwarze Hilde räkelte sich wieder. Unter der Decke. Sie schubberte sich an Jakob.

»Ich habe so oft an dich denken müssen, Jake.«

»Klar«, sagte er. »Welche Frau kann mich schon vergessen?«

»Trottel. Ich habe so oft an dich denken müssen, weil du einem andern Mann ähnlich siehst. Und dann kommst du in das gleiche Schlafwagenabteil wie der Franzl. Zufälle gibt es!«

»Was ist das für ein anderer Mann?«

»Gib mir mal bitte meine Tasche vom Waschtisch. Danke.« Sie kramte kurz und entnahm der Tasche einen Paß, so geöffnet, daß Jakob das Paßfoto sehen konnte.

Das Paßfoto zeigte das Gesicht eines Herrn, der Jakob in der Tat außerordentlich ähnelte.

»Donnerwetter. Wer ist das?«

»Das«, sagte die ehemalige schwarze Hilde – derzeit Laureen –, »ist Señor Miguel Santiago Cortez. Kennst du nicht?«

»Nie gehört den Namen.«

»Mensch, Junge, in welchem Kuhdorf bist du denn gewesen, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben?«

»In Theresienkron«, sagte Jakob.

»Wo ist denn das?«

Jakob sagte, wo das war und was er da gemacht hatte.

»Eier«, sagte Laureen. »Großer Gott! Eier. Und dich habe ich für intelligent gehalten. Natürlich sind einem wie dir die Namen der internationalen Hochfinanz nicht bekannt.«

»Was ist also mit diesem Cortez los?«

»Er hat Tbc.«

»Wo?«

»In der Lunge, Idiot.«

»Wo er ist, meine ich!«

»Für das nächste Jahr in Davos. Um seine Tuberkeln loszuwerden.«

»Weiter, du Luder.«

»Ach, ich habe ja gleich gewußt, daß du auf mich stehst! Weiter, Junge, wäre zu sagen, daß Señor Cortez, bevor er nach Davos fuhr, in Paris seinen Paß verloren hat. Ein ehrlicher Finder gab den Paß bei der Argentinischen Gesandtschaft ab. Trotzdem hat Señor Cortez ihn nicht wiederbekommen.«

»Warum nicht?«

»Ein Kulturattaché hat ihn zurückbehalten. Der ist auch Mitglied meiner Organisation. Heute. Damals war er’s noch nicht. Damals sagte er sich nur, daß der Paß eines Milliardärs immer etwas Gutes ist, und verkaufte ihn deshalb an deinen Freund Franzl. Der war gerade in Paris, zum Glück. Wir fahren jetzt wieder hin …«

»Wieso kann der Franzl nach Paris fahren?«

»Na, er ist doch immer noch bei der österreichischen Zollbehörde! Mit allen Vollmachten und mit Paß und Fahrbefehlen und so weiter! Er ist mein Fachmann in Devisenfragen. Daneben ist er natürlich für die Österreicher tätig. Nach dir haben wir gesucht wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen.«

»Wegen der Ähnlichkeit mit dem da«, sagte Jakob und wies auf das Paßfoto.

»Wegen der Ähnlichkeit mit dem da«, sagte Laureen.

»Wo kommt ihr her?«

»Aus Wien.«

»Aber da habt ihr doch zuerst mit einem andern Zug fahren müssen! Durch die ganze Sowjetische Zone!«

»Na und? Ich als Amerikanerin, Franzl als Zollfahnder mit allen Ausweisen! Glaubst du, das war schwer?«

»Woher hast du aber den amerikanischen Paß?«

»Woher schon? Von einem Fälscher. Der hat auch alle meine anderen Pässe gefälscht. Großartiger Mann, sage ich dir. Jedenfalls – unterbrich mich nicht immer, bitte, ja? – hat Franzl den Paß von Señor Cortez mir gegeben, während der natürlich einen neuen Paß beantragen mußte.«

»Wie korrupt ist dieser argentinische Handelsattaché in Paris eigentlich?« fragte Jakob.

