Laureen zündete sich inzwischen eine Zigarette an. Sie benützte eine unmäßig lange goldene Spitze. Minuten verstrichen. Der Zug verlangsamte seine Fahrt. Ein paar schwache Lichter huschten vorüber.

»Da hätten wir Attnang-Puchheim«, sagte Laureen.

»Und da hätten wir den Human touch«, sagte Jakob.

Sie fuhr im Bett hoch.

O Gott, schon wieder, dachte Jakob. Diese Augen …

»Du hast ihn?«

»Ja.«

»Und du hast dich entschlossen, mit mir zusammenzuarbeiten?«

»Was bleibt mir denn anderes übrig?«

»Wie ist das mit dem Human touch?« fragte sie.

»Was schaut denn bei der Sache heraus?« fragte er.

»So rund zweihunderttausend Dollar.«

Jakob streichelte die alte, steinharte Hasenpfote. Dabei zeigte sich zum erstenmal, daß dieselbe wirklich Glück brachte und ihren Besitzer beschützte. Jakob dachte: So rund zweihunderttausend Dollar, hat das Weib gesagt. Du liebes Gottchen! … Da bleibt natürlich einiges für mich hängen! Mann, auch nur mit hunderttausend Dollar kann man heute ganz Deutschland kaufen! Deutschland? Den Trümmerhaufen will ich gar nicht! Aber mit guten Dollars könnte ich jetzt meine Eier- und Fertighäuserprojekte groß aufziehen! Ganz groß! Um Jakob drehte sich alles ein wenig. Das ist schon eine Pfote, diese Pfote!

Wenn das so weiterging!

»Einverstanden«, sagte er. »Hundertzwanzigtausend für mich, achtzigtausend für dich.«

»Ich sehe schon, ich werde mit meinem russischen Freund sprechen müssen.«

»Entweder wir einigen uns, oder du kommst nicht mehr lebend aus dem Abteil, Süße.«

»Hunderttausend für mich und hunderttausend für dich! Ich bringe den Paß!«

»Und ich bringe den Human touch.«

»Gefalle ich dir eigentlich gar nicht, Jake?«

»Okay, okay«, sagte Jakob. »Du hast dir in der Zwischenzeit doch sicherlich immer brav die Zähne geputzt nach der Werwolfgeschichte. Also schön. Hunderttausend für dich, hunderttausend für mich.«

»Moment mal, ja? Was ist der Human touch?«

»Wir müssen heiraten, Liebling.«

»Das nennst du Human touch?«

»Das nenne ich Human touch, ja! Die süße Zeit der Flitterwochen! Wir haben nur Augen und alles andere füreinander! Das Glück, stell es dir vor! Ganz jung verheiratet!«

»Wenn’s nichts Schlimmeres ist.«

»Du kommst als meine Frau mit nach Paris.«

»Als Señora Cortez?«

»Nein, als Mrs. Fletcher! Dazu muß ich einen falschen Paß auf den Namen Fletcher – Vorname ist mir egal – kriegen.«

»Wenn’s weiter nichts ist.«

»Hat der korrupte Handelsattaché einen Wagen mit einer CD-Nummer?«

»Ja. Einen großen.«

»Hast du eine Bankverbindung in Amerika?«

»Selbstverständlich. Wofür hältst du mich?«

»Sehr gut«, sagte Jakob. Dann begann er, den Human touch zu erläutern. Laureen war tief beeindruckt. »Großartig, Jake!« Sie ließ sich zurückfallen und lag jetzt ganz im Freien. »Schließlich werden wir nun doch bald als Eheleute auftreten«, sagte sie. »Da möchtest du dich vielleicht ein wenig besser bei mir auskennen.«

»Ich muß mich ganz genau bei dir auskennen«, sagte Jakob und stellte wieder einmal sein außerordentlich gutes Verständnis für Frauen unter Beweis. Mit vollem Erfolg …

Salzburg lag hinter ihnen, als Laureen, selig und schläfrig in seinen Armen, murmelte: »Jake …?«

»Hm?«

»Wenn du unbedingt willst, nimm dir hundertzwanzigtausend!«

»Ah, nein!« sagte Jakob. »Darauf hättest du vor Attnang-Puchheim eingehen müssen. Jetzt käme ich mir unanständig vor.«

31

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte Jakob Formann.

Er hatte die Caritas-Baracke im völlig zerstörten Münchner Hauptbahnhof betreten und kämpfte mit der Tür, die sich fast nicht schließen ließ, so schlimm tobte der Schneesturm.

Eine Schwester mit schwarzem Lodenumhang sah diesen höflichen, gläubigen Menschen freundlich an. »Wir sagen nur ›Grüß Gott‹«, sprach sie mit sanftem Lächeln. »Gelobt sei Jesus Christus … Ach, wie lange ist es her, daß jemand das zu mir gesagt hat! Ja, früher …«

»In meiner Familie haben wir Geistliche Herren und Geistliche Schwestern nur so gegrüßt, gute Schwester«, behauptete Jakob.

»In meiner auch. Gelobt sei Jesus Christus«, nuschelte der kleine, magere Mann, der mit Jakob in die Baracke geschlüpft war.

»In Ewigkeit. Amen … Wir sind komplett, aber für Notfälle haben wir immer noch ein Kämmerchen«, erklärte die gute Schwester. Sie mußte laut sprechen, um das Schnarchen, Röcheln und Rasseln der schlafenden Menschen, die hier herumlagen, zu übertönen. Zwei Minuten später ruhte Jakob auf einer Pritsche des Notfall-Kämmerchens. Auf einer zweiten Pritsche ruhte der Kleine. Die gute Schwester hatte sie mit dem Versprechen verlassen, für beide beten zu wollen, inniglich.

Und der Franzl und die Laureen liegen auf weichen Schlafwagenbetten im ›Orient-Expreß‹, dachte Jakob, und keiner betet für sie, inniglich. Nicht neidisch sein. Ich komme ja nach. Bald. Meine Eier haben Vorrang …

Der ›Orient-Expreß‹ hatte München um 5 Uhr 30 früh erreicht, besser: das, was von München übriggeblieben war, und das war sehr wenig. Jakob stand, vom Schneesturm umheult, und gähnte. Was so ein richtiger Werwolf ist, der ermüdet auch den geübtesten Herrn …

Unweit des Münchner Hauptbahnhofes erblickte Jakob den Eingang eines Tiefbunkers. Na, dachte er, da wird sich ja noch ein Plätzchen finden lassen. (Jakob konnte überall schlafen, auch auf Betonboden. Wenn man ihn nur ließ.)

Er erreichte den Eingang zum Tiefbunker. Dort stand eine Telefonzelle ohne Glasscheiben, so daß jedermann hören konnte, was ein kleiner Mann, der gerade telefonierte, sagte. Der kleine Mann sagte, der Kaffee könnte jetzt abgeholt werden. Neben sich hatte er einen Sack. Überstark roch der Kaffee. Jakob schnupperte. Zwei Bahnpolizisten, die neben der Zelle standen, mußten ihn eigentlich auch riechen. Offenbar nicht. Jakob wollte den Tiefbunker betreten. Daran wurde er durch einen verschlafenen Mann gehindert, der, dick vermummt, quer hinter dem Eingang des Bunkers auf dem Boden lag.

»Was wollen denn Sie?«

»Wer sind denn Sie?«

»Portier von diesem Hotel.«

»Blöde Frage. Schlafen.«

»Kommt gar nicht in Frage.«

»Warum nicht?«

»Weil … wir sind überkomplett«, sagte der Hotelportier. »Da gibt’s nur noch die Caritas-Baracke. Bahnhofsmission«, sagte der Vermummte auf dem Betonboden.

»Wohlan«, sagte Jakob. »Ich danke für den Hinweis.« Als er zu der Telefonzelle kam, fuhr da gerade ein Auto mit Holzvergaser vor. An der Windschutzscheibe steckte ein großes Schild. ARZT IM DIENST, las Jakob. Interessiert blieb er stehen und beobachtete, gemeinsam mit den beiden verträumten Polizisten, wie der kleine Schwarzhändler, der telefoniert hatte, den Sack zum Auto schleppte, dessen Fahrer den Kofferraum geöffnet hatte. Der Kaffee wurde verstaut. Geldpacken wechselten den Besitzer. Der ›Arzt im Dienst‹ fuhr ab. Der Kleine beleckte die klammen Finger und zählte Scheine.

»Immer lustig«, sagte Jakob zu den beiden Polizisten.

Derjenige, der ihm antwortete, sprach gepflegtes Hochdeutsch: »Was wollen Sie, mein Herr? Die Lage verschlechtert sich rapide. Verglichen mit heute haben hier vor einem Jahr noch zivilisierte Zustände geherrscht. Ich bin als einer der letzten aus Stalingrad herausgeflogen worden. Meinen Sie, ich riskiere nun in der Heimat mein Leben?«

Der kleine Schwarzhändler, der das Geldzählen beendet hatte, fluchte laut: »Jetzt kann ich bei der Kälte zurück nach Giesing! Ich frier’ mir noch mal meinen Johnnie ab!«

»Warum müssen Sie denn auch um diese Zeit arbeiten?« forschte Jakob.

»Weil da die Polizei, mein Freund und Helfer, aufpaßt. Du hast ja keine Ahnung, was sich hier am Tag für kriminelle Elemente herumtreiben!« Der Kleine sprach mit einem östlichen Akzent.

»Bist du fromm?« fragte Jakob den Kleinen.

»Was soll die blöde Frage?«

»Ich auch nicht. Aber jetzt müssen wir es sein«, sagte Jakob. »Los, komm!« Und er ging schon voraus in Richtung auf die Caritas-Baracke.

32

»Wollen wir noch eine pusten?« fragte Jakob eine Viertelstunde später, auf der Pritsche des Notfall-Kämmerchens liegend, wobei er sich wohlig streckte.

»Sehr freundlich!« Der Kleine nahm eine ›Chesterfield‹ aus der Packung, die Jakob ihm hinhielt.

1947 – Hunger und Hoffnung

4. Januar: DER SPIEGEL. Nr. 1.

März: Volksmund: Zusatzfrage zum Entnazifizierungs-Fragebogen: »Gedenken Sie im Jahr 1948 noch zu leben? Wenn ja – wovon?«

5. Juni: Marshallplan, ERP (bis 1951 an West-Europa 12,4 Milliarden $, davon an West-Deutschland 1,7 Milliarden $).

10. Juni: Durch »Gemeinsame Anordnung« der US- und der britischen Militärregierung wird die »Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes« (im Volksmund: Bizonesien) errichtet.

