»Ja! Sage ich doch!«

»Hrm.« Jakob räusperte sich noch einmal. »Gehst du etwa auch zu einem?«

»Natürlich! Zu demselben. Ich komme immer nach Bob dran …«

Sie sagte erschüttert: »Ich habe ein Frustrationssyndrom!«

»Natürlich … ein Fru … ein … drom … Er dreiundsechzig … und du …«

»Ach, wenn es nur das wäre …« Jill schluchzte plötzlich herzzerreißend.

Nun sind wir ja wohl auf dem rechten Weg, dachte Jakob und forschte behutsam weiter: »Was ist denn noch?«

»Er will doch immer, daß ich …«

»Daß du was, mein Kind?«

»Daß ich … Nein, ich kann es dir nicht sagen, Jake, ich schäme mich so sehr!« Neuer Tränenstrom. Dann: »Ich bin gemein … Ich sollte mich schämen … aber ich habe ein Frustrationssyndrom!«

»Seinetwegen«, murmelte Jakob.

»Ja, seinetwegen!« Jill überkam neuer Seelenschmerz. Sie mußte die Augen schließen. »Und es wird schlimmer! Ist dir aufgefallen, in welchem gereizten Zustand wir zusammenarbeiten? Ist dir aufgefallen, wie traurig ich war?«

»Ja, das ist mir …«

»Immer traurig! Immer verzweifelt! Immer von Bob gequält!«

»Gequält? Inwiefern?«

»Er will, daß ich … nein, ich kann nicht, ich kann nicht!«

»Ein bißchen wird’s schon gehen! Na! Nur Mut!«

»Aber du darfst mich nicht anschauen dabei! Dreh dich um … ja, so … Also er … er …«

»Na!«

»Er ist nicht normal, Jake!« brach es hinter seinem Rücken aus der Unglücklichen hervor.

»Das habe ich schon gemerkt. Das Nazi-Museum, das er sich da eingerichtet hat …«

»Ach, wenn’s nur ein Museum wäre!«

»Wie?«

»Er war doch in Wien, nicht wahr, wegen seines Sohns! Und wegen dieses … dieses …«

»Werwolfs«, half Jakob dezent.

»Ja … ha! Und damit fing das Unglück an! Seines! Meines! Vor allem meines!«

»Unglück? Deines?«

»Er … er hat sich da was weggeholt, sagte Doktor Watkins.«

»Wer ist Doktor Watkins?«

»Unser Analytiker.«

»Was hat er sich denn weggeholt?«

»Als er zurückkam, brachte er schon einen Haufen von dem Nazi-Zeug mit. Seitdem sammelt er immer weiter und weiter und wird immer verrückter und verrückter.«

»Na, laß ihn doch!«

»Er wird auch mit mir verrückter, Jake! Zuerst war er … war er ganz normal … ein älterer Herr eben … treu-amerikanisch, verstehst du?«

»Ich verstehe …«

»Aber als er aus Europa zurückkam, ging es los. Er … er … mein Gott, ist mir das peinlich …«

»Mir kannst du es doch sagen, Liebste!«

»Ja, dir kann ich … Was seinem Sohn passiert ist, das hat ihn verwandelt! Vollkommen! Er hat von mir verlangt, daß ich eine SS-Kappe aufsetze, so eine mit dem Totenkopf, und solche Schaftstiefel anziehe, wenn … wenn wir es tun … und eine Peitsche nehme und ihm den Hintern vollhaue …«

»Mein lieber Mann!«

»… oder ich muß ihm den Rücken zerkratzen. ›Fester!‹ schreit er dann immer. ›Fester!‹ Bis er blutet. Und mir brechen die Fingernägel ab dabei …«

»Mein armes Kind …«, sagte Jakob erschüttert – und zugleich beglückt über eine Möglichkeit, die er sah.

»Und dazu muß ich ihn noch die ganze Zeit beschimpfen und bedrohen …«

»Was mußt du denn sagen?«

»Imperialistenschwein! Wallstreet-Hyäne! Deine Stunde hat geschlagen! Lauter solchen Blödsinn …«

»Aber warum?«

»Na, weil ich doch ein Werwolf bin!«

»Was bist du?«

»Ein Werwolf! In seiner Phantasie! Was da mit seinem Sohn passiert ist, das muß ihn furchtbar aufgeregt haben … und nun sitzt es im Unterbewußtsein, sagt Doktor Watkins. Er kann nichts dafür, der Arme … Aber ich doch auch nicht! Ich gehe kaputt dabei!«

»Hm …«

»Darum ist er auch so gereizt und so böse auf mich. Weil ich mich weigere … weigere, das zu tun …«

»Seit wann?«

»Seit einem Jahr, eineinhalb Jahren …« Schluchzen. »Doktor Watkins sagt, ich muß fest bleiben … nur so kann man Bobs Manie abbauen … und mein Frustrationssyndrom … Da, sagt Doktor Watkins, müßte ein anderer Mann … Du! … Schüttle nicht den Kopf! Du hast es sofort abgebaut! Sofort! Mein Gott, wie ich dir danke, Jake! Aber jetzt fliegst du weg …«

Er kraulte zärtlich ihren Nacken.

»Vielleicht bleibe ich doch noch ein, zwei Wochen da …«

»Du bleibst?«

»Vielleicht, habe ich gesagt, Jill! Und dein Doktor Watkins hat unrecht.«

»Unrecht?«

»Ja. Du darfst dich einem Mann wie dem Senator nicht von einem Tag zum andern und absolut verweigern. Du siehst ja, wohin das geführt hat. Noch ein paar Monate, und er schmeißt dich raus! Es wird mit ihm doch immer schlimmer und schlimmer! So etwas muß man langsam machen … Mit Pausen dazwischen … Glaub mir, ich verstehe etwas von solchen Dingen … Nur so kann man ihn heilen … Und nur so werden zwischen euch wieder harmonische Zustände herrschen …«

»Was … was willst du denn mit all dem sagen, Jake?«

Jakob sagte ihr, was er ihr mit all dem sagen wollte.

89

»Hier ist Ihr Paß, lieber Mister Formann«, sagte Senator Connelly zwei Tage später in seinem NS-Museum-Büro. Er hielt Jakob das Dokument mit einem gelösten Gesichtsausdruck hin. A happy old man. »Und bitte, bitte, verzeihen Sie mir! Ich … Ich muß von Sinnen gewesen sein … Ich habe Sie beleidigt … Ich habe Sie gekränkt … Aber Sie waren ja Zeuge des Telefongesprächs mit meiner … hrm … Frau, nicht wahr … Ich habe kein leichtes Leben, Mister Formann … Bitte, so nehmen Sie doch endlich Platz …«

Jakobs Gesicht war versteinert.

»Nein, Senator, so einfach geht das nicht. Sie haben sich – ich muß es leider sagen – skandalös benommen. Ich wäre nie mehr zu Ihnen gekommen, wenn ich nicht meinen Paß brauchte, um dieses Land augenblicklich zu verlassen …«

»Nicht augenblicklich, Mister Formann!«

»Ganz bestimmt augenblicklich, Senator!«

»Das dürfen Sie nicht! Das können Sie nicht!«

»Und ob ich es kann. Mir reicht es!«

»Mein Gott, ich sagte Ihnen doch, meine Frau …«

Jajaja, dachte Jakob. Rede du nur. Er hatte beim Kommen Jill Bennett im Vorzimmer gesehen. Lächelnd und stumm hatte sie ihm beide Hände hingehalten. Die Fingernägel waren gesplittert oder abgebrochen gewesen. Das ist die wahre Liebe, hatte Jakob gedacht und Jill zärtlich in den Nacken geküßt.

»Sie können nicht weg jetzt, Mister Formann, denn ich habe mit dem Pentagon gesprochen!«

»Na ja, und?« Jakob hob eine Augenbraue.

»Sie kommen aus Österreich, habe ich gesagt. Fast alle Wirtschaftsberater des Weißen Hauses sind Österreicher. Österreichische Geschäftsleute waren zu allen Zeiten bei uns sehr beliebt …«

»Jajaja. Und?«

»Und das Pentagon kauft Ihnen erst mal tausend Fertigbau-Truppenunterkünfte ab.«

»So. Na, sehr schön.« Jakob ließ sich gelangweilt in einen Sessel fallen.

»Und was zahlen die Herren?«

»Das hängt von Ihrer Tüchtigkeit ab, Mister Formann! Ich habe gesagt, ich kenne Sie als seriösen Geschäftsmann! Die Herren erwarten Sie. Ich habe noch eigens ein weiteres Empfehlungsschreiben an den Verteidigungsminister diktiert … Moment!« In die Sprechanlage: »Liebe Jill, würden Sie wohl bitte den Brief betreffend Mister Formann hereinbringen?«

»Gerne, Senator«, kam Jills Stimme aus dem Lautsprecher. Sanft und ruhig. So erschien sie gleich darauf auch in persona. Sie legte Connelly ein getipptes Schreiben auf den Tisch. Neben das zierliche Modell eines Do-Raketenwerfers. Und sah dabei lächelnd zu Jakob herab, wobei sie ihm einen Zettel in die Hand gleiten ließ. Der Senator las stehend, was er diktiert hatte. (Er stand die ganze Zeit.)

Jakob entfaltete vorsichtig den Zettel und las: ›Heute abend um 8 Uhr wieder bei mir?‹

Er nickte.

In Jills Gesicht ging die Sonne auf.

Der Senator strahlte Jill an.

»Ich danke Ihnen, liebe Jill. Das haben Sie wunderbar getippt.«

»Danke, Senator.« Jills Hüfte streifte Jakobs Schulter, als sie hinausging. So ist es schön, dachte Jakob. Er sah gerne glückliche Menschen.

Der Senator nahm stehend einen besonders schönen Plastic-Kugelschreiber zur Hand, um seine Unterschrift auf dem Brief anzubringen. Der Stift lag ihm schräg in der Hand. Jakob blinzelte. In dieser Lage sah man auf dem Schaft ein nacktes Mädchen – in Farben! Der Senator stellte den Stift gerade – das Mädchen war verschwunden.

»Toll«, sagte Jakob.

»Was? Ach so, das kleine Spielzeug hier! Ja, das ist schon komisch, hahaha! Wollen Sie mal …?«

Jakob wollte mal.

Er bekam den Kugelschreiber und kippte ihn immer wieder. Immer wieder tauchte die Nackte auf und verschwand.

»Ach, das bringt mich auf eine Idee, Senator …«

»Ja?« Connelly überschlug sich vor Herzlichkeit. »Was für eine Idee, lieber Mister Formann?«

»Ich … äh … ich bin auch hier, um Lizenzen für die Fabrikation von Plastics zu kaufen. Das ist ja eine Riesenindustrie bei Ihnen, habe ich gehört.«

»Stimmt.«

»In Deutschland gibt’s das überhaupt noch nicht …« (Hier irrte Jakob. Auch in Deutschland gab es Plastics – schon seit langer Zeit. Es war Jakob indessen nie aufgefallen, daß zum Beispiel die Gehäuse der ›Volksempfänger‹-Radios, die der ›geliebte Führer‹ dem deutschen Volke beschert hatte, aus Plastic gewesen waren – nur hieß das in Deutschland ›Kunststoff‹. Und Deutschland hinkte in Sachen ›Kunststoff‹ ganz erheblich hinterher.) »Das ist eine hochinteressante Sache und …«

»Warten Sie!« Der Senator wollte sich setzen, schnellte aber mit einem Wehlaut wieder empor. (Junge, muß Jill den bearbeitet haben, dachte Jakob und drückte herzlich die alte Hasenpfote.) »Da kann ich Ihnen weiterhelfen! Ich bin bestens befreundet mit dem Boß eines der größten Plastic-Konzerne in den Staaten. Rufe ihn gleich mal an …«

»Wirklich, Sie machen sich zuviel Mühe, Senator!«

»Mühe? Es ist mir doch eine Freude!« Connelly stand über die Telefon-Sprechanlage gebeugt und flötete: »Ach, liebe Jill, verbinden Sie mich doch mit Boston. Donald … ja, sehr richtig, Donald Atkinson! Ich danke Ihnen, liebe Jill!«

Drei Minuten später war das Gespräch da. Der Senator führte es im Stehen. Ab und zu massierte er mit seiner freien Hand den Rücken dabei. (Der muß auch hübsch aussehen, dachte Jakob.) Es war ein überaus freundschaftliches Gespräch …

»… Jakob Formann! Österreicher! Großartiger Mann, ganz hervorragend … Werdet euch glänzend verstehen … Hat hier noch so zwei Wochen zu tun … Was? … Geschäfte mit dem Pentagon! … Ich sage dir ja, ein toller Kerl!« Connelly blinzelte Jakob zu. »… Riesenauftrag, ja! … Muß noch verhandeln … Aber dann kann er zu dir nach Boston kommen … Wie? … Weiß ich nicht … Lizenzen für die verschiedensten Arten von Plastics! Du wirst was … wie? … Ach so, sehr gut, du wirst ihm deine Werke zeigen … Auf diese Weise sieht er halb Amerika, hahaha! Zwanzig Staaten und … Ja … Nein … Ja … Das wäre natürlich äußerst nützlich … einen Experten! Einen erstklassigen Experten, der mit meinem Freund Formann zurück nach Europa fliegt und das ganze Know-how mitbringt! Prima, Don, prima … Bitte? … Nein, da kannst du ganz beruhigt sein! Für den Mann bürge ich! Der ist okay! Hat tadellose Bankverbindungen. Und verdient ja mehr als genug, wenn er vom Pentagon den Riesenauftrag bekommt. Großer Mann in Deutschland! Übrigens, das ist doch klar, Don, alter Junge: zwanzig Prozent für mich! … Na, ich bringe dir doch diesen Mann! Dieses Geschäft! … Zehn Prozent? Kommt nicht in Frage! Dann schicke ich meinen Freund woanders hin … Wie? Also meinetwegen, fünfzehn Prozent für mich. Okay, Don, okay! Nichts zu danken …«

90

In Amerika gibt es viele vornehme und feine Städte.

Die vornehmste und feinste Stadt Amerikas heißt Boston, sagen die Bewohner von Boston. So was von vornehm und fein gibt es nur einmal!

Am 20. September 1948, abends, traf Jakob Formann, mit dem Flugzeug aus Washington kommend, hier ein. Alle Menschen in Boston sind fein und vornehm.

Jakob war vergnügt und munter. Er hatte einen Riesenauftrag des Pentagon in der Tasche und köstliche Wochen mit Jill Bennett hinter sich. (Jills Frustrationssyndrom war von Jakob völlig zum Verschwinden gebracht worden.)

Natürlich wohnte er im RITZ, dem vornehmsten, feinsten und altehrwürdigsten Hotel von Boston. Die feinen, vornehmen und altehrwürdigen Herren an der Reception und in der Portierloge empfingen ihn hochachtungsvoll. Er hatte reserviert und wurde also erwartet. Der vornehmste und feinste Bostoner Portier sagte zu ihm in dem mit Recht bestaunten feinen und vornehmen Bostoner Englisch: »Wir haben seit Stunden ein Gespräch für Sie, Sir. Der Herr ruft immer wieder an. Wir sind auch im Besitz seiner Nummer. Sie möchten sich bitte sofort bei ihm melden.«

»Was für ein Herr?« fragte Jakob.

»Ein gewisser Jesus Washington Meyer aus Tuscaloosa in Alabama, Sir.«

»Jesus!« Schon rannte Jakob zum Lift. »Verbinden Sie mich in zwei Minuten, wenn ich auf meinem Zimmer bin!«

»Sehr wohl, Sir«, sagte der Portier. Er war erstaunt und ein wenig indigniert. Im RITZ wird niemals gerannt.

Fünf Minuten später – Jakob hatte gerade die Jacke ausgezogen und die Krawatte abgenommen – klingelte der Apparat neben seinem Bett. Er riß den Hörer ans Ohr.

»Hallo, Jesus!« schrie er begeistert und auf Englisch.

»Grüß Gott, Jakob«, sagte eine Männerstimme, deutsch mit stark österreichischem Akzent. Jakobs Hand begann zu zittern. Um ein Haar wäre ihm der Hörer entglitten. »Endlich bist da, Burschi. Was ich mich freu’, daß ich deine Stimme hör’!«

»Je … je … Wer sind Sie?«

»Na, der Jesus, Burschi.«

»Du … Sie … Sie sind nicht Jesus! Sie können es nicht sein!«

»Kloa kann ich’s sein. Kloa bin ich’s. Was hast denn?«

»Jesus Washington Meyer?«

»Sag’ i doch!«

»Aus Tus … Tus … Tuscaloosa, Alabama?«

»Sag amal, bist du deppert, Burschi?«

Na also, dachte Jakob, es geht los. Es ist soweit. Ich bin reif für die Klapsmühle. Zuviel Arbeit. Zuviel Liebe. Zuviel Streß. Jetzt hat’s mich erwischt.

»Wa … Wa … Waren Sie im Krieg Soldat?«

»Nona!«

»In … in Wien … bei der MP?«

»Zuerst in Wean und nachher in Linz, na, in Hörsching, dem Drecksnest, wo der Fliegerhorst war. Hearst, was ist denn los mit dir? Bist du bsoffn?«

»Tot … tot … tot …«

»Was?«

»Total nüchtern.«

»Des glaub’ i dia net.«

Herrgott, hilf! Ich bin verrückt geworden, dachte Jakob verzweifelt.

»Du hast doch mit mir z’samm’ gearbeitet, Burschi! Weißt es nimmer? Die Gschicht mit dem depperten Colonel Hobson und unsere Eia?«

»Eier? Ich habe in meinem Leben nur mit einem Jesus Eier geklaut!«

»Endlich …«

»Nichts endlich! Das war ein Schwarzer!«

»I bin noch imma a Schwarzer!«

»Der kein Wort Deutsch verstanden hat!«

»Na, jetzt versteh’ i halt Deitsch!«

Jakob brüllte los: »Wer macht sich da einen schlechten Witz mit mir? Antworten Sie! Los, antworten Sie!«

Aus dem Hörer kam eine sanfte Stimme: »Mei Hasenpfote hat dir aba Glück gebracht, Jakob!«

»Jesus!« schrie Jakob. »Du mußt Jesus Washington Meyer sein! Kein anderer Mensch hat mir eine Hasenpfote geschenkt!«

»Nur i!«

»Nur du! Aber wieso sprichst du so österreichisch?«

Tiefes Lachen. Dann: »I hab’ mir denkt, ich mach’ dir a Freud damit. I hab’ nämlich eine Linzerin mitgenommen nach Haus. Geheiratet noch in Linz. Die Fanny.«

»Die Fanny …«, wiederholte Jakob blödsinnig.

»Ein süßes Madl! Die beste Frau von der Welt!«

»Wie … Wieso weißt du, daß ich in Boston bin? Und in diesem Hotel?«

»Napoleon.«

»Was?«

»Napoleon is ana von de Wagenmeister im ›Ritz‹. Der hat g’hört, daß du reserviert hast. I hab’ eahm von dir erzählt. Wie die ganze Familie hier bei uns z’sammg’sessen ist, nach meina Heimkehr. I hab’ dir doch immer g’sagt, wir san a sehr a große Familie, net?«

»Ja …«

»Der Napoleon, des is a Vetter von mir.«

»Aha.«

»Also, wann kummst zu mir?«

»Vorläufig habe ich noch dringend hier zu tun, Jesus. Plastics. Lizenzen kaufen. Ein paar Wochen. Vielleicht drei, vier … aber dann sofort!« Jakob richtete sich auf, wieder der alte Jakob. »Es wird Arbeit geben, wenn ich komme, Jesus.«

»Für wen?«

»Du kannst es noch nicht wissen«, sagte Jakob. »Seit zwei Minuten bist du mein Generalbevollmächtigter für die Vereinigten Staaten.«

91

»Bevollmächtigter für was?« fragte Jesus Washington Meyer. Das war am Nachmittag des 26. Oktober 1948. Bis Birmingham, Alabama, war Jakob geflogen, dann hatte er einen Leihwagen genommen. Einundzwanzig Lizenzen von ›Atkinson’s Plastics‹ trug Jakob in seinem Diplomatenkoffer.

»Bevollmächtigter, Punkt«, sagte Jakob zu Jesus. »Zuerst einmal dem Pentagon gegenüber für Fertigbauhäuser nach deutschem Patent, aber sei sicher, da kommt noch ein Haufen dazu! Ich hab’ gerade erst angefangen. Ich brauche noch mehr Leute. Wo sind eigentlich Mojshe und Misaras?«

Jesus schüttelte betrübt den Kopf. »Ich bin zuerst aus der Army entlassen worden. Danach ist jede Verbindung abgerissen. Weiß Gott, wo die beiden stecken.«

Sie sprachen englisch miteinander. Zur Begrüßung hatte der baumlange Neger noch österreichisch gealbert. Auf die Dauer ging das nicht. Es wurde ihm zu anstrengend. (Von der Begrüßung am Telefon hatte er das meiste mit Hilfe seiner blonden jungen Frau, der Fanny, auswendig gelernt, um Jakob zu erschrecken, freudig zu erschrecken, versteht sich.)

Die Fanny war dem Jakob sogleich sympathisch gewesen und er ihr. Im übrigen hatten ihn außerdem an die zwanzig Familienangehörige (längst nicht alle, nur jene, die gerade in Tuscaloosa waren!) empfangen wie einen uralten Freund. Sie alle wußten von Jesus, wer Jakob war.

Jakob schwitzte. Hier unten war es mächtig heiß. Die ›Main Street‹ – Sechste Straße hieß sie – sah aus wie alle Hauptstraßen in den kleinen Städten des Südens. Ein- und zweistöckige Häuser, Ziegelbauten der Hotels. Tankstellen. Modegeschäfte. Warenhäuser, Bars, Restaurants. Das Bürgermeisteramt, das Polizeigebäude. Als Jakob in Tuscaloosa einfuhr, hatte er einen Schrecken bekommen.

Jesus wohnte außerhalb der Stadt, in einem geräumigen Haus. Er hatte erstaunlich viel Grundbesitz. Und den größten Hof weit und breit. Auf den Feldern sah Jakob durch die Fenster des Wohnzimmers Menschen arbeiten, gebückt, langsam, in der brütenden Hitze.

»Du mußt raus hier, Jesus!« An der Decke des Zimmers kreiste surrend ein Ventilator.

»Raus, wohin?«

»Nach Norden! In eine Großstadt! Hier, das ist doch …«

»Was?«

»Nichts …« Jakob schämte sich.

»Dreck und Armut meinst du, wie?« Jesus sah ihn an.

Jakob nickte.

»Eben der Arsch der Welt. Weißt du, wie viele Hunderttausende in Wellblechhütten oder überhaupt im Freien leben von uns Negern? Mann, wenn irgendwo Fertighäuser gebraucht werden, dann hier!«

»Ja«, sagte Jakob. »Da ist was dran. Überhaupt der ganze Süden.«

»Siehst du! Natürlich müßte ich Büros in einer großen Stadt mieten, das sehe ich ein.«

»Es geht nicht um die Büros«, sagte Jakob leise. »Ich habe Angst! Ich habe in meinem Leben noch nicht solche Angst gehabt! Um euch Schwarze!«

»Unsinn! Die Weißen sind … na ja, manche natürlich nicht … aber die meisten sind sehr nett zu uns! Und mir hat noch keiner was getan! Ich habe weiße Freunde und eine weiße Frau.« Jesus lachte.

»Was ist so komisch?«

»Meine weiße Frau.« Jesus hörte auf zu lachen. »Es ist schon eine Schande, was mit uns Negern geschieht, da hast du recht! Die ›Segregation‹ – also die Absonderung der Weißen von den Schwarzen –, hier ist sie komplett! Warum ich gelacht habe? Paß auf: Fanny und ich haben doch noch in Linz geheiratet, nicht?«

»Ja und?«

»Und als ich dann mit ihr hierherkam, haben sie mir sofort erklärt, daß die Heirat ungültig ist.«

»Ungültig?«

»Ja! Im Staat Alabama gibt es ein Gesetz, das eine Ehe zwischen Schwarzen und Weißen verbietet. Natürlich gilt das Gesetz grundsätzlich für weiße Männer und schwarze Mädchen! In meinem Fall war’s umgekehrt! Mensch, Jake, ich habe vielleicht einen Wirbel gemacht! Gut genug für die Invasion war ich, gut genug für den ganzen Scheißkrieg! Und dann darf ich nicht mit einer Weißen verheiratet sein? Bis zum Obersten Bundesgerichtshof bin ich gegangen! Dort habe ich die Anerkennung meiner Ehe mit Fanny dann endlich durchgesetzt!«

»Ich finde das gar nicht lustig, Jesus.«

»Aber ich habe die Anerkennung erhalten, Jake! Glaub’ bloß nicht, daß das so bleiben wird, wie es jetzt ist.«

»Das glaube ich ja nicht. Es wird schlimmer werden«, sagte Jakob.

»Schlimmer?« Jesus lachte wieder. »Besser! Nach der Wahl im nächsten Monat wirst du staunen! Und überhaupt! Wie viele Neger werden von den Weißen vergöttert? Duke Ellington! Lena Horne, die Schauspielerin und Sängerin! Paul Robeson, auch ein Schauspieler! Joe Louis! Doktor Drew, der große Mediziner!«

»Das sind nicht sehr viele, Jesus!«

»Ich kann dir noch ein paar Dutzend andere nennen!«

»Ein paar Dutzend andere sind auch noch nicht sehr viel, Jesus.« Jakob faßte seinen Freund bei der Hand. »Paß auf, mein Alter. Ich bin über den Highway elf hergekommen. Bei der Ortseinfahrt habe ich die vielen Tafeln und Schilder gesehen. Die sieht man überall, ich weiß. Immer heißt es ›Welcome to‹ oder ›Home of‹. Jede Stadt in Amerika ist das ›Heim‹ von irgend etwas. Von Käse. Von Wurst. Von einer Automarke. Einem bestimmten Whiskey. Das meine ich nicht. Eine Tafel habe ich gelesen, Jesus, eine Tafel, bei der hat mir der Atem gestockt. Es war ein großes Ding, und darauf gemalt war ein vermummter Reiter in Weiß, und darüber hat gestanden: ›Welcome to Tuscaloosa, Home of the Ku-Klux-Klan!‹ Der Ku-Klux-Klan hat hier sein Hauptquartier, Jesus! Und das weißt du doch, Mensch! Und du bist doch ein Schwarzer! Ich flehe dich an, verkauf alles und geh nach Norden, bevor es zu spät ist!«

Jesus schüttelte den Kopf. »Dir sitzen noch die Nazis in den Knochen, Jake. Ku-Klux-Klan. Na schön. Aber es gibt auch noch die Polizei und die National Guard und Washington und Gesetze, und ich sage dir, wenn die Wahlen erst vorbei sind, wenn Dewey erst gewonnen hat, dann ist hier Schluß mit dem Ku-Klux-Klan! Dewey räumt auf! Der läßt den Ku-Klux-Klan niemals zu!«

»Und wer sagt dir, daß Dewey gewinnt?«

»Jeder, mit dem du sprichst, Jake! Das ist sicher. Absolut sicher! Mit Truman ist es aus. Alle großen Meinungsforscher sagen das. Das Gallup-Institut! Kommentatoren von Walter Lippmann bis Dorothy Thompson! Der Sieger heißt Dewey! Du kannst darauf wetten! Und wenn erst Dewey da ist, dann wird hier alles genauso wie im Norden, dann gibt es keine Rassendiskriminierung mehr, keinen Ku-Klux-Klan! Und wegen der paar Tage soll ich noch daran denken, wegzuziehen?«

»Tja, wenn ihr so an Dewey glaubt …«

»Er hat ein Herz für die Schwarzen. Er haßt jede Ungerechtigkeit.«

»Woher weißt du das?«

»Das sagt er jeden Tag, und jeden Tag hält er zehn Reden! Die beiden reisen durchs Land, weißt du, der Truman und der Dewey, seit über einem Monat. Ich vertraue Dewey. Wir alle hier vertrauen Dewey!«

Jakob gab es auf.