»Ich muß dir noch die Adresse und das Erkennungszeichen für meinen Paßfälscher geben. Du wirst auch Pässe brauchen jetzt. Sehr.«

»Was sehr?«

»Sehr korrupt ist dieser argentinische Handelsattaché. Dazu sehr häßlich. Dazu wie wild hinter den Weibern her. Das kostet ihn natürlich eine Menge Geld. Aus Liebe tut’s keine mit dem.«

»Verstehe.«

»Der braucht also dauernd Geld.«

»Verstehe.«

»Wir haben den Paß, wir haben den Handelsattaché, und jetzt, endlich, haben wir auch dich, der du diesem Tuberkel-Milliardär so ähnlich siehst. Nun laß dir was einfallen.«

»Einfallen?«

»Ich und der Franzl machen doch in Devisen!«

»Wo hinein?«

Darüber mußte sogar die Pfeife der Lok aufjaulen.

»In Devisengeschäften, du Trottel! Mit dir können wir ein Geschäft machen, das sich lohnt. Und ich habe dich in der Hand, mein Junge. Ich kenne ein kleines russisches Abenteuer.«

»Von wem?«

»Von einem russischen Mitarbeiter. Die suchen dich immer noch. Ein kleiner Hinweis von mir genügt also.«

»Du erpreßt mich …«

»Natürlich. Wovon reden wir denn die ganze Zeit? Wir arbeiten jetzt zusammen, oder ich lasse dich platzen. Kapiert? Na also, endlich. Ich liefere den Paß, den Attaché, meine Organisation. Wir werden Partner.«

»Ich brauche aber keinen Partner, Laureen! Denk doch an meine Eier!«

»Auf deine Eier kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen! Schau mal: Franzl und ich haben da in Recklinghausen einen Kerl aufgetrieben, der sieht dir halbwegs ähnlich. Halbwegs! Mit Schminke und so könnte man’s wohl hinkriegen. Wir wollten es auf alle Fälle versuchen. Deshalb sind wir mit dem Recklinghausener in Paris verabredet, der Franzl und ich. Finanztechnisch hat der Franzl schon alles ausgearbeitet.«

»Da ist er ja auch ein Genie!«

»Und doch ist auch da noch nicht alles in Ordnung! Franzl weiß das. Ganz abgesehen von dem Recklinghausener. Es kann alles schiefgehen, haben wir uns gesagt, aber probieren müssen wir’s! Na, aber jetzt haben wir dich! Also mußt natürlich du ran! Den Recklinghausener schicken wir zurück. Und was der Franzl noch nicht gefunden hat, das mußt du liefern.«

»Ich? Herrgott, Hilde, ich meine Laureen, ich habe doch keine Ahnung von Finanzen! Das ist doch Franzls Spezialgebiet! Da bin ich doch ein kompletter Trottel! Du darfst nichts von mir verlangen, was ich einfach nicht schaffe! Apropos: Wie geht der Trick vom Franzl?«

Laureen erklärte, wie der Trick vom Franzl ging. Gleich allen wirklich guten Tricks ging er sehr einfach. Sogar Jakob kapierte auf Anhieb.

»Phantastisch«, murmelte er ehrfurchtsvoll. »Ja, der Franzl!«

»Nichts ›ja der Franzl‹! Er weiß es, und ich weiß es, trotz allem fehlt bei dem Trick noch etwas! Wir haben uns abgequält, aber es kam uns nicht …«

»Was kam euch nicht?«

»Das … die … Wie soll ich dir das erklären, das ist Psychologie … Sagen wir, die Sache, die das Ganze unauffällig macht, sympathisch … Verstehst du, was ich meine?«

»Du meinst den ›Human touch‹?«

»Den Human touch, ja!«

»Das Menschliche, das Rührende, wie?«

»Das Menschliche, das Rührende, genau! Und das wirst du dir jetzt einfallen lassen! Das hat nichts mit Finanzen zu tun! Du bringst den Human touch in die Geschichte, und kriegst deinen Anteil. Na?«

»Hm …«

»Los, denk nach! Denk schneller, Genosse! Sonst bist du schon in Sibirien.«

Die Achsen hetzten, hetzten, hetzten …

Jakob griff in die Hosentasche.

»Nein!« sagte Laureen. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Sie erstarrte. »Was hast du da?«

»Eine alte Hasenpfote«, erklärte ihr Jakob ruhig. »Habe ich gerade geschenkt bekommen. Wer sie besitzt, soll immer Glück haben.«

»Na, das werden wir ja gleich sehen. Konzentriere dich!«

Jakob nickte. Er senkte den Kopf, starrte die Hasenpfote an, als wolle er sie hypnotisieren und dachte nach. Über die elende Situation, in der er sich befand. Über seinen Privatkrieg, den er gewinnen wollte. Über seine Eier. Und über den Human touch.

Загрузка...