5. Juli: In Berlin wurde auf dem Schwarzen Markt ein Negerbaby gegen 8 Doppelzentner Zucker und laufende Lebensmittelzuteilung angeboten. Es war sofort »vergriffen«.

Juli: John Scott in »Time«: »Die Deutschen sind augenscheinlich nicht bereit, irgend etwas zu der Zukunft Europas beizutragen außer harten Worten und der Hoffnung, daß sie die amerikanisch-russischen Spannungen zu ihrem Vorteil ausnutzen können.«

Der britische Vize-Luftmarschall Champion de Crespigni, Gouverneur von Schleswig-Holstein: »50 Prozent der schleswig-holsteinischen Bevölkerung gehen einem langsamen Hungertod entgegen.«

18. August: Erste Exportmesse in Hannover.

31. Oktober: Die argentinische Regierung gibt bekannt, daß infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 125 Millionen Sterling verbrannt werden müßten.

20. November: Zur Hochzeit der britischen Prinzessin Königin Elizabeth mit Philip Mountbatten schickt der Ortsausschuß Düsseldorf der Christlichen Arbeiterjugend als Geschenk die Tagesration eines Normalverbrauchers im Ruhrgebiet (300 g Brot, 5 g Fett, 12,5 g Fleisch, 2 g Käse, 40 g Nährmittel).

Enteignungen in der Sowjetzone: »Volkseigene Betriebe« (VEB).

Paul von Hindenburg, Generalfeldmarschall und Reichspräsident, wird entmilitarisiert, obwohl er bereits 1934 verstorben ist.

Thomas Mann: Martin Luther sei schuld daran, daß es Preußentum, Staatsvergottung und Nationalsozialismus gegeben habe, und Luther sei ihm außerdem wegen seiner Vorliebe für Musik unsympathisch.

Bertolt Brecht bestreitet in den USA bei einem Verhör über »unamerikanische Umtriebe«, jemals Kommunist gewesen zu sein.

Hans Werner Richter gründet die »Gruppe 47«.

»Du bist doch ein gebildeter Mensch, habe ich den Eindruck«, sagte Jakob. »Wie kann …«

»… ein so schönes Mädchen wie ich so tief sinken?« Der Kleine grunzte angeekelt. »Ich bin Flüchtling. Aus Gleiwitz. Mensch, ich hab’ vielleicht einen Rochus!«

»Auf wen?«

»Auf die deutsche Gerechtigkeit!« Die Wärme hatte den Kleinen munter werden lassen. Nach eigenem Bekunden hieß er Wenzel Prill, einunddreißig Jahre alt, alle Angehörigen umgekommen. Fast-Akademiker …

»… beim Ausbruch des Krieges mußte ich sofort an die Front. Dann wurde ich verwundet, am Schädel, und ich konnte studieren. Jura.«

Diese Erklärung entzückte Jakob bereits. Ein hochintelligenter Mann, dachte er. Genau der Typ, den ich jetzt brauche!

Das einzige, berichtete der hochintelligente Mann, was er aus dem großen Zusammenbruch im Osten bis nach München habe retten können, war eine Brieftasche gewesen. In der Brieftasche hatten sich zwanzigtausend RM befunden. Natürlich wurde ihm diese Brieftasche gestohlen …

»… hab’ ich Anzeige erstattet. Hab’ den Dieb beschreiben können. Bei einer Razzia in der Möhlstraße haben MPs den Dieb dann verhaftet. Die Möhlstraße – das ist das Schwarzmarktzentrum, weißt du?«

»Was?«

»Na, die Möhlstraße hier! Den Kerl haben sie eingelocht. Nackt ausgezogen. Alle Taschen durchsucht. Ihm hinten und vorn reingeschaut. Nix. Der Kerl hat die zwanzigtausend nicht mehr gehabt. Auch nicht die Brieftasche. Nur eine goldene Repetieruhr.«

»Na also!« Wenzel lachte hohl.

»Warum lachst du so dämlich, Wenzel?« fragte Jakob. »Die Uhr wird das Schwein vermutlich mit deinen zwanzigtausend Piepen gekauft haben.«

»Richtig.«

»Na also! Da war doch dein Vermögen wieder!«

»Habe ich auch gedacht. Ein braver Mensch, der Dieb, habe ich gedacht. Also wirklich. Er war sofort geständig. Da lag die Uhr. Schön, hab’ ich gedacht, werden sie mir also die Uhr geben. Aus Gold. Eine Repetieruhr. Die hat ›Üb immer Treu und Redlichkeit‹ gespielt. Da kann man auch eine Existenz damit aufziehen. Hab’ ich gedacht. Aber ich hab’ mich geirrt.«

»Wieso?«

»Der Fall ist vor ein deutsches Gericht gekommen. Die gibt’s schon wieder. Gerichte gibt’s in Deutschland immer. Der Herr Staatsanwalt hat eine flammende Rede gehalten. In’n Knast mit dem Dieb! hat er gefordert. Ganz meine Meinung! Ganz die Meinung vom Richter! Der hat dir den Dieb vielleicht verdonnert, Mensch!«

»Und du hast die Uhr gekriegt!«

Wenzel betrachtete Jakob wie ein Lehrer einen idiotischen Schüler.

»Hast wohl noch nie mit einem deutschen Gericht zu tun gehabt, eh?«

»Es hat sich noch nicht ergeben. Entschuldige.«

Wenzel akzeptierte die Antwort mit einem Kopfnicken und berichtete weiter. Die Uhr hatte er natürlich nicht zurückbekommen. Denn, so der Vorsitzende in der Urteilsbegründung mit rasiermesserscharfer Logik, es war dem Wenzel diese goldene Uhr ja auch nicht gestohlen worden. Gestohlen worden war ihm eine Brieftasche mit zwanzigtausend RM. Infolgedessen behielt das Hohe Gericht die goldene Uhr. Jemand mußte schließlich die Prozeßkosten bezahlen, nicht wahr? Und natürlich wurde der Wert der Uhr nach dem Preis von vor 1939 berechnet, nicht zum gegenwärtigen Schwarzmarktpreis. Ein deutsches Gericht treibt keinen Schwarzhandel, üb immer Treu und so weiter …

»… so war das, mein Junge!« schloß Wenzel seinen Bericht im Notfall-Kämmerchen der Caritas-Baracke. Er sah Jakob an. »Was ist mir übriggeblieben? Mein Studium hab’ ich nicht vollendet. Gelernt hab’ ich nichts. Also blieb nur der Schwarzmarkt, und da hab’ ich mich auf Kaffee geworfen. Was Besseres gibt’s nicht für einen wie mich.«

»Doch«, sagte Jakob.

»Was?« fragte Wenzel.

»Eier«, sagte Jakob. Und erzählte dem Kleinen ein wenig von seinen großen Plänen. Der war beeindruckt.

»Das klingt nicht schlecht, mein Junge.«

»Willst du mit mir zusammenarbeiten?«

»Halbe-halbe.«

»Nix halbe-halbe. Du kriegst genug, ich bin nicht kleinlich. Später gibt’s auch Gewinnbeteiligung. So einen Rechtsverdreher wie dich brauch’ ich jetzt.«

»Na schön. Du wirst aber auch noch andere Leute brauchen – wenn du viele Hühner hast. Da gibt’s einen Haufen zu malochen!«

»Weiß ich.«

»Und Geld! Und unser Geld ist doch nur noch der Dreck vom Dreck!«

»Unseres, ja. Dollars sind auch Dreck, eh?«

Dem Kleinen stand der Mund offen. »Hast du Dollars gesagt?«

»Hab’ ich gesagt«, antwortete Jakob und gedachte herzinniglich des Werwolfs, des Arnusch Franzl und des Geschäfts, das er mit ihnen vorhatte.

33

»Dem Robert haben sie sein Fahrrad geklaut.«

»Der hat doch gar keins gehabt!«

»Doch. Onkel Franz hat ihm eins verkauft.«

»Und wann ist es geklaut worden?«

»Gestern nachmittag.«

»Wo?«

»Am Stachus. Er hat Emil rasch die Butter bringen wollen.«

»Okay, was kann ich für Sie tun?« fragte daraufhin der bleiche, hohlwangige Buchbinder Josef Mader in einem Haus an der Schellingstraße, besser: im Keller eines Hauses, das es einmal an der Schellingstraße gegeben hatte. Den Keller gab es noch. Jakob stand dem Buchbinder in dessen Kellergeschäft gegenüber. Es roch nach Papier, Leim und Schweineschmalz. Schon die ganze Zeit während des Idioten-Dialogs hatte Jakob von den drei Gerüchen der nach Schmalz am meisten tangiert. Das Wasser war ihm zusammengelaufen im Munde. Herr Mader hatte Schmalz in dem seinen. Auf einem Stück Brot vermutlich. Er schien gerade Pause gemacht zu haben, als Jakob gekommen war, und hatte ein wenig undeutlich gesprochen. Schmalzbrot – das hatte Jakob seit Kindesbeinen am liebsten gegessen.

Die Fenster des Geschäfts befanden sich nahe der Decke des Gewölbes. Ab und zu sah man ein Paar Unterschenkel in Schuhen und Hosen vorübergehen. Durchlöchert, zerfetzt. Die Schuhe und Hosen. Schmalzbrot frißt der Kerl, dachte Jakob voll verzehrender Sehnsucht. Nach einem so großen Krieg. Und weiche keinen Fingerbreit … Ich deliriere ja schon, das gehört ganz woandershin, ich muß mich zusammenreißen!

Jakob überwand einen heftigen Anfall von Schwindel und schüttelte dem Schmalzbrotesser die Hand. Dann sagte er, daß er von Mrs. Fletcher komme.

»Das habe ich schon an dem Spruch gemerkt, den wir da aufgesagt haben von Robert und dem geklauten Fahrrad. Sie müssen das Theater verstehen«, sprach Mader, Jakob mitten ins Gesicht (richtiges Schweineschmalz, dachte er … von Gottes Wegen ab), indem er einen Arm um des Besuchers Schulter legte, »aber ich muß vorsichtig sein. Wir leben in gefährlichen Zeiten. Und da geht’s nicht ohne ein gutes Erkennungszeichen.«

»Wem sagen Sie das, Herr Mader?« antwortete Jakob (dem seine Hilde-Laureen den Erkennungs-Dialog beigebracht hatte) und dachte: Wenn der Kerl endlich runterschlucken würde, damit ich das Schmalz nicht mehr riechen muß!