»Ja dann … Was hast du vorhin gesagt?« In seinem Kopf arbeitete es schon wieder. »Man kann darauf wetten?«

»In diesem Land kannst du auf alles wetten, Jake! Auf Truman wetten ist reiner Wahnsinn. Auf Dewey mußt du schon sehr hoch setzen, denn die Quoten werden niedrig sein. Das heißt: Ich müßte für dich setzen! Weil ich Amerikaner bin. Du darfst nicht. Ich müßte mit dir zu einem Buchmacher nach Phoenix fahren. Da kriegst du ein Formular und füllst es aus, und es wird verschlossen, und mein Name mit meiner Adresse kommt drauf, ich kriege den Kontrollschein, und du zahlst das Geld ein. Du kommst doch jetzt bestimmt bald wieder in die Staaten …«

»Da kannst du Gift drauf nehmen, Jesus.«

»… und dann habe ich das Geld schon für dich! Wie gesagt aber: Bei einem so sicheren Sieg von Dewey mußt du schon was ausspucken, damit bei der niederen Quote überhaupt noch was rauskommt!«

92

In der Nacht des 2. zum 3. November 1948 flog Jakob vom ›La Guardia‹-Flughafen in New York zurück nach Frankfurt. Mit ihm flog des Plastic-Experte von ›Atkinson’s Plastics‹, Dr. Addams Jones, ein smarter, gutaussehender junger Herr. Er stand nun bei Jakob unter Vertrag.

Zwischen Gander und Shannon kam der Copilot aus dem Cockpit und sagte etwas zu einem Mann, der in der ersten Reihe saß. Der sagte es seinem Nachbarn. Der Nachbar sagte es der Dame, die hinter ihm saß. In drei Minuten wußte das ganze Flugzeug Bescheid. Angenehm warm fühlte Jakob sich – wie stets in solchen Situationen. Die Piloten hatten über Funk Nachricht vom Ausgang der amerikanischen Wahlen erhalten. Der war eine einzige Sensation! Die Passagiere betrugen sich wie irre. Nur Jakob nicht. Jakob saß ganz still und summte ein kleines Liedchen vor sich hin. Entgegen den Voraussagen aller Meinungsforschungsinstitute, entgegen den Prognosen der berühmtesten politischen Kommentatoren war nicht Dewey Sieger der Wahl – sondern Harry S. Truman!

Na ja, dachte Jakob, so ein kleiner Tritt in den Hintern war bei mir eigentlich schon überfällig. Schade um das viele schöne Geld, das ich auf Dewey gesetzt habe. Jesus kann was erleben, wenn ich ihn nächstes Mal sehe! Als sie dann auf dem Rhein-Main-Flughafen landeten, hörten alle eine weibliche Stimme aus den Lautsprechern: »Herr Jakob Formann … Herr Jakob Formann … soeben gelandet mit PAN AMERICAN AIRWAYS aus New York … Bitte, kommen Sie zum Informationsschalter! Wir haben eine Nachricht für Sie! Herr Jakob Formann aus New York, bitte …«

»Warten Sie einen Moment«, sagte Jakob zu seinem Experten. Übernächtigt, unrasiert und mit schmerzenden Knochen ging er zum Informationsschalter. Das wird Jesus sein, dachte er. Hat mir vermutlich ein Telegramm geschickt. Entschuldigt sich.

Eine Blondine lächelte ihm entgegen. »Herr Jakob Formann?«

»Ja.«

»Wir haben ein Telegramm für Sie.«

»Ich weiß. Danke.« Jakob nahm den Unschlag und riß ihn auf, zog das Telegramm heraus und las. Danach mußte er sich ganz schnell auf eine Bank setzen, sonst wäre er umgefallen. Der Text des Telegramms lautete:

x lieber jakob du gluecklicher hund stop du musst besoffen oder verrueckt gewesen sein als du in phoenix den wettschein ausgefuellt hast stop hast versehentlich auf truman gewettet stop gewinn von dollar 234 587 wiederhole 234 587 dollar liegt bei mir zu deiner verfuegung stop gott segne dich jesus x

93

x 3. nov. 1948 x 20.41 x jesus washington meyer sixth street tuscaloosa state of alabama usa x hebe geld fuer mich auf und ueberweise sofort dollar 50 000 an miss jill bennett 126 huston street washington besten dank und herzliche gruesse stop dein lieber freund jake x

94

»E … E … Es ist so we … weit … Zwölfter Mai neunzehnhundertneunundvierzig … Nu … null Uhr eins … D … Der Schlagbaum hebt sich hier am Kontrollpunkt Helmstedt … D … Die Blockade ist zu Ende … B … Be … Berlin ist kei … keine Insel mehr …«

Der Mann, der diese Worte, langsam und stotternd, keineswegs lallend, obwohl seit Stunden trinkend, in ein Handmikrofon sprach, war Klaus Mario Schreiber. Seine Akne blühte, daß es eine Freude war! Das Mikrofon war verbunden mit einem Tonbandkoffer, der sich auf dem Wagenboden eines brandneuen Porsche hinter den Vordersitzen befand. Die Spulen des Apparates drehten sich langsam, grün glühte das magische Auge des batteriegespeisten Magnetofons, das ebenfalls brandneu war und lächerliche zweiundzwanzig Kilogramm wog.

»…so also sieht das E … Ende aus«, sprach Schreiber. »Und so der A … Anfang! Keine Fa … Fackelzüge vermutlich in Berlin, kein Freudengeheul! Ein Knipsen am Schalter nach zehn Mo … Monaten Finsternis – und es wird Licht! … Verflucht, Chef, fa … fahren Sie nicht so nervös! Jetzt ha … habe ich mir das Hemd mit Whi … Whisky versau … saut! … Fliedersträuße … Fliedersträuße fliegen in die Wagen, die sich vom We … Westen aus nach Berlin auf den We … Weg machen … OKAY ist na … natürlich dabei …«

Jakob Formann, neben Schreiber am Steuer des Porsche, spuckte fluchend Fliederblüten aus, während er sich mühte, im Feuer von blitzenden Fotografen und gleißenden Scheinwerfern der Wochenschauleute in keinen anderen Wagen hineinzufahren und gleichzeitig zu verhindern, daß ein anderer Wagen in ihn hineinfuhr.

Klaus Mario Schreiber nahm abermals einen kräftigen Schluck, bevor er Stichworte für seinen großen Bericht über das Ende der Blockade in das Mikrofon sprach: »… viele Hu … Hunderte von Journalisten aus der ga … ganzen Welt … Funkreporter … alliierte Offiziere … Neugierige … Der Schla … lagbaum … wir fahren unter ihm durch … Ha … Haben wir noch eine P … Pulle Whisky? Go … Gott sei Dank. Die ist fast leer. Und wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vo … vor uns … Wir fahren … fahren … Fi … Finsternis … Wald … Zwei Kilometer Niemandsland … Jetzt ha … haben wir den sowjetischen Kontrollpunkt erreicht … Nur schwach beleuchtet … Ein paar sowjetische Offiziere, ein paar Volkspolizisten, sehr höflich, aber reserviert … K … Kein … Publikum … Kei … Keine Freudenstimmung … M … Moment, ich steige aus … Sinnlos … bi … bin schon wieder im Wagen … In den Ko … Kontrollräumen der drei W … Westmächte und der Polizei gibt es nur vier Telefone … Die Journalisten, die ihren Bericht du … durchte … telefonieren wollen, p … prügeln sich … Die Schlagbäume hier sind geöffnet … Wir fahren in die Zo … Zone … Na … Nacht und Finsternis hüllen uns ein … Prima Wa … Wagen, Chef! Das ha … haben wir fein gemacht …!«

1949 – BRD und DDR

4. April: Nordatlantikpakt (NATO) (Bundesrepublik tritt 1955 bei).

5. Mai: Europarat in Straßburg gegründet (Bundesrepublik tritt 1951 bei).

8. Mai: Der Parlamentarische Rat nimmt das (vorläufige) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (BR) an.

12. Mai: 00.01 Uhr: Aufhebung der Berliner Blockade. In 274 718 Flügen kamen 2 Millionen Tonnen Konsumgüter über die Luftbrücke.

24. Mai: Grundgesetz tritt in Kraft.

30. Mai: Sowjetzone: Wahl des »Deutschen Volksrats« durch den »Deutschen Volkskongreß«.

14. August: Wahl des ersten Bundestages.

7. September: Bundestag tritt in Bonn zusammen. Damit ist die BR konstituiert.

12. September: Bundesversammlung wählt Theodor Heuss (FDP) zum Bundespräsidenten (Wiederwahl am 17. 7. 54).

15. September: Heuss schlägt Konrad Adenauer (CDU) zum Bundeskanzler vor. Im ersten Kabinett Adenauer ist Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (ab 1950: »Soziale Marktwirtschaft«).

1. Oktober: Mao Tse-tung gibt die Gründung der Volksrepublik China bekannt.

7. Oktober: Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Kraft getreten. Wilhelm Pieck Präsident der Republik, Otto Grotewohl bildet die Regierung.

13. Oktober: Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) gegründet. Beim ersten Empfang des Bundespräsidenten Heuss auf Schloß Brühl wurden pro Kopf für jeden der 1500 Gäste DM 3,50 ausgegeben – für 1/8 Liter Wein, 2 Tassen Tee und etwas Gebäck.

Eine Trambahnfahrt kostet in München 20 D-Pfennige.

»Germans free to travel« – Deutsche dürfen (mit erheblichen behördlichen Schwierigkeiten bei der Genehmigung) ins Ausland reisen.

J. C. E. Shannon u. W. Weaver: »The mathematical theory of communication« – Begründung der Informationstheorie.

Bühne: Werner Egks Ballett »Abraxas« hat Skandale und behördliches Einschreiten (Bayer. Kultusminister Hundhammer) zur Folge.

Erste Buchmesse in Frankfurt am Main.

Bücher: Graham Greene: »Der dritte Mann«; George Orwell: »1984«; C. W. Ceram (Kurt Marek): »Götter. Gräber und Gelehrte«.

Filme: »Der dritte Mann« (USA, Orson Welles, Regie Carol Reed); »Der Engel mit der Posaune« (Österr., Paula Wessely).

»Saufen Sie nicht soviel, Schreiber«, sagte Jakob, angestrengt in die Nacht starrend, während er in der Kolonne der anderen Wagen über die reichlich schadhafte Autobahn sauste.

Er dachte nach.

Seine Gedanken wanderten, wanderten …

Ich muß mit Schreiber nach Berlin, klar. Für OKAY. Senkmann, unser Starfotograf, ist mit einem amerikanischen Offizier gefahren. In dessen Jeep. In meinem Porsche ist kein Platz für drei Leute. Senkmann hat wie ein Verrückter fotografiert da in Helmstedt. Wird wie ein Verrückter fotografieren, wenn wir den Kontrollpunkt Dreilinden von Berlin erreichen … die Avus … den Funkturm … die wieder freie Stadt!

»Verflucht noch mal, ge … geht denn diese Drecksflasche überha … haupt nicht auf? … Ah, jetzt! Endlich …« Schreiber genehmigte sich einen großen Schluck und plauderte weiter: »Die Berliner ha … haben durchgehalten … Da brau … brauchen wir Angaben über die Lu … Luftbrücke … Sucht mir unser Ar … Archiv raus … wie … wie viele Flüge … Abstürze … To … Tonnen befördert … Ta … Tag und Nacht … Sommer und Winter … bei Ge … Gewitter, Schneestürmen und Hagelschauern … in Hi … Hitze und K … Kälte … Wo … Woche für Woche … Monat für Monat … Alle d … drei Minuten ist eine M … Maschine in Tempelhof gelandet, alle drei M … Minuten ist eine zum Rückflug gestartet … Ein K … Krach war das, Chef! Ich wa … war doch dreimal oben! Ihr eigenes Wort haben Sie nicht gehört! Alle drei Minuten ein R … Rosinenbomber! Z … Zehn Monate lang! Prost, Chef!«

»Sie sollen nicht so viel saufen, Schreiber!«

»Jawohl, Chef. N … Nicht s … so viel s … saufen! … Auf Ihr ganz Spezielles, Chef!«

Jakob brummte nur. Er versank wieder in Gedanken. Kinder, wie die Zeit vergeht! Am 3. November war ich wieder in München. Voriges Jahr! November, Dezember … sieben Monate ist das schon her! Hat sich allerhand getan in diesen sieben Monaten. Mit OKAY sind wir weit über der Halbmillionengrenze. Wir arbeiten nicht länger in der Ruine. Ich habe ein Haus am Karolinenplatz gekauft, das stehengeblieben ist. Einem Schieber hat es gehört, der nach der Währungsreform plötzlich am Ende war und unbedingt weg wollte aus München. Vielleicht nach Frankfurt, wo es noch ein bißchen zu schieben gab. Zwei Millionen D-Mark hat er verlangt für das Riesenhaus. Die habe ich anstandslos als Kredit von der Bank bekommen. Wohnungen für die wichtigsten Mitarbeiter habe ich gekauft. Ich schlafe im Redaktionsgebäude. Zwei Zimmer mit Küche habe ich da. Mir genügt’s! Was soll ich mit mehr? Das Pentagon-Geschäft ist fast abgewickelt. Ingenieur Jaschke macht draußen in Murnau Überschichten mit seinen Leuten. Natürlich hat er auch eine Wohnung gefunden und braucht kein Bootshaus mehr. Der Attinger-Bauer hat das Geschäft seines Lebens mit den Klo-Muscheln und Waschbecken gemacht. Alle haben sie ihr Geschäft gemacht. Und machen es weiter!

Der Plastics-Mann, dieser Dr. Addams Jones, den ich in den USA eingekauft habe, der baut drei Werke zur gleichen Zeit aus Ruinen auf! Ein toller Bursche! Glänzend deutsch spricht er. Aber eine Villa an der Elbchaussee in Hamburg habe ich für ihn mieten müssen. Er hat einfach darauf bestanden. Und auf einem VW. Und auf einem Diener. Und … dieser Kerl verlangt dauernd was Neues, mit dem werde ich noch Ärger kriegen, das spüre ich! Und dabei ist er so ein toller Kerl …

Trotzdem, es ist einfach nicht zu fassen, daß mich der Bau aller dieser Werke nicht nur nichts kostet, sondern daß ich daran sogar verdiene! Selber wäre ich nie draufgekommen. Aber der Franzl! Ach, der Franzl …

95

Der Franzl sagte unmittelbar nach Jakobs Rückkehr aus den Vereinigten Staaten, eine dicke Havanna rauchend, noch fetter geworden, in der Ruinen-Redaktion von OKAY eines Nachts zu Jakob: »Ist dir eigentlich klar, daß du jetzt bauen mußt, bauen, bauen wie ein Verrückter, mein Bester?«

»Soviel Geld, wie ich für alle meine Werke brauche, gibt mir keine Bank, mein Lieber«, sagte Jakob beklommen.

»Stimmt«, sagte Franzl heiter. »Die einfachste Lösung in deiner Lage ist die Selbstfinanzierung von neuen Unternehmen. Und zwar eine Selbstfinanzierung über die Preise und über die Steuer.«

»Was für Preise?«

»Deine natürlich, du Rindvieh! Die Illustrierte darf nicht mehr kosten … Die brauchen wir stabil, um die Bankkredite zurückzuzahlen … Aber die Eier, Jakob! Die Fertigbauhäuser! Die, die du für Deutschland baust! Das muß jetzt alles einfach teurer werden, kapierst du?«

»Nein.«

»Gott, gib mir Geduld«, flehte Franzl. »Was wir jetzt nach der Währungsreform haben, das ist ein sogenannter Verkäufermarkt. Wie es so geht im menschlichen Leben. Auf einem solchen Markt ist nicht der Kunde der König, sondern der Verkäufer! Wegen der großen Knappheit kannst du jetzt deine Preise diktieren. Motto: Friß, Vogel, oder stirb. Er wird schon fressen.«

»Ach so …«

»Gar nichts mit ach so! Das war erst die Einleitung! Junge, Junge, alles muß ich für dich tun! Schau: Es gibt in der Bi-Zone so etwas wie eine zentrale Wirtschaftspolitik – davon hast du natürlich auch noch nie gehört –, deren oberstes Ziel ist es – und muß es sein! –, einen raschen Ausbau und Aufbau – Aufbau, hab’ ich gesagt! – der Produktionskapazitäten zu fördern. Na, und das tut sie.«

»Da hab’ ich aber noch nichts von gemerkt, mein Lieber«, sagte Jakob unschuldig.

»Hast du schon deine Steuererklärung abgegeben?«

»Nein.«

»Drum!« Der schwere Franzl schüttelte erschüttert von soviel Unverstand seinen dicken Quadratschädel. »Der Staat gewährt allen Unternehmen hohe Steuervergünstigungen für Investitionen. Du, als Unternehmer, kannst Riesenbeträge abschreiben. Das ist das Beste und Wirkungsvollste. Und besonders beliebt.«

»Ja, aber …«

»Aber was?«

»Aber … Schau mich nicht so bös an, Franzl … Aber ist das nicht sehr unsozial?«

»Unsozial? Inwiefern?«

»Na ja, ich meine: Ich, ich habe zufällig Werke und Sachkapital. Die meisten Menschen haben das nicht. Die kriegen keine Steuervergünstigungen, die armen Hunde …«

»Verflucht«, schrie Franzl, »mach’ mich nicht wahnsinnig! Die armen Hunde müssen in Unternehmen arbeiten, nicht wahr? Dazu müssen aber erst Unternehmen dasein, nicht wahr? Dazu mußt du sie erst bauen, nicht wahr?«

»Ja, wenn man es so sieht«, murmelte Jakob.

»Besonders beliebt ist die Methode, weil bei den Abschreibungen – im Gegensatz zum Beispiel dazu, wenn man dich subventionieren würde – verborgen bleibt, welche Summen du für dich behältst!«

Der Franzl, dachte Jakob, über die nächtliche Autobahn Berlin entgegenrasend, träumerisch. Ach ja, der Franzl …

Das war vielleicht ein Trick!

So hat er funktioniert: Bei der Ermittlung des Jahresgewinns darf ich als Unternehmer und Besitzer einer Fabrik auch die zum Teil ›unsichtbaren‹ Kosten berücksichtigen. Also zum Beispiel Wertminderung und Verschleiß der Anlagen, die ich zur Produktion brauche. Das ist noch verständlich. Da man diese Wertminderung von der Steuer her aber niemals einschätzen kann, tut es die liebe Steuer auch nicht, sondern überläßt das mir, dem Besitzer! Und erkennt die Summen, die ich nenne – ohne Widerspruch an! Was war das? Einen Hasen überfahren werde ich haben. (Gott, mein geliebter Hase, meine über alles geliebte Julia in Theresienkron! Noch immer war ich nicht bei ihr! Die Geschäfte fressen mich auf. Jetzt, gleich wenn Berlin vorbei ist, fahre ich aber zu Julia. Bestimmt!) Wo war ich? Ach ja: ohne Widerspruch! Ich kann also meine Abschreibungen in irrsinnige Höhen treiben, und der Staat sagt kein Wort dazu. Das heißt: einen einigermaßen richtigen Staat, eine einigermaßen richtige Regierung haben wir ja überhaupt bloß in den Ländern. Im Freistaat Bayern. In Niedersachsen. In Württemberg-Hohenzollern. In Württemberg-Baden, und in Baden ohne Württemberg auch noch. Und dann haben wir noch einen ›Parlamentarischen Rat‹. In Bonn. Der soll eine neue Verfassung machen. Und die Staaten in den Ländern haben Regierungen. Und die Regierungen haben Kindermädchen. Das sind die Westalliierten. Die passen schön auf.

Immerhin: Arbeiten tun die Regierungen in den Ländern schon. Besonders auf den Gebieten, die mich interessieren. Auf dem Gebiet der Steuer zum Beispiel …

Ach, glorreicher, wunderbarer Franzl!

Ich habe also meine Abschreibungen abgesetzt in einer Höhe, die fast bis zum Himmel gereicht hat – und das Finanzamt hat keinen Mucks gemacht. Nicht einen einzigen! Dadurch war mein angeblicher ›Gewinn‹ sehr, sehr klein geworden. Obwohl er irrsinnig hoch war! Und nur für den klitzekleinen ›Gewinn‹ habe ich Steuern zahlen müssen …

Na, und so ist mir mein Geld geblieben, und ich habe damit die neuen Werke aufbauen können. Verdient habe ich daran, daß ich angeblich verloren habe. Meine Eierfarmen und Fertighausfabriken werden mir schon im ersten kompletten Steuerjahr, weil sie Sachkapital sind, mehr als eine Viertelmillion D-Mark einbringen. Dazu habe ich die Preise erhöht! Noch mehr Geld! Also, ich darf mich wirklich nicht beklagen. Das kann doch eben nicht schon der zweite Hase gewesen sein!

Unsinn, diese Autobahn ist kaputt, aber mächtig. Schlagloch nach Schlagloch. Und ich immer feste rein. Krach! Hoffentlich hält der Porsche das alles aus. Mein Porsche. Der erste Porsche, den es überhaupt gibt in Deutschland. Klar, daß ich den haben mußte! War ganz einfach, ihn zu kriegen. Das Volkswagenwerk hat wieder zu produzieren begonnen. Und dann hat der Porsche angefangen. Na ja, und wir haben schon eine ›Auto-Test‹-Seite in OKAY. Schreibt natürlich auch der Schreiber. Es gibt doch nichts, was der nicht schreibt, der alte Säufer, Gott erhalte ihm seine Leber. Jetzt, wo das Geld was wert ist, sind die Menschen anders geworden. Sie achten auf ihr gutes Geld. ›Marktbewußt‹ heißt das Wort. Marktbewußter sind alle geworden. Das habe ich den Herren von Porsche auch gesagt. Und das mit unserem ›Autotest‹ – und im Handumdrehen hatte ich meinen Porsche. Der Test ist aber auch ausgezeichnet ausgefallen …

96

»Was ist los?« Jakob fuhr aus tiefen Träumereien auf.

»Berlin, Che … Chef«, sagte Schreiber.

»Tatsächlich? Das ging aber schnell … Mensch, wird das hell da vorne beim Kontrollpunkt!« rief Jakob. »Langsam … Ich muß doch sehen, ob der Senkmann schon … Gott sei Dank, ja! Schauen Sie sich an, was sich da tut, Schreiber!«

Der sprach in sein Handmikrofon: »Tau … Tausende von Berlinern … La … Lachen … Winken … Ein Wa … Wagen nach dem andern p … passiert die Sperren, die alle geöffnet sind … Wir … eh … Moment … wir werden gerade von hü … hübschen Mädchen geküßt, die die K … Köpfe in die Wagenfenster stecken … Wieder F … Flieder … Kla … klarer Himmel … Schon hell … Auf der Gegenbahn sehe ich einen Interzo … zonenbus … Zum erstenmal nach zehn Mo … Monaten fährt er wieder in den We … Westen … Da … Darf er wieder fahren. An den K … Kühler geheftet ein Schild, da … darauf steht … steht … ›HURRA, WIR LEBEN NOCH!‹; steht darauf … und da … daneben … ich kann nicht … ka … kann nicht … Zwei Mädchen knu … knutschen … m … mich ab … Da … Das wird ein Tag werden heute, Allmächtiger …«

Vor dem Schöneberger Rathaus feierten sie dann alle: die Militärgouverneure, die Kommandeure der amerikanischen, britischen, französischen Truppenteile, die Delegation des Bonner ›Parlamentarischen Rates‹. Schreiber kam nicht einmal richtig zum Saufen, soviel hatte er zu tun. Und Senkmann wurden die Kameras heiß. Weiter ging’s drinnen im festlich geschmückten Saal des Stadtparlaments. Hier dankte das offizielle Berlin dem in wenigen Tagen scheidenden General Clay, dem Schöpfer der ›Luftbrücke‹.

Dann wurden wieder Reden gehalten – drinnen. Draußen standen Tausende von Berlinern und vernahmen, über Lautsprecher, gerührt und verlegen, das Lob, das man ihnen allen spendete.

Festessen. Weitere Toasts.

Am Nachmittag verstopften Hunderttausende dann die Straßen rings um das Schöneberger Rathaus. Viele waren auf Bäume und Dächer geklettert, um die Männer zu sehen, die zu ihnen sprachen, zum Beispiel Konrad Adenauer und Carlo Schmid.

Die Berliner hörten den Herren aus dem Westen geduldig zu. Aber dann riefen sie nach ihrem geliebten ›Lieschen‹, der zierlichen Louise Schröder, die als amtierende Oberbürgermeisterin während der Blockade das Herz und das Rückgrat dieser Stadt gewesen war. Und alle jubelten, als ihr ›Lieschen‹ endlich auf den Balkon des Rathauses trat, klein und sehr verlegen …

Und wiederum Toasts! Und Abendessen! Mit noch mehr Toasts! Gegen 22 Uhr konnte Jakob nicht mehr. Er, der in täglichen Freiübungen Gestählte, der nicht zu Besiegende, der allem und jedem Gewachsene, hatte nur noch einen Wunsch: im Bett seines Hotels zu liegen. Er verdrückte sich heimlich, niemand bemerkte es.

Jakob suchte und fand seinen brandneuen Porsche. Jakob kletterte – mühsam – hinter das Steuer. Jakob fuhr, reichlich abenteuerlich, los. Er hatte sich den Weg zum Hotel genau gemerkt. Da kann gar nichts passieren, dachte er, schwer alkoholisiert. Ich finde wieder zurück, klar finde ich.

Nachdem er das eine Stunde lang gedacht und immer wieder neue Straßenecken umkurvt und Kreuzungen überquert hatte, wurde er nachdenklich. So weit ist das doch nicht gewesen? Und die Gegend kommt mir vollkommen fremd vor! Was ist das für ein Tor, durch das ich fahre? Was ist das für eine Riesenstraße? Vielleicht ist es doch besser, ich drehe wieder um …

Bevor es dazu kam, erklang eine Sirene. Jakob stoppte und sah in den Rückspiegel. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern kam ihm ein Streifenwagen nachgeschossen. Na schön, dachte Jakob. Mit kreischenden Pneus hielt der Wagen neben seinem. Zwei Volkspolizisten sprangen heraus. Noch schöner, dachte Jakob.

Beide Vopos begannen sofort, ihn anzuschnauzen. Sächsisch. Schöner geht’s nicht, dachte Jakob.

»Steichen Se aus!«

Er stieg aus und schwankte.

»Se sinn ja bedrunken!«

»Tat … tatsächlich, meine Herren?«

»Bedrunken am Steuer! Was is das für ’ne Audonummer?«

»B – 427 654. München.«

»Se gomm’ aus dr Ameriganischen Zone?«

»Wenn Sie gestatten.«

»Mann, wissen Se denn nich, wo Se sinn?«

»Leider nicht. Wo bin ich denn?«

»Dief im Demogradschen Segdor!«

»Aha. Vielleicht können Sie mir erklären, wie ich zurückfinde. Ich weiß es nämlich nicht. Ich habe mich verfahren.«

»Das kann jeder sachen! Wer sinn Sie eechentlich? Zeichen Se mal Ihre Babiere.«

Jakob zeigte sie.

Die beiden Vopos studierten sie im Schein einer Taschenlampe lange und verblüfft. Dann flüsterten sie miteinander.

Dann sagte der eine: »Sie heeßen Jagob Formann?«

»Steht in den Papieren, glaube ich.«

»Nicht frech wärn, gelle? Formann … Formann …« Der zweite Vopo holte ein Fahndungsbuch aus dem Streifenwagen und begann zu blättern.

Ich habe eine dramatische Beziehung zu Alkohol, dachte Jakob. Und Alkohol zu mir. Hochdramatisch! Immer, wenn ich besoffen bin, passiert mir was. Manchmal was Gutes, manchmal was Schlimmes. Sehr selten was Gutes. Sehr häufig was Schlimmes. Ich bin eine tragische Gestalt, bin ich.

»Jagob Formann! Mann, Se sinn ja zur Fahndung ausgeschriem! Weechen Wirtschaftssabotaasche!« schrie der zweite Vopo. Sächsisch.

»Mhm.«

»Sonst ham Se nischt zu saachen?«

»Nein, eigentlich nichts. Vielleicht könnten die Herren freundlicherweise ein Auge zudrücken und …«

»Keen Wort weider! Se steichen zu dem Gameraden in den Streefenwaachn. Ich fahre den Borsche …«

»Aber passen Sie gut auf, der ist ganz neu, kaum eingefahren! Die Kupplung …«

»Schnauze! ’s wird Ihrm lieben Borsche schon nischt bassiern! Los, los, rin in dn Streefenwaachn! Und denken Se immer dran: Wir sind beede bewaffnet. Und iche bin dichte hintr Ihn’. Beim kleensten Fluchtversuch schieße ich. Und nich in de Luft!« sagte der erste Sachse. So etwas klingt auch sächsisch nicht komisch, fand Jakob und kletterte in den Streifenwagen.

»Wohin?« erkundigte sich dessen Fahrer bei dem Kameraden.

»Wirtschaftssabotaasche, Mensch! Sofort nach Garlshorsd zu de Sowjets! Steht im Fahndungsbuch! Also raus nach Garlshorsd mit ihm!«

»In Ordnung!«

Jakob wurde im Sitz zurückgeworfen, als der Vopo am Steuer losfuhr. Raus nach Karlshorst, dachte er idiotisch. Raus nach Karlshorst. Er dachte immer wieder dasselbe. Zwanzig Minuten lang. Karlshorst … Er konnte nichts anderes denken. Karlshorst … Mächtig warm war ihm nun wieder einmal …

Nach zwanzig Minuten waren sie dann in Karlshorst, dem Sitz der Sowjetischen Militäradministration für Deutschland und Hauptquartier der Sowjetischen Streitkräfte dortselbst.

»Aussteichen!« schnauzte ihn der Vopo an, der neben ihm saß. Jakob stieg aus.

Also da wären wir wieder, dachte er, das Gebäude betrachtend, vor dem sie gehalten hatten. Hat sich nicht das geringste verändert, seit ich das letzte Mal hier war mit dem Wenzel. Hm, das ist aber wirklich unangenehm.

Das große Gebäude war angestrahlt. Schwerbewaffnete Posten öffneten und schlossen Gitter und Türen. Dann kamen Treppen. Dann Gänge. Dann wurde Jakob in ein Zimmer mit vergittertem Fenster gestoßen. Sehr kahl eingerichtet war das Zimmer.

»Hinsetzen!«

Jakob setzte sich auf einen Schemel.

Die Vopos ließen ihn allein. Die Tür hatten sie von draußen abgesperrt.

Jakob wartete etwa zehn Minuten.

Dann wurde die Tür aufgesperrt.

Einer der Vopos erschien und brüllte: »Aufstehen! Der Major kommt!«

Eiweh, dachte Jakob, wenn das der Major Assimow von damals ist! Er erhob sich, die Hose voll Mut.

Der Major trat in die Türöffnung.

Jakob schnappte nach Luft und plumpste auf seinen Hocker zurück.

»Du … du … du?« stammelte er.

»Ja, ich«, sagte der Major. Es war nicht Assimow. Er war überhaupt kein Mann. Er war eine bildschöne junge Frau. Jakob kannte ihren Namen.

Jelena Wanderowa heißt dieser Major, dachte er benommen. Als wir einander zuletzt sahen, war sie noch Sergeant. Gott, haben wir es getrieben miteinander in diesem Gefangenenlager! So was von Liebe! Jetzt ist Jelena Major geworden. Da hat sie also Karriere gemacht. Genau wie ich.

97

»Ach neiche, du Schmerzensreiche, dein Antlitz gnädig meiner Not!« flehte Faustens Gretchen inbrünstig und reimgerecht. Das Gretchen trug eine Perücke aus Stroh und einen Mantel, der ihm zu klein und geliehen worden war von einer Dame, die in der ersten Reihe vor der improvisierten Freilichtbühne saß. Es handelte sich bei der Dame um den Sergeanten der Roten Armee Jelena Wanderowa, eine junge blonde Frau mit blauen Augen, die fließend Deutsch sprach. Das kam, weil sie die Tochter eines Hamburger Zimmermanns namens Wanderer war, der mit Frau und Tochter hatte fliehen müssen, als 1933 die Nazis an die Macht kamen. Wanderer war nämlich Kommunist. Die Familie flüchtete nach Moskau. Hier starben Vater und Mutter innerhalb von zwei Jahren. Jelena kam in ein Waisenheim, eine Schule, eine Hochschule, in die Rote Armee und in den Großen Krieg. Sie wurde Fahrerin und bald Geliebte des Majors Jurij Blaschenko, mit dem sie Seite an Seite gegen die Deutschen kämpfte. Seit dem 30. Mai 1945 war sie auch die Geliebte des Schützen Jakob Formann der Deutschen Wehrmacht sel. ….

Den Major liebte Jelena, weil er sich seit Jahren um sie gekümmert und immer gut zu ihr gewesen war. Den Jakob liebte Jelena aus Heimweh und anderen Gründen, die hier zu erwähnen geschmacklos wäre. Ihre wirkliche, wahre Liebe gehörte einem englischen Corporal, von dem Jakob nur wußte, daß er Harry hieß. Harry und Jelena hatten einander bei dem historischen Treffen der Alliierten an der Elbe kennengelernt und drei Tage und Nächte zusammen verbracht. Die hatten genügt. Harry war als Besatzungssoldat nach Hamburg geschickt worden, Jelena in das Kriegsgefangenenlager für deutsche Soldaten vor der winzigen Stadt Opalenica, welche südwestlich der großen Stadt Poznan (ehem. Posen) lag. Nur etwa fünfundzwanzigtausend Gefangene saßen in diesem Lager.

Am 2. April 1945 hatte Schütze Jakob Formann sich aus der Schlacht um Berlin mit ein paar Kameraden zu den Russen ›hinübergerettet‹, wie er es nannte. Am 14. Mai war er in obenerwähntem Lager gelandet. Nun begann es sich herumzusprechen, daß alle kleineren Lager aufgelöst und ihre Insassen in große Lager weit hinten in die Sowjetunion geschafft werden sollten. Jakob wollte nicht nach weit hinten in die Sowjetunion. Er fand, daß es nun genug war. Und Jelena wollte nach Hamburg zu ihrem Harry. Obwohl doch der Major Jurij Blaschenko so gut zu ihr war. Auf die Dauer wollte Jelena, eine anständige Frau, ihren geliebten Harry nicht gleich mit zwei anderen Männern betrügen.

»… das Schwert im Herzen, mit tausend Schmerzen, blickst auf zu deines Sohnes Tod!« sprach Gretchen Formann voll tiefem Gefühl. Das Publikum – russische Offiziere, Jelena und Wachmannschaften – verstand kein Wort und war schon ganz schwach vor Lachen. Die lachen sich noch kaputt über den ›Faust‹, dachte Jakob. Klar. Die müssen das für ›Charleys Tante‹ halten. Wenn sie lachen, steigen ihnen allen Atemwolken aus den Mündern, ich kann es sehen. Wir haben Anfang November, und es ist immerhin schon saukalt.

Gott, die brüllen ja vor Lachen! Nach jedem Satz, dachte Jakob, und zog die Perücke fest, die ins Rutschen geraten war. Aber es ist ja auch komisch. Wahnsinnig komisch. Wenn Goethe vielleicht auch nicht so begeistert gewesen wäre. Aber ich spiele dieses dämliche Gretchen ja auch nicht, um dieses dämliche Gretchen zu spielen und den deutschen Dichterfürsten zu ehren, sondern weil ich mit Jelena und rund hundertfünfzig Kumpeln heute nacht abhauen will. Das ist nicht mein Krieg! Ist es nie gewesen! Ich will endlich nach Hause. Darum spiele ich. Mir ist da nämlich vor drei Monaten eine Idee gekommen …

»… zum Vater blickst du und Seufzer schickst du …«, deklamierte Jakob und dachte, weil er wegen des Aufbrüllens der Zuschauer wieder einmal pausieren mußte: Lacht nur, Genossen! Macht euch in die Hosen vor Lachen, Genossen! Ganz schlecht werden soll euch vor Gelächter! Leute, die lachen, können nicht schießen.

Die Idee, die unserem Jakob vor drei Monaten gekommen war, hatte er damals in einem Birkenwäldchen, gerade als sie es, in einer sanften Kuhle liegend, wieder einmal hinter sich hatten, dem Sergeanten Jelena anvertraut: »Ich will hier raus, Jelena. Ich habe die Schnauze voll.«

»Ich möchte auch gerne zu Harry«, flüsterte sie, an seiner Schulter. Es war noch sommerlich warm in dem Birkenwäldchen. Und sie waren beide nackt. »Was für eine Idee ist dir gekommen, Jakob?«

»Wir werden Theater spielen«, sagte er.

Sie sah ihn mit offenem Munde an.

»Sieh mich nicht mit offenem Munde an, Liebste«, sagte Jakob. »Natürlich werden wir nicht nur Theater spielen.«

»Was noch?«

Er sagte ihr, was noch. Sie stieß einen Freudenschrei aus.

Jakob hatte lange nachgedacht über seinen Plan.

In Europa und Asien wurde zu jener Zeit noch immer viel gestorben, und auch in dem vergleichsweise kleinen Lager nahe der vergleichsweise sehr kleinen Stadt Opalenica war das Sterben reichlich im Schwange. Es starben nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches noch viele, viele Hunderttausende. Im Lager, so hatte Jakob festgestellt, waren jene, die starben, fast immer solche, die sich selbst aufgegeben hatten und einfach überhaupt nichts mehr taten, um zu überleben. Indessen: Überleben, das hatte sich Jakob Formann eisern vorgenommen, und er erkannte, daß die Voraussetzung dazu fortwährende Beschäftigung körperlicher wie geschäftlicher Art war. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln betrieb er regelmäßige, fast übertriebene Körperpflege. Er stand als erster auf (lange vor dem Herausschreien zum Zählappell), um seine Freiübungen und seinen Langlauf zu machen, hinter Stacheldraht. Er arbeitete willig und freiwillig, ja, er drängte sich zur Arbeit, wo andere versuchten, sich zu drücken, weil sie zu erschöpft waren, denn es gab sehr wenig zu essen – nicht viel weniger als für die sowjetischen Sieger.

»Dich nehme ich natürlich mit«, sagte Jakob zu Jelena. »Ich will nach Wien, du kommst zu deinem Harry nach Hamburg. Du mußt halt einen kleinen Umweg machen.«

»Was für einen kleinen Umweg?«

»Über Wien.«

»Du bist verrückt!«

»Hoffentlich verrückt genug«, sagte er und klopfte gegen einen Baum.

In den folgenden Wochen und Monaten ging er methodisch vor. Geschickt erbrachte er Beweise seiner Russisch-Kenntnisse, so oft ein Sowjetmensch in der Nähe war – mit der Folge, daß er zum Lagersprecher ernannt wurde. Als solcher avancierte Jakob zum Leiter der Lagerbibliothek.

Hier machte er (absolut verständnis- und interesselos natürlich) Bekanntschaft mit sowjetischen, aber auch mit deutschen Klassikern, über deren Werken er einst in der Schule sanft geschlummert hatte. Vom Bibliothekar wechselte er dann auf Wunsch des guten Lagerkommandanten Blaschenko, der ein weicher, schwerblütiger Mensch war, hinüber in die Schreibstube, und schließlich wurde er aufgefordert, Kulturabende zu veranstalten.

Nachdem er dem guten Lagerkommandanten Major Blaschenko gewisse Sonderzuteilungen an Grundnahrungsmitteln abgerungen hatte, übergab Jakob einem Kameraden, der vor dem Krieg im Stadttheater von Teplitz-Schönau den Jugendlichen Helden gespielt hatte, den Befehl des Lagerkommandanten, Goethes ›Faust, Erster Teil‹ zu inszenieren, wobei er ihm einschärfte, so viele Gefangene wie möglich als Arbeiter für eine noch zu errichtende Bühne, als Darsteller und als Komparsen zu beschäftigen. Es fand sich ein Düsseldorfer für die Marthe Schwerdtlein, das Gretchen behielt Jakob sich vor …

»… zum Vater blickst du«, betete er nun, am Abend des 5. November 1945, während die Strohperücke wiederum verrutschte, mit dröhnender Stimme, »und Seufzer schickst du hinauf um sein und deine Not …«

Manche Russen rangen vor Lachen nach Atem.

»Wer fühlet«, steigerte Jakob sich immer mehr, »wie wühlet der Schmerz mir im Gebein …«

Der ehemalige Jugendliche Held vom Stadttheater zu Teplitz-Schönau und nunmehrige Regisseur wurde vor Wut tobsüchtig. Die Vorstellung aber war ein ungeheurer Erfolg!

Da es schon so kalt geworden war, hatten die Gefangenen wenigstens alte Decken erhalten. Nun erhielten sie alle eine, wenn auch sehr kleine Portion Wodka. Und der gute Lagerkommandant Major Jurij Blaschenko veranstaltete eine Feier in der Wachbaracke. Ehrengast war Jakob Formann. Zwischen ihm und Blaschenko saß Jelena. Hier gab es dann mehr Wodka. Hier gab es viel mehr Wodka. Hier gab es unglaublich viel Wodka.

98

»Auf das herrliche Lustspiel ›Faust‹ und auf den genialen deutschen Dichter Wolfgang Schiller, der es geschrieben hat!« rief, lichterloh begeistert, der sonst so stille Major Blaschenko.

»Auf den werten Genossen Major Blaschenko!« rief Jakob.

»Auf Wolfgang Schiller, den deutschen Lieblingsschriftsteller des genialen Genossen Stalin!« konterte Blaschenko.

Wer da seinen Wodka nicht hinunterkippte, spielte mit seinem Leben.

Also kippte jedermann schnellstens.

»Der weise Genosse Stalin hat gesagt: ›Die Hitler kommen und gehen. Aber das deutsche Volk bleibt bestehen‹«, revanchierte sich Jakob.

Da capo!

Solche Saufereien um Leben und Tod sollten Jakob in späterer Zeit noch häufig widerfahren. Dies war die erste. Er hatte, klug und vorsichtig (in Jakobs Vokabular zwei Wörter für den gleichen Begriff) einen Viertelliter Sonnenblumenöl getrunken, bevor die Feier begann, und Jelena dringendst geraten, ein Gleiches zu tun. Auf diese Weise ertrugen die beiden das Stunden währende Fest und unzählige weitere Toasts, indessen die Gastgeber selig entschlummerten, einer nach dem anderen. Als letzter rutschte der gute Major Blaschenko unter den Tisch. Schon ein toller Kerl, dachte Jakob, hab’ ihn wirklich liebgewonnen. Allein was sein muß, muß sein.

Zusammen mit Jelena schleppte er den schnarchenden Major in dessen Baracke. Dort zogen sie ihm die Uniform und die Stiefel aus. Jakob legte seine verdreckte Uniform der Deutschen Wehrmacht sel. ab. Dann zog er die Uniform des Majors Blaschenko und dessen Stiefel an. In der Uniformjacke befanden sich, wie es die Dienstvorschrift befahl, alle militärischen Personalpapiere des Lagerkommandanten.

Eine Viertelstunde später chauffierte Jelena den Jeep des Kommandanten zum Lagertor, wo zwei – mächtig angetrunkene – Wachen mit Maschinenpistolen standen. Jelena überreichte den Herren einen Fahrbefehl für den neben ihr sitzenden Major und einen für sich, beide ausgestellt nach Wien. Der Major rauchte gelangweilt eine überlange Papirossa. Die Mütze hatte er tief in die Stirn gezogen. Er schnauzte ein paar russische Brocken. Die besoffenen Wachen salutierten. Der Schlagbaum ging hoch. Jelena trat den Gashebel hinunter. Der Jeep schoß auf einen vereisten Feldweg hinaus.

Anläßlich seiner Tätigkeit in der Schreibstube hatte Jakob reichlich Muße und Gelegenheit gehabt, alle erforderlichen Dokumente für Jelena und sich auszufüllen, zu stempeln und mit dem Namen des Majors Blaschenko zu unterschreiben. In Voraussicht auf das Ende der Reise lagen in der Ledertasche neben ihm nun auch absolut echte Entlassungs-, Heimkehrererlaubnis-und andere Papiere auf den Namen Jakob Formann, Schütze. Er hatte Muße und Gelegenheit genug gehabt, um für etwas mehr als hundertfünfzig Kameraden alle diese Papiere in den vergangenen Wochen auszustellen. Manche Kameraden waren aus Österreich, die meisten aus Deutschland. Zu der Zeit, da die beiden besoffenen Wachen am Haupttor des Lagers die Insassen des Jeeps kontrollierten, kletterten die hundertfünfzig Gefangenen der Deutschen Wehrmacht unseligen Angedenkens über die Drahtumzäunung des Lagers und machten sich teils in Gruppen, teils allein, nach allen Himmelsrichtungen hin auf den Heimweg. Jelena hatte zum Glück alle ihre alten Papiere aufbewahrt, die sie als Deutsche auswiesen, zuletzt wohnhaft in der Hansestadt Hamburg, daselbst im Hause Adolfstraße 81.

»Vorwärts, Sergeant«, sagte er nun, in tiefer Nacht. »Ein bißchen Beeilung, wenn ich bitten darf!«

»Jawohl, Genosse Major«, erwiderte Jelena.

Sie sprachen deutsch miteinander.

99

Ihre Reise währte sieben Tage, und siehe, es war eine sentimentale Reise. Sie fuhren nämlich nur durch polnisches und tschechisches Gebiet, also solches, das die Russen freigekämpft hatten. Infolgedessen wurden sie immer wieder umarmt, geküßt und mit Einladungen aufgehalten. Wo es nur ging, fuhren sie abseits der größeren Städte über Nebenstraßen. Es gab viele Kontrollen durch sowjetische Militärpolizei. Alle verliefen ohne Ärger. Die Rotarmisten sahen die (sowjetischen) Papiere an, grüßten und wünschten gute Weiterreise. Mit einem feinen Lächeln salutierte dann jedesmal Jakob, und oft hatte er ein lobendes Wort für die tapferen Genossen der glorreichen Roten Armee bereit. Sein Sergeant saß in solchen Fällen ernst am Steuer. Sie fuhren am liebsten nachts und schliefen am Tag, oder sie fuhren abwechselnd. So ging natürlich Zeit verloren. Aber sie kamen voran. Ihr Weg führte sie immer weiter südwärts. In den großen Städten, denen sie nicht ausweichen konnten, wurden sie von glücklichen, befreiten Bürgern gefeiert. Hausfrauen holten letzte Reserven aus den Verstecken und bereiteten köstliche Mahlzeiten. In Pardubice verdarb sich Jakob, an vieles Essen nicht mehr gewöhnt, zum erstenmal den Magen. Er sollte ihn sich noch einige Male verderben, so in Chrudim und Brno (früher Brünn).

In Pohorelice, einem Nest nahe der österreichischen Grenze, blieb Jakob und Jelena nichts anderes übrig, als im Beisein aller Dorfbewohner eine Dankes- und Liebeserklärung des Bürgermeisters über sich ergehen zu lassen. (Gottlob lagen in Pohorelice keine Rotarmisten.) Jakob ertrug des Bürgermeisters Worte mit Fassung, jedoch unruhig und sagte mit wenigen Worten (viele hatte er nicht), er müsse trotz aller Freude über einen solchen Empfang sofort weiter. Der Dienst …

Jelena und Jakob wurden zu ihrem Jeep begleitet. Diesen hatten die dankbaren Bewohner von Pohorelice mit Lebensmitteln aller Art derartig gefüllt, daß Jakob sorgenvoll darüber nachdachte, wie stark wohl die Radachsen eines Jeeps waren.

»Fahren Sie, Sergeant«, sagte Jakob zu Jelena, auf russisch. »Die Zeit drängt!«

Jelena fuhr los. Die Menschen wichen nur zögernd zurück. Jakob stand aufrecht im Jeep, eine Hand zur Faust geballt. Die Zurückbleibenden sangen die tschechische Nationalhymne. Eine halbe Stunde später sagte Jakob, nun wieder deutsch, zu Jelena: »Die Zeit drängt wirklich. Noch eine sowjetische Kontrolle riskiere ich nicht. Die Nachrichtenverbindungen sind zwar sehr schlecht, und der arme Jurij wird sich zuerst auch sehr geschämt und Angst gehabt haben, als er aufgewacht ist, aber irgendwann hat er doch verlauten lassen müssen, daß ihm hundertfünfzig Gefangene und sein eigener Fahrer abgehauen sind.«

In Mukulow, einem Ort unmittelbar an der österreichischen Grenze, hielt Jelena darum vor einem verlassenen Haus. Mit Jakob ging sie in das verlassene Haus hinein. Sie suchten Zivilkleidung. Sie fanden Zivilkleidung. Als sie sich auszogen, um sich umzuziehen, führte Jakob seinen Sergeanten Jelena zu einer Bettstatt.

»Bist du verrückt geworden«, protestierte sie. »Jetzt? Du hast doch selber gesagt, daß wir keine Zeit haben!«

»Dafür hat man immer Zeit«, sagte er, sich über sie neigend.

Eine Stunde später verließen eine Frau und ein Mann das Haus – es war inzwischen dunkel geworden. Die Frau trug ein Wollkleid von blauer und weißer Farbe, einen alten Regenmantel und Stiefel. Der Mann trug einen grauen Anzug, dessen Hose und Jackenärmel ihm zu kurz waren, einen grauen Mantel, der ihm zu lang war, ein weißorange gestreiftes Hemd ohne Krawatte (ausgerechnet eine solche hatte sich nicht finden lassen!), klobige Schuhe und Strümpfe, von denen der linke ein Loch über der Ferse zeigte. Auch mit Strümpfen war es ein Jammer in diesem Haus gewesen.

Den Jeep (made in USA) fuhr Jakob in dichtes Gebüsch. Seine Uniformstücke und die des Sergeanten Jelena trug er sodann zu einem romantischen Fluß, beschwerte die Taschen der Uniformen mit Steinen und versenkte sie mitsamt allen sowjetischen Militärpapieren just zu einem Zeitpunkt, an dem gerade viele Pferdeleichen den romantischen Fluß heruntergeschwommen kamen.

Ohne Zwischenfall erreichten die beiden dann in einem Tag Wien. Hier war die Zeit des Abschieds gekommen. Jelena mußte sich schnellstens um eine Reisegenehmigung kümmern, die sie berechtigte, mit einem DP-Zug nach Hamburg zu fahren, wobei DP die Abkürzung für ›Displaced Persons‹ (›Verschleppte Personen‹) und ein Zug nach Hamburg natürlich nicht ein Zug nach Hamburg bedeutete. Jeder Zug fuhr nur Teilstrecken, die unzerstört geblieben waren, dann mußten die Reisenden Anschluß an andere Züge suchen, welche sie ihrem Ziel näherbrachten. Hauptsache, sagten die österreichischen Behörden, sie hatten die Ausländer aus dem Land.

»In drei, vier Wochen bist du gewiß in Hamburg«, erklärte Jakob. »Und bei deinem Harry.«

»Ach, Jakob«, seufzte Jelena, und Tränen schossen in ihre wunderschönen blauen Augen.

»Warum weinst du, mein Herz?« forschte er behutsam.

»Du weißt, ich liebe Harry …«

»Na ja doch!«

»… aber niemals, niemals, hörst du, werde ich vergessen, was du mir Gutes getan hast!« rief Jelena Wanderowa.

100

»Nein, also das ist aber eine Überraschung!« rief Jakob Formann dreieinhalb Jahre später, exakt: am 12. Mai 1949, erfreut in der kahlen, vergitterten Zelle in einem der Gebäude der Sowjetischen Militäradministration zu Berlin-Karlshorst, als er Jelena Wanderowa in der Uniform eines Majors der Roten Armee erblickte. Die schwere Eisentür hinter ihr krachte ins Schloß. Einer der Posten hatte sie zugeworfen.

»Guten Abend«, sagte Jelena, und stahlhart blickten ihre schönen blauen Augen.

»Aber was ist denn los?« wunderte sich Jakob. »Freust du dich gar nicht? Das war doch schon eine tolle Sache mit uns beiden in diesem Lager! So was von Liebe …«

»Schweig!«

»Hör mal, das ist aber eine komische Art, einen alten Freund zu begrü …«

»Jakob Formann«, sprach der Major Jelena Wanderowa, und ihre Stimme war dazu angetan, Blut gefrieren und Glas zerspringen zu lassen, »Sie sind wohl wahnsinnig geworden, wie? Sie haben vor mir strammzustehen und mich mit ›Sie‹ und ›Genossin Major‹ anzusprechen!«

»Strammgestanden … bin ich oft genug vor dir, du Miststück«, sagte er, »und den Rest kannst du dir auf deine hübsche Tellerkappe stecken. Ich denke nicht daran.«

»Formann, der Ernst Ihrer Lage scheint Ihnen nicht klar zu sein!« sagte Jelena, gefährlich leise, und stemmte eine Hand auf ihre Pistolentasche. »Reizend siehst du aus, mein liebes Kind! Die Uniform steht dir prächtig! Ich bleibe doch vermutlich länger, nicht wahr? Und du hast ganz gewiß dein eigenes Zimmer, wie? Meinst du, wir könnten uns da wieder einmal richtig guten Tag sagen? Ich weiß ja, daß du dieses Böse-Mädi-Theater machen mußt, weil da oben an der Decke ein Mikrofon angebracht ist. Sei beruhigt, liebes Kind, aller Wahrscheinlichkeit nach funktioniert es nicht.«

»Woher haben Sie die traurige Unverschämtheit, etwas Derartiges zu behaupten?«

»Ich war ja doch einige Jahre in Rußland! Und dabei habe ich feststellen können, daß russische technische Anlagen nicht immer so funktionieren, wie sie sollen.«

»Dieses Mikrofon funktioniert, seien Sie versichert, Formann!«

»Wenn du es sagst, bitteschön. Also dann mach dein Theater weiter, damit ein paar Kerle, die irgendwo sitzen und uns abhören, auch wirklich zugeben müssen, daß du eine prächtige Rotarmistin bist und …«

»Halt das Maul!« schrie Jelena plötzlich verzweifelt.

»Warum plötzlich so verzweifelt, liebes Kind?«

Sie keuchte: »Mach so weiter, und man wird dich gleich hier in der Zelle erschießen, du Idiot, du verfluchter …«

»Erschießen?« Jakob war erstaunt. »Und in dieser Zelle?«

»Laß das Theater! Erschossen wirst du auf alle Fälle – nach dem Spruch eines Militärgerichts!«

»Na also, doch erst später! Da könnten wir doch wirklich noch eine wunderschöne Num …« Der Schock kam mit Spätzündung: »Erschossen?«

»Erschossen.«

»Aber weshalb denn, um Himmels willen?«

»Ja, bist du dir denn nicht einmal der Schwere deines Delikts bewußt?«

»Ach, du meinst den Beschiß mit den Eiern? Mein liebes Kind, rate mal, wer die hundertfünfzig Zentner Milchpulver und die hundertfünfzig Zentner Eipulver geschickt hat!«

»Ich weiß nichts von Milchpulver und von Eipulver.«

»Na, aber ich hab’ es doch geschickt! Als Wiedergutmachung sozusagen. Was kann ich denn dafür, wenn hier solche Trottel in den Behörden sitzen?«

»Nur weiter so, du Wallstreet-Ratte.«

»Und so was habe ich zur Freiheit verholfen, tck, tck, tck«, wunderte sich Jakob.

»Ich bin erst seit kurzem hier. Hatte noch einen Auftrag in Hamburg zu erledigen.«

(Die Unterhaltung wurde nun ein bißchen verworren.)