Der Kerl versperrte die Eingangstür des Ladens, hängte ein KOMME GLEICH WIEDER-Schild daran und schluckte endlich. Gott sei Dank, dachte Jakob. Hat es eigentlich schon mal einen Schmalzbrot-Lustmord gegeben? Der Buchbinder ging zu einer Wand mit Stellagen. Ein Regal schwang zurück, nachdem Mader auf den Lederrücken eines Buches des Dichters Heinz Steguweit (der gerade verboten worden war) gedrückt hatte. Jakobs Blicken bot sich ein großes Hinterzimmer.

»Bitte, kommen Sie weiter«, lud Herr Mader ein. Jakob trat in das Hinterzimmer, das ebenfalls mit Bücherregalen bestückt war. Mader drückte auf den Lederrücken des ›Kapital‹ von Karl Marx (das gerade wieder erlaubt war). Das Regal schwang zurück und rastete mit lautem Klick ein. Jakob sah sich um. In dem zweiten Raum befanden sich Druck-, Zeichen- und Fälscherutensilien aller Art, als da sind Pinsel, Fläschchen, Stempel, Schreibfedern und dergleichen. Auch eine handliche Presse gab es. Das meiste befand sich auf einem überladenen Tisch. Ein Stückchen des Tisches war freigeräumt worden. An dieser Stelle erblickte Jakob einen Teller mit Graubrot, einen Salzstreuer, einen zweiten Teller mit drei bestrichenen Schmalzbroten, eine geöffnete Schmalzkonserve der Deutschen Wehrmacht sel., Messer, Gabel und eine Tasse voll dünnem Tee neben einer Teekanne. Die Narbe an Jakobs Schläfe begann zu zucken.

»Oh«, sagte unser Freund mühsam, »ich habe Sie beim Essen gestört, Herr Mader.« Er mußte die Augen schließen, denn er ertrug den Anblick der Schmalzbrote nicht.

»Aber überhaupt nicht«, sagte der Buchbinder munter. »Kleine Arbeitsruhe, sonst nichts. Was darf es also sein, lieber Herr Formann?«

Die Augen blinzelnd geöffnet, setzte sich Jakob auf die alte Handpresse.

»Einiges.« Mader nickte, setzte sich auf einen Sessel und aß weiter. Dazu schlürfte er Tee. Jakob fuhr fort: »Auf Mrs. Fletchers Kosten.«

»So ist es.« Mader nickte. »Mrs. Fletcher ist Dauerkundin. Was haben Sie denn, mein Gott? Ist Ihnen nicht wohl? Sie haben vielleicht noch nicht gefrühstückt?« Jakob konnte das nur noch mit einer Kopfbewegung bestätigen. »Um Himmels willen, dann nehmen Sie doch, nehmen Sie doch – es ist zwar nur Schmalzbrot und Kamillentee, warten Sie, ich hole noch eine Tasse …«

»Vergelt’s Gott«, flüsterte Jakob.

»Wenn ich also bitten darf«, sprach der Fälscher. Er überreichte ein Schmalzbrot. Jakob saß erstarrt.

»Nun beißen Sie schon hinein!«

Jakob biß. Kaute. Schluckte. Biß wieder. Begann sich wie ein reißender Wolf zu betragen. Ja, dachte er taumelig, so schmeckt das eben. Ach, diese Wonne, ach, diese Seligkeit!

»Langsam! Langsam! Es gibt noch mehr, und niemand nimmt Ihnen etwas weg, Herr Formann. Hier, ein Schlückchen Tee.« Jakob trank. Jakob aß. Jakob trank. Jakob aß.

»Seit meiner Kindheit …«, begann er, bekam etwas in die falsche Kehle, und Mader mußte ihm auf den Rücken klopfen und auffordern, die Arme zu heben. Eben noch entging Jakob dem mit Recht als qualvoll bezeichneten Erstickungstod. »… seit meiner Kindheit gibt es nichts Schöneres für mich als Schmalzbrote. Ich bitte Sie, mir mein Betragen zu verzeihen, Herr Mader!«

»Aber Herr Formann! Kann ich doch verstehen! Geht mir doch genauso! Essen Sie, essen Sie! Es sind noch genug Büchsen da. Ich habe sie mir herübergerettet aus dem Krieg. Traurig genug.«

»Was?«

»Was die Hunde den armen Landserschweinen zugemutet haben!« Mader empörte sich und schlug auf den Sattel seines Fahrrades, das neben ihm, an eine Wand gelehnt, stand. Die Klingel schepperte.

Danach wurde die Unterhaltung ein wenig chaotisch.

»Wie kommt denn hier ein Fahrrad her?«

»Na, sind in dem Schmalz vielleicht genug Zwiebeln für Ihren Geschmack drin? Ich hab’ einen kleinen Handel mit Fahrrädern.«

»Ein bißchen mehr Zwiebeln könnten schon drin sein. Woher haben Sie Fahrräder, Herr Mader?«

»Ein bißchen mehr? Ich sage Ihnen, die Schweine haben alles für sich behalten!«

»Welche Schweine?«

»Na, die Bonzen natürlich! So um einundvierzig herum hat’s plötzlich geheißen, wir machen nach einem genialen Einfall des Führers ein Giftgas aus Zwiebeln, weil die bösen Feinde angeblich ein Gas aus Senf gemacht haben. Das war der Grund, warum es keine Zwiebeln mehr gegeben hat! Erinnern Sie sich nicht?«

»Ich war den ganzen Krieg an der Front, Herr Mader.«

»Dann glauben Sie mir! Giftgas – lächerlich! Selber haben sie die Zwiebeln fressen wollen, die Bonzen, und reintun ins Schmalz. Ganz abgesehen von den guten Grieben. Finden Sie eine einzige Griebe in dem Schmalz da?«

»Leider nicht. Zunächst einmal brauche ich einen amerikanischen Paß auf den Namen Fletcher.«

»Da jetzt neue Zwiebeln reinzumengen, wäre Wahnsinn. Schmeckte niemals! Abgesehen davon, daß es Zwiebeln nicht gibt. Die haben gedacht, sie können einfach alles mit uns machen, die Schweine. Sie haben Glück. Erst gestern ist wieder eine Sendung reingekommen. Sie müssen nämlich zuerst einen amerikanischen Paß haben, wenn Sie einen fälschen wollen, wissen Sie?«

»Weiß ich, ja. Und … und Sie handeln auch mit Fahrrädern?«

»Wann wollen Sie geboren sein?« Mader schluckte Reste und packte den nächsten Kanten. Wie kann ein Mann nur so verfressen und dabei so abgemagert sein? sinnierte Jakob. »Klar. Dachten Sie, ich bin Sammler?«

»Von was?«

»Von Fahrrädern! Sie haben mich doch gefragt, oder?«

»Hab’ ich, ja. Irgendwann. 1920, 21, 22. Monat und Tag egal. Wie Sie’s am leichtesten fälschen können. Ich bin in Eile. Visa für Frankreich und Belgien, bitte. Noch mindestens drei Monate gültig, die Visa. Und Sie glauben wirklich, daß die Bonzen auch alle Grieben …«

»Klar! Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Vorname?« Mader hatte einen Block herausgezogen, einen Bleistift genommen und machte mit einer fettigen Hand fettige Notizen.

»Zwei Vornamen, bitte. Suchen Sie sich zwei aus. Solche, wo Sie am wenigsten Arbeit mit haben. Mir sind die Namen egal. Meiner Frau auch.«

»Was ist schon ein Name? Sie haben ganz recht. Sie sind also der Herr Gemahl von Mrs. Fletcher.«

»Ja. Dürfte ich … noch ein Brot …«

»Soviel Sie wollen, lieber Herr Formann. Freut mich, daß es Ihnen schmeckt. Ordentlich Salz drauf!«

»Wir haben vor einem halben Jahr geheiratet. Danke. Salz gibt’s wenigstens noch frei. Halbes Jahr, schreiben Sie sich’s auf!«

»Schon geschehen. Herzlichen Glückwunsch zur Vermählung, Herr Formann. Natürlich brauchen Sie auch noch andere Dokumente. Wollen mal sehen.« Mader rieb sich die Fettfinger am Hosenboden sauber, während er zu einem Wandtresor schritt. Als Herr Mader den Tresor öffnete, sah Jakob beglückt, daß der zum Bersten gefüllt war mit Dokumenten aller Art. Und mit Schmalzkonserven.

»Laureen hat mir gesagt, Sie haben einfach alles, Herr Mader.«

»Da hat Laureen die Wahrheit gesagt. Es gibt wirklich nichts, was ich nicht habe.«

»Aber wo bekommen Sie das ganze Zeug her?«

»Wo hat der Hermann Göring seine Giftkapsel herbekommen, hä?« Mader erleichterte sich durch sanftes Aufstoßen. »Nun wollen wir mal sehen, was wir alles brauchen für Sie …« Er wühlte in seinen Beständen.

»Von einem … Sie kriegen das alles tatsächlich von den Amis?«

»Wenn Deutsche einen Ami dazu bringen, so eine Zyankalikapsel in Nürnberg bis in die Zelle zu schaffen, dann werde ich ja wohl hier in München auch meine Möglichkeiten haben. Bei mir geht’s schließlich nicht um Tod und Leben.«

»Trotzdem. Billig werden Ihre Lieferanten nicht sein!«

»Glauben Sie, ich bin billig? Aber meine falschen Papiere sind echter als echte! Keine Sorgen. Noch ein Schmalzbrot? Zahlt alles die werte Frau Gemahlin. Wenn Sie noch was Russisches oder Englisches benötigen …«

»Im Moment nicht, lieber Herr Mader.«

»Bitte, bitte. Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, daß ich mit den Alliierten zusammenarbeite.«

»Wie schön. Vielleicht ein andermal. Natürlich auch Visa für Austria und Germany. Laufdauer, was Sie verantworten können.«

»Dann würde ich den Stempel ›Special Mission‹ empfehlen, Herr Formann.«

»Wie es Ihnen am besten erscheint, lieber Herr Mader.«

»’n Geburtsschein brauchen Sie unbedingt.« Und nun wählte der Künstler ein Dokument nach dem anderen aus dem Tresor. »Heiratsurkunde, Social Security Card … Ich kann Ihnen sagen, bei mir geht’s vielleicht zu! Ich arbeite Tag und Nacht!«

»Tck, tck, tck.«

»So was von Andrang habe ich seit 1933 nicht mehr gehabt!«

»Waren Sie Soldat?«

»Nee, Fälscher. Bei der Abwehr. Canaris. Da habe ich alles erst richtig gelernt. Legen Sie mal für einen Moment das Schmalzbrot hin, ich will Paßfotos von Ihnen machen.« Sie gingen in einen weiteren Raum, und Mader fotografierte. »Mit sechs, sieben Tagen müssen Sie aber schon rechnen – ist doch ein Haufen Arbeit!«

»Gewiß, Herr Mader. Ach ja, richtig: Etwas Briefpapier mit Adresse und feine Kuverts mit Adresse brauche ich auch.«

»Die pisse ich Ihnen besoffen in den Schnee. Auch auf den Namen Fletcher?«

»Nein. Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben. Hier. Miguel Santiago Cortez.«

»Und die Adresse, Herr Formann? Wir können wieder zu unseren Schmalzbroten gehen.« Sie gingen. Jakob überreichte Mader einen Zettel. Der las: »Miguel Santiago Cortez, Calle de Baldomero Moreno, Buenos Aires« und pfiff laut und lange durch die Zähne.