»Was für einen Auftrag?«

»Wirtschaftsverbrechen! Das Schlimmste, was du tun konntest!«

»Was für einen Auftrag in Hamburg?«

»Einen Geheimauftrag.«

»Für wen?«

»Dieses Schwein Harry! Der war verheiratet! Zwei Kinder! Zwei!«

»Also, das tut mir aufrichtig leid, Jelena.«

»Für mein Vaterland.«

»Dein Vaterland?«

»Die Sowjetunion. Ich bin nun endgültig sowjetische Bürgerin geworden.«

»Was für ein Auftrag das war, meine ich!«

»Sie haben mich verfolgt und gefunden. Sie finden jeden. Keiner entkommt ihnen.«

»Wem?«

»Dem sowjetischen Geheimdienst.«

»Der hat dich erwischt?«

»Aber das sage ich doch.«

»In Hamburg?«

»In Hamburg. Und mich umgedreht.«

»Aha.«

»Kapiert?«

»Nein.«

»Ich war angewidert von Harry. Angewidert vom Westen. Angewidert von diesem dreckigen kapitalistischen System. Sie hatten es also nicht schwer mit mir.«

»Dich umzudrehen.«

»Jetzt verstehst du.«

»Jetzt verstehe ich. Und als du deinen Auftrag erledigt hattest, bist du hierhergekommen und Major geworden.«

»So ist es.« Sie hob den Kopf und rief mit kräftiger Stimme an die Decke, wo sich das Mikrofon befand: »Ich habe allen ja sofort gesagt, du bist ein kluger Kopf! Das war nur der Schock des Wiedersehens, der dich zum Kretin werden ließ. In Wirklichkeit wirst du erstklassige Arbeit leisten und einer unserer Besten werden.«

»Einer eurer Besten … wovon?«

»Von unseren Agenten im Westen«, sagte Jelena, und jetzt kehrten Leben, Wärme und Freundlichkeit in ihre blauen Augen zurück. »Wir drehen auch dich um, und du gehst in den Westen für uns und bekommst deine Aufträge und erfüllst sie und sühnst so dein Verbrechen! Ist doch ganz einfach. Nach einer Weile wirst du zurückgezogen und befördert wie ich. Wir tauschen dauernd unsere Leute aus. Auf diese Weise kommst du vielleicht demnächst nach Amerika …«

»Da komme ich gerade her.«

»Ich weiß. Das ist ja das Feine. Niemand schöpft Verdacht, wenn du wieder hinfliegst – in unserem Auftrag.«

»Nein, so etwas tue ich nicht, Jelena«, sagte Jakob. Sie sah beschwörend zuerst ihn an und dann hinauf zu dem Mikrofon an der Zimmerdecke. Aber nun schrie Jakob: »Zum Teufel mit dem Mikrofon! So hören sie es wenigstens gleich! Ich mache für niemanden einen Agenten! Ich übernehme von niemandem Aufträge!«

»Schrei nicht so!«

»Ich schreie, so laut ich will!« tobte Jakob. (Jetzt geht’s nur noch mit Gebrüll. Ach, ist mir wohlig warm!) »Ich bin für so was nicht gebaut!«

»Wofür?«

»Für Einschleichen und Abhören und Beschatten und diese ganze blödsinnige Agentenspielerei!«

»Dann wird man dich wirklich erschießen!«

»Dann wird man mich wirklich erschießen!« brüllte Jakob. (Also jetzt ist es richtig heiß, ganz wie manchmal im Krieg.)

»Ich habe ihnen doch gesagt, daß ich dich dazu bringen werde, für uns zu arbeiten«, flüsterte sie, und jetzt – stellte er mit Genugtuung fest – schossen Tränen in ihre wunderschönen Augen. »Ich habe ihnen doch gesagt, du wirst den Ernst der Lage, in der du dich befindest, sofort begreifen.«

»Ich begreife ihn durchaus, mein liebes Kind.«

»Nenn mich nicht immer mein liebes Kind, du Scheißkerl!« brüllte der Major Wanderowa.

»Nicht brüllen, Genossin Major«, sagte Jakob, stand stramm und lächelte charmant. »Was soll überhaupt diese Heulerei? Wirst du erschossen oder ich? Na also!«

Sie trat ganz nahe an ihn heran.

»Ach, wollen wir also doch noch schnell …?« erkundigte sich Jakob, sehr schnell sehr begeistert.

»Laß den Blödsinn! Hör mir zu! Das große dialektische Weltgesetz gilt auch für die Gesellschaftsordnung. Jedes sozioökonomische System als These gebiert zwangsläufig eine Antithese.«

»Kein Wort verstehe ich!«

»O Gott im Himmel. Es kippt um, das System! Es verwandelt sich in sein Gegenteil!«

»Tatsächlich?« fragte Jakob, ohne das geringste zu verstehen.

»Tatsächlich! Und zwar liegt das an den Produktionsverhältnissen. Und am Überbau. Die Tage des Westens sind gezählt. Und wenn du darüber noch so viele Witze machst! Und wenn es im Westen jetzt einen scheinbar noch so blühenden Wiederaufbau geben wird, weil ihr von den Amis aufgepäppelt werdet! Es ist eine kapitalistische Scheinblüte! Es kommt die Zeit … und wir erleben sie noch, verlaß dich drauf …«

»Du vielleicht. Ich werde jetzt erschossen.«

Jelena überging das. »… da bricht alles zusammen in Europa, da ist alles zu Ende, die Wirtschaft, die Sicherheit, der Wohlstand, alles. Der Untergang des Abendlandes – er ist unaufhaltsam!«

Na, dachte Jakob, Jelena war ja immer eine recht gescheite Person, aber das da, das ist ja nun bloß propagandistischer Quatsch! (Ach, ein Vierteljahrhundert später dachte er nicht mehr so.) Und ach, ein Vierteljahrhundert später hätte er auch niemals mehr gesagt, was er jetzt lachend sagte: »Untergang des Abendlandes, aber natürlich, aber klar! Wegen der Produktionsverhältnisse! Weil wir alle rangehen! Weil wir keinen Überbau machen, sondern einen Aufbau! Darum kann es ganz einfach nicht immer besser und besser werden und den Menschen immer besser und besser gehen, und wenn sie noch so hart arbeiten und sich noch so sehr bemühen, nein, darum muß es zu einem Rückschlag kommen, aber natürlich! Und zu was für einem Rückschlag es kommen muß! Politisch! Wirtschaftlich, was, mein liebes Kind! Arbeitslose wird es wieder geben in die Millionen! Und Elend und Fanatismus, wenn’s erst mal wieder hübsch bergab geht im Westen, so wie ihr es euch wünscht, nicht wahr? Und wenn’s schon bergab geht, dann auch noch Mord und Totschlag und …« Jakob prustete vor Lachen. »… und Banküberfälle und Menschenraub und Erpressung! So wie im kapitalistischen Amerika, was?« Jakob schnappte nach Luft, er konnte nur noch ächzen: »Oijoijoij …!«

»Jakob«, sagte Jelena Wanderowa, »du bist ein ganz großer Narr!«

»Natürlich bin ich ein ganz großer Narr! Jeder, der nicht das glaubt, was ihr glaubt, ist ein ganz großer Narr! Muß es sein, da gibt’s keine Würschteln, mein liebes Kind!«

»Du sollst nicht immer mein liebes Kind …«

»Aber wie ist es denn bei euch?«

»Wo?«

»Na hier, im Osten! In den autoritären Staaten? So ein autoritärer Staat – da staunst du, daß ich das Wort kenne, was? Erinnere dich, ich war Leiter der Bücherei in dem Gefangenenlager, da habe ich doch eine ganze Menge gelesen. Nicht nur Rilke, diesen Spinner, der gedichtet hat ›Armut ist ein großer Glanz von innen!‹ Dafür allein hätte man ihn in das treten sollen, was er ist … Ich irre ab. Nein, nicht nur Rilke habe ich gelesen! Also, wie ist das? Der autoritäre Staat, der alles plant und alles regelt und anordnet und befiehlt – muß der nicht auch eines Tages seine Anti … Anti …«

»Antithese.«

»Danke. Muß der nicht auch eines Tages seine Antithese gebären und zusammenbrechen?«

Jelena schwieg und sah ihn bloß an.

»Siehst du«, lärmte Jakob fröhlich, »das Ding geht nach beiden Seiten los! Es ist aus mit uns – und es ist aus mit euch! Warte, warte nur ein Weilchen!« Und er lachte wieder herzinniglich.

»Jakob«, sagte Jelena traurig, »du bist ein noch viel größerer Narr, als ich gedacht habe.«

Jäh hörte er zu lachen auf.

Und wenn sie recht hat? durchzuckte es ihn. Und wenn es wahrlich keinen Grund gibt, sich lustig zu machen? Und wenn es tatsächlich so kommt, wie sie sagt? Was ist dann mit meinem Krieg? Ach was, den führe ich

»Ich muß mich korrigieren«, sagte Jelena. »Du bist nicht ein Riesennarr. Du bist das Produkt deiner Umwelt, einer zum Untergang verdammten Welt. Und also wirst du einen sehr, sehr nützlichen Narren abgeben. Denn du bist, wenn man dir nur alles richtig erklärt, natürlich ein sehr gescheiter Narr. Und mit deiner Umwelterziehung werden sie dich auch niemals im Verdacht haben! Du bist auch ein …« Jelenas Stimme wurde weich. »… ein sehr guter Narr. Und es war … es war sehr schön mit dir. Und … und du hast mir sehr geholfen, damals …«

»Eh, eh, eh! Das Mikrofon!«

»Ach was, sollen sie es hören! Sehr geholfen hast du mir damals, jawohl!«

»Das war doch selbstverständlich, mein liebes Kind!«

»Das war gar nicht selbstverständlich! Deshalb will ich doch auch dir jetzt helfen! Deshalb habe ich gesagt: Laßt mich mit ihm reden! Jakob! Du mußt für uns arbeiten!«

»Ich will aber nicht. Nicht für euch und nicht für die andern!«

»Du hast keine Wahl! Ich lasse dich jetzt allein, damit du dir alles ganz genau überlegst. Bitte, bitte, bitte, lieber Jakob, sei kein vertrottelter Held! Sei vernünftig! Wenn du es nicht bist, kann … kann ich nichts mehr für dich tun. Hier sind Zigaretten. Und wenn du … wenn du, o Gott … noch einen Wunsch hast, einen letzten …«

»Hätte ich, ja.«

»Nämlich was?«

»Nämlich, wenn ich ein paar Schmalzbrote bekommen könnte«, sagte Jakob. »Mit Grieben!«

101

Fünf dick bestrichene Griebenschmalzbrote brachte ihm sehr bald nach Jelenas Abgang ein Posten in die Zelle.

Und mit den Grieben kehrten Jakobs optimistische Lebensgeister zurück. Der Posten, der draußen auf dem Gang durch ein Guckloch in der Tür Jakob immer wieder beobachtete, auf daß dieser sich kein Leid antat, sah einen kauenden, schmatzenden, die Lippen mit dem Handrücken abwischenden Mann und war beruhigt. Natürlich konnte er nicht auch noch sehen, was Jakob dachte.

Jakob dachte an eine alte Geschichte, die er als Landser mit den Kameraden unzählige Male durchgespielt hatte – in unzähligen Variationen.

Also fangen wir in Herrgotts Namen schon wieder damit an, dachte er: Ich fürchte mich nicht! Denn es gibt immer zwei Möglichkeiten! Entweder sie erschießen mich wirklich gleich, oder sie lassen mich noch ein bißchen hier, damit sie mich weiter bedrohen können und ich es mir vielleicht doch noch überlege. Das sind ja keine Trottel. Wenn sie mich auf der Stelle erschießen, kann ich auf keinen Fall für sie arbeiten. Also werden sie mich wohl noch ein bißchen hier piesacken. Gut. Dann gibt’s wieder zwei Möglichkeiten. Entweder ich fall’ doch um und mach’ ihnen den Wurschtl (ich kenne doch meinen Charakter!), oder ich falle nicht um. Wenn ich ihnen doch den Agentenwurschtl mache, ist es gut. Wenn ich ihnen den Agentenwurschtl nicht mache, verurteilen sie mich zu Lebenslänglich und stecken mich in ein Zuchthaus. Und da gibt es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder es ist ein anständiges, gepflegtes Zuchthaus oder ein verdrecktes, stinkendes, nasses, mit Ratten. Stecken sie mich in ein anständiges, gepflegtes Zuchthaus, dann ist es gut. Stecken sie mich in ein mieses, stinkendes, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich bleibe dank meiner ausgezeichneten Kondition selbst dort gesund. Bleib’ ich gesund, ist es gut. Oder wir haben schon wieder einen Weltkrieg angefangen, und sie brauchen mich für’n Krieg und holen mich aus dem stinkenden Gefängnis. Da gibt es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder ich komm’ zum Roten Kreuz. Dann ist es gut. Oder ich werde schießen müssen. Gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich schieß’ immer rechtzeitig auf den bösen Feind (keine Ahnung, wer das sein wird, aber irgendeinen Feind haben wir immer), dann ist es gut. Oder der böse Feind schießt rechtzeitig auf mich. Dann ist es schlimm. Aber es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder die Wunde ist leicht. Dann ist es gut. Oder sie ist schwer. Scheiße. Aber es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ich werde trotzdem wieder gesund. Dann ist es gut. Oder ich bin tot. Na, und wenn ich tot bin, brauche ich mich doch erst recht nicht zu fürchten! Aber wo steht geschrieben, daß ich tot sein werde? Vielleicht komme ich wieder mit dem Leben davon wie gerade eben erst! Dann gibt es zwei Möglichkeiten! Entweder es gelingt mir beim neuen Anlauf, endlich meinen privaten Krieg zu gewinnen. Dann ist es gut. Oder es gelingt mir beim neuen Anlauf nicht, dann gibt es …

Die Tür wurde aufgesperrt.

Der Posten von vorhin erschien und brüllte: »Aufstehen! Genosse Major kommt!«

Das ist aber lieb von der Jelena, daß sie nach mir schaut, dachte Jakob, den Mund voller Schmalzbrot. Braves Mädchen. Noch hübscher ist sie geworden!

In der Tür erschien Major Assimow, der nämliche, der Jakob und Wenzel, als sie die Verbindungsstücke für die Fertighäuser von Christoph und Unmack aus Niesky holen wollten, alle nötigen Papiere ausgestellt hatte. Jakob verschluckte sich, würgte nach Luft, spie ein Stückchen Schmalzbrot aus und sagte mit gewinnendem Lächeln: »Da freu’ ich mich aber, daß wir uns endlich wiedersehen, Genosse Major!« (Wo ist die Hasenpfote, verdammt, drücken, fest drücken!)

Der Major Assimow sah Jakob grimmig an. Er sprach kein Wort. Jakob kaute wie ein Verrückter. Er versuchte, noch so viel Schmalzbrot in sich hineinzustopfen wie möglich. Der Major Assimow wartete. Jakob schluckte den letzten Bissen. (Anständig von dem Genossen, dachte er.)

»Sind Sie fertig?« fragte Assimow.

»Melde gehorsamst, daß ich fertig bin, Herr Major«, sagte Jakob.

»Dann kommen Sie mit mir. Los, los, los!«

»Zum Erschießen?« fragte Jakob. Wie gesagt, dachte er, es gibt immer zwei Möglichkeiten …

»Erschießen, lächerlich«, sagte der Major Assimow. »Sie kommen mit mir nach Moskau.«

1950–1951 – Korea und die Wiederaufrüstung

1950

25. Juni: Nordkoreaner fallen in Südkorea ein.

27. Juni: UN beschließen Hilfe für Südkorea (16 Staaten unter US-Oberbefehl). Korea-Krieg bis 1953.

26. Oktober: »Amt Blank« in Bonn: Beginn der Wiederaufrüstung.

Lebensmittel-Rationierung in der BR aufgehoben.

»Managerkrankheit«.

Bühne: Arthur Miller: »Tod eines Handlungsreisenden«; Peter Ustinov: »Die Liebe der vier Obersten«.

Bücher: rororo-Taschenbuch 1: Hans Fallada: »Kleiner Mann, was nun?«; A. de Saint-Exupéry: »Der kleine Prinz«; Bruno E. Werner: »Die Galeere«; Martin Heidegger: »Holzwege«; Ernest Hemingway: »Über den Fluß …«; »Das Tagebuch der Anne Frank«.

Filme: »Die Sünderin« (Hildegard Knef; Skandal); »Nachtwache« (Harald Braun).

Schlager: »Auf Wiedersehen«.

1951

BR: Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Kohle-, Stahl- und Eisenindustrie.

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion).

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

BRD Mitglied der UNESCO und der WHO.

Psychosomatische Medizin (Viktor v.Weizsäcker).

Vergleichende Verhaltensforschung (Konrad Lorenz u. N. Tinbergen).

Bühne: Wiederaufnahme der Bayreuther Festspiele.

Bücher: James Jones: »Verdammt in alle Ewigkeit«; Heimito v.Doderer: »Die Strudlhofstiege«; Thomas Mann: »Der Erwählte«; Jean Paul Sartre: »Der Teufel und der liebe Gott«; Simone de Beauvoir: »Das andere Geschlecht«; Annemarie Selinko: »Desirée«.

Filme: »Nachts auf den Straßen« (BR; Eric Pommer); »Rebecca« (USA. L. Olivier); »Endstation Sehnsucht« (USA. Elia Kazan); »Der Untertan« (DDR, W. Staudte).

Schlager: »Wer soll das bezahlen?«; »Schau mich bitte nicht so an!«

1952 – Deutschlandvertrag und H-Bombe

Erhöhte Spannungen im Verhältnis BR-DDR.

6. Februar: Elizabeth II. Königin von Großbritannien und Nordirland.

26. Mai: BR: Deutschlandvertrag mit den drei Westmächten.

14. August: Lastenausgleichsgesetz (Leistung bis 31. 12. 1968: 70,9 Milliarden DM).

31. Oktober: In den USA erste Wasserstoffbombe erprobt (UdSSR 1953).

5. Dezember: Tägliches Fernsehprogramm im Sendebereich des NWDR, bei ARD seit 1. November 1954.

DDR: Kollektivierung der Landwirtschaft (LPG). – Kasernierte Volkspolizei als Vorbereitung der Nationalen Volksarmee.

Blue Jeans werden in Europa populär.

Beate Uhse gründet ihre Erotica-Versandfirma als »Ein-Frau-Betrieb«.

Bühne: Samuel Beckett: »Warten auf Godot«.

Bücher: Ernest Hemingway: »Der alte Mann und das Meer«; Peter Bamm: »Die unsichtbare Flagge«; Vern Sneider: »Die Geishas des Captain Fisby«; Herman Wouk: »Die Caine war ihr Schicksal«.

Filme: »Rampenlicht« (USA, Chaplin); »Ein Amerikaner in Paris« (USA, Gene Kelly); »Sie tanzte nur einen Sommer« (Schweden, Ulla Jacobsson).

Schlager: »Ich hab’ mich so an dich gewöhnt«.

1953 – »Pack die Badehose ein …«

2. März: 6000 DDR-Flüchtlinge in West-Berlin.

5. März: Josef Wissarionowitsch Stalin gestorben.

17. Juni: Aufstand in Ost-Berlin und in der DDR durch Einsatz sowjetischer Panzer niedergeschlagen.

28. Juli: Walter Ulbricht Erster Sekretär des ZK der SED.

13. September: Nikita Chruschtschow Erster Sekretär des ZK der KPdSU.

B. Frederic Skinner begründet behavioristische Lerntheorie als Grundlage des »Programmierten Lernens«.

James D. Watson und Francis H. C. Crick.: Nukleinsäure-Doppelwendel als Träger der Vererbung (Nobelpreis 1962).

Bücher: Heinrich Böll: »Und sagte kein einziges Wort«; Wolfgang Koeppen: »Das Treibhaus«; Marcel Proust: »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«.

Filme: »Vom Winde verweht« (USA); »Königliche Hoheit« (BR); »Ein Herz und eine Krone« (USA); »Moulin Rouge« (Engl.).

Schlager: »Pack die Badehose ein«; »Ach, Egon. Egon, Egon«.

1954 – Und immer weiter Krieg, Aufstand, Gewalt …

März: Beginn des Algerien-Aufstandes (1. Juli 1962 Unabhängigkeit).

7. Mai: Mit der Kapitulation der Dschungelfestung Dien-Bien-Phu im nördlichen Vietnam endet die französische Kolonialherrschaft in Indochina.

20. September: Mao Tse-tung Staatspräsident der Volksrepublik China.

19.–23. Oktober: Pariser Verträge: BR im westeuropäischen Militärbündnis.

USA-Atom-U-Boot »Nautilus«. – In der UdSSR erstes Kernkraftwerk.

Richard Wright: »Black Power«. – Oberstes Gericht der USA ordnet Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen an.

Paul Niehans: »Die Zellulartherapie«.

BR Weltmeister im Fußball.

Elvis Presley († 1977): Rock ’n’ Roll.

Bücher: Ernst Bloch: »Das Prinzip Hoffnung«; Hugo Hartung: »Ich denke oft an Piroschka«; Thomas Mann: »Felix Krull«; François Mauriac: »Das Lamm«; Theodor Plivier: »Berlin«.

Filme: »Feuerwerk« (BR, Lilli Palmer); »Die letzte Brücke« (BR, Käutner); »La Strada« (Ital., Fellini); »Die Faust im Nacken« (USA, Elia Kazan, Marion Brando); »Brot, Liebe und Phantasie« (Frankr.-Ital., Lollobrigida, de Sica); »Madame de …« (Frankr.-Ital., Max Ophüls, Danielle Darrieux, Charles Boyer, de Sica).

Schlager: »Geb’nse dem Mann am Klavier«; »Ganz Paris träumt von der Liebe«.

1955 – Österreich neutral – Bundesrepublik in der NATO

5. April: Winston Churchill (seit 1951 Premierminister) tritt zurück.

9. Mai: Aufnahme der BR in die NATO.

14. Mai: Warschauer Militärpakt der Ostblockstaaten (DDR 28. 1. 1956 ).

15. Mai: Österreich: Staatsvertrag (26. Okt.: Immerwährende Neutralität).

8.–14. September: Adenauer in Moskau: Aufnahme diplomatischer Beziehungen; Freilassung der letzten Kriegsgefangenen zugesagt.

12. Oktober: Franz Josef Strauß Bundesminister für Atomfragen.

Wasserstoffbomben-Luftschutzübung in den USA: 16 Millionen »Manövertote«.

Bruttowochenverdienst in der BR 1951: 68.52 DM; 1955: 86,85 DM.

Jährl. Alkohol- u. Tabakkonsum i.d. BR: 12 Milliarden DM.

Jonas E. Salk: Schutzimpfung gegen Kinderlähmung.

Internationale Konferenz über Automation.

Erste »documenta«-Kunstausstellung in Kassel.

Bertelsmann-Lesering GmbH in Gütersloh (Bücher, Schallplatten, Möbel usw.).

Bücher: Ilja Ehrenburg: »Tauwetter«; Françoise Sagan: »Bonjour Tristesse«; Hans Egon Holthusen: »Der unbehauste Mensch«; Siegfried Lenz: »So zärtlich war Suleyken«; Hans H. Kirst: »Null-acht-fünfzehn«; Vladimir Nobokov: »Lolita«; Henry Miller: »Plexus« (1949); (»Nexus«, 1949, dt. 1961: »Sexus« 1945, dt. 1970); Werner Keller: »Und die Bibel hat doch recht«.

Filme: »Wenn es Nacht wird in Paris« (Frankr.-Ital., Jean Gabin); »Sabrina« (USA, Audrey Hepburn); »Jenseits von Eden« (USA, E. Kazan, James Dean); »Die tätowierte Rose« (USA, Anna Magnani); »Rififi« (Frankr.).

Schlager: »Arrivederci, Roma!«; »High Noon«.

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1956

Wo einmal nichts war,

war plötzlich alles,

wovon der Mensch hat

so lang geträumt.

Und als das Große

auf ihn so zukam,

hat er das Kleine

dabei versäumt …

Wo gestern nichts war,

stehn heut Fabriken.

Das Wunder Ehrgeiz

hat sie gebaut.

Doch die sie bauten,

die sich was trauten,

haben dieses Wunder

noch nicht verdaut …

Aus einem Chanson der HILDEGARD KNEF

1

»Da ist also dieser Leonardo so ein Riesengenie gewesen – mit Abendmahl und U-Boot und Dampf-Maschinengewehr –, aber das, was irgendein kleiner Japaner fertigbringt, das hat er nicht fertiggebracht, Frau Baronin.«

»Ich habe Ihnen schon tausendmal gesagt, es heißt nur ›Baronin‹ und nicht ›Frau Baronin‹, Herr Formann!«

»Entschuldigen Sie, Baronin, daß ich Frau Baronin gesagt habe, ich denke immer, Frau Baronin ist noch feiner.«

»Was hat der kleine Japaner fertiggebracht, Herr Formann?«

»Na, das da.«

»Wo haben Sie denn diese Postkarte her?«

»Das ist keine Postkarte, Baronin, das ist eine Künstlerkarte! Aus einem Bistro in der Rue Rivoli, bei der Place du Carrousel. Die haben noch haufenweise andere solche Künstlerkarten. Und Sie wissen doch, ich kauf’ mir überall, wo wir hinkommen, Karten von den berühmten Bildern, die Sie mir zeigen, damit ich nichts durcheinanderbringe bei diesen Massen.«

»Also, das ist doch … Das hat doch … Das muß doch verbo …«

»Warum verboten? Ich find’ es lieb. Schauen Sie sich die Künstlerkarte genau an, Baronin! Von vorn, da lächelt die Mona Lisa selig wie eine, die ein großartiges Abführmittel genommen hat, aber wenn Sie sie von rechts oder von links anschauen, dann kneift sie ein Auge zu wie die hübschen Huren hier in Paris!«

»Es ist unfaßbar …«

»Nicht wahr, Frau … eh, Baronin? Und so plastisch! Dieser Busen von der Person! Wie der aus der Künstlerkarte herausknallt! Übrigens, im Vertrauen: Einer von den Portiers im Hotel hat mir gesagt, daß der Leonardo ein Warmer gewesen ist, und die Mona Lisa war gar keine Frau, sondern dem Leonardo sein Lieblingsknäblein.«

»Herr Formann!«

»’tschuldigen Sie, gnädigste Frau Baronin, aber der Portier hat’s wirklich gesagt. Nach neuesten Forschungen soll es feststehen, daß …«

»Und der Busen?«

»Den hat der Vintschi aus dem Gedächtnis gemalt, stell’ ich mir vor, Baronin. Als Maler wird er ja Gott behüte schon einmal einen gesehen haben, auch wenn er ein Warm … pardon … auch wenn er andersrum gewesen ist. Vielleicht in Erinnerung an seine liebe Frau Mama …«

Diese Unterhaltung fand am Nachmittag des 28. Oktober 1956 im weltberühmten Louvre, vor dem Bildnis der Mona Lisa, zwischen Jakob und der Baronin von Lardiac statt. Unter ihrer Leitung absolvierte Jakob seit längerer Zeit Kurse in Malerei, Literatur, Konversation, Geschichte, Musik, Bildhauerei und vor allem in gutem Benehmen.

Die Freifrau hatte ihm der Fertigbauhaus-Ingenieur Karl Jaschke aus Murnau besorgt. Dort war die Aristokratin eines Tages erschienen und hatte sich um den Posten einer Public-Relations-Managerin beworben. Jaschke, in lebhafter Erinnerung an verschiedene peinsame Begebenheiten, die allesamt mit Jakobs universeller Unbildung zusammenhingen, war ans Telefon geeilt und hatte seinen Chef aus einer Konferenz in Hamburg rufen lassen …

»Jakob, hier ist Karl! Ich hab’ was für dich … Paß auf: Da ist gerade eine Baronin bei mir … Ich weiß, du willst von Baroninnen nichts wissen, aber du mußt! … Halt den Mund und hör zu! Also beschäftigen kann ich die Baronin bei mir natürlich nicht … Werbeabteilung wollte sie … aber die hat in ihrem Leben nie einen Finger krumm gemacht … Hat keine Ahnung, was das ist, Arbeit … Nein, eben nicht sofort rausschmeißen, ich habe sie engagiert … Für dich! … Na, wegen deiner Ungebildetheit und deinem schlechten Benehmen … Sei ruhig, jetzt rede ich! Bis zur Währungsreform, und noch ein bißchen danach, da hast du ungebildet sein können noch und noch, und Manieren brauchtest du überhaupt keine zu haben. Das hat sich jetzt aber geändert! Du weißt es selber. Denk an die vielen Leute, die dir vorn ins Gesicht schöntun, und hinten … Wir wissen doch, was die feinen Leute von dir sagen: Emporkömmling … Pülcher … Mit dem Mann kann man nicht verkehren … Der frißt wie ein Schwein … Der redet so ordinär … Na, ist doch aber auch wahr – oder? … So geht das nicht weiter mit dir, Jakob! Du brauchst eine Dame, die dir Benimm und Bildung beibringt! Und die schick’ ich dir jetzt. Hat zwar bloß ein einziges Hemd auf dem Hintern, aber einen Stammbaum, der geht zurück bis zu Kaiser Friedrich Lobesam … Hast natürlich keine Ahnung, wer das war … Ach, Mensch, mach kein Theater, ich kenn’ dich doch! Bis zu diesem Friedrich also! Oder in der Gegend da … Warte, sie hat mir ihre Papiere mitgebracht. Ich lese dir mal was vor … Also, sie nennt sich Très noble et très puissante Dame Baronesse de Lardiac, Dame Haute-Justicière … Ach so, du kannst ja nur zehn Wörter Französisch … Ruhe! … Hör dir mal diesen Titel an, ich übersetze: Sehr Edle und Sehr Mächtige Frau Baronin von Lardiac, Edle Frau und Gerichtsherrin von Valtentante, erbliche Palastdame am Hof von Jerusalem zufolge des Privilegs, verliehen der sehr ruhmreichen Familie Lardiac durch Kaiser Friedrich den Zweiten, späterhin König von Jerusalem … Was? … Wie … Nein, ich bin nicht meschugge! Du, du machst mich meschugge, Mensch! Weißt du, wann der Lobesam König von Jerusalem gewesen ist? Zwölfhundertungerade, sagt sie!Nach Christi Geburt, Trottel! Jetzt steht dir deine Schlabberschnauze still, was? … Wie? … Was heißt: Wieso König von Jerusalem? … Junge, hast du vielleicht schon mal was von den Kreuzzügen gehört? … Ja? Na, ich glaube es ja nicht, aber bitte … Also der Lobesam, der hat so einen Kreuzzug gemacht … was weiß ich der wievielte, und er hat sich selber zum König von Jerusalem gekrönt! Sagt sie! – So eine finden wir nie wieder! Ich habe sie ganz preiswert geschossen, Jakob! Monatsgehalt und Spesen … Herrgott, ja, Krankenkasse und Angestelltenversicherung, alles klar … Aber die wird ja nicht ewig bei dir … Was? … Wie? … Ich bin ganz normal! … Entlassen? Kannst du ja gar nicht! Wir sind Fifty-fifty-Partner! Hör auf zu brüllen, Mensch! … Die Edle Frau kommt heute abend um zweiundzwanzig Uhr sechsundzwanzig am Dammtor-Bahnhof in Hamburg an. D-Zug aus München! Mach bloß, daß du zum Empfang da bist. Was? … Ja … Nein … Ja … Nein … Ja! Danke könntest du auch wirklich mal sagen, verflucht!«

An jenem Abend war die Edle Frau dann am Hamburger Dammtor-Bahnhof eingetroffen. Jaschke hatte sie noch genau beschrieben, und Jakob erkannte sie gleich. Lautlos wüst fluchend machte er einen tiefen Diener, als er ihr gegenüberstand.

»Habe die Ehre, Frau Baronin …«

Können wir wieder mal ein Weib vollkommen neu einkleiden, dachte er. Und tat es. Danach blinzelte er ungläubig. Die sah prima aus! Groß, schlank, gut gewachsen, schwarzes Haar und schwarze Augen, Anfang der Vierzig, also einfach edel! So etwas von edel hatte die Welt noch nicht gesehen! Nach ein paar Wochen rief Jakob seinen Freund Jaschke an und bedankte sich …

»Alle bewundern die Edle!«

»Na bitte! Und daß du sie mir ja immer überall mit hinnimmst!«

»Klar. Glaubst du, daß man so was, wo bis zwölfhundertleipzig und einundleipzig zurückgeht, aufs Kreuz … Ich meine … Denkst du, sie hätte was dagegen?«

»Frag sie doch.«

Jakob hatte gefragt. Die Edle hatte etwas dagegen. Sie wollten nur gute Freunde sein, sagte sie. Und begleitete Jakob fortan auf allen Reisen, um ihm Benimm und Bildung beizubringen. Und das war wirklich nötig. Jakob sah es ein.

Früher, 1946, als abgerissener Civilian Guard und Ia-Nebbich, hatte man sich doch ganz anders aufführen können als jetzt, zehn Jahre später, besonders wenn man Jakob Formann hieß, weltbekannt war und Multimillionär. Da mußte man schon anständig essen und trinken können und wissen, wer Baruch de Spinoza gewesen war und wer Sigmund Freud und wer Debussy! Und reden können mußte man auch über all dies, und zwar so verblasen und idiotisch unverständlich wie möglich. Denn man kam immer wieder mit den Großen dieser Erde zusammen und immer wieder mit denen aus der ach so provisorischen Hauptstadt Bonn, wo Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister bestaunt wurde, der mit der ›Sozialen Marktwirtschaft‹, der jetzt schon einen geradezu legendären Ruf als ›Vater des deutschen Wirtschaftswunders‹ besaß.

»Und jetzt, Baronin«, sagte Jakob, mit dem Zeigefinger weisend (was man nicht tun soll), »schauen Sie sich den Schinken da an der Wand an! Den Unterschied möchte ich Lessing spielen können! Der kleine Japaner ja, aber der große Leonardo da Vinci, nein, der hat das nicht fertiggebracht, daß die Mona Lisa auch gleich so plastisch ausschaut und so bewegliche Gesichtszüge hat! Ich will Ihnen mal sagen, was ich glaube: Diese ganzen alten Meister werden irrsinnig überschätzt! Und mir tun die Füße weh!«

Das ignorierte die Edle.

»Geben Sie mir sofort die Karte, Herr Formann«, sagte sie energisch.

»Ich denke nicht daran!«

»Sie werden sie mir auf der Stelle geben!«

»Wenn Sie weiter so mit mir rummachen, schmeiße ich Sie raus, Baronin«, murrte Jakob. »Wie reden Sie denn mit mir! Bin ich bei Ihnen angestellt, oder sind Sie bei mir angestellt?«

Die Edle maß ihn von oben bis unten, sehr langsam, mit einem unendlich verachtungsvollen Blick. Palastdame am Königlichen Hof zu Jerusalem … Eiweh!

»Wie oft haben Sie schon gesagt, daß Sie mich entlassen werden, Herr Formann? Und wie oft haben Sie es dann nicht getan?«

Jakob senkte das Haupt.

Das stimmt, dachte er. Weiß Gott, wie oft habe ich es gesagt! Getan? Getan habe ich es nie! Warum nicht? Also, ganz ehrlich: Weil mir das Weib imponiert! Diese Haltung! Diese Würde! Dieses – na, eben dieses Edle einfach. Jawohl, das alles imponiert mir! Und ich würde die Edle doch so gerne flirten. Aber das läßt sie sich nicht. Verflucht, und das imponiert mir auch!

»Hier, bitte«, sagte Jakob Formann, charmant lächelnd, und überreichte die Karte. Mir selber kann ich es ja gestehen, dachte er dabei: Ich bin nicht mehr der alte Jakob, der ich einmal gewesen bin. Langsam und immer mehr werde ich sogar stolz auf den Umgang mit den feinen Leuten!

Die Baronin nahm die Karte.

»Das ist obszön«, sprach sie dazu. »Das ist ein Sakrileg, Herr Formann. Das ist … Lästerung! Wenn wir fortgehen, werde ich dieses … Ding vernichten. Das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa bewegt seit Jahrhunderten die größten Geister der Welt.«

Entweder etwas ist ein Sakrileg bei ihr, oder es ist obszön, dachte Jakob. Ihre Lieblingsausdrücke. Ich habe nachgeschaut im Wörterbuch (auf einmal habe ich einen Haufen Wörterbücher, den ich mit mir herumschleppe), was das heißt.

Also ein Sakrileg ist ein Vergehen gegen geweihte Personen und Dinge der katholischen Kirche (aber der Edlen ist es piepegal, ob es sich da um was Katholisches oder Evangelisches oder Jüdisches oder Kommunistisches oder um Austern handelt), und obszön ist lateinisch und heißt soviel wie unanständig, schmutzig oder schamlos.

Der Jaschke hat ganz recht gehabt. Es ging nicht so weiter mit mir! Ich weiß genau, was die Hunde, mit denen ich arbeite, hinter meinem Rücken reden! Neidisch sind sie! Neidisch, ja, diese Scheißbankiers und Wirtschaftskapitäne. Die können eine so edle Dame nicht mit sich führen! Das ist schon was, was ich da habe an der Baronin, ah ja!

»…der Sinn des Bildes«, klang der Edlen Stimme an Jakobs Ohr, »ist begreifbar, wenn man sich mit Leonardos figurativen Motiven im Zusammenhang mit seinen wissenschaftlichen Studien befaßt …«

Herrgott, meine Füße. Aber ich muß aufmerksam zuhören. Schließlich geht es um meinen Krieg! Und den gewinne ich nur mit Bildung und mit den feinen Leuten als Freunden, nicht ohne Bildung und nicht mit den feinen Leuten als Feinden. Ein Jammer, daß meine Edle sich nicht flirten läßt. Weil, die ist nämlich lesbisch.

»… zu der Zeit, als Meister Leonardo seine Mona Lisa malte, wandte er sich gegen die im fünfzehnten Jahrhundert vorherrschende Raumauffassung …« Verflucht, tun mir die Füße weh von dieser Herumrennerei. Gleich zieh’ ich mir die Schuhe aus! Das ist ja ein Mordsding, der Louvre! Immer das gleiche mit diesen elenden Museen. Um die halbe Welt bin ich mit der Edlen geflogen, auf meinen Geschäftsreisen. Petöfi-Irodalmi-Museum in Budapest, Walker Art Center, Minneapolis. Die Albertina in Wien. Metropolitan Museum, New York. Uffizien, Florenz. Grünes Gewölbe, Dresden. Corcoran Gallery of Art in Washington. (Da bin ich besonders oft hingekommen.) Eremitage in Leningrad. Sixtinische Kapelle im Vatikan. Großer Gott, bin ich herumgeflogen in diesen letzten Monaten! Allein die Museen, in die mich die Edle geschleppt hat! Soviel Kultura! Das hat sie gar nicht fassen können, hehe, meine Edle, wie freundlich sie mich mit ihr in die Sowjetunion reingelassen haben und nach Dresden. Uns Westler! Und sie noch dazu eine Aristokratische von anno Dutt. Jakob Formann kommt überall rein! Überall ist man freundlich zu Jakob Formann, in West und Ost! Sie hat natürlich wissen wollen, was ich mit Rußland für Geschäfte mache, die Edle. Habe ich ihr natürlich nicht verraten. Habe nur leichthin geantwortet: »Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus, Baronin.« Na, und das stimmt aber auch wirklich! Ich bin immer zwei Schritte voraus. Nicht nur der Zeit! Auch allen anderen Menschen!

In der Sixtinischen hat sie einen Verwandten getroffen, so einen Violetten. Ein ganz hohes Tier …

»…ließ Leonardo schon die traditionelle Aufteilung der Horizontalen durch strahlenförmig konvergierende Linien« (Ich verstehe kein einziges Wort, aber konvergierend, das muß ich mir merken, so was macht immer starken Eindruck!) »beiseite, desgleichen die Unterordnung der einzelnen Elemente unter einen Fluchtpunkt …«

Apropos Fluchtpunkt, dachte er. Da habe ich doch von der Edlen ein Buch verpaßt gekriegt von einem gewissen Poe, da steht eine Geschichte drin, in der suchen Polizisten wie verrückt einen Gegenstand in einem Zimmer. Sie finden ihn nicht, weil er nämlich mitten auf dem Tisch liegt, überhaupt nicht versteckt. Die hat mir großen Eindruck gemacht, diese Story. Seither wohne ich wieder im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS. Wie vor neun Jahren mit der Laureen, dem süßen Werwolf. Wäre ich woanders hingegangen, wäre vielleicht was passiert, einer hätte mich angesprochen, daß ich einem Mr. Fletcher so ähnlich sehe oder so. Im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS? Keine Spur. Haben den Fletcher und seine Frau längst vergessen! Niemand hat mich wiedererkannt. Großer Mann, dieser Poe. Immer mitten auf den Tisch! Und ich finde das HÔTEL DES CINQ CONTINENTS SO gemütlich. Sie gibt mir einen Haufen Bücher, meine Edle. Da ist viel Interessantes darunter, ach ja …

»… und setzte an ihre Stelle die Abstufungen durch Licht und Farbe …«

2

Es war schon dunkel, als die Edle Frau und Jakob den Louvre verließen. (Und zwar natürlich durch den Haupteingang im Pavillon Denon, wie jeder Gebildete weiß.) Ein dunkelblauer Rolls-Royce wartete hier. Der livrierte Chauffeur riß die Mütze vom Kopf und den Schlag auf. Jakob schüttelte ihm die Hand.

»Tut mir leid, daß es so spät geworden ist. Aber wir sind beim Raffael hängengeblieben. Raffael scheint im Louvre die Majorität zu besitzen.«

»Macht doch nichts, Jakob, ich bitt’ dich!« sagte der Chauffeur Otto Radtke aus Duisburg, verstaute behutsam seine Fracht, setzte sich hinter das Steuer und wandte den Kopf.

»Ins Ssäng Kongtinangs?«

»Ins CINQ CONTINENTS, ja«, sagte die Edle eisig und drückte auf einen Knopf. Summend glitt eine dicke Glasscheibe zwischen dem Fahrer und den von ihm Gefahrenen hoch.

»Was ist jetzt wieder los?« fragte Jakob.

»Ihr Benehmen.«

»Was, mein Benehmen?« Der Rolls fuhr an.

»Ist unmöglich, Herr Formann. Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß Sie Ihren Angestellten nicht die Hand geben und sich nicht plump-vertraulich mit ihnen duzen dürfen?«

»Und wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich den Otto seit dem Scheißkrieg …«

»Herr Formann! Ich muß doch sehr bitten! Keine obszönen Ausdrücke in meiner Gegenwart!«

Das ist vielleicht ein Spielchen zwischen uns beiden, dachte Jakob und fuhr aggressiv fort: »… seit dem Scheißkrieg kenne und ich ihm geholfen habe, wie er …«

»Als er!«

»Als er, wie bitte?«

»Es heißt nicht ›wie er‹, sondern ›als er‹.«

»… als er bei Orel verwundet worden ist, und wie er mir dann nach dem Krieg im Hafen von Antwerpen geholfen hat, wie wir die Präservative verschoben haben …«

»Herr Formann!« sagte die Edle noch eisiger (so eisig, wie es in Orel gewesen ist, dachte Jakob), »wenn Sie noch ein einziges Mal ein derart schmutziges Wort in den Mund nehmen, kündige ich auf der Stelle!«

Jakob erlitt einen kurzen Lachkrampf.

»Hahaha … komisch!«

»Was finden Sie denn so komisch, Herr Formann?«

»Einmal kündigen Sie, einmal kündige ich! Konsequenzen ziehen Sie nicht und ich nicht. Also wenn das nicht komisch ist, hahaha … Sie finden es nicht komisch, wie?«

»Nein«, sagte die Edle.

Na ja, dachte Jakob, das ist eben jahrhundertealte Kultur. Wenn ich es mir recht überlege: Es ist ja auch wirklich nicht komisch, sondern ich bin nur leicht zu erheitern. Zu leicht! Schon ein Glück, daß ich die Edle habe, wahrhaftig, dachte er, und lenkte schnellstens ab. »Rolls-Royce, Baronin – der beste Wagen, wo gibt!«

»Den es gibt!«

»Also, ich werde doch noch wissen, wo es Rolls-Royce gibt!«

»Es heißt nicht ›wo es gibt‹, sondern, ›den‹ oder ›die‹ oder ›das es gibt‹, Herr Formann.«

»Natürlich. Reine Nervosität von mir. Ich schwöre Ihnen, das habe ich gewußt! Sind wir wieder gut?«

»Es sei«, sagte die Edle kühl.

»Ich habe natürlich den ersten Rolls gekriegt, wo nach Deutschland geliefert wurde!« schwärmte Jakob.

»Der!«

»Ja, natürlich der da! Habe auch den ersten Porsche gekriegt! Den fährt jetzt mein amerikanischer Plastik-Experte, Frau Baronin!«

»›Frau Baronin‹ sagen die Domestiken. Sind Sie ein Domestike, Herr Formann?«

»Was ist ein Domestike?«

»Sie wissen nicht, was ein Domestike ist?«

»Sonst würde ich Sie nicht fragen!«

»Ein subalternes Geschöpf. Ein Hausangestellter!«

»Ich danke, Baronin.«

»Im Ernst, Herr Formann: Wenn Sie wenigstens bessere Manieren bekommen und ein halbwegs intaktes Savoir-vivre …«

»Perfektes Sa …«

»Savoir-vivre!« kreischte die Edle. »Wenn Sie das nicht kriegen – ich habe Ihnen fünfzigmal erklärt, was das ist, zum einundfünfzigsten Mal erkläre ich es Ihnen nicht –, dann nützt Ihnen Ihr ganzes Geld nichts, dann sind Sie in kürzester Zeit bei allen wirklich seriösen Leuten unten durch!«

Die Baronin seufzte abgrundtief.

»Was haben Sie denn? Warum seufzen Sie denn so, Baronin?«

»Wann werden Sie wenigstens endlich anständig essen gelernt haben? Damit quäle ich mich nun auch schon eine Ewigkeit herum! Und Ihre Fortschritte, Herr Formann, sind kläglich! Wir essen im CINQ CONTINENTS natürlich im Salon unserer Appartements. Im Restaurant kann man Sie immer noch nicht vorzeigen.«

Bumms, da haben wir es. Fressen im Salon.

3

Saumon fumé d’Écosse

Toast Réjane

*

Oxtail en tasse

Paillettes dorées

*

Pojarski de Veau ›Princesse‹

*

Haricots verts Fine Fleurs

*

Soufflé Glacé aux Framboises et Sa Garniture

Plâteau de Friandises

*

Demi-tasse Moka

*

Champagne

Pommery & Greno Brut

Tja, das liest sich, was? Schick liest sich das, wie? Schaut auch schick aus. Dickes gelbes Bütten. Erstklassiger Druck. Was Sie wollen. Das Wasser läuft Ihnen im Munde zusammen, wenn Sie das lesen! Mir auch. (Jakob Formann denkt.) Wenn ich auch nur Räucherlachs und Ochsenschwanzsuppe verstehe. Abendmenu des HÔTEL DES CINQ CONTINENTS vom 28. Oktober 1956. Und hier beginnt die Tragödie, verflucht und zugenäht. Nämlich:

Ich komme also vom Louvre zurück ins Hotel. In der Halle können sie sich alle wieder nicht fassen, die bei der Reception, die Portiers. (Wie seinerzeit, als ich Mr. Fletcher war und mit Laureen herkam.) Diesmal noch mehr. Inzwischen kennt mich nämlich wirklich die ganze Welt, und von der Edlen Ahnengalerie wissen sie alle, daß es die schon zwölfhundertlobesam und so weiter. Haben sie im Gotha nachgelesen. (Ich finde mich mit dem Ding nicht ums Verrecken zurecht – die Portiers schon!) Ein Geschisse ist das …

Mir hängt der Magen bis zu den Knien. (Jakob Formann denkt noch immer.)

Wenn Sie aber glauben, es gibt gleich was zu fressen, dann haben Sie sich geirrt. Also zunächst mal rauf in unsere Appartements. Die teuersten und größten und feinsten natürlich. Die Dings, die Edle, hat eines, Bad, Umkleideraum, Schlafzimmer, kleiner Salon. Ich dasselbe. Dazwischen: ein Riesensalon! Bei mir alles in Nachtblau, bei der Dings alles in Kaisergelb. Seidentapeten, Lüster, na ja.

»Wir dinieren oben …«

»Sehr wohl, gnädigste Frau Baronin …« (Der da, der darf ›Frau‹ sagen, der Staubgeborene. Ich nicht. Nicht mehr! Obwohl ich auch ein Staubgeborener bin – äh, war!)

Also rauf. Zuerst nimmt man natürlich ein Bad. Das ließe sich zur Not noch ertragen. Ab und zu nehme ich so auch eines. Man muß sich hin und wieder waschen, dazu brauche ich keine Edle. Aber nicht gerade vor dem Fressen, wenn mir der Magen knurrt! Ich nehme also eines, sie nimmt eines. Jeder in seinem Appartement.

Tenue de soirée hat sie befohlen. Was willst du machen? Ein Mann wie ich muß sich umziehen vorm Fressen! Aber nicht etwa, daß ein anderes Hemd und ein anderer Schlips und ein anderer Anzug genügte. Haha! (klingt hohl, mein Gelächter, wie?) Ein Smoking muß her! Jawohl! Jeden verfluchten Abend, den Gott werden läßt, muß ich mich in einen Smoking schmeißen. Fünfe habe ich. Lackschuhe. Seidensocke. So ein Dreckshemd mit Rüschen vorn und an den Manschetten, wo man die Knöpfe fast nicht zukriegt. Jaja, wir Großen! Wenn die Kleinen nur wüßten, wie gut es ihnen geht. Keinen Schimmer haben sie! In die Manschetten natürlich Brillantknöpfe. Die habe ich erst aus dem Hotelsafe raufholen müssen. Und der Edlen ihre Klunker auch. Die Fliege. Schwarz. Hinten zum Zuhaken. Würgen einem die Luft ab. Vor dem Anziehen natürlich noch rasieren. So vergeht denn ein Stündlein. Bei der Edlen vergehen zwei. Mir knurrt der Magen. Ich habe schon Halluzinationen. Dauernd sehe ich ein Wiener Schnitzel. Dann sitze ich endlich in meinem kleinen Salon (›klein‹ ist gut!) und blättere in einer Zeitung. LE MONDE. Ich verstehe kein Wort. Aber es lenkt ab. Einen Dreck lenkt es ab! Jeden Abend dasselbe. Nebenan, im großen Salon, rumpeln sie jetzt alles zurecht. Drei Mann. Ein Maître d’Hôtel. Zwei Kellner. Tür auf.

Da steht die Edle. Abendkleid aus rotem Seidenchiffon. Geschminkt. Gepudert. Aufgedonnert. Familienschmuck. Tinnef, wenn Sie mich fragen. Aber überall kleine Kronen drauf. (Das Schnitzel, das es nicht gibt außer in meinem Hirn, wird immer größer.)

Na also, dann wollen wir mal.

Drei Lüster im großen Salon. Sechs Wandleuchter. Alles strahlt. Eine Verschwendung ist das! Und in China haben sie zuwenig Reis. Begrüßungsballett der Kellner. Nette Kerle. Möchte ihnen so gern die Hand geben oder ein Wort mit ihnen wechseln. Darf ich aber nicht. Keine einzige Hand. Kein einziges Wort. Die Edle ist auch stumm. Sie gibt nur Zeichen.

Der Tisch, den sie hereingerollt haben, die armen Hunde, sieht aus wie jeden Abend. Schwere Damastdecke. Silberne Unterteller, funkelnd. Darauf Spitzendeckchen. Sogenannte ›Klapperdeckchen‹. Damit die anderen Teller auf ihnen nicht klappern. Das Besteck auch aus Silber, auch funkelnd. Zwei Silberleuchter, jeder dreiarmig, am meisten funkelnd. Tür auf. Kommt noch eine Schöne im Abendkleid herein. Schmuckbehangen. Geschminkt. Fünfundzwanzig. Blond. Rosig. Kulleraugen. Mensch, immer diese Brustwarzen! Überall stechen sie durch. Auch jetzt.

Alles dienert. Madame la Contessa …

Die zieht mit uns herum. Wohnt immer im selben Hotel. Frißt immer mit uns. Das hat die Edle im Vertrag zur Bedingung gemacht. Weil dies ihre Nichte ist. Eine Italienerin. Claudia Contessa della Cattacasa. Auch uralter Adel. Der ihre Vorfahren haben, höre ich, schon die Schlacht von San Romano gewonnen. Oder verloren. Im Jahre … Vergessen. Ich kann mir doch nicht alles merken! Nur: So etwas schmückt unsereinen natürlich ungeheuerlich. Gleich zwei Aristokratinnen an meiner Seite! Ich sehe doch täglich, wie die blöden Hunde alle fast zerspringen und ganz gelb werden vor Neid! Und Mercedes-Benz sind um sieben Punkte gestiegen, und Pharma-Aktien blühen.

Handküsse. Nur angedeutete! Haben wir wochenlang geübt, die Edle und ich. Man darf nicht steif in der Mitte durchknicken und so eine Damenhand einfach abschlecken. Die Dame muß sie einem ein wenig entgegenheben. Diese Claudia aber auch! Manchmal tut sie’s, manchmal tut sie’s nicht. Die kann mich nicht leiden. Immer ist dieses kleine Aas dabei. Sie flirten trau ich mich nicht, obwohl die mich absichtlich quält mit ihren Brustwarzen. Aber bezahlen darf ich. Alles. Na also, nicht die Hand zart entgegengehoben. Mußte ich ganz tief runter. Strafender Blick von meiner Edlen. Wieder den Rücken zu tief geknickt, ich weiß, ich weiß. Wie soll ich denn an die Hand von der Contessa rankommen, wenn die sie unten läßt. Herrgott, ist das ein Affentheater! Aber es muß sein, es muß sein. Wir Großen leben eben in einer anderen Welt. Der Edlen schiebe ich den vergoldeten Sessel unter den Hintern, der Comtesse schiebt einer von den Kellnern einen unter. Und wie gern tät’ ich der noch ganz was anderes unterschieben! Dann darf ich mich setzen. Und jetzt geht’s los!

Augenzeichen von der Edlen. Der Maitre d’Hôtel dreht nach und nach alles elektrische Licht ab. Einer der Kellner zündet alle Kerzen in den Leuchtern an. Kitschiger geht’s nicht. Ob die nach der Schlacht von San Romano, als der Lobesam sich selber zum König von Jerusalem krönte (eine Chuzpe!), auch schon so gefressen haben? Bestimmt nicht! Alles mit die Finger. Hrm.

Den Fingern, Jakob!

Der Maître d’Hôtel gibt Anweisungen, leise, kurz, scharf. Die Kellner kommen auf Touren. Sie haben weiße Jacketts und schwarze Hosen und schwarze Fliegen. Der Maître ist im Frack und macht ein Gesicht, als ob ich gerade gestorben wäre. Oder er.

Teller wieder weg! Neue Teller.

Der Lachs wird serviert. Gott sei Dank. Brötchen und Butter auf dem Tisch. Will mir eins greifen. Blick der Edlen. Herrje. Darf ich nicht. Wozu liegen die Brötchen dann aber da? Ah, ich muß den ›Toast Réjane‹ nehmen, den sie mir offerieren! Ich mag aber keinen Toast. Doch ich muß! Ich mag auch keine Zitrone auf’n Lachs. Ich muß aber. Na, dann fangen wir also an! Das Elend, das jetzt kommt, kenne ich. Nach ein paar Bissen nimmt mir ein Kellner auf einen Wink von der Edlen den Teller wieder weg. Nur ein paar Bissen darf man von jeder Speise essen. Mehr essen, sagt die Edle, ist obszön. Na, da stopfe ich mir eben Riesenbissen ins Maul. Prompt trifft mich der angeekelte Blick von der Edlen. Und noch ein zweiter angeekelter. Von der Contessa. Also, du kleines Biest, dich würde ich ja liebend gerne einmal, daß du die Engelein singen hörst …

Wusch – weg der Lachs. Brötchen und Toast gleich mit. Da hätte ich mir wenigstens etwas den Magen füllen können. Nix zu machen. Die hat wieder ein Zeichen gegeben, die Edle. Abräumen!

Verdammte Sauerei!

Fast unhörbar befiehlt der Maître. Der steckt, das könnt’ ich schwören, unter einer Decke mit der Edlen. Nachher frißt er all die guten Sachen ganz alleine. Die Kerzen flackern. Natürlich kriege ich einen Tropfen heißes Wachs auf die Hand. Geschieht mir ganz recht. Ich habe ja mit Gewalt ein feiner Mann werden wollen! Ich habe ja auch meinen Krieg gewinnen wollen! Und das will ich noch immer! Und so darf ich mich nicht beklagen. So muß denn alles so sein …

Von dem Champagner habe ich natürlich auch nichts. Den saufen die Weiber. Meine Edle hat ihn gekostet und für gut befunden. Gerne weist sie auch Flaschen zurück. Wegen dem Kork. Sagt sie. Die schwindelt! Die Pullen säuft auch der Maître, davon bin ich überzeugt. Ich darf mein Perrier saufen. Eisstückchen drin. Die Damen haben ihren Pommery. Das kluckert vielleicht bei denen. Und nun unterhalten sie sich.

Eine Unterhaltung ist das …!