»Warum?« fragte Jakob, schon wieder mit vollem Mund.

»Warum was?«

»Warum haben Sie eben so langgezogen gepfiffen?«

»Wegen dem Namen. Das ist einer der reichsten Männer Argentiniens, dieser Cortez. Hab’ erst vor ein paar Tagen einen Artikel in der NEUEN ZEITUNG gelesen.«

»Ich wohne übrigens in der feinsten Gegend der Stadt«, gab Jakob gelassen bekannt.

»Waren Sie denn jemals dort?«

»Wann soll ich denn da hingekommen sein? Und wie? Mrs. Fletcher hat es mir gesagt, und dann hat sie mir noch einen Stadtplan gezeigt. Das genügt … Hören Sie, Mrs. Fletcher hat doch ein laufendes Konto bei Ihnen …«

»Ja, warum?«

»Weil ich dringend ein Fahrrad brauche«, antwortete Jakob. »Ich glaube, ich nehme das da an der Wand. Sie verrechnen es zusammen mit den Papieren. Vielen Dank. Donnerwetter, Sechsgangschaltung! Habe ich mir immer schon gewünscht.« Jakob strich zärtlich über die Lenkstange. Dann fiel ihm etwas ein. »Ach, könnte ich vielleicht zwei Fahrräder haben?«

»Selbstredend. Es stehen noch welche in der Dunkelkammer«, sagte Mader.

34

»Haut ab oder ich knall’ euch über’n Haufen, ihr dreckigen Krauts!« sprach der riesenlange MP beim Eingang zur McGraw-Hill-Kaserne an der Tegernseer Landstraße in München. Der Anblick war grotesk. Vor dem wohlgenährten, warmgekleideten, kaugummikauenden Helden der Neuen Welt standen frierend, rotgesichtig und blinzelnd zwei gar jämmerlich anzusehende Besiegte der Alten Welt im Schnee und hielten sich an Fahrrädern fest. Träumerisch griff der Ami nach seiner Pistole.

Schon wieder ein Texaner, dachte Jakob. Haben die ein Monopol für Schnauzerei? Na, wenn es denn gar nicht anders geht, und obwohl ich es hasse, da hilft nur eins: zurückschnauzen! Er tobte los in schönstem Amerikanisch: »Also bitte! Ich habe es mit Freundlichkeit versucht und Sie gebeten, uns bei Governor van Wagoner anzumelden, der unseren Besuch erwartet! Was haben Sie getan, Mann? Angebrüllt haben Sie uns, Mann! Schnauze, jetzt rede ich! Schon mal was von General Mark Clark in Vienna gehört? Und von General Clay in Berlin? Maul halten! Antwort!«

»Ye … ye … yes, Sir …«, stammelte der uniformierte Riese verblüfft. An allerhand war er gewöhnt. Daran, daß ihn ein deutscher Zivilist anbrüllte, noch nicht. Ein Verrückter, dachte er, ängstlich nach dem Knopf der Alarmsirene tastend, der sich hinter ihm an der Außenseite des Wachhäuschens neben einer weiß und rot gestreiften, geschlossenen Schranke befand.

»Versuchen Sie bloß nicht, Alarm auszulösen! Hände nach vorn! Na wird’s bald?« Der Texaner stand mit offenem Mund da und würgte nach Worten. Es kam nichts heraus. Jakob griff in die innere Jackentasche und förderte einen Haufen Papiere zutage. »Da! Und da! Und da! Vorwärts, Mann, lesen Sie! Oder lassen Sie es sich vorlesen!«

Die Papiere waren Empfehlungsschreiben der Herren Clay und Clark an den Militärgouverneur für Bayern, Murray D. van Wagoner. Der Texaner las sie mit bebenden Lippen.

»Bißchen schneller!« tobte Jakob. Das ist das Feine an meinem Krieg: Jetzt tobe ich mal mit den anderen, so wie die anderen sieben Jahre mit mir getobt haben. Jetzt sind sie alle für mich nur der letzte Dreck, so wie in den vergangenen sieben Jahren ich der letzte Dreck für sie gewesen bin. Das waren zwar andere, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Jetzt habe ich endlich meine Freiheit! Freiheit – das ist der Zustand, wenn man nichts mehr zu verlieren hat! Jakob schrie: »Fertig?«

»Yes, Sir, Mister Formann …«

»Worauf warten Sie dann noch? Wollen Sie vielleicht gütigst ans Telefon treten und uns bei dem Herrn Gouverneur anmelden?«

»Certainly, Mister Formann … Aber der andere Gentleman … in den Papieren ist nur von Ihnen die Rede …«

»Das ist Mister Prill, mein Stellvertreter!« brüllte Jakob, daß seine Stimme kippte. Muß ich noch üben, die Brüllerei, dachte er.

»Entschuldigen Sie, Mister Formann … Konnte ich nicht wissen …«

»Make it snappy!« sagte der kleine Wenzel Prill, der in seinen Lumpen erbärmlich fror, scharf und schmallippig. Jakob sah ihn bewundernd an. Der hat den rechten Ton, dachte er ergriffen, als er sah, wie der Texaner sich einen Feldtelefonhörer aus dem Wachhäuschen angelte und nun seinerseits (wie so was ansteckt, dachte Jakob. Na ja, wir haben’s ja gerade mit einem ganzen Volk erlebt!) zu brüllen begann: »Mister Formann and Mister Prill asking to see Governor van Wagoner! … I don’t give a shit if he’s busy! These two gentlemen have papers from General Clark and General Clay, you fucked-up idiot!« Junge, Junge, das hat aber schnell gewirkt, dachte Jakob zufrieden, während er den Texaner weitertoben hörte. Zuletzt legte dieser den Hörer hin, brüllte nach einem zweiten MP, der erschrocken aus dem Wachhäuschen kam, und trug dem unschuldigen Wesen auf, die beiden Gentlemen zu Gouverneur van Wagoner zu geleiten. Die beiden Gentlemen schritten hoheitsvoll an dem Texaner vorbei. Der starrte sie an wie Fabelwesen. »Pardon me … Aber ich konnte wirklich nicht wissen … Es ist nur meine Pflicht …«

»Nur die Pflicht, natürlich, das haben wir auch immer gesagt, als wir Soldaten waren. Mach dir nichts draus, buddy, zum Glück bist du noch vernünftig geworden, und also werde ich davon absehen, beim Gouverneur Anzeige gegen dich zu erstatten«, sagte Jakob.

»Danke … danke, Sir …«

»Die Fahrräder können wir doch hier … oder wird bei euch geklaut?«

»Ich werde die Fahrräder persönlich bewachen, Mister Formann!« versprach der Texaner, der weiche Knie bekommen hatte. In diesen wirren Zeiten sollte man wissen, who is who in Germany. Da laufen ja die Ministerpräsidenten wie Müllkutscher herum!

Drei Minuten später saßen Jakob und Wenzel dann dem dicken und jovialen Gouverneur Murray D. van Wagoner in dessen Büro gegenüber. Von der Wand hinter dem Militärgouverneur lächelte General Dwight Eisenhower auf die beiden herab, als wolle er sie segnen. Van Wagoner war über Jakobs Person in der Tat bereits informiert. Es freute ihn, die Bekanntschaft eines so außergewöhnlichen Mannes zu machen, sagte er.

»Ganz meinerseits, Governor!«

»Womit kann ich Ihnen helfen, meine Herren? Ich habe den Auftrag, Ihnen zu helfen. Es wird mir ein Vergnügen sein.«

Jakob räusperte sich. »Wir sind unterwegs zum Himmler-Hof, Governor. Nach Waldtrudering.«

»Haben Sie einen Wagen?«

»Fahrräder.«

»Bei diesem Schnee? Ich gebe Ihnen einen Wagen mit Fahrer …«

»Das wäre zu umständlich, Governor. Herzlichen Dank. Wir haben nämlich sehr viel zu tun jetzt, Ihr Fahrer könnte ermüden«, sagte Jakob, während er dachte: Das letzte, was wir bei unseren Geschäften jetzt brauchen können, ist ein amerikanischer Aufpasser! »Der Himmler-Hof genügt natürlich nicht. Der reicht nur, soviel ich von Professor Donner weiß, vielleicht für zwanzigtausend Hühner …«

»Und Sie brauchen weitere Niederlassungen!«

»So ist es, Governor. Sicherlich hat Ihnen das Wien und Berlin auch schon mitgeteilt …«

»Hat es, Mister Formann. Wir haben hier eine ganze Reihe stillgelegter Betriebe, die als ehemaliges Nazieigentum von uns verwaltet werden. In der ganzen Bi-Zone. Wenn Sie sich die Liste ansehen wollen … bitte … Nach den modernen Methoden braucht man ja keine Höfe mehr für Hühnerzucht, es genügen Fabrikhallen, nicht wahr?«

»Exakt, Governor.« Jakob und Wenzel betrachteten die Liste. Es war eine lange Liste.

»Und entschuldigen Sie bitte den Zwischenfall mit dem Posten am Tor«, sagte van Wagoner.