»Dior kann man heuer nicht tragen, Liebste. Ihm ist aber überhaupt nichts eingefallen.«

»Nur Emilio Schuberth!«

»Da hast du recht, liebste Claudia. Aber. In Italien sind die Stoffe so schlecht.«

»Leider, Tantchen, leider. Die Stoffe sind in Paris besser. Aber Schuhe! Schuhe nur aus Italien!«

»Selbstverständlich, Claudia! Seit Jahren! Bei Ferragamo in Florenz. Der hat meine Gipsfüße. Ich brauche nie zur Anprobe, er schickt mir die fertigen Schuhe. Und die passen wie angegossen.«

»Ferragamo ist einsame Spitze. Meine Gipsfüße stehen natürlich auch bei ihm. Direkt neben denen der Herzogin von Windsor.«

»Meine zwischen der Prinzessin Trubetzkoj und Lady Vanderbilt! Und Herrn Formanns Gipsfüße stehen unter Winston Churchill und über Frank Sinatra.«

»Nein!«

»Aber ja doch!«

»Nein! Nein! Nein! Sag, daß das nicht wahr ist, liebstes Tantchen!«

»Es ist wahr, Claudia. Wie, Herr Formann?«

Ich habe keine Zeit zu antworten. Ich muß sehen, daß ich wenigstens von der Ochsenschwanzsuppe ordentlich … Aber unsereins hat kein Glück. Ein Wink der Edlen. Ein Zischen des Maître. Weg die Schale. Mensch, und das war eine Terrine voll! Da kann der seine ganze Familie sattkriegen. Und die Schuhe von dem berühmten Ferragamo drücken mich. Zuviel rumgelaufen heute.

Pojarski de Veau ›Princesse‹.

Ja, einen Dreck! Sechs Bissen, von den Haricots verts nicht mal vier Gabeln voll. Wink. Zischen. Weg!

Die Edle lächelt dem Maître zu. Die beiden verstehen sich, das hab’ ich ja gewußt.

Dieselbe Gemeinheit mit dem Soufflé aux Framboises! Wo ich so gerne Himbeeren esse!

»…also wenn das keine Mesalliance ist, Liebste! Ich bitte dich: Er direkt vom Sonnenkönig, und sie eine ehemalige Barfrau!«

»Obszön! Du wirst sehen, wie man die Person schneidet, Claudia!«

»Liebesheirat! Lachhaft! Er hat doch keinen müden Franc mehr …«

»Aber die ehemalige Barfrau, die hat geerbt! Und wie! Und jetzt die beiden … Ein Sakrileg …«

»Du sagst es! Also, für mich ist Jocelyn gestorben!«

Von dem winzigen Mokka werde ich auch nicht mehr satt …

»In Longchamps, beim Rennen, hat man sie beide schon geschnitten!«

»In der Tat, Claudia?«

»In der Tat! Und weißt du, wo sie jetzt arbeiten läßt? Ich habe es herausbekommen! Aber du darfst es keiner Sterbensseele … Ich kann es dir nur ins Ohr … Hören Sie weg, Herr Formann …«

Einen Charakter wie eine Klosettschüssel hat diese italienische Contessa! Wahrscheinlich ist die nicht mal gut zu stemmen. Aber blaublütig eben, blaublütig!

Rrrrmmmm!

»Herr Formann!«

»Das war nicht ich, Baronin! Das war bloß mein Magen …«

»Das … das ist ja … Wie konnten Sie bloß …«

Ach was, leckt mich doch alle miteinander …!

Jetzt noch eine halbe Stunde durchhalten und dann …

Es gibt für alles eine Grenze! Ich werde Otto mitnehmen. Nein, heute nicht. Heute gehe ich allein. Heute fühle ich mich in der Einzahl. Ich werde ein Taxi nehmen. O Gott, schon wieder mein Magen!

4

Die Kellnerin Claudine Aubert war eine gesunde, bildhübsche Person von bäuerlicher Herkunft, aus dem Departement Maine-et-Loire. Niemals in ihrem bewegten Leben war sie auch nur einen einzigen Tag lang krank gewesen. Eines Nachts allerdings hatte sie geglaubt, verrückt zu sein. Das war die Nacht vom 14. April 1956 gewesen.

In der Nacht vom 14. April 1956 – die glutäugige Claudine mit dem Katzengesicht und dem aufregend-üppigen Körper dachte, sie würde das Datum nie vergessen (sie war eben noch sehr jung und wußte nicht, daß alle Dinge vergessen werden nach einer kleinen Weile) – hatte ein Mann die Boîte de cul betreten, in der sie arbeitete.

Boîte heißt im Französischen soviel wie Schachtel, Büchse, Dose, Kapsel, kleines Theater, Briefkasten, Penne, Bude, Kasten, Lokal. Boîte de nuit ist durchaus nichts Ehrenrühriges. Boîte allein kann nämlich auch Stampe, Beisel, Stehbierausschank, Kneipe heißen; folglich ist Boîte de nuit ein Nachtlokal. Boîte de cul hingegen ist ehrenrührig, wird aber nicht immer so empfunden. Cul heißt nämlich Arsch. Man kann auch sehr freundlich Arsch sagen.

Die Boîte de cul AU JAUNE CHIEN (›Zum Gelben Hund‹) liegt im Zwanzigsten Arrondissement von Paris. Dieser zwanzigste Bezirk heißt Belleville, und dieser Name ist reiner Hohn, denn Belleville ist sozusagen das Arrondissement de cul von Paris. Was man so Nachtjackenviertel nennt oder Glasscherbenviertel. Das Letzte. Das Allerletzte. Das Häßlichste. Der Arsch von Paris. Natürlich, wie es so der Brauch ist, reserviert für Proletarier, alte Leute, kranke Leute, arme Leute, Schwarze, Juden und Araber.

Den Namen der Straße, in welcher sich der ›Gelbe Hund‹ befindet, verschweigen wir – man hat uns innig darum gebeten. Wir wollen nicht noch mehr Unglück über die armen Teufel von Belleville bringen, auf keinen Fall!

Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war Claudine Aubert eine Frau von großer Erfahrung und mit einem großen Herzen. Deshalb nahm sie sich auch sogleich des Mannes in dem viel zu feinen Anzug (er trug sogar eine Krawatte) an, der in der Nacht vom 14. April 1956, gegen 23 Uhr, in den ›Gelben Hund‹ kam. Hier ging es zu wie immer. Die Huren plauderten mit ihren Luden, ein paar Araber mit ein paar Arabern und ein Jude mit einem andern Juden. Es waren auch ein paar ältere Arbeiter da. Sie standen an der Theke und tranken billigen Rotwein oder einen ›Kleinen Weißen‹, sie saßen an grob zusammengehauenen Holztischen auf grob zusammengehauenen Bänken und aßen Saucisses avec pommes frites. Das war das Billigste. Saucisses sind Würstchen.

Der viel zu feine Mann war Ausländer, das erkannte die erfahrene Claudine auf den ersten Blick. Er lächelte hilflos, grüßte nach allen Seiten, setzte sich dann und hielt einen Zeigefinger auf die Seite eines aufgeschlagenen Wörterbuchs.

Claudine las laut und verständnislos: »Graisse …«

»Oui«, sagte der junge Mann. (Netter Kerl, dachte Claudine, was der hier wohl macht?) »Oui, oui! Avec pain … Pain de graisse … viel … beaucoup … compris?« Claudine verstand nicht und gab das durch Kopfschütteln bekannt. »Brot! Pain! Nicht verstehen?« Kopfschütteln. »Mais oui, mais oui, mais oui!« rief der Herr, nun schon in gelinder Verzweiflung.

»Mais non, mais non, Monsieur«, antwortete Claudine. Andere Gäste mischten sich ein. Die Araber fragten den Herrn, ob er an Vierzehnjährigen interessiert sei. Garantiert jungfräulich, männlich oder weiblich oder beides. Die Huren schminkten die Lippen und schoben die Röcke zurück. Ein Jude fragte angstvoll: »Du Deutscher?«

Jakob Formann antwortete: »Österreicher!«

»La même chose«, sagte der Jude. Dann sagte er noch allerhand (Jakob glaubte das Wort ›Gestapo‹ zu verstehen) und verließ mit seinem Freund in Hast den ›Gelben Hund‹.

Der Fremdling wies auf ein anderes Wort in seinem Dictionnaire. Geradezu flehend sah er Claudine an, neben der jetzt auch der verfettete Wirt aufgetaucht war.

Wirt und Claudine lasen: ›creton‹. Das heißt: Der Wirt, der weitsichtig war und Kleingedrucktes schwer lesen konnte, las zuerst ›cretin‹, geriet in Wut, wollte den Herrn hinauswerfen und mußte erst von Claudine und ein paar vernünftigen Arbeitern, die ihre Würstchen aßen, besänftigt werden.

Einer der Arbeiter hatte endlich eine vernünftige Idee.

»So kommen wir nicht weiter, Louis«, sagte er zu dem fetten Wirt. »Geh nebenan und läute Emile raus.«

»Um die Zeit? Mensch, der haut mir die Fresse ein!«

»Sag ihm, ein Deutscher ist da. Dann wird er kommen. Er ist doch auch Deutscher.«

»Merde alors«, sagte Louis, der Fette, und ging auf die Straße.

Nebenan gab es einen kleinen Metzgerladen. Nach fünf Minuten kam der fette Louis mit einem dünnen Mann im Schlafanzug und einem Mantel darüber zurück.

»Was ist los?« fragte der im Schlafanzug mißmutig und deutsch. Der Fremdling strahlte. »Sie sprechen deutsch?«

»Ungern.«

»Aber Sie sind Deutscher!«

»Auch ungern. Darum bin ich nach dem Krieg ja auch hiergeblieben. Ich habe die Tochter vom Metzger nebenan geheiratet. Der Alte ist inzwischen hinüber. Emile Drucker heiße ich. Und Sie?«

»Ja … Ich bin ein Tourist«, sagte Jakob. (Die Araber sprachen noch leiser und noch schneller.)

»Waren Sie auch Soldat?«

»So ungern wie Sie.«

»Wo?«

»Rußland, Norwegen, hauptsächlich Rußland. Saukrieg, verfluchter.«

Die Sonne ging auf in Emile Druckers Gesicht. Er haute Jakob auf die Schulter. »Du bist in Ordnung, Junge. Abgebrannt, was?«

»Ja. Nein!« Jakob sah die Araber an. Die Araber sahen ihn an. »Ja, doch! Ich habe mein Geld verloren. Übersetzen Sie das, bitte.«

Emile übersetzte.

»Merde alors«, sagte der fette Louis.

»Nicht alles! Ein bißchen habe ich noch. Ich möchte was essen, Herr Drucker.«

»Sag Emile zu mir, Kamerad!«

»Nur wenn du Jakob zu mir sagst.«

»D’accord, Jakob«, sagte Emile. »Wenn du was essen willst, warum gehst du dann nicht in die Hallen? Da ist es sehr billig. Eine Zwiebelsuppe haben die … Na ja, aber erst gegen Morgen, da müßtest du noch warten … Aber ein choucroute … Sauerkraut!«

»Mag ich nicht. Macht mir beides Sodbrennen. Pain de graisse will ich … avec viele cretons … Sag bloß, das gibt’s nicht hier.«

»Das heißt nicht graisse, Jakob. Das heißt saindoux. Mußt du dir merken. Sprich mir nach. Saindoux.«

»Säindu.«

»Weicher, Jakob, weicher. Sain-doux.«

»Säinduuu …«

»Ah!« Claudine strahlte Jakob an. Dann wurde sie ernst und sagte etwas.

»Was sagt sie?« fragte Jakob.

»So tief sind sie selbst im ›Gelben Hund‹ und in Belleville noch nicht gesunken, daß sie eine solche Sauerei fressen. Tut mir leid, Jakob, aber das hat sie gesagt.«

»Wieso Sauerei? Mit Grieben, Emile! Auf Graubrot! Mit Salz! Das ist doch das Beste, was es überhaupt gibt!«

»Ich bin schon zu lange hier. Ich kann mich nicht erinnern. Du bist ein bißchen verrückt, was, Jakob?«

Jakob nickte.

Der Metzger wandte sich an alle Anwesenden. Er hielt eine längere Ansprache, von der Jakob kein Wort verstand. Dem Sinne nach sagte Emile, der Kerl da sei zwar ein Deutscher wie er, aber ein anständiger Kerl. Wie er. Und ihn würden doch wohl alle als anständigen Kerl kennen – oder? Alle nickten. Sie hielten hier gute Nachbarschaft, denn sie waren alle arm. Emile sagte, wenn auch der ›Gelbe Hund‹ keine Schmalzbrote herzustellen imstande sei, weil es hier kein Schmalz und keine Grieben gebe – er, Emile, habe beides. Und er werde stets ausreichende Quantitäten zur Verfügung stellen. Denn der Fremdling – eben ein bißchen verrückt – habe die Absicht geäußert, wiederzukommen, wann immer er nur könne. Seiner Meinung nach, sagte Emile, sei das ein sehr wohlhabender und bekannter Mann. Aber, fügte er mit einem ernsten Blick auf die Huren und die Araber hinzu, dieser Verrückte stehe nun unter seinem und des Wirtes Schutz, n’est ce pas, Louis?

Der Fette nickte gramvoll. Die fehlte ihm gerade noch, die Polizei … Und zum Vögeln sei der Herr auch nicht hergekommen, sagte Emile, das sollten sich die Huren mal hinter die Ohren schreiben und ihn nicht belästigen. Emile sagte ›poules‹, was Hure, aber auch ›Hühnchen‹ heißt, ein Wort, welches Jakob kannte. In der feinen Form. Der da, sagte Emile, könnte sich ganz andere Poules leisten, nicht solche wie hier, mit ihren ausgeleierten …

»Ich hab’ wirklich genug«, sagte Jakob.

»Was?«

»Poules.«

»Wie viele hast du denn?«

»Ungefähr eine halbe Million«, gab Jakob bekannt.

Maßloses Erstaunen allerseits.

Sobald indessen das kleine Mißverständnis aufgeklärt war, erholten sich alle schnell von ihrem Schreck in der Abendstunde, und nun herrschte muntere Herzlichkeit. Man plauderte, man lachte. Lauter nette Leute, dachte Jakob. Huren, Juden, Neger, Araber, Arbeiter, Zuhälter – arm, verfemt, voller Sorgen, verachtet – immer noch das Beste, was es gibt!

Er sagte Emile, er solle allen sagen, daß er für alle eine Runde ausgebe. Hochrufe. Sämtliche Gäste Jakobs wollten Weißwein, Blanc de blanc. Nur Claudine nicht. Die bekam immer Kopfweh vom Blanc de blanc, und sie hatte das Gefühl, daß sie in dieser Nacht noch vonnöten sein werde. Was sie dann auch war. Zuletzt – nach der dritten Chinesischen Schlittenfahrt – hatte sie Kopfweh, ohne Blanc de blanc getrunken zu haben. Aber es war ein angenehmes, sanft drückendes Kopfweh, kein böse stechendes.

Emile rannte in seinen Metzgerladen und holte Schmalz und Grieben. Graubrot gab es nicht, nur die langen weißen Stangenbrote, die ›Flutes‹. Aber dann trieben sie in der Nachbarschaft sogar noch Graubrot für Jakob auf, bei dem Vertreter eines Begräbnisinstituts. Der milde Herr versprach gleichfalls, in jedem Bedarfsfall zu liefern. Emile schmierte Jakob die Brote persönlich, dick und mit viel Grieben und Salz drauf. Alle sahen gebannt zu. Von Zeit zu Zeit gab Jakob dem Wirt einen Wink. Dann war wieder eine Lokalrunde fällig. Alle betrachteten Jakob wie ein Wesen von einem anderen Stern, als er begann, das erste Schmalzbrot zu essen. Er bekam dabei einen ganz entrückten Gesichtsausdruck und mußte die Augen schließen vor so viel Glückseligkeit …

Eine Poule mußte weinen vor Rührung.

Zuletzt hatte Jakob sechs Schmalzbrote gegessen, und alle waren besoffen, der Wirt, der Metzger, der Begräbnisinstitutsvertreter inbegriffen. Claudine hatte ein Zimmer im Hause. Da wachte Jakob dann am nächsten Morgen auf – gegen neun Uhr. Claudine lag nackt neben ihm. Jakob wurde sofort sehr munter. Also dauerte es noch eine weitere Stunde, bis Claudine das Frühstück brachte. Jakob küßte ihr die Hand, als er das Tablett sah – es lagen drei Schmalzbrote neben der Boule mit dem Café au lait. Claudine sagte, sie liebe Jakob (sie sagte ›Jacques‹), und das verstand er sogar. »Ich aussi«, sagte er. »Komme immer wieder zu toi. Toujours.«

Claudine schmiegte sich an ihn.

»Merde alors«, sprach Claudine (sie arbeitete schon längere Zeit hier, und die nicht eben feine Art des fetten Wirtes Louis hatte auf sie abgefärbt).

»Pourquoi toujours maken Krieg français et deutsch? Warum nicht sein des amis? Nous sommes alle des frères et des sœurs devant le Bon Dieu.«

»Da hast du recht«, sagte Jakob. »Vor Gott sind wir alle Brüder und Schwestern. Aber die Industriebosse und die Scheißgeneräle, weißt du … lieber nicht davon reden … Komm noch einmal, meine kleine Schwester …«

Die kleine Schwester kam noch einmal.

Beim nächsten Besuch war Jakob dann schon wie das Kind im Haus. Die beiden alten Juden entschuldigten sich dafür, daß sie aus Angst weggelaufen waren, und deuteten zart an, sie würden auch sehr gerne einmal Schmalzbrote essen. Aber natürlich nur koscher, nur mit Gänseschmalz.

»Das ist aber ein Pech«, sagte Jakob.

»Was ist ein Pech?«

»Dem Emile sind die Gänse ausgegangen.«

»Ach …«

»Gestern hat er noch welche gehabt, sagt Louis.«

»Gerechter Gott«, sagte der erste Jude erschüttert. Und erkundigte sich, um Fassung ringend: »Waren sie wenigstens richtig fett?«

In anderen Städten, anderen Erdteilen, die er mit der Edlen besuchte, hatte Jakob sich das ähnlich eingerichtet. Hier in Paris ging er abends nach dem feierlichen Mahl, im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS häufig in den ›Gelben Hund‹ essen. Richtig essen. Die Edle und ihre Nichte, die Contessa, hatten einander immer so viel zu erzählen, zum Glück. Also sagte Jakob, er sei todmüde, und zog sich zurück in sein Schlafgemach. Dort dann aber nichts wie raus aus dem Smoking und rein in seine älteste Kluft! (Die allerdings in Belleville immer noch sehr bewundert wurde.) Er fuhr mit dem Lift bis in die Hotelgarage hinunter und verschwand durch einen Seitenausgang. Ein Taxi brachte ihn quer durch die Stadt. Nachts waren die Straßen leer. In der Nacht des 28. Oktober 1956 war Jakob Formann wieder einmal im JAUNE CHIEN. Er kam um 22 Uhr 30 an. Die Versammelten begrüßten ihn lärmend, mit Schulter- und Handschlag. Sofort schmiß Jakob wieder Runden. Claudine servierte ihm liebevoll seine Schmalzbrote und zum Trinken ›Perrier‹. Jakob war müde und doch hellwach. Es wurde ein Abend des Insich-Gehens. Die Erinnerung überkam ihn an manches, das geschehen war in diesen letzten Jahren. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Und die Schallplatten, die der Wirt auflegte, halfen ihm, in Erinnerung zu versinken, mehr und mehr, während seine Kiefer mahlten.

Musik. Eine Stimme. Eine berühmte Stimme. Sie gehörte Edith Piaf, dem ›Spatz von Paris‹, dieser wunderbaren Sängerin, die es nur einmal gab, nur einmal geben würde.

»Non, non, je ne regrette rien …«

Ich auch nicht, dachte Jakob, nein, auch ich bedaure nichts, nichts, was ich getan habe seit damals, seit jener Nacht im Mai 1949, als der Major Assimow in meine Zelle getreten ist und gesagt hat: »Erschießen, lächerlich! Sie kommen mit mir nach Moskau!«

5

»Das kann doch nicht wahr sein!« rief Jakob Formann, als er, begleitet von Major Assimow, den Mann erblickte, der aus der Tür der Datscha trat und ihnen durch einen verwilderten Garten entgegenkam.

Sehr viele Blumen blühten im Garten dieser Datscha, die etwa vierzig Kilometer von Moskau entfernt am Rande eines idyllischen Wäldchens lag. Sie war aus Holz gebaut, zum Eingang führte eine Treppe aus ein paar Brettern empor. Es war schon sehr warm an diesem 14. Mai 1949 in Moskau und Umgebung.

»Das ist ja nicht zu glauben!« rief Jakob, während der Mann die Holztür des Holzzaunes öffnete. Der Mann war der ehemalige Kommandant jenes Lagers bei Opalenica, aus dem Jakob sich und Jelena Wanderowa 1945 ›befreit‹ hatte, zusammen mit hundertfünfzig Kumpeln. »Was ich mich freu’, Sie wiederzusehen, Herr Major!«

»Ja, man sieht es Ihnen an«, sagte, so sanft wie einstens, der Besitzer der Datscha, indem er zunächst Jakob und dann Assimow die Hand reichte. »Kommen Sie cherrein. Ich chabbe chinten im Garten kleinen Imbiß chergerichtet.« Die russische Gastfreundschaft sucht ihresgleichen, dachte Jakob ergriffen. »Major bin ich nicht mehr«, fuhr Blaschenko fort. »Ich arbeite in einem Ministerstwo. Wir treffen uns chierr, weil es niemand angeht, was wir chabben zu besprechen.«

Jakob nickte. »In der Stadt ist es auch so stickig! Ein schönes Landhäuschen haben Sie hier, Gospodin Blaschenko, nein, also wirklich.« Er konnte noch immer russisch radebrechen, und Blaschenko hatte in der Zwischenzeit zu Jakobs Erstaunen sehr gut Deutsch gelernt. So verlief die folgende Unterhaltung in einem fließenden Zweisprachengestotter. Hinter der Datscha stand das Gras hoch. Unter einer Gruppe von hellen Birken hatte der Exmajor einen Tisch gedeckt. Jakob sah eine große Karaffe mit Orangensaft und einen ganzen Berg Kirschkuchen. »Das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen, Gospodin Blaschenko«, sagte er gerührt. »So viele Umstände!«

»Aber ich bitte Sie, es macht mir doch Freude, Cherr Formann. Bitte, setzen, ist gefällig.«

Man setzte sich.

Der Exmajor servierte und goß Saft in die Gläser.

»Wunderbar«, sagte Jakob, der ohne zu warten als erster ein Stück Kirschkuchen in sich hineinschlang, mit vollem Mund.

»Selber gemacht! Chabbe ich doch keinen, der machen könnte. Apropos, wie geht es unserer Jelena?«

»Ich glaube, gut. Sie hat schlimme Erfahrungen im Westen gehabt, aber jetzt ist alles okay. Pardon, in Ordnung.«

»Ist sie immer noch so schönn?«

»Immer noch. Noch schöner. Wirklich, Gospodin Blaschenko, es tut mir ehrlich leid, daß ich damals im Lager mit ihr … daß ich … daß sie … daß wir beide …«

»Nemmen Sie noch Stück Kuchen.«

»… und daß wir ausgerissen sind. Sicher haben Sie Unannehmlichkeiten gehabt unseretwegen.«

»Sicher.«

»Große?«

»Serr große. Aber jetzt nicht mehr, Sie sehen. Gett mir gutt. Wohnung in Moskau, Büro in Ministerstwo, Datscha chierr.«

»Und ganz allein?«

»Ganz allein. Werde auch bleiben allein. Frau wie Jelena kriege ich nie zweites Mal. Gibt nur einmal. Und sie ist weit weg …«

Ganz plötzlich überfiel es Jakob: Nur einmal … weit weg …

Der Hase! Jakob mußte die Augen schließen vor übergroßer Bewegtheit.

Der Hase! Immer noch nicht habe ich … Ich bin ein Schwein, wahrhaftig!

Eine Frau wie den Hasen gibt es auch kein zweites Mal! Und wie weit ist die weg! Nein, also, wenn ich hier lebend rauskomme, dann muß ich nach Theresienkron …

»Sie sind mir nicht böse, Gospodin Blaschenko?«

»Überchaupt nicht. Nurr Menschen, wenn schwach sind, werden böse. Ich bin nicht schwach, Cherr Formann.«

»Da haben Sie recht«, sagte Jakob und dachte betrübt: der arme, einsame Kerl. Der glaubt das in seiner Schwerblütigkeit wirklich, was er da sagt. Weil es ihm guttut. Wahrscheinlich glauben alle Menschen, und auch ich, immer das, was ihnen am meisten nützt und am meisten guttut. Das ist wahrscheinlich die Erklärung dafür, warum ich nie habe glauben können, daß einer ein ganz und gar vollkommener Lump ist. Noch nicht einmal ein Politiker.

Der Major Assimow räusperte sich und sah Blaschenko an. Der nickte.

»Komme schon zur Sache, ist gefällig. Sie sind auch nicht schwach, Cherr Formann. Chutt ab. Was Sie geleistet chabben letzte Jahre!«

»Was ich geleistet habe … Woher wissen Sie …«

Sanft rauschte der Wind in den Kronen der Birken.

»Sind wir keine Idioten, Cherr Formann. Chabben unsere Leute. Überall. Amerika. Pentagon. Schmeckt Ihnen derr Kuchen nicht?«

»Do … doch, wunderbar. Pentagon auch?«

»Auch. Große Geschäfte Sie machen mit Pentagon! Fertighäuser für Soldatten. Besser als Baracken. Viel besser. Deutsche Qualitätt. Verkaufen an Amerikaner. Nun, Sie verkaufen auch an uns, gutt?«

»Wissen Sie, da gibt es gewisse Schwierigkeiten …«

»Also nein? Sie nicht verkaufen an uns? Schade, wirklich schade. Essen Sie schnell noch ein paar Kirschkuchen, Cherr Formann. Damit Sie mich in gutte Erinnerung bechalten.«

»Schnell … in guter …« Jakob wurde es warm. Wo war die Hasenpfote?

»Trifft sich, daß zufällig Soldatten gerade chier üben«, sagte der Major Assimow. »Sie essen den Kuchen, und dann werden die Rotarmisten Sie erschießen da in dem Wäldchen. Ist verbottenes Gebiett. Wer betritt, wird erschossen.«

»Da … in … dem … Wäldchen?« Der Nerv an Jakobs Schläfe zuckte.

»Können sich auch aussuchen andern Platz, wenn Sie Wäldchen nicht mögen. Serr einsam chier. Essen Sie, Cherr Formann, essen Sie doch«, sagte Blaschenko schwerblütig und sanft. »Auf große Wiese da drübben vielleicht, ist gefällig? Gutt Orangensaft? Kalifornien.«

»Kalifornien?«

»Der Orangensaft. Chabben die Amerikaner in Büchsen geliefert im Krieg an uns. Ist viel übriggeblieben. Auch andere Sachen. Panzer, zum Beispiel, Cherr Formann. ›Lend and lease‹-Abkommen, Sie kennen sicherlich. Wollen, daß wir jetzt zurückgeben oder bezahlen. Wir sind arm, serr arm, chabben viel verlorren durch Deutsche. Kein Geld für Amerikanjezki. Außerdemm, wir brrauchen Panzer und schwerre Waffen und leichte Waffen und Jeeps und Lastwagen und Raketten. Wollen nicht wieder überfallen werden, Sie verstehn?«

»Die Deutschen stecken doch so in der Scheiße, die können Sie ja gar nicht überfallen!«

»Ja, aber nur darum und solange sitzen in Scheiße. Denke auch nicht an Deutsche. Denke an Amerikanjezki. Sehen Sie, was los ist. Vielleicht Amerikanjezki mit Deutsche zusammen. Deutsche-West. Deutsche-Ost nicht! Da passen wir auf. Sie sehen, wie notwendig gewesen ist Teilung.«

»Aber …«

»Aber was? Nicht erschrecken. Sind gutte Scharfschützen da in Wäldchen. Treffen gennau ins Auge. Noch ein Kuchen? Aber was, Cherr Formann?«

Jakob wurde es wärmer und wärmer. Er massierte die Hasenpfote in seiner Tasche derartig, daß ihn die beiden Russen ganz verwundert betrachteten.