»Schon vergessen, Governor«, sprach Wenzel, fast so fließend englisch wie Jakob. »Rein formaljuristisch gesehen war der Mann absolut im Recht!« Er starrte auf die vielen Namen der Liste. »Mensch, das ist ja die halbe deutsche Industrie!«

»Ich denke, wir wollen unser Unternehmen zunächst nicht breit streuen, sondern an zwei, drei Stellen ballen«, sagte Jakob. »Hier, dieses Panzerwerk bei Bayreuth und diese Flugzeughallen bei Frankfurt erscheinen mir ausreichend. Sie sind sehr groß. Ohne Zweifel wird noch ein Teil der ehemaligen Belegschaft aufzutreiben sein – und außerdem gibt’s ja jede Menge von Flüchtlingen. Für vermehrte Kalorienzuteilung arbeitet heute jedermann liebend gerne in Deutschland.«

»Sie sind ein kluger Kopf, Mister Formann. Vergrößern können Sie sich noch immer.«

»Eben, nicht wahr?« Jakob nickte. »Bayreuth ist vom Flughafen Nürnberg aus leicht mit angebrüteten Eiern und Brutmaschinen zu beliefern, und bei Frankfurt liegt Ihr Rhein-Main-Flughafen. Besser kann man’s nicht haben.«

»Okie-dokie, Mister Formann. Dann werden wir – dieser Papierkrieg! – jetzt gleich entsprechende Verträge zwischen der Army und Ihnen – verzeihen Sie: zwischen Ihnen und der Army …«

»Aber ich bitte Sie, Governor!«

»… aufsetzen. Sie inspizieren die Gelände und teilen mir mit, wann Sie so weit sind, daß die Eier kommen können. Zusätzliche Lebensmittelkarten werden meine Ortskommandanten Ihnen auf Schreiben von mir bei den deutschen Dienststellen in Waldtrudering, Bayreuth und Frankfurt anfordern. Wenn sich irgendwelche Schwierigkeiten einstellen sollten, lassen Sie es mich sofort wissen.«

»Mit Vergnügen, Sir. Zwei Bitten. Erstens: Ich möchte, daß Mister Prill als mein Vertreter mit den gleichen Vollmachten ausgestattet wird wie ich. Ich werde vielleicht nicht immer anwesend sein, ich habe mich jetzt um so vieles zu kümmern, Sie verstehen?«

»Ich verstehe.«

Gott sei Dank verstehst du nicht, dachte Jakob und fuhr fort: »Zweitens: Könnten wir wohl in Ihrem PX einen Wintermantel für Mister Prill und Winterschuhe, Schals und Handschuhe für uns beide bekommen?«

»Werde ich sofort veranlassen. Donnerwetter, Mister Formann, Sie gehen aber ran!«

»Ich habe keine Minute zu verlieren, Sir«, sagte Jakob.

35

Kinder greinten, schrien und weinten. Frauen verfluchten diese Zeit und diese Welt, husteten und niesten in dem scheußlichen Gebäude. Die Menschen, die hier auf Jakob und Wenzel einredeten, sie beschworen, anbettelten und anflehten, waren abgemagert und dick vermummt mit elendem, altem Zeug, denn in Heinrich Himmlers einstmaligem Heim in Waldtrudering war es eiskalt. Beim Sprechen quoll allen der Atem in weißen Wolken aus den Mündern, Kindern und Frauen. Sehr junge, sehr alte sah Jakob – keinen Mann.

Nervös fingerte er an der alten, vertrockneten Hasenpfote, dem Geschenk seines Freundes Jesus Washington Meyer, in der rechten Hosentasche herum. Hier kann nicht einmal mehr die Wunderpfote helfen, dachte er verzweifelt. Verflucht, es ist einfach alles zu lange gutgegangen! So etwas hat ja kommen müssen! Da haben wir jetzt die Bescherung.

Im obersten Stockwerk schrie eine Frau von Zeit zu Zeit gellend. Ein Arzt war bei ihr. Sie bekam ein Kind. Ein Kind in dieser Zeit und an diesem Ort, dachte Jakob. Armes Kind. In was für eine Welt hinein wirst du geboren! Und wozu? Wärst du doch geblieben, wo du warst …

Jakob empfand ein jähes Gefühl des Zorns. Hätte der Kerl von dieser Frau nicht rechtzeitig bremsen können? Es gibt Millionen Flüchtlinge, dachte er, müssen ausgerechnet auch hier welche leben? Die Überlegung war nicht logisch, aber Jakob war im Moment nicht fähig, logisch zu denken, und was er dachte, entsprang, unter Umgehung des Kopfes, direkt seinem Herzen …

»Ruhe!« schrie er sehr laut, weil ihm sehr mies war. »Es genügt, wenn die Dame hier mir die Lage erklärt! Alle auf einmal kann ich nicht verstehen!«

Die Dame, auf die er mit dem Kinn wies, war eine etwa dreißigjährige Frau, deren Haar vollkommen weiß glänzte. Wie der Schnee draußen, dachte Jakob hilflos. Der Sturm hat aufgehört. Man muß für alles dankbar sein. »Diese Kinder, Mädchen, Frauen und Großmütter«, sagte indessen die Weißhaarige, »sind seit vielen Monaten auf der Flucht und auf dem Transport von einem Lager ins andere. Wie ich. Ich komme aus Ostpreußen. Andere Frauen auch. Dann gibt es welche aus Pommern, Mecklenburg, Thüringen, dem Sudetenland … Sie sind in vielen Lagern gewesen und immer wieder abgeschoben worden. Weil die Lager überfüllt waren. Weil sie geschlossen wurden, nachdem dort eine Epidemie ausgebrochen war. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß solche Menschen gerade zu Hunderttausenden kreuz und quer durch ganz Europa ziehen.«

»Nein«, sagte Jakob beklommen, »das brauchen Sie nicht, Frau …«

»Bernau. Ich war Lehrerin. Mein Mann ist gefallen, meine beiden Kinder sind verhungert. Ich habe Glück gehabt. Ich muß nur noch für mich selber sorgen. Aber da gibt es Frauen mit fünf, sechs und mehr Angehörigen hier … Wirklich, es tut mir leid, Herr Formann.«

»Was?«

»Sie haben mir so schöne Papiere von den Amis gezeigt, daß Sie berechtigt sind, den Himmler-Hof zu übernehmen – und jetzt finden Sie uns vor.« Die Gebärende schrie wieder. »Natürlich werden wir den Anordnungen der Militärregierung folgen und weiterziehen. Von diesem verkommenen Hof zu einem verkommenen andern. Gott wird uns helfen.«

»Ich will mich ja nicht einmischen«, sagte Wenzel und tat es, »aber ausgerechnet auf den würde ich mich nicht so verlassen in Ihrer Situation!«

»Gott schuf diese Erde …«, begann die Lehrerin.

»Ja, ja, ja«, unterbrach sie Wenzel. »Ich hab’ auch die Bibel gelesen, Frau Bernau. Gott schuf diese Erde in sieben Tagen, und siehe, er fand sehr gut, was er gemacht hatte. Vielleicht hätt’ er sich aber doch ein paar Tage mehr Zeit lassen und eine weniger gute Meinung von seinem Job haben sollen … Schauen Sie mich nicht so an. Für den Mantel kann ich nichts! Den haben mir die Amis geschenkt!«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte die Lehrerin. »Aber lästern brauchen Sie auch nicht. Haben Sie keine Angst, daß hier jemand Widerstand leistet und nicht gehen will. Von uns hat keine mehr auch nur einen Funken Kraft, Widerstand zu leisten. Es wird nur eine kleine Weile dauern, bis wir verschwunden sind.«

»Wovon leben Sie?« fragte Jakob. »Ich meine: Was essen Sie?«

»Wenig«, sagte die Lehrerin. »Das, was wir von den Bauern erbetteln, und das, was uns die Amis geben. Die Bauern geben fast nichts, weil wir nichts mehr haben, was wir ihnen geben könnten. Sie kommen aus München?«

»Ja. Mit dem Fahrrad.«

»Das ist doch mächtig weit! Und bei dem Wetter.«

»Ein Vergnügen war es auch nicht gerade, Frau Bernau«, sagte Wenzel. Die Gebärende schrie.

»Komm, Wenzel«, sagte Jakob. Der starrte ihn an. »Hast du nicht gehört?«

»Doch. Aber dann geht das ja nicht, was wir machen wollten.«

»Es geht auch nicht, daß wir alle diese Frauen und Kinder verjagen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, wir werden übernachten müssen irgendwo.«

»Wo willst du hin?«

»Zum Tegernsee.«

»Herrjeses!« Wenzel fuhr zurück. »Der Mann hat den Verstand verloren! Tegernsee? Weißt du, wo das ist?« Jakob nickte freundlich. »Aber warum willst du dahin?«

»Das sage ich dir nachher«, erwiderte Jakob. Es war plötzlich sehr still in dem scheußlichen Gebäude. Dann entstand ein Raunen, ein Rufen, frohes Gelächter. Eine der Frauen sagte der nächsten etwas. Zuletzt hatte es Frau Bernau gehört. Die lächelte.

»Mir ist was eingefallen«, sagte Jakob indessen zu Wenzel. »Weißt du, ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant. Und während dieser Rederei habe ich mich an etwas erinnert … Warum lächeln Sie, Frau Bernau?«

»Die Schwangere oben …«

»Was ist mit ihr?«

»Sie hat ein Mädchen zur Welt gebracht, eben. Das Kind braucht nie Soldat zu werden. Ist das nicht wunderbar?«

»Ist das nicht was?« fragte Jakob.

»Sei ruhig«, sagte Wenzel. »Unsere herzlichsten Glückwünsche der Mutter und Ihnen allen hier. Ich hoffe, Sie hören bald wieder von uns. Und Gutes! Auf Wiedersehen, Frau Bernau.«

»Auf Wiedersehen, meine Herren. Und Gott segne Sie!«

»Ja«, murmelte Jakob, der schon die Haustür aufmachte und in den Schnee hinausstapfte, »wäre schön, wenn Gott das jetzt tun würde.«

Auf der Straße blieb er plötzlich stehen und schüttelte den Kopf. »Was hast du?« fragte Wenzel.

»Glücklich«, sagte Jakob. »Hast du das gehört? Die sind alle so glücklich da drinnen, weil ein Kind geboren worden ist. Jetzt und hier. Glücklich! Mensch, man ist doch nicht schon deshalb glücklich, weil man nicht vergast worden ist wie Frau Kohn!«

»Du siehst das falsch, Jakob. Paß mal auf: In unserem ganzen Denken ist ein Fehler drin, aber der ist grundsätzlich: Die Menschen leben nicht nach der Ratio …«

»Nach der wie bitte?«

»Nach der Ratio. Weißt natürlich nicht, was Ratio heißt.«

»Nicht frech werden, Klugscheißer. Schließlich bin ich ja nicht in der Baumschule gewesen. Ratio heißt …«

»Ratio heißt Vernunft. Wir Menschen leben nicht nach der Vernunft, nicht so, wie wir wirklich glücklich sein könnten, ohne Kriege und Elend und all das. Und ich will dir mal sagen, was ich glaube.«

»Na was denn?«

»Ich glaube, tief in uns drin da ist etwas, das macht, daß wir gar nicht wirklich glücklich sein wollen! Beim Barras habe ich einen Koch gekannt, der hat es später bis zum Jagdschein gebracht, bis zum Paragraphen einundfünfzig, ein toller Kerl, der hat immer gesagt: Glück ist überhaupt nur kommunistische Propaganda!«

»Ja, so was fällt nicht jedem ein«, sagte Jakob und schwang sich aufs Rad.

»Los, vorwärts, zum Tegernsee! Mit den Rädern ist das ein Klacks!«

»Verflucht, aber was willst du am Tegernsee?«

»Sehen, ob’s die noch gibt.«

»Wen?«

»Die Nibelungentreue«, sagte Jakob und strampelte schon los.

36

»Na also, er hat uns gesegnet, der liebe Gott«, sagte Jakob spät an diesem Abend zu Wenzel. Sie lagen unter ein paar Pferdedecken, die sie gestohlen hatten, im Heu eines Schobers, dessen Tor sie aufgebrochen hatten, und ein jeder von ihnen aß einen Kanten Brot und ein großes Stück Wurst dazu. Brot und Wurst waren auf die gleiche Weise in ihren Besitz gekommen wie die Pferdedecken. Sie waren am Tegernsee gewesen. Den Rückweg nach München schafften sie nicht mehr. »Bist du sehr müde?«

»Ach wo«, sagte Wenzel mit mildem Sarkasmus, »nur die Füß’ tun mir a bissl weh.«

»Du mußt eben regelmäßig Freiübungen machen wie ich«, sagte Jakob, an dem jede Art von Sarkasmus verschwendet war. »Ich fühl’ mich ganz frisch.«

»Das freut mich aber, Jakob.«

»Schon gut, Wenzel.«

»Also, jetzt weißt du, daß es die ›Nibelungentreue‹ noch gibt. Zufrieden?«

»Sehr.«

»Wieso sehr? In dem Kasten sitzen doch ein Haufen Kerle drin, hast du selber gesehen! Auch ein Name für so ein Schlößchen – ›Nibelungentreue‹!«

»Weil du nicht weißt, daß der ehemalige Besitzer dieses Gehöfts der Herr Reichshauptstellenleiter Baldur Niemcewicz gewesen ist.«

»Wie heißt der Kerl?«

»Baldur Niemcewicz.«

»Ach so. Ja, ja. Uraltes Germanengeschlecht.«

»Eben. So ein Name verpflichtet. Wenzel! Ich hab’ dir doch gesagt, ich hab’ ein Gedächtnis wie ein Elefant. In irgend so einer Nazizeitschrift im Krieg war diese ›Nibelungentreue‹ einmal abgebildet. Innen und außen. Mensch, innen hättest du das sehen müssen! Was der Niemcewicz sich da zusammengeklaut hat an Gobelins und Gemälden und Möbeln! So was hatte zu repräsentieren, Wenzel, kapier es endlich. Ein Reichshauptstellenleiter, das war nicht so ein Dreck, wie du und ich es sind, der hat was darstellen und Kultur zeigen müssen und Penunze haben natürlich!«

»Vielleicht auch Schmuck, hä?« murmelte Wenzel in tragischer Erinnerung an die Repetieruhr aus Gold, die ihm gestohlen worden war, von einem Ganoven und von einem Richter.

»Da kannst du Gift drauf nehmen, Wenzel, daß der Reichshauptstellenleiter sich auch mit Schmuck eingedeckt hat. Den hat er natürlich mitgenommen, wie er dann abgehauen ist. Das andere Zeug vermutlich nicht. Das war ihm zu groß und sperrig.«

»Wo der jetzt wohl sein mag?«

»Südamerika, Argentinien, schätze ich. Da sind die meisten hin, als das Dritte Reich hopsgegangen ist – wenn sie noch konnten.«

»Mensch, der Baldur Niemcewicz hat vielleicht ein Massel gehabt! Unsereins …« Wenzel begann plötzlich unflätig zu fluchen.

»Warum fluchst du so unflätig, Wenzel?« forschte Jakob, nachdem er dem anderen Zeit gelassen hatte.

»Wär’ ich bloß bei meinem Kaffeehandel geblieben! Aber nein, ich Trottel muß mich ja mit dir zusammenschmeißen, weil du so riesenhafte Pläne hast und so feine Papiere von den Amis!«

»Du sollst nicht so reden, Wenzel«, sagte Jakob, in den Zähnen bohrend, wo sich ein Stück Wurst verklemmt hatte. »Wenn du mit mir arbeitest, mußt du dir jede Menge Ausdauer anschaffen und dich nicht gleich vom ersten Fehlschlag umschmeißen lassen. Schau, ein Beispiel: Beim Barras, da hab’ ich auch einmal versucht, den Simulanten zu spielen, damit ich aus dem größten Dreck raus und in ein Lazarett komme.«

»Ja und?«

»Ich hab’ mir gedacht, am schwersten nachzuweisen ist es, ob du nicht vielleicht ein bissel deppert bist, ich meine, ob du nicht einen Schock oder so was gekriegt hast und man dich deshalb nicht andauernd mit einer Alarmkompanie losjagen kann, immer in die dickste Scheiße. Da habe ich also den Verrückten gespielt.«

»Wie?«

»Ich hab’ gesagt, ich bin schwerkrank und muß ununterbrochen Fieber messen. Besonders wenn ich Wache gehabt habe! Und ich habe gesagt, ich kann nicht grüßen, weil mehrere Thermometer unter meinen beiden Armen klemmen.«

»Was heißt mehrere?«

»Wie sie dann endlich meine Sachen durchsucht haben, haben sie zweiunddreißig Thermometer gefunden. In einem Lazarett hab’‘ ich mal eine größere Ladung mitgehen lassen, verstehst du?«

»Verstehe. Und?«

»Na ja, und zuletzt ist es ihnen zu blöd geworden, und sie haben mich zu einem Nervenarzt geschickt, damit der mich untersucht. Der Idiotendoktor hat mich natürlich in zwei Minuten durchschaut gehabt und kv. geschrieben, und vier Tage später war ich wieder bei einer Alarmkompanie, aber dieser Klapsmühlenheini, der hat etwas gesagt, was ich nie vergessen habe.«

»Was?«

»Er hat gesagt, daß zuletzt nur der durchkommt, der am meisten aushalten und die meisten Niederlagen einstecken kann – und nicht der, der immer wieder bloß Siege erringt! Das hat mir sehr großen Eindruck gemacht. Laß den Kopf nicht hängen, Wenzel. Es geht schon alles seinen guten Weg. Du wirst an meine Worte denken. Ich sag’ dir: Wir werden noch einmal beide ganz, ganz reiche Leute!«

»Scheiß mit Reis«, sagte Wenzel. »Wir hatten schon recht, als wir den Stanke, den Blödmann, so verdroschen haben, daß er für vierzehn Tage ins Lazarett hat gemußt, damit sie ihn wieder zusammenflicken.«

»Was war denn mit dem Stanke, Wenzel?«

»Der war in meiner Kompanie, ein Studienrat, der hat’s mit dem Leibniz gehabt und uns immer so Sprüche aufgesagt, besonders wenn ein russischer Angriff gerade vor der Tür stand.«

»Was hat er euch denn für Sprüche aufgesagt?«

»Na, von Leibniz«, sagte Wenzel. »Weißt du nicht mal, wer Leibniz war?«

»Der die Kekse erfunden hat?«

Wenzel lachte auf. »Nicht ganz, Jakob. Ich meine den berühmten deutschen Philosophen. Den hat der Stanke immer zitiert, und sein Lieblingszitat hat geheißen: ›Unsere Welt ist die beste aller möglichen Welten‹.«

»Ja«, sagte Jakob sinnend, »so was gibt’s häufiger, als man denkt, Wenzel. Ich erinnere mich an ein Arschloch im Gefangenenlager, zu dem sind viele hingegangen, weil es geheißen hat, daß er Trost spenden und alles erklären kann. Ich bin natürlich nie hingegangen, aber die Kameraden haben es mir erzählt. Sie haben ihn gebeten, ihnen zu erklären, warum das Elend und das Böse diese Welt so überschwemmen und wir so in der Scheiße sitzen. Und da hat dieser Kerl geantwortet, daß in unserer Welt alles seine Ordnung hat und gesetzmäßig ist und zum besten bestellt. Aber er hat keinen großen Erfolg gehabt, denn die Krüppel und die mit Hungerödemen und die, die der Krieg im Kopf ganz ruiniert hat, und die mit Skorbut, denen schon alle Zähne ausgefallen sind, haben ihm nicht geglaubt.«

37

»Jake! Mein Gott, Jake, wie ich mich freue, dich wiederzusehen!« Mit ausgestreckten Armen kam der Chef der Kulturabteilung der US Army Europe, Generalmajor Peter Milhouse Hobson, quer durch sein riesiges Büro auf Jakob Formann zu. Bevor Jakob es verhindern konnte, hatte ihn Hobson bereits an die Brust gedrückt und auf beide Wangen geküßt. Mit der neuen Uniform und den neuen Rangabzeichen sieht er noch vertrottelter aus, als er in Hörsching auf dem Fliegerhorst ausgesehen hat, dachte Jakob Formann selig, und er schlug Hobson krachend auf die Schulter.