»Aber … Gospodin Blaschenko … Ich sehe ja alles ein. Und ich würde Ihnen gern sofort Fertigunterkünfte liefern. Nur: Die lassen die Amis doch nie aus der Westzone raus. Wie stellen Sie sich denn den Transport vor?«

»Da soll überhaupt nichts transportiert werden«, sagte Major Assimow lächelnd. »Das sagt Ihnen doch jeder: Wir sind Höhlenmenschen. Zurückgeblieben. Ohne die Erfindungen des Westens, der da einen ungeheuren Fortschritt hat, kommen wir vor die Hunde. Wir stehlen alle Patente, nicht wahr? Wir klauen westliches – wie heißt da jetzt gleich, Jurij?«

»Know-how.«

»Danke, Jurij. Ja, Know-how klauen wir auch, wo wir können. Lesen Sie doch jeden Tag in Ihren Zeitungen, Herr Formann! Westliches ›Gewußt wie‹ – ohne das sind wir verloren! Sie sollen uns keine Fertigunterkünfte liefern für Truppen, sondern nur das Know-how, sagen, wie diese Art Fertighäuser gemacht wird.«

»Deshalb haben Sie mich hergebracht?«

»Ja, deshalb. Gospodin Blaschenko ist Chef der zuständigen Planungsstelle. Und Sie sind alte Bekannte, nicht wahr? Gemeinsame Liebe. Der Sinn für Gerechtigkeit, den Sie haben, Herr Formann. All das und noch vieles andere …« Der Major Assimow lächelte.

»Noch ein Kuchen, ist gefällig?« fragte der schwerblütige Jurij Blaschenko.

Vögel tirilierten, daß es eine Lust war.

Die Sonne schien. So viele Blumen blühten.

Im Wäldchen bellten Schüsse.

»Ja, wenn es weiter nichts ist«, sagte Jakob. »Ich bin schließlich Österreicher. Österreich ist eine befreite Nation, die völlig neutral bleiben will. Es wäre ein Unrecht von mir, meine Herren, die Amerikaner zu bevorzugen.«

»Unfair«, sagte Blaschenko.

»Unfair, ja«, sagte Jakob.

»Na also, ich chabbe immer gesagt, Cherr Formann ist anständiger Mensch«, erklärte Blaschenko. »Selbstverständlich Sie liefern Know-how.«

»Selbstverständlich. Nur: Das muß ich Fachleuten erklären! Das ist kompliziert. Ich habe alles im Kopf, aber …«

»Wie Zufall es will, kommen mich cheutte abbend besuchen drei unserer besten Spezialisten für Fertigbau«, sagte Blaschenko. »Bleiben zu Besuch eine Woche. Datscha ist groß genug für alle. Christoph und Unmack chabben wirklich erstklassige Truppenunterkünfte gebaut. Leider Material ist verrottet irgendwo. Nicht alles. Aber das meiste. Leitende Cherren geflüchtet alle in Westen – wie Ihr Freund Jaschke.«

»Jaschke?«

Jakob hob die Brauen.

»Wir tun ihm ja nichts, Cherr Formann. Wissen nurr, daß er im Westen die Leitung chat für den Bau. Zentrale in Murnau. Aber wozu ihn entführen, wenn Sie uns in die Arme laufen sozusagen …«

»Das ist richtig. Also, Sie wollen auch Truppenunterkünfte bauen. An wie viele haben Sie denn gedacht?«

»Wissen wir noch nicht, Cherr Formann. Noch etwas kalifornisch Orangensaft? Aber ja doch, ja doch! Ist richtig cheiß cheute. Für chalbe Million Mann, vielleicht für ganze Million, für zwei Millionen vielleicht.«

»Z … Zwei Millionen?«

»Niemand weiß, wie groß der Krieg noch wird. Und in eine solche Baracke gehen trotz aller Qualität nur fünfzig Mann.«

»Ach so. Natürlich. Und was zahlen Sie?« fragte Jakob.

»Nichts natürrlich. Wir chabben nichts«, sagte Blaschenko.

»Das stimmt nicht«, sagte der Major Assimow. »Wir haben Sie! Sie werden sicherlich wieder heim wollen, nicht wahr?«

Hier hilft nur Tollkühnheit, dachte Jakob – wer braucht denn die Qualitätstruppenunterkünfte, ich oder die Russen? – und antwortete: »Mitnichten, meine Herren. Ich hätte nie gedacht, daß der Große Arbeiter-und-Bauern-Staat, die Heimat aller Werktätigen, solche kapitalistischen Erpressermethoden anwendet. Ich bin erschüttert. Denn auch ich bin nur ein Werktätiger. Bitteschön, erschießen Sie mich also. Erpressen lasse ich mich nicht!« Kleine Pause. »Dreißig Prozent für mich müssen drin sein.«

»Fünf!«

»Fünfundzwanzig!«

Sie einigten sich auf fünfzehn Prozent. Danach war Jakob des guten Willens voll, den sowjetischen Technikern das ganze Know-how beizubringen – unter der Voraussetzung, daß er danach wieder in den Westen geflogen wurde.

»In Ordnung, mein Liebber«, sagte Blaschenko. »Vielleicht bauen wir auch für drei Millionen.«

»Drei … Mi … Millionen?«

»Noch einmal überfällt uns niemand und tötet unsere Menschen und zerstört unser Land, Herr Formann«, sagte der Major Assimow.

»Wer kann sagen, vielleicht drei Millionen? Für vier Millionen vielleicht«, sagte Blaschenko melancholisch.

»Vie … vi … vier Millionen?«

»Um zu liefern in Krisengebiete. Verstehen nicht?«

»Nein.«

»Aber, aber! Schauen sich Welt an cheutte! Überall Gefahrr von Krieg, überall Gebiette von Krisen! Einflußsphären müssen gesichert werden.

Was saggen Sie dazu?«

»Wozu?«

»Daß ich sagen kann Einflußsphären! Schwieriges Wort. Aber wichtiges, serr wichtiges! Sehen Sie, wenn Sowjetunion liefert Fertighäuser – und viele andere schöne Sachen – in Gebiette von Elend, in Gebiette von Krisen, Sowjetunion sichert sich politische Freunde, nicht wahr? Politische Freunde wichtig für Sowjetunion. Kann gar nicht genug chabben. Ist gefällig und nehmen orrdentlich Zucker auf Kuchen. Sind doch ein wenig cherb, die Kirschen.«

»Danke, sehr liebenswürdig. Aber … aber …«

»Cherr Formann?«

»… aber für vier Millionen!«

»Vielleicht fünf, sechs, sieben. Wer kann cheute schon saggen? Man wird sehen, Cherr Formann …«

Jakob bekam ein Stück Kuchen in die falsche Kehle. Und keine Luft. Und einen Erstickungsanfall. Er würgte, er lief rot an, er lief violett an, er bemühte sich verzweifelt, durchzuatmen, aber …

6

… es ging nicht. Es ging nicht!

Ich kriege keine Luft! Ich muß schon ganz blau sein im Gesicht! Ich sterbe! Hilfe, Hilfe, ich sterbe! Ich bin noch so jung! Ich will noch nicht sterben! Hasenpfote! Ich finde sie nicht! Luft! Luft! Aaaaahhhh … Eh … eh … eh … Grauenvoll. Grauenvoll. Ersticke. Ich erstick … stick … stick … Ein Pieken im Arm.

»So, jetzt wird sofort alles wieder gut sein.«

Eine Stimme. Eine Männerstimme. Eine fremde. Eine englisch sprechende. Wieso? Wieso eine fremde, englisch sprechende Männerstimme? Wo bin ich überhaupt? Was ist das für ein kleines Zimmer? Nackt! Ich bin ja total nackt! Total nackt liege ich auf einem zerwühlten Bett. Wieso? Haben die Herren in der Datscha mir etwas eingegeben? War etwas in dem guten Kirschkuchen, dem selbergemachten? Wer steht da zu meiner Linken? Ein kleiner Mann mit Glatze und Zwicker. »Sehen Sie«, sagt die Glatze mit Zwicker, »Sie können schon wieder atmen, was?« Er sagt es englisch. Ich nicke ihm englisch zu. Wer steht da zu meiner Rechten in einem dünnen Morgenmantel? Das ist doch meine süße Claudine, das brave Mädel! Wie kommt die auf eine Datscha bei Moskau? Warum heult die so! Also, wenn die Russen ihr was getan haben, dann sage ich ihnen aber auch nicht ein einziges Wort über eine einzige Schraube von meinen Fertighäu …

Das ist doch Claudines Zimmer über dem Lokal vom JAUNE CHIEN! Wo ich Schmalzbrote … und dann mit ihr hier rauf … und sie dann ausgezogen, langsam und mit Genuß … und mich selber auch … bis auf die Armbanduhr … 2 Uhr 50? Herrgott, welchen Tag haben wir denn heute? Der … achtundzwanzigste Oktober … müßte es sein … 2 Uhr 50? Es muß 2 Uhr 50 sein, die Uhr geht nie falsch, die ist von ›Piaget‹! Das Feinste vom Feinsten! Herrgott, ich bin doch spätestens um Mitternacht mit Claudine raufgegangen! Als wir anfingen, war es eine halbe Stunde später. Und jetzt ist es 2 Uhr 50? Also der neunundzwanzigste. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Hoffentlich habe ich nicht ausgequatscht, wer ich bin, lieber Gott … Aber wie gut, daß es der neunundzwanzigste Oktober 1956 ist!

»Ich bin Docteur Baudelet, Monsieur«, sagte der mit der Glatze und dem Zwicker.

»Angenehm, Doktor.« (Alles in Englisch, dazwischen redet Claudine französisch.)

»Was ist … was war denn los mit mir?«

»Monsieur le Docteur ist der einzige hier. Er macht alles, weißt du. Bei mir schon zweimal.«

»Man hilft, wo man kann«, sagte Dr. Baudelet. »Um ein Haar wären Sie mir hopsgegangen, Monsieur … Sie wollen mir nicht sagen, wie Sie heißen?«

»Will ich nicht, nein.«

»Tut mir leid, dann muß ich die Polizei …« Im nächsten Moment war der nackte Jakob hochgefahren und hatte sich dermaßen in den Doktor verkrallt, daß nun der in Todesangst geriet.

»Loslassen! Loslassen!«

»Das könnte Ihnen so passen! Damit Sie die Polente rufen!«

»Und Sie? Kein Name, was? Damit Sie nicht bezahlen müssen!«

»Was bezahlen?«

»Mein Honorar.«

»Das zahle ich gleich. In bar.«

»In bar. Na, dann ist es gut. Legen Sie sich hin, Monsieur. Entspannen Sie sich. Ganz locker, bitte! Sie sind momentan nicht der Kräftigste …«

Jakob ließ sich zurückfallen. Claudine schluchzte.

»Hör auf, Claudine!«

»Ach, Jacques, Jacques … Es war doch alles ganz normal … die erste Nummer wundervoll wie immer … und dann, plötzlich, bei der zweiten …«

»Ja? Ja? Herrgott, was war bei der zweiten?«

»Bist du von mir runtergerollt und hast gekeucht, und ich habe gedacht, du erstickst, du nibbelst mir ab, und da habe ich nach dem Wirt geschrien, und Monsieur Louis und Monsieur Emile und ein paar Männer und ein paar Poules sind heraufgekommen …«

»Die waren alle da?«

Jakob verstand nur jedes sechste Wort in Claudines Französisch, aber was wichtig für ihn war, hörte er schon heraus, und so wurde ihm mies. So viele Leute!

»Ja! Chochotte ist zuletzt losgerannt und hat den guten Docteur Baudelet geholt, und der ist gleich gekommen …«

»Danke, Doktor.«

»Nur meine Pflicht, Monsieur. Fünfhundert Francs.«

»Wieviel?«

»Monsieur, ich bin Armenarzt. Ich lebe selber kümmerlich genug. Wissen Sie, was für eine Gegend das hier ist, Belleville?«

»Ja, ich weiß. Aber fünfhundert Francs! Finden Sie das nicht ein wenig übertrieben?«

Dr. Baudelet kratzte beschämt seine Glatze. »Man muß leben, Monsieur Jacques, der nicht sagen will, wie er heißt.«

Für einen Nachtbesuch und für Errettung aus Todesgefahr in Belleville – na schön, dachte Jakob, man soll nicht so sein, vielleicht macht er dafür einem armen Mädchen, ich meine, vielleicht entfernt er etwas. Die Mandeln zum Beispiel. Er angelte nach seiner Hose, die auf der Erde lag (Ich muß es ja mächtig eilig gehabt haben! dachte er) und erledigte die Forderung des Mediziners.

»Und jetzt sagen Sie mir, was das war?«

Dr. Baudelet betrachtete nachdenklich die fünf Hundert-Francs-Scheine, die Jakob ihm gereicht hatte, und sein Gesicht wurde plötzlich sehr ernst. »Ich will Sie weiß Gott nicht erschrecken, Monsieur Jacques …«

»Dann tun Sie’s nicht!«

Dr. Baudelet räusperte sich. Er räusperte sich noch einmal.

»Na!«

»Dieser … hm … Erstickungsanfall …« Der Arzt wählte seine Worte jetzt mit Bedacht und Umsicht. »… hatte … äh … multifaktorielle Entstehungsbedingungen …«

»Multifak … was?«

»… wobei eine gewisse Herzschwäche …«

»In meinem Alter? Herz? Herr Doktor!«

»…sowie ein Reizzustand des Magens …«

»O Gott …«

»… vielleicht eine diabetische Stoffwechsellage …«

»O Gott, o Gott …«

»… eine Schwächung der Nierenfunktionen …«

»Doktor!«

»… aber auch Veränderungen des Gehirns …«

»Doktor, ich flehe Sie an!«

»…einige der auslösenden Faktoren gewesen sein können.«

»Wie lange habe ich noch zu leben?«

»Akute Lebensgefahr besteht nicht. Im Moment nicht! Ich schreibe Ihnen hier meine Adresse auf. Die Visitenkarten habe ich leider nicht bei mir … und Sie kommen so schnell wie möglich, damit ich Sie eingehend untersuchen und dann eventuell zu einer weiteren Behandlung ins Hôpital Saint-Antoine bringen lassen kann.«

»Also ich werde nicht sterben?«

»Zuerst müssen Sie gründlich untersucht werden. Jetzt bleiben Sie noch eine halbe Stunde liegen – ganz entspannt, und daß Sie mir ja nicht wieder mit Claudine anfangen! –, dann können Sie aufstehen. Ich sehe Sie morgen um fünfzehn Uhr. Guten Abend, Monsieur Jacques.« Dr. Baudelet steckte sein nicht sehr chromblinkendes Instrumentarium in eine ärmliche Ärztetasche, verschloß diese und ging mit Claudine zur Tür.

Also hat’s mich erwischt, dachte Jakob. Rasch tritt … und so weiter. Ich habe aber auch Raubbau getrieben. Morgen um 15 Uhr. Doch nicht zu diesem Armleuchter! Die ersten Spezialisten Frankreichs müssen gleich morgen früh, heute früh … Jakob angelte nach seiner Hose. Suchte. Und fand die Hasenpfote, die ihm die ganze Zeit gefehlt hatte. Im nächsten Moment atmete er erleichtert durch. Denn im nächsten Moment wirkte die Pfote bereits. Während Dr. Baudelet nämlich die Tür hinter sich schloß, fragte er leise (aber Jakob konnte ihn deutlich hören): »Was hat der denn gefressen, bevor ihr raufgegangen seid?«

Die Tür blieb einen Spalt offen. So unvorsichtig kann einer sein und sich ums eigene Glück bringen, dachte Jakob selig und blätterte fieberhaft in seinem französischen Wörterbuch, das er in Frankreich stets bei sich trug, hin und her, weshalb es ihm möglich war, auch noch die folgenden Sätze zu verstehen:

»Schmalzbrote, Monsieur le Docteur.«

Der Arzt sah Claudine angeekelt an.

»Was? Das ist ja grauenhaft! Wie viele Schmalzbrote?«

»An die zwölf, Monsieur le Docteur.«

»Nom de Dieu! Dann ist es wahrhaftig kein Wunder, daß er den Anfall bekommen hat. Zwölf Schmalzbrote auf einen Sitz und danach vö … coitieren … das hält ja kein Schwein aus!«

Kein Schwein …! Dieser Doktor!

»Ja, aber was war das denn wirklich, Monsieur le Docteur?«

Rasend schnell blätterte Jakob in seinem Wörterbuch.

»Bouffer …« Das heißt Fressen. »…asthme …« Das heißt Asthma. Was, was, was? Freßasthma? »…estomac …« Magen heißt das. »…diaphragme …« Das wäre Zwerchfell. »… contre le cœur …« Gegen das Herz. O du meine Hasenpfote! Ich habe einfach zuviel gefressen, das Zwerchfell hat sich mir gegen das Herz geschoben! Das war alles. »… eh bien, voila, et après avoir fait l’amour il manquait de respiration …« Bum, da haben wir’s: Und nachdem ich Liebe gemacht habe, hat’s mir den Atem abgeschnürt!

Wenn Dr. Baudelet die Tür geschlossen hätte, wäre er ein reicher Mann an mir geworden.

7

Ein Taxi brachte Jakob zurück zum HÔTEL DES CINQ CONTINENTS.

Er ließ das Taxi in die Garage fahren. Von dort fuhr er im Aufzug zu seinem Appartement empor. Den Schlüssel hatte er. Er trat ein. Er knipste das Licht im mittleren Salon an. Um keinen Lärm zu machen, hatte er die Schuhe ausgezogen. Mit den Schuhen in der Hand stand er auf einem echten Riesen-Smyrna und sah sich vis-à-vis der Edlen. Die Edle saß auf einem edlen Stuhl, gefesselt: die edlen Füße an den beiden vorderen Stuhlbeinen, die edlen Hände auf dem edlen Rücken, hinter der Stuhllehne des edlen Stuhles. Mitten im Salon saß sie. Und das entsetzlichste: Sie hatte kein Gesicht mehr!

Jakob schwankte.

Das Gesicht der Edlen war vollkommen von einer weißen Masse bedeckt.

Das Haar wurde von einem Band hochgehalten.

»Um Gottes willen, Baronin, was ist geschehen?«

Unter der weißen Masse bewegte die Edle die edlen Lippen. Es war nicht zu verstehen, was sie sagte. Nur einzelne Stückchen der eingetrockneten Masse bröckelten ab und fielen auf das Kleid der Edlen, auf den Teppich. Jakob raste zu einem Tischchen.

Aufschrei, jetzt verständlich, wenn auch schwer: »Was wollen Sie tun?«

»Den Portier anrufen! Polizei muß her! Funkstreife! Wer waren die Verbrecher? Wie sind sie hereingekommen? Was haben sie geklaut?«

»Nicht!«

»Was nicht?«

»Sie werden nicht telefonieren!« Noch mehr Bröckchen …

»Warum nicht?«

»Weil es keine Einbrecher waren.« Die Edle sprach so vorsichtig, wie es ging. Es ging nicht genügend. Bröckchen, Bröckchen …

»Keine Ein … Wer denn, Baronin?«

»Meine Nichte Claudia.«

»Das elende Biest! Die fliegt aber jetzt! Erlauben Sie, daß ich …«

»Nein!« Das war ein Donnerwort. Voller Würde und Haltung. Edel eben. Mit Bröckchen …

»Was nein?«

»Rühren Sie mich nicht an!« Der edle Mund war jetzt frei, die Edle konnte besser (und verständlicher) sprechen. »Das ist eine Schönheitsmaske, Herr Formann. Man darf das Gesicht nicht bewegen, wenn man eine aufgelegt bekommt. Ich habe meine von Claudia aufgelegt bekommen.«

Das ist vielleicht eine Nacht …

»Hören Sie, kann es sein, daß Sie … äh … verrückt geworden sind, Baronin? Ich meine, ein Nervenarzt ist gleich da, wenn ich … Manchmal ist da höchste Eile geboten …« (Wie vorhin bei mir.)

»Schweigen Sie, Herr Formann! Was verstehen Sie davon! Ich bin vollkommen normal! Das ist meine Strafe! Ich habe Strafe verdient, um eine selbe solche gebeten und eine selbe solche bekommen!«

»Von dieser Claudia?«

»Für Sie immer noch Mademoiselle la Comtesse!«

»Das war Clau … Mademoiselle la Comtesse, die Sie hier festgebunden und eingepappt hat?«

»Ja doch!« Das Kleid der Edlen, der Teppich um sie herum, ihr Schoß waren jetzt schon weiß. Die Maske hatte Risse bekommen.

»Wann?«

»Gleich nachdem wir auseinandergingen …«

»Aber warum?«

»Sie sagte, ich hätte den Maître d’Hôtel verlangend angesehen.«

»Sie hätten den …« Jakob stand mit offenem Mund und einem unsagbar blöden Gesichtsausdruck da.

»Ja, ja, ja! Und es stimmt auch! Aber nur einen Moment! Einen winzigen Moment! Doch Claudia hat es gesehen. Sie sieht alles. Immer. Und dann bestraft sie mich. Mit Recht. Ich verdiene es nicht anders.« Die edlen Augen hielt die Edle immer weiter geschlossen. Da herum war die Schönheitsmaske auch noch einigermaßen in Ordnung. Aber sonst. Eine Sauerei …!

»Immer … so … bestraft … sie … Sie?«

»Wo denken Sie hin? Sie tut es ganz verschieden.«

Na, jedenfalls nicht im Salon oder dort, wo auch ich hinkomme, dachte Jakob. Sonst wären wir einander nachts wohl schon häufiger begegnet.

»Diesmal war sie besonders einfallsreich.«

»Warum?«

»Weil sie mich im Salon gefesselt hat – und mir die Schönheitsmaske gemacht hat. Damit ich noch mehr leide und büße. Damit ich davor zittere und bebe, daß Sie mich sehen könnten! Dabei, ich weiß es, hätte sie mich natürlich rechtzeitig losgebunden – vor dem Frühstück.«

»Natürlich. Nur manchmal machen Sie’s auch anders … Wie denn anders, Baronin?«

»Herr Formann, Sie sind widerwärtig obszön! Und überhaupt …« Die Edle empörte sich. »Was suchen Sie zu dieser Zeit im Salon?«

»Ich war … ich bin … nämlich …«

»Antwort!«

Jakob stotterte empört: »Ich habe … ich war … ich bin noch mal weggegangen.«

»Lügen Sie nicht so unverschämt! Ich sitze hier seit Stunden! Wann sind Sie weggegangen?«

»Auch vor Stunden!«

»Wer hat Ihnen das gestattet, Herr Formann? Wo haben Sie sich herumgetrieben? Wenn man einen einzigen Moment nicht auf Sie achtgibt … In welchen Kaschemmen, bei welchen schlechten Mädchen waren Sie? Antwort!«

Ich wüßte schon eine Antwort, dachte Jakob, aber ich darf ja nicht. Ich brauche die Edle – welch grandiose Haltung die Person hat, selbst in dieser Situation! –, ich brauche die Edle doch wie einen Bissen Brot! Wo ich hinkomme, quatschen sie jetzt gerade kariert über Existentialismus. Ich weiß nicht mal, wie man das schreibt. Begreife kein Wort. Ab morgen haben wir Sartre auf dem Stundenplan. Also sagte Jakob mühsam beherrscht: »Es tut mir leid, Baronin, sehr leid, daß ich hier zur Unzeit eingetreten bin. Ich betreibe ständiges Körpertraining, wissen Sie. Jetzt kann ich nicht mehr so oft radfahren wie früher. Also mache ich, wenn’s geht, ein paar Stunden Dauerlauf in der Nacht. Das muß ich einfach haben. Natürlich wäre mir ein Rad lieber. Meinen Sie, daß das möglich …«

»Nur in einem Institut! Ein Home-Trainer! Oder in einer Halle! Und niemals nachts! Ich verbiete Ihnen mit allem Nachdruck, nachts noch einmal Ihr Quartier zu verlassen, ohne daß ich es weiß.«

Herrgott, wenn du wüßtest, wie sehr du mich kannst, dachte Jakob und sagte: »Gewiß, Baronin. Von nun an werde ich mich allabendlich immer abmelden. Am besten, Sie sagen Mademoiselle la Comtesse überhaupt nichts … Ich komme zum Frühstück sehr spät, sagen wir: halb zehn? Bis dahin wird Mademoiselle la Comtesse doch die Güte gehabt haben, Sie loszubinden, hoffe ich.«

»Das hoffe ich auch.«

»Zur Sicherheit werde ich auch noch laut husten und pfeifen, bevor ich in den Salon trete, Baronin. Wenn Sie nicht antworten, heißt das, daß man Sie befreit hat.«

»Sie wissen ja nicht, wie ich Claudia liebe«, ächzte die Edle.

»Oh, ich bin überzeugt darüber.«

»Davon.«

»Wovon?«

»Es heißt überzeugt davon. Nicht darüber.«

»Verzeihen Sie, Baronin, ein Versprecher. Ich sage sonst immer ›davon‹!

Nun will ich aber nicht länger stören. Schlafen Sie gut. Und ich pfeife und huste!«

8

»Geben Sie mir Herrn Prill, verflucht noch mal!« lärmte er eine Viertelstunde später, im Pyjama auf seinem Prunkbett sitzend, einen Telefonhörer am Ohr.

»Hören Sie, Mann, wissen Sie, wie spät es ist? Halb vier!«

Jakob tobte los: »Ich spreche aus Paris! Erkennen Sie meine Stimme nicht?

1956 – Alle wollen nur den Frieden

1. Januar: Bundeswehr beginnt mit 6000 Freiwilligen.

18. Januar: Kasernierte Volkspolizei der DDR wird Nationale Volksarmee.

14.–25. Februar: XX. Parteitag der KPdSU; Chruschtschow leitet Entstalinisierung ein.

30.–31. März: Ein Münchner Verlag (50 Beschäftigte) macht Betriebsausflug im Flugzeug nach Venedig.

23. Juni: Gamal Abdel Nasser ägyptischer Staastpräsident

28. Juni: Polen: Posener Arbeiteraufstand von Militär niedergeschlagen.

7. Juli: Gottfried Benn †

21. Juli: BR: Wehrpflichtgesetz.

26. Juli: Nasser verstaatlicht den Suezkanal.

14. August: Bert Brecht †

16. Oktober: Franz Josef Strauß Bundesverteidigungsminister (Mai 1961 »Fibag-Affäre«, Oktober 1962 »SPIEGEL-Affäre«. Ablösung durch K.-U. v.Hassel).

17. Oktober: Erstes Groß-Kernkraftwerk im Betrieb (Calder Hall. Großbrit.).

23. Oktober–11. November: Ungarn. Aufstand unter Imre Nagy von Sowjettruppen niedergeschlagen. Imre Nagy später hingerichtet.

29. Oktober: Israel besetzt Sinaihalbinsel.

31. Oktober: Englische und französische Luftangriffe auf Ägypten.

Netto-Einkommen der Privathaushalte i.d. BR: 108.4 Milliarden DM (1951: 67.8 Milliarden DM).

In der »Märkischen Volksstimme« (DDR) wird eine Bekanntmachung für Krebskranke unterschrieben vom Kreisgeschwulstbeauftragten.

Wolfgang de Boor: »Pharmakopsychologie und Psychopathologie«.

Konsum von »Tranquilizern« (beruhigende Psychopharmaka) in den USA: 1 Milliarde Pillen pro Jahr.

Bühne: Erstmals seit 1876 Pfiffe im Bayreuther Festspielhaus zu Wieland Wagners schockierender »Meistersinger«-Inszenierung. Friedrich Dürrenmatt: »Der Besuch der alten Dame«; John Osborne: »Blick zurück im Zorn«.

Bücher: H. v.Doderer: »Die Dämonen«: Wladimir Dudinzew: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«; Jürgen Thorwald: »Das Jahrhundert der Chirurgen«; »Die Welt in der wir leben – Die Naturgeschichte unserer Erde« (LIFE), deutsche Gesamtauflage von drei Versionen über 1 Million; Anne Golon: »Angélique«.

Filme: »Krieg und Frieden« (USA); »Baby Doll« (USA, E. Kazan); »Der rote Ballon« (Frankr.); »Der Hauptmann von Köpenick« (BR, Helmut Käutner).

Schlager: »Heimweh« (Freddy). »Love me tender« (E. Presley).

Ich bin Jakob Formann! Herr Prill ist mein Eier-Generalbevollmächtigter!

Wer sind Sie denn?«

Die andere Stimme wurde plötzlich zittrig: »Josef, Herr Formann. Ich bin der Josef Röder, der Chauffeur von Herrn Prill. Bitte tausendmal um Verzeihung … Ich wußte doch nicht … Ich ahnte doch nicht … Bitte, lassen Sie Gnade vor Recht ergehen … Ich bin noch halb verschlafen … Ich … Ich schalte um, Herr Formann. Gute Nacht, Herr Formann …«

Acht Sekunden Rauschen in der offenen Verbindung. Der hat einen gesunden Schlaf, der Wenzel, dachte Jakob, ein Bein über das andere geschlagen, seinen Bauch kratzend. Und eine bildschöne Villa da oben im Taunus. Chauffeur. Großer Mercedes. Hat’s verdient, der Gute. Nach all der Rackerei. Ich habe schließlich auch mein Schloß in Bayern …

»Jakob?«

»Ich hab’ dich geweckt, was?«

»Du blödes A …«

»Entschuldige! Aber ich muß dich anrufen! Ganz wichtig! Gestattet keinen Aufschub! Du mußt dich sofort mit den Leuten in Verbindung setzen, die uns den Bau dieses Großklinikums vorgeschlagen haben …«

»Den hast du doch abgelehnt!«

»Jetzt lehne ich ihn eben nicht mehr ab! Ich werde ja wohl noch meine Meinung ändern dürfen! Nur ein Idiot hat immer die gleiche Meinung. Du nimmst die Verhandlungen auf. Wir bauen ein Großklinikum für alles, was es gibt!«

»Warum?«

»Ich wäre gerade eben beinahe gestorben. Nichts Ernstes, reg dich nicht auf. Aber ich will so was haben. Für den Fall, daß einem von uns einmal wirklich was Ernstes … alle Abteilungen … nur erste Fachleute … Finanzierung besprichst du mit dem Arnusch Franzl … Sieben-d-Gelder, denke ich … So wie bei den Schiffen …«

»Mensch, ein Großklinikum! Weißt du, was das kostet?«

»Klar. Massig. Ich will dir mal was sagen, Wenzel. Hör aufmerksam zu und vergiß es nie: Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus. Hast du das gehört?«

»Immer um zwei Schritte voraus. Und?«

»In einigen Jahren werden alle nach solchen Großkliniken schreien! Wir haben eine Verantwortung der Allgemeinheit gegenüber!«

»Seit wann?«

»Was soll denn das heißen? Hast du kein soziales Gewissen?«

»Okay, reg dich ab. Großklinikum also. Ganz wie du wünschst.«

»Wer is’n das, Süßer?« Eine Mädchenstimme!

»Was war’n das?«

»Nix. Hab’ geniest.«

»Schwindel doch nicht! Ein Mädchen hast du bei dir!«

»Na und?«

»Um Gottes willen, sei bloß vorsichtig!«

»Hör mal, das ist ein anständiges Mädchen!«

»Nicht deshalb. Hast du sehr viel zu Abend gefressen?«

»Jakob, du bist auch ganz sicher in Ordnung?«

»Ich spreche als dein Freund, Trottel! Ich, ich hab’ zuviel gefressen und dann gebumst. Und dabei wäre ich fast hops …«

»Wiesoherdenn?«

»Freßasthma. Das ist gar nicht zum Lachen. Mensch, paß bloß auf! Sachen gibt’s! Ach, in diesem Zusammenhang: In unserm Klinikum müssen wir auch ein Institut zur Erforschung aller Arten und Abarten von Vögel …«

»Eh?«

»Von Sex, du Trottel … Sexualpraktiken … Sexualstörungen … Homos … Lesben … Normale … Zwitter … Bi … Es gibt einen solchen Haufen … Und ist so ungeheuer wichtig.«

»Bei dir ist es also losgegangen. Armer Jakob …«

»Mensch, wenn du wüßtest, was ich gerade erlebt habe! Mir wackeln noch immer die Knie … Wie heißt der berühmte Professor in England, der sich auf Sex geworfen hat … jetzt habe ich den Namen vergessen … Fergusson! Den Fergusson mußt du sofort engagieren! Jakob ist seiner Zeit immer um zwei …«

»Mensch, der Fergusson ist eine Berühmtheit! Der hat den Nobelpreis! Der kriegt ein Vermögen bezahlt!«

»Dann bezahlen wir ihm das Doppelte! Widersprich nicht! Tu, was ich sage! Kauf ihn ein, ich verlasse mich auf dich! Wir kaufen alles! Alle anderen Ärzte müßten auch immer die Besten sein! Jakob Formann kauft nur das Beste! Immer! Kapiert?«

»Süßer, wer ist denn dieses Ekel, das uns da mitten in …«

»Halt den Mund! Nein, nicht du, Jakob!«

»Also ich verlasse mich auf dich! Jetzt muß ich nach Hamburg! Hotel ›Atlantic‹! Erwarte Vo … Vo … Vollzugsmeldung!«

»Burschi, leg dich bloß hin! Du kannst ja kaum noch reden, so müde bist du!«

»Müde? Ich? Nicht die Spur! Ich bin so taufrisch wie schon lange …« Jakob konnte gerade noch den Hörer in die Gabel fallen lassen, da sackte er auf dem Bett zusammen, in tiefsten Tiefschlaf. Das elektrische Licht brannte weiter. Jakob schnarchte ohrenbetäubend. Er träumte von den ›Verkehrsbeschränkungen‹ …

9

»Hier ist RIAS Berlin, eine Freie Stimme der Freien Welt! Guten Tag, meine Damen und Herren. Mit dem Gongschlag war es vierzehn Uhr. RIAS Berlin bringt Nachrichten … Nach Aufhebung der Berliner Blockade behindert die Volkspolizei der SBZ ab heute, Mitternacht, durch neue Schikanen das Leben in der geteilten Stadt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft sind sogenannte Verkehrsbeschränkungen …«

Das war das erste, was Jakob Formann hörte, als er, aus der Sowjetunion heimkehrend, auf eine Villa im Grunewald, West-Berlin, zuging. Laut hallte die Stimme des RIAS-Sprechers durch den großen Garten. Er berichtete von Autobahnkontrollen, von zurückgewiesenen Fahrern großer Laster mit Lebensmitteln, von Störungen im Flugverkehr durch die drei ›Luftkorridore‹, von Schleppern, die auf der Spree gestoppt worden waren …

Jakob betrat die Villa, deren Adresse man ihm gegeben hatte. Er fand seinen Chefschreiber in einer Bibliothek im ersten Stock. Hier stand, am offenen Fenster, das Radio, aus dem die Stimme kam. Es war ein schöner Junitag des Jahres 1949.

Seitdem Jakob zum letzten Mal in Berlin gewesen war – an jenem Tag vor etwa vier Wochen, an dem die Blockade beendigt wurde –, hatte sich einiges verändert, wenn auch nicht in Berlin: Aus dem westdeutschen Trizonesien war die Bundesrepublik Deutschland geworden – aber viel geändert hatte sich dadurch eigentlich nicht.

Klaus Mario Schreiber tippte wie ein Irrer auf einer Reiseschreibmaschine. Natürlich stand neben ihm eine Flasche Whisky. Halbleer.

»Tag, Schreiber!« sagte Jakob laut.

»Hallo, Che … Chef. Wo wa … waren Sie denn bloß? Hier gi … gibt’s ’ne … ’ne G … Gro … Großfahndung nach Ihnen!«

»Idioten! Wozu eigentlich? Mich haben die Russen erwischt. Sehr nette Leute übrigens. Ich bin nur aus Versehen in den Demokratischen Sektor gefahren. Absolut nichts Schlimmes, die vier Wochen. Aber was machen Sie denn da?«

»Neue Serie. Ga … Ganz eilig. ›Per … Persil bleibt …‹, pardon: ›B … Ber … Berlin bleibt d … doch Ber … Berlin‹. He … Heldenmut und Lobgesang auf … auf die Inselstadt, die … Fro … Frontstadt mi … mit zahlreichen herz … herzrührenden Einzelschicksalen. Ich habe das O … Ohr am H … Herzen des Volkes! Unsere Au … Auflage in Berlin ist no … noch sehr mau. Da … Das da jetzt wird hinhauen. Als n … nächstes mü … müssen wir uns auf unsere na … namenlosen Helden besinnen. Die ta … ta … tapferen T … Trümmerfrauen! Da … dann, ge … genia … geniale Männer. Sch … Schau … Schauen Sie s … sich an, Che … Chef! Da … Das W … Wunder! Ich p … plane au … auf lange Sicht. Sehe schon alle The … Themen vor meinem gei … geistigen Auge. Ja! … Ü … Über a … alles in der We … Welt!«

»Wer? Was?«

»Na, wi … wir! K … Kaiser Wi … Wilhelm und der Hi … Hitlinger haben’s versprochen – nu … nun ist es soweit: W … Wir gehen herr … herrlichen Zeiten entgegen! Je … Jetzt ge … geht’s los! Wi … Wir ha … haben ja soviel n … nachzuholen. F … Fressen. Richtig fre … fressen. Bi … bis die Sch … Schnauze sch … schäumt. S … Saufen. Richtig saufen … Na, u … und dann B … Bauen. Bauen. Bauen. U … und die B … Buden a … anständig ein … einrichten. M … Möbel und Te … Teppiche und Bi … Bilder an die W … Wände. U … und Au … Autos! Richtige Dinger. Sch … Schicke. Ni … nicht solche Ho … Holzvergaser … Solche wie die Amis ha … haben. A … Aber d … deutsche Wa … Wagen. Jedem Deu … Deutschen ein d … deutscher Wagen … Und dann, Che … Chef, dann geht’s erst r … richtig los!« Jakob stierte sprachlos auf seinen Klaus Mario Schreiber, der überhaupt nicht mehr zu bremsen war.

»Wie … wie … viele Länder ha … haben wir überfallen? Ju … Jugoslawien! G … Griechenland! F … Frankreich! Wer … werden wir alle n … nochmal überfallen! Friedlich! Mit schicken Au … Autos! Mi … mit schicken F … Flugzeugen! An der R … R … Riviera werden sie Deu … Deutsch lernen, passen Sie auf, Che … Chef! Ich sehe sch … schon die Ta … Tafeln vor den Re … Restaurants: Hie … Hier spricht man deu … deutsch! Hie … Hier gibt’s deu … deutsches Bier! Und deu … deutsches Ei … Ei … Eisbein! Ich hö … höre sch … schon den s … sehnsüchtigen G … Gesang ru … rund um die Welt: Wa … Warum ist es am Rhein so s … schön!«

»Bleiben Sie auf dem Teppich, Schreiber!«

»Ich sage doch, ich pla … plane voraus. Mu … Muß man! Na … Natürlich der Rei … Rei … Reihe nach. D … Die E … Erinne … Erinnerungen, die w … werden auch k … kommen. D … Dauert nicht m … mehr lange. U … unsere tapferen Jungs! Ga … Ganz menschlich … aber pack … packend … ›D … Die Ärztin von Stalingrad!‹ Gu … guter Titel, wa … was? Ich sammle sch … schon Titel für die nächsten zehn Jah … Jahre. U … Unsere w … wackeren Flieger! Werra! ›Einer ka … kam durch!‹ A … Aber immer fair! Auch t … tapfere Gegner! ›Taiga, Taiga!‹ So … Sogar die Ru … Russen waren Menschen! Jawohl, doch! Me … Menschlich, Chef, me … menschlich! U … Und die U … die U-Boot Fahrer! Und n … natürlich hätten wir den K … Krieg ge … gewonnen, wenn nicht …«

»Wenn nicht was?«

»Wei … Weiß ich im Moment noch ni … nicht. Fä … Fällt mir n … natürlich was ga … ganz Hervorragendes ein. Ni … Nicht verzagen, Sch … Schreiber fragen. Die Tragödie de … des s … siegreichen Un … Untergangs … ›Sprung au … auf, K … Kameraden, wir mü … müssen zurück!‹ U … Und die Mö … Mörder – n … nein, nicht die, die … die je … jetzt morden in Z … Zivil! De … Der mit den F … Frauen da an der Z … Zonengrenze! No … Noch ein Titel! ›Immer, wenn die Ne … Nebel fallen‹. Pri … Prima, was? ›Immer wenn‹ ist immer schön. Eine gute Story enthält ste … stets dreier … dreierlei: Blut, V … Vagina und Nationalfla … flagge.«

Der Sprecher im RIAS: »… würdigen alle Zeitungen der Bundesrepublik in Kommentaren und Berichten die hervorragenden Leistungen des verstorbenen Flugzeugkonstrukteurs Professor Donner, der, wie berichtet, gestern in seiner Vaterstadt Düsseldorf beigesetzt wurde …«

Jakob fuhr auf.

»Donner ist tot?«

»Ja. W … Wußten Sie das nicht, Che … Chef? Si … Sie sehen s … so gr … grün aus. Whi … Whisky, neh … nehmen Sie so … so … sofort einen großen Sch … Schluck …«

»Halten Sie’s Maul, Schreiber!«

»Da … Das ist a … aber da … das Be … Beste, wa … was es gi … gibt bei … bei Sch … Schwächeanfällen …«

»Sie sollen das Maul halten!« brüllte Jakob.

Donner tot.

Donner tot …

Donner tot!

»… zur Vorbereitung der Unterzeichnung eines französisch-italienischen Zollunionsvertrages …«

Vorbei. Jetzt habe ich nichts weiter gehört, weil der verdammte Trottel dazwischengeredet hat.

»Sie verdammter Trottel! Jetzt habe ich nichts weiter hören können! Sie wissen ja nicht, wer Professor Donner für mich war! Was er für mich getan hat!«

»Na … Na … Natürlich weiß ich alles, Ch … Chef. Re … Regen Sie s … sich nicht auf. We … werden Sie alles in de … der nächsten N … Nummer lesen. Ich war mit Se … Senkmann drüben, beim B … Begräbnis. Gro … Großer Bi … Bild- und T … Textbericht sch … schon in Pro … Produktion! Erschütternde Szenen am Familiengrab. Rede von einem Ja … J … Jagdflieger. Ein Ge … Genie, dieser Do … Donner. Na, ich sag’s do … doch: Kl … Klar hätten wir den K … Krieg gewo … wonnen. Aber wie! We … Wenn die … die andern sich nicht ge … gewe … wehrt und zu … zurückgeschossen hä … hätten. Ein Genie! Lauter Genies! Lau … Lauter geniale Generäle! U … Und we … wenn der Hitlinger den Ge … Generälen ni … nicht a … alles vermasselt hätte! Wa … War übrigens auch eine Da … Dame da. Aus Österreich.« Schreiber pfiff.

»Was soll das?«

»Pardon, Ch … Chef. Ein Zei … Zeichen der A … Anerkennung. To … Tolle Biene. Wa … Warten Sie mal … wie hat die gleich … Julia Martens ha … hat die geheißen. Gesagt, Sie kennen sie.«

»Das stimmt! Ja! Und! Mensch, Schreiber, machen Sie’s Maul ein bißchen schneller auf gefälligst! Haben Sie mit Frau Martens geredet?«

»Ja, Sie ha … haben mal zusammen was mit Ei … Eiern geha … habt, n … nicht? Die D … Dame hat nach Ihnen gefragt. Und mir ihre Adresse gegeben.«

»Die kenne ich. Theresienkron bei Linz.«

»Kei … Keine Spur. Dü … D … Düsseldorf.«

»Was?«

»Übersiedelt! Sch … Schon seit längerem.« Schreiber förderte aus seinen Taschen Unmengen der verschiedensten Gegenstände hervor und legte sie auf den Tisch. »Wo … Wo ist jetzt die Adresse, ver … verflucht?« Jakob erblickte ein schwarzes Damenseidenhöschen mit zarten roten Bordüren, das Schreiber gleichfalls aus einer Tasche gezogen und auf den Tisch gelegt hatte.

»Was ist denn das?«

Schreiber sah das Höschen kaum an.

»Da … Das ist ein Papagei.«

»Und ich denke, Sie arbeiten!«

»T … Tu ich ja. Bis zu … zum Umfallen, Ch … Chef! A … Aber wenn es der K … Körper verlangt … Au … Außerdem betrüge ich alle F … Frauen mit meiner Sch … Schreibmaschine!«

»Trotzdem, Sie sind ganz hübsch eifrig, was?«

»O ja, ja. A … Aber nur D … Damen der be … besten Gesellschaft.«

»Und Ihre Akne stört die Damen nicht?«

»Auf dem P … Pimmel hab’ ich keine! Also, das ist doch zu blöd …«

Jakob ließ seinen Blick über den Tisch schweifen. Er sah drei Bücher, Schreibers Namen darauf, nahm sie mechanisch und las: ›MICH WUNDERT, DASS ICH SO FRÖHLICH BIN‹. ›DAS UNSICHTBARE BROT‹.

›ICH BEICHTE ALLES‹.

»Das haben Sie auch geschrieben?«

»Wa … Was heißt auch? D … Das sind meine e … ersten R … Romane, die nicht gingen. Ei … Eines Tages wer … werden sie gehen, reine Geduldsfrage. Bei meinem Talent. Sch … Schreibe gerade einen neuen Roman.«

»Sie schreiben auch noch Romane?«

»Mu … Muß ich doch, Ch … Chef. OKAY alleine, und ich würde total verblö … den. Eines Ta … Tages, passen Sie auf …«

»Wie heißt denn Ihr neuer Roman?«

»›WER SCHÜTZT DIE LIEBENDEN?‹ Guter Tit … Titel, was? V … Verdammt guter R … Roman. Wie gesagt, ei … eines Ta … Tages … Da! Hier, neh … nehmen Sie den Z … Zettel! G … Graf-Adolf-Straße 312. Schrei … reiber verliert nie was!«

»Telefon?« Jakob war aufgeregt.

»Ha … Hat sie noch k … keines. K … Kriegt erst ei … eines. Wa … Was ist denn? Ch … Chef! Che … Chef! Wa … Was rennen Sie denn so – we … weg ist er. Ha … Handelt sich ohne Z … Zweifel um Li … Liebe.« Schreiber trank aus der Flasche, weil er einen grauenvollen Anfall von Nüchternheit im Anzug spürte, den er sofort bekämpfen mußte. Das kommt davon, wenn man zu lange quasselt und nicht auf sich achtet und nichts getrunken hat seit zehn Minuten. Unverantwortlich. Nach einem kräftigen Schluck strich er über eines der Bücher und sagte, traurig und absolut fließend: »Mich wundert, daß ich so fröhlich bin …«

10

JULIA-MODELLE.

Das stand in großen Neonbuchstaben über der Auslage des Geschäfts. Es war ein schönes Geschäft. Fassungslos sah Jakob die Kleider im Schaufenster an. Im Laden arbeiteten zwei Verkäuferinnen. Drei Kundinnen waren da. Menschen stießen gegen Jakob, der ein quadratisches, dünnes und schön verpacktes Geschenk trug. Die Graf-Adolf-Straße war schon wieder eine sehr belebte Straße, hervorragende Gegend für Geschäfte.

JULIA-MODELLE.

Nicht zu fassen. Der Hase ist aus Theresienkron weggezogen und hat hier ein Geschäft aufgemacht! Schickes Geschäft! Tolle Kleider. Na ja, Geschmack hat Julia immer gehabt. Aber die Eier! Die Eier in Theresienkron! Wie hat sie die Eier im Stich lassen können? Das hätte ich dem Hasen niemals zugetraut! Wieder wurde Jakob angerempelt. Das brachte ihn ein wenig zu vernünftigerer Betrachtung. Ich selbst habe die Eier in Theresienkron ja auch im Stich gelassen! Ich bin ja auch weggegangen und habe andere Geschäfte gemacht! Und was für andere! Wo bin ich überall gewesen! Und immer habe ich nach Theresienkron zurückwollen in all den Jahren. Oder wenigstens einen Brief schreiben oder anrufen. Hab ich’s getan? Nein. Ich war und bin immer noch zu sehr mit meinem Krieg beschäftigt. Quatsch, sei mal ehrlich, Jakob: Du bist ein Schwein. Ein Riesenschwein. Ein Schweineschwein. Das Kotzen kann einem kommen, wenn man so sieht, wie du dich gegen den guten Hasen betragen hast …

»Herrgott, passen Sie doch auf …«

»Passe Se selwer op! Steht allen em Weg, kiekt wie ’ne Jeck on süht on höht nix!«

Jakob ballte die Fäuste. In seiner Wut gegen sich selbst ging er auf den jungen Mann los, der eine helmartige Frisur, ein langes kaffeebraunes Sakko, geringelte Socken und Wildlederschuhe trug.

»Sie werden jetzt gleich Ihre Zähne suchen …«

»Huch! Lasse Se de Fote weg! Helf! Helf! Detlev! Kurt! Karl-Heinz! Die Type jrieft mech aan!«

Jakob sah sich plötzlich umringt von vier jungen Männern, die ihm das heftige Gefühl vermittelten, daß sie allesamt die Absichten, die den lieben Gott bei der Erschaffung des Weibes geleitet hatten, völlig mißverstanden …

Die Herren Päderasten standen vor, neben und hinter Jakob, außerdem war ein Alter hinzugekommen. Der trug Ringe und Kettchen und wallendes Haar und regte sich am meisten auf: »Halt bloß de Klapp, du, ja? Jliech wehste wat erlewe! Stänkern on Rabbatz make, hee, dat hamm’o geen! Treck Leine! Mer hannt ooch unser Ehr! Wat häste jejen ons?«

Jakob blinzelte.

»Ich habe gar nichts gegen Sie! Gar nichts! Der Strolch da ist in mich reingerannt …«

»Wat häste dem jesaht? Strolch?« schrie der Alte.

»Habe ich«, antwortete Jakob, außer sich, aber nicht etwa wegen der seidenweichen Knaben oder des alten Trottels, sondern wegen des Schildes JULIA-MODELLE. JULIA-MODELLE! »Na los«, schrie Jakob den ersten Knaben an. »Sie wollten doch was von mir! Ich schlage nicht zuerst! Ich warte! Sie sind dran! Danach könnt ihr was erleben, alle miteinander!«

»Dem hannt’se en et Jehirn jeschisse«, jaulte der Alte mit den Ketten. Ein Mann, der aussah wie ein Ringer, war stehengeblieben.

»Wat löpt denn hee? Well de wat von üch?« fragte er freundlich.

»Ech hann dem nix jedonn!« kreischte der Alte.

»Schnauze, du Aalwärmsau«, sprach der Ringer gemütvoll. Er holte aus und knallte dem ersten der vorlauten Knaben eine. Ganz zart. Der taumelte zurück, in die Arme seiner Freunde, und brach in Tränen aus. »Oh! Oh! He hät mech wieh jedonn …« Die anderen Herren redeten tröstend auf ihn ein.

»Vielen Dank«, sagte Jakob zu dem Ringer.

»Wor mech ’ne Jenoß, Herr Formann.«

»Sie kennen mich?«

Der Riese strahlte.

»No klor!«

»Woher?«

»Minsch, kannste dech net mieh an mech erennere? Ne, ech seh schon, du kanns net. Esch ben doch eene von de Kriegsjefangene, die met dinnem Kumpel Otto do em Hawe von Antwerpen jebrasselt hannt, als mir dat Deng met die Pariser jedrieht hannt …«

»Ach, daher!«

»Ja. On du häß min Motter tatsächlich CARE-Pakete jescheckt. Bis’ ’ne berühmte Mann hütt, weeß ech, weeß ech. Domols worsde noch ’ne Schiewer. Jetzt beste us’m Schnieder. Wors knorke domols. Dat verjiß ech nie. Wenn de mech mol bruchst – ech ben emmer do für dech.«

»Danke. Wo?«

»Kennste Düsseldorf net, wat? Fremd hee, wie? Seh ech sofort. Wat moßte eijentlech denke von ons Düsseldorf, mien Jott? Diese verfluchte Hinterlader! Usjerechnet Jraf-Adolf on Kö loofese röm en Rudeln. On Kö-Jrabe, wo de Schwän sen! All Stühl hennt’se do mit Beschlach jenomme. En Schand so wat! Moßt onbedengt en’n ›Eskwaja‹ komme. Hier, Jraf-Adolf-Stroß. Is ne jemötliche Scheff, der Carlo! Do arbeed ech. Jede Nacht. Do es emmer Ruh und Freede, Herr Formann. Wenn de Carlo dech emol näher kennt, moßte met dem eene süffe.«

»Sagen Sie, wissen Sie vielleicht, was der Otto Radtke macht und wo er wohnt?«

»Emmer noch en Duisburg, Herr Formann. Ech ben en ständige Verbindong met em. De wehd ooch nit heirode – jenau wie ech. Schön doof, heiroden, wat? Pardong. Du bes doch nit etwa …«

»Nein. Nein. Könnten Sie den Otto fragen, ob er für mich arbeiten will?«

»Für dech? Na klar! Wehd ech sofort donn! Als wat denn arbeede?«

»Chauffeur. Ich kann sehr gut selber fahren, aber …«

»Awer du bes ne zu jroße Mann, klar. Jeht nit. ’türlich bruchste ne Chauffeur, eene mendestens! Wo kann d’r Otto dech denn erreiche, Herr Formann?«

»Am besten über die Redaktion von OKAY in München, da weiß man immer, wo ich bin.«

»Wehd prompt erledigt, Herr Formann, on … wie es dat … kömmst en’n ›Eskwaja‹?«

»Wohin?«

»Ahso. Mi Düsseldorfer Platt verstehste net. Paß op: E-es-kuh-i-er-e!«

»Esquire?!«

»Jo doch! Also kömmst’?«

»Ich werde es versuchen. Ihr werter Name? Ich habe Sie ja damals nicht persönlich kennenlernen können.«

»Klor. Theo.«

»Theo wer?«

»Theo jenücht, Herr Formann, Eskwaja-Theo. Dat es’n Bejreff.« Und nun wandte sich Esquire-Theo an die immer noch etwas betroffen herumstehenden Süßen: »Ihr Aps, haut bloß af en’ et Motterhuus! Versaut onser Düsseldorf net! Ihr weßt, dat es ›Klein-Paris‹, hee!« brüllte er die Knaben und den Alten an. Die flüchteten kreischend. »Also dann im ›Eskwaja‹, Herr Formann. Wor mer eine Ehr, üch jeholfe zu hann.« Er zog seine Mütze. Jakob schüttelte ihm herzlich die Hand, dann betrat er das Geschäft. Wieder versank er in Grübeln. Ach, ist das wunderbar hier! Das hat er sicher alles selbst eingerichtet, der Hase. Der hat schon immer so viel Geschmack gehabt. Das ist doch die beste Frau von allen. Und was hab’ ich getan, ich blöder Hund?

»… wünschen, mein Herr?«

Jakob schrak auf. Eine der hübschen Verkäuferinnen hatte ihn angesprochen. Sie lächelte.

Jakob sprach mit Mühe: »Ist Frau Martens da? Ich bin … ein alter Bekannter von ihr. Habe sie lange nicht gesehen …«

»Frau Martens ist vor einer Viertelstunde hinaufgegangen.«

»Wo hinauf?«

»Sie wohnt im Haus. Vierter Stock links.«

11

»Ja?«

Es gibt Menschen, die sind einem vom ersten Moment an zum Kotzen. Wie der junge Mann da, der die Wohnungstür geöffnet hat, nachdem ich geläutet habe.

»Tag. Hier wohnt doch Frau Martens, nicht?«

»Sicherlich. Warum?«

»Weil ich sie sprechen möchte.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Das geht Sie doch einen Dreck an«, sagte Jakob unwillkürlich, die Fäuste ballend. Sein neuer Freund Theo hatte ihn sehr mutig gemacht. Was ist das bloß für ein Kerl? Groß, schlank, Mandelaugen, ganz dunkelbraun – wie das allzu sorgfältig frisierte Haar. Prima in Schale. Kommt sich vor wie König Koks von der Gasfabrik! Dem werde ich gleich mal kurz an den Schlips gehen. Jakob trat einen Schritt vor. Im selben Moment ertönte eine Stimme: »Wer ist denn das, Erich?«

Ach Gott, ach Gott, die Stimme vom Hasen! Und da war der Hase auch schon selber, achgottachgottachgott. Julia kam aus einem Zimmer in die Diele. Ist ja noch schöner geworden, dachte Jakob bitter.

»Guten Tag, Julia«, sagte er munter. (Hase lassen wir besser, vielleicht ist sie mit dem Scheißer da verheiratet, was weiß man?)

Keine Antwort.

»Julia! Ich bin’s! Der Jakob!«

Immer noch keine Antwort.

»Ich glaube, Frau Martens möchte Sie nicht empfangen«, sagte der junge Herr. Er hatte einen blauen Zweireiher mit Nadelstreifen, die Schultern waren mächtig ausgestopft.

»Kusch!« Jakob schob ihn beiseite und ging auf Julia zu. Mit einer ganz kleinen, ganz schrecklich leisen (Jakob brach fast das Herz entzwei) Stimme sagte der Hase: »Guten Tag, Jakob.«

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