»Ich freue mich auch, Peter«, sagte Jakob. Im nächsten Moment durchfuhr ihn eisiger Schrecken: Er sah, außer Wänden, die mit Theaterspielplänen beklebt waren, an einer Wand ein Bücherregal. In dem Regal standen dick, breit und in herrlichstes Leder gebunden, Bücher. Jakob sah genauer hin. Gesammelte Werke. Goldprägung. Shakespeare, Byron, Dickens …

Jakobs Blick umflorte sich, er konnte nichts mehr erkennen. Entsetzlich, dachte er bebend, der Chef der Kulturabteilung, dieser liebe Trottel, liest. Kann lesen! Ich bin verloren. Was ich vorhabe, funktioniert nie. Achgottachgottachgott …

»Setz dich, Jake, setz dich doch. Zigarette? Zigarre? Whiskey?«

»Ziga-garre und eine Co-coke, wenn’s recht ist, Peter.« Ich werde verrückt! Goethe! Ein ganzes Bord voll. Alles verloren …

»Na, aber ich genehmige mir einen kleinen. Die Wiedersehensfreude, Jake, die Wiedersehensfreude!«

»Ja-ha …«

Hobson zog drei Bände Shakespeare aus dem Regal. Jakob stand das Herz still. Will der mir jetzt ›Romeo und Julia‹ vorlesen? dachte er verzweifelt. Der Generalmajor stellte die drei Bände Shakespeare auf ein Bord. Jakob mußte die Augen schließen vor Erleichterung. Das waren ja gar keine Bücher! Das waren Attrappen! Die drei Bände Shakespeare verdeckten zwei Flaschen VAT 69. Coca-Cola gab es im Byron. Und hinter Goethe war ein veritabler niedriger Eisschrank versteckt! Der Generalmajor mixte die Drinks. Er strahlte. »Prima, wie?«

»Pri-pri-prima, Peter.«

»Geschenk vom Hauptquartier, als ich herkam. Aufmerksam, was?«

»Se-sehr aufmerksam. Gib mir ruhig auch einen Schuß Shakespeare in die Coke, Peter!«

»Here you are … Was machst du in Heidelberg, Jake?« lärmte Hobson.

»Wie bist du hergekommen?«

»Ach, das war ganz einfach, Peter. Danke sehr, ich schneide sie mir selber ab. Zuerst habe ich einen Güterwagenplatz erobert und bin nach Nürnberg gefahren. Kein Eis, bitte. Von Nürnberg dann in einem anderen Güterwagen bis Würzburg. Dort haben sie mich vier Tage lang eingesperrt …«

»Warum, um Himmels willen, Jake?«

»Großrazzia auf entsprungene SS-Männer.«

»Aber du bist doch nie SS-Mann gewesen!«

»Du weißt das und ich weiß es, Peter, aber mach das mal diesen Leuten klar!«

»Diese Idioten! Du hast doch amerikanische Papiere von höchster Stelle! General Clark, General Clay! Ja, da staunst du, daß ich das weiß, was? Ich verfolge deine Karriere aus der Ferne! Hahaha!«

»Hahaha! Die MPs haben gesagt, so mies gefälschte Papiere hätten sie noch nie gesehen.«

»Goddamnit, die hätten doch bloß Clark und Clay anzurufen brauchen!«

»Haben sie auch getan, Peter. Sind aber eben erst nach zwei Tagen daraufgekommen, daß das das einfachste ist. Und dann hat’s noch zwei Tage gedauert, bis sie telefonisch durchkamen!«

»Diese Armleuchter! Nenn mir Namen, Jake, ich werde durchgreifen! Rücksichtslos!«

»Ach, Peter! Schwachköpfe gibt’s überall. Deshalb bin ich ja auch zu dir gekommen.« Hobson nickte eifrig. »Weil sich da unten in Bayern ein paar Idioten ein Ding geleistet haben, das zum Himmel stinkt. Nur du kannst das in Ordnung bringen!«

»Was haben diese Idioten in Bayern denn angestellt?« Hobson begann vor Aufregung und Freude darüber, daß Jakob nur ihm so etwas zutraute, wieder im Zimmer hin und her zu rennen, wie seinerzeit im Tower des Fliegerhorsts Hörsching bei Linz.

»Von Würzburg an bin ich dann einen ganzen Tag getippelt«, plauderte Jakob verträumt, »und dann hab’ ich wunde Füße gehabt und mich an den Straßenrand gestellt und so mit dem Daumen gewinkt, und nach ein paar Stunden schon hat ein Laster gehalten, der ist aber nach Frankfurt gefahren, und so habe ich in Frankfurt einen anderen Güterwaggon erobert und bin bis Wiesbaden gekommen, und dann hat mich ein Schieber in seinem Chevrolet über die Autobahn bis hierher gebracht.«

»Was die Idioten in Bayern angestellt haben …«

»Hör zu, Peter, wenn du nicht sofort etwas unternimmst, wird man dich sehr bald zur Verantwortung ziehen.«

»Zur Verantwortung?« Hobson erbleichte und hielt sich an dem gesammelten Thackeray-Gin fest. »Wo … wofür denn?«

Jakob sog ernst an seiner Zigarre und ließ den Rauch durch die Nase quirlen. Dann nahm er einen Schluck stark mit Whiskey versetztes Coca-Cola zu sich. Schließlich sagte er sorgenvoll: »Du bist doch auch verantwortlich für historisch wichtige Stätten, Peter, wie?«

»Ich bin für alles Kulturelle verantwortlich … auch für historisch wichtige Stätten … Warum? … Was ist denn?«

»Etwas Unwiederbringliches, ein nicht mehr gutzumachender Verlust eines historischen Gebäudes steht zu erwarten«, sagte Jakob hart. Manchmal muß man hart sein.

»Unwieder … Jesus Christ, wovon redest du, Jake?« Hobsons Hand, die bei Thackeray Halt gesucht hatte, glitt bebend über alle möglichen Gesammelten Werke und krallte sich endlich um die von Schiller. Die Attrappen schwankten wie im Sturm. Aber der Schiller-Likör hielt stand.

»Ich rede von dem Gebäude in Waldtrudering, in dem Heinrich Himmler einst seine Versuche gemacht hat, deutsche Überhühner zu züchten. Du weißt natürlich von diesem Gebäude?«

»Von … Ich … Natürlich weiß ich von diesem Gebäude! Was ist mit dem, Jake?«

Natürlich hast du keine Ahnung, du Trottel, lieber, kleiner, dachte Jakob, da kann ich ganz beruhigt sein mit noch ein wenig mehr Verwegenheit (Chuzpe würde mein Freund Mojshe Faynberg das nennen. Wo der jetzt wohl ist und was er macht? Und seine Kameraden? Und … und … der Hase!). Keine Zeit, sentimental zu werden, dachte Jakob, doch ein wenig erschüttert durch die Erinnerung an Julia, den so sanften Hasen, und fuhr markig fort: »Das Gebäude, der ganze Himmler-Hof, steht unter Denkmalschutz und darf nicht beschädigt werden!« Dieser völlig frei erfundenen Behauptung fügte Jakob sicherheitshalber hinzu: »Sagte mir General Clark. Darum sollte ich ihn ja auch übernehmen – nicht den General Clark, den Himmler-Hof – und dafür verantwortlich sein, daß da alles erhalten bleibt.« (So was hat Clark nie gesagt, aber ich sage es, und der Trottel glaubt es, und ab diesem Augenblick steht der Himmler-Hof unter Denkmalschutz!) »Damit zukünftige Generationen, aber zunächst die Lebenden im Zuge der Re-education diese Stätte der Teufelei besichtigen können.«

»Wieso Stätte der Teufelei …« Und wenn sie mir den Generalmajor wieder wegnehmen, weil ich von nichts eine Ahnung habe? dachte Hobson in Panikstimmung. Diese verfluchten Hunde! Alle wollen sie meinen Posten! »Stätte der Teufelei, Peter, meine ich so: Du weißt doch von Himmlers Rassenwahn. Vom deutschen Übermenschen, den er züchten wollte auf diesen ›Lebensborn‹-Farmen, auf denen ausgesuchte blonde SS-Männer mit ausgesuchten deutschen blonden Mädchen – ich brauche nicht weiterzusprechen.«

»Nei-nein …«

»Darum der Denkmalschutz, Peter! Hier zeigt sich die diabolische Parallele: Deutsche Überhühner – deutsche Übermenschen!«

»Verstehe …«

»Und nun stell dir vor: Der Hof ist gerammelt voll mit Flüchtlingen, die natürlich in kürzester Zeit alles demolieren werden.«

»Augenblicklich gebe ich Befehl, daß dieser Hof zu räumen ist!«

»Aber das wäre unmenschlich, Peter.«

»Wieso, Jake?«

»Es sind nur Mädchen und Kinder und Frauen und Großmütter da, kein einziger Mann! Keine Kohlen! Die Kälte! Kaum etwas zu essen! Nein, nein«, sagte Jakob, die Beine von sich streckend und wieder an der Zigarre ziehend, »so geht das nicht, Peter! So nicht! Wir sind ja schließlich keine Faschisten, nicht wahr? Dieses Quartier des Satans muß für künftige Generationen erhalten bleiben – zur Mahnung und Belehrung. Eine Unterbringung von Menschen, und noch dazu von so vielen, wäre das Ende. Eine Unterbringung von Hühnern – unter meiner beständigen Aufsicht, versteht sich – hingegen bedeutete die Gewißheit, daß alles erhalten und nichts beschädigt wird. Im Gegenteil, dieser historisch wichtige Bau wird sorgsam konserviert.«

»Ja, aber du sagst doch selber, daß man Frauen und Kinder nicht rausschmeißen kann, ohne so barbarisch zu handeln, wie die Nazis gehandelt haben.«

»Sage ich ja, Peter.« Zug aus der Zigarre.

»Was soll ich aber dann um Himmels willen unternehmen?«

Jakob beugte sich vor, streifte die Aschenkrone von seiner Zigarre und erläuterte dem Generalmajor Peter Milhouse Hobson, was dieser unternehmen sollte.

38

Am 14. Januar 1947, er kam traurig und kalt, fuhr eine große olivfarbene Limousine des Hauptquartiers der US-Streitkräfte in Heidelberg in den Hof des Gutes NIBELUNGENTREUE am Tegernsee ein. Der Limousine entstiegen ein Generalmajor und zwei magere Zivilisten, von denen der eine unter einem krachneuen Mantel schreiend bunte PX-Kleidung trug, der andere, kleinere, unter einem ebenfalls krachneuen Mantel einen alten Anzug, der an seinem Körper schlotterte.

Ein Weapons-Carrier war der Limousine gefolgt und stoppte nun gleichfalls. Sechs amerikanische MPs sprangen in den Schnee. Derartiges Treiben weckte die Neugier der Herren, die in dem großen, protzigen Hauptgebäude wohnten. Sie sahen durch die Fenster des Erdgeschosses, und noch ehe Jakob an der Haustür hätte klingeln können, wurde diese schon von einem blonden Jüngling aufgerissen, der Haltung annahm, während er, an Jakob gewandt, sagte: »Guten Tag, meine Herren, Sie wünschen?«

»Wir möchten den Hausherrn sprechen«, sagte Jakob freundlich. Hinter dem ersten blonden Jüngling waren zwei weitere aufgetaucht, gleichfalls blond, bildschön und stramm.

»Selbstverständlich«, antwortete der Knabe im lockigen Haar bei der Tür, immer noch in tadellos militärischer Haltung. »Wen darf ich Herrn von Herresheim melden?«

»Sie können … Das machen wir schon selber«, sagte Jakob, schob den Jüngling beiseite und schritt, gefolgt von seinen Freunden, ins Haus.

»Oh«, jammerte der Knabe, »jetzt haben Sie mir aber weh getan! Warum sind Sie so böse zu mir?« Dann lachte er schelmisch und rief seinen beiden seidenweichen Freunden zu: »Nehmt euch in acht, das ist ein ganz Wilder!«

Die beiden Knaben kicherten, als Jakob an ihnen vorüberschritt. Der aber dachte: Aha, das sind also wohl die Nibelungen.

Aus einer sehr großen holzgetäfelten Halle trat ein Hüne von Mann, sehr gut gekleidet, sehr gut genährt, mit unmutig gehobenen Augenbrauen.

»What’s going on here?« erkundigte er sich in akzentfreiem Englisch.

»Herr von Herresheim, wenn ich nicht irre«, sagte Jakob. Wenzel hatte sich, während Jakob in Heidelberg war, informiert.

»Der bin ich. Und Sie?«

»Jakob Formann.«

»Nie gehört.«

»Jetzt wissen Sie’s.«

»Wenn Sie mir hier frech kommen, Sie Lümmel … good afternoon, Major General, Sir … dann können Sie was erleben!« Jakob und die anderen sahen in der großen Halle zahlreiche weitere vollgefressene und gutgekleidete Herren sowie einen vierten blonden Jüngling, der strammstand. Von den vollgefressenen Herren waren die meisten betrunken, drei schliefen auf schönen Diwans.

Die Unterhaltung lief englisch weiter.

»Kann ich was erleben?« erkundigte sich Jakob.

»Das werden Sie schon sehen! Bitte, setzen Sie sich, Major General, setzen Sie sich doch, um Himmels willen!« Hobson blieb stehen. »Was ist denn los hier?« staunte Herr von Herresheim. »Ist etwas geschehen? Das müßte ich doch wissen! Der Kommandeur des Amerikanischen Hauptquartiers für Bayern in Bad Tölz hätte mich sofort verständigt. Schließlich bin ich sein engster Mitarbeiter auf deutscher Seite. Der tut nichts, ohne sich mit mir zu beraten …«

»Ja, ja«, sagte Jakob. Er sah sich in der Halle mit den herrlichen barocken Möbeln, echten Teppichen und Gobelins, kristallenen Lüstern und kostbaren Gemälden um. »Hübsch haben Sie’s hier, Herr Wehrwirtschaftsführer, sehr hübsch! Sie sind ein kultivierter Mensch. Sieht man sofort. Ihre Saufbrüder und die süßen Knaben … wie im alten Rom! Und gebildet sind Sie! Sie sprechen vier Sprachen, habe ich gehört!«

»Fünf!« Herr von Herresheim straffte sich. »Und wer sind Sie, und wer ist der kleine Mickrige? Dolmetscher? Brauche ich nicht! Kann mich mit dem Major General direkt unterhalten. Und die MPs dürfen gefälligst draußen warten. Die trampeln mir ja den ganzen Schneedreck auf die Teppiche.«

»Die MPs bleiben hier«, sagte Major General Hobson mit erhobener Stimme. Wieder einmal war seine Stunde gekommen.

»Warum?«

»Um Sie und Ihre Freunde abzuholen.«

»Mit welchem Recht?«

»Wir haben in den Fahndungslisten nachgesehen.« Hobsons Augen glänzten. Er warf Jakob einen dankbaren Blick zu.

Jakob brüllte deutsch: »Ortsgruppenleiter Steininger!«

Einer der Männer, die sanft geschlafen hatten, fuhr hoch, stolperte über die eigenen Beine und stand dann zitternd stramm.

»Hier!«

»Ortsgruppenleiter Wieser!« brüllte Jakob.

Ein zweiter Mann sprang auf. Er jammerte: »Ich habe stets nur meine Pflicht getan … nur meine Pflicht!«

»Ortsgruppenleiter Falter!« brüllte Wenzel.

Ein weiterer Trunkenbold erhob sich mühsam.

»Na, Väterchen?« sagte Jakob.

»Einen Moment, ja?« Herr von Herresheim hatte sich erholt. »Sie haben sich hier gründlich geirrt, äh … Wie war der Name?«

»Formann.«

»Ach was. Mit Ihnen spreche ich doch überhaupt nicht, Sie … Sie Kreatur! Und mit dieser halben Portion neben Ihnen auch nicht! Halten Sie’s Maul, Mann, oder ich lasse Sie verhaften! Nun hören Sie einmal gut zu, Major General, Sir. Bevor Sie den Fehler Ihres Lebens begehen und sich Ihre Karriere versauen …«

»Karriere versauen …« Hobson wurde schon wieder unsicher. Flehentlich blickte er zu Jakob, als wollte er sagen: In was hast du mich da hineingeritten?

»Jawohl, Karriere versauen, Sir!«

»Hören Sie mal, Herresheim …«

»Sie halten das Maul, oder Sie kriegen einen Tritt in den Hintern, daß Sie bis Bad Tölz fliegen!«

Die blonden Knaben kicherten. Das Wort ›Hintern‹ hatte vollauf genügt, sie zu erheitern. Sie waren leicht zu erheitern.

Herr von Herresheim legte sprachgewaltig in fließendem Englisch los: »Sie wissen nicht, wer vor Ihnen steht, Major General! Sie meinen vielleicht, es hat in Deutschland keinen Widerstand gegen die Hitler-Verbrecher gegeben, wie? Nur Yes-men, was? Haben Sie eine Ahnung, wie viele mutige Männer im Dunkeln gegen Hitler gearbeitet haben, gegen diese Bestie, gegen diesen Mörder …«

»Ich glaube, Sie werden gleich einen Tritt in den Hintern kriegen«, sagte Wenzel.

Der von Herresheim begann zu toben.

»Was erlauben Sie sich, Sie Kommunist, Sie Verbrecher!«

»Kommunist … Verbrecher …« Hobson bewegte verloren die Beine hin und her. Ei weh, dachte Jakob. Wenn dieser alte Nazi so weitermacht, kippt mir mein Freund Hobson um. Der ist doch so dämlich, daß er sich von allem und jedem beeinflussen läßt. Der glaubt in einer Viertelstunde dem Drecks-Nazi und nicht mehr mir!

Dennoch durchströmte ihn ein angenehmes, warmes Gefühl. Ein anderer Mann hätte Blut und Wasser geschwitzt bei diesem Unternehmen ›Nibelungentreue‹ – nicht so Jakob Formann. Er hat niemals, auch nicht in weit gefährlicheren Situationen, Blut und Wasser geschwitzt wie normale Menschen, obwohl es ihm von nun an bestimmt war, immer wieder gleichsam über einen eben noch fußbreiten Grat vorwärtszuschreiten, rechts und links gähnende Abgründe. Immer wieder ist er denn auch mal abgerutscht, manchmal gefallen. Jeder andere wäre zerschmettert liegengeblieben. Nicht so Jakob. Er hat sich stets im letzten Augenblick gefangen. Das erwähnte selig-wärmende Gefühl hat er noch oft in solchen Momenten empfunden. Schlimmstenfalls schüttelte er sich wie ein Hund und kletterte sodann frohgemut wieder empor zum Licht, hinauf zu seinem messerrückenscharfen Grat …

Indessen hatte der von Herresheim weiter auf den armen Hobson eingeredet – in akzentfreiem Englisch. Erschüttert über die eigene Größe beteuerte er, schon während des Krieges für die Alliierten gearbeitet zu haben. »Vorräte habe ich angelegt, unter akuter Lebensgefahr, für den großen Tag der Erhebung gegen Hitler! Die mir erteilten Befehle habe ich nicht nur nicht befolgt, sondern ich habe sie – immer unter Todesgefahr, Sie wissen ja nicht, Sie können sich ja nicht vorstellen, wie das zuging in diesem Verbrecherstaat! – ich habe diese Befehle sabotiert! Meine Fabriken im Warthegau haben nicht funktioniert! Ich habe mein Soll nicht an Berlin geliefert! Ich habe mit den Polen gemeinsame Sache gemacht …«

Hobson sah zum Erbarmen aus.

»Gemeinsame Sache gemacht!« Jakob lachte heiser. »Ausgebeutet bis zum Krepieren haben Sie die Polen! Die Produktion haben Sie – jedenfalls zum Teil – versteckt und gehortet, um nach dem Zusammenbruch damit Ihre dreckigen Geschäfte machen zu können!«

»Mann, noch ein Wort, und ich bringe Sie ins …!« schrie der Wehrwirtschaftsführer, deutsch diesmal.

»Sehen Sie, da ist er schon wieder, der gute alte Ton.« Jakob wandte sich an Hobson. »Glaub diesem Mistkerl nicht, Peter, um Himmels willen!«

»Ja, aber … aber der Kommandant in Tölz hat ihm doch vertraut!«

»Stimmt«, ließ sich jetzt der ›mickrige‹ Freund Wenzel vernehmen, »dem hat dieser Herresheim Dokumente, Bestätigungen von Geretteten, Dankschreiben vorgelegt …«

»Die samt und sonders gefälscht waren!« setzte Jakob hinzu.

»Ich bringe Sie …«

»Jajaja, das haben Sie schon mal gesagt. Ich habe euren Dreckskrieg mitmachen müssen. Der Major General nicht! Ich kenne euch Brüder! Der Major General und der Kommandant in Bad Tölz, die kennen euch nicht! Sie können Englisch und Französisch! Das ist Ihre Stärke! Deshalb hat der Kommandant in Tölz Sie hierhergesetzt!« Immer wohliger und wärmer wurde es Jakob. »Weil Sie ihm eingeredet haben, Sie sind ein Wirtschaftsfachmann, und Sie werden alles tun, um in Bayern die Wirtschaft anzukurbeln – so war’s doch!«

»Genau so! Und ich schufte und plage mich Tag und Nacht!« tobte der von Herresheim. »Ich komme kaum zum Schlafen! Meine Gesundheit geht vor die Hunde! Und das alles, damit das Vaterland neu erstehe!«

»Genauso habe ich mir das vorgestellt, Sie Schuft …«

»Haben Sie Schuft gesagt?«

»Habe ich gesagt, ja!«

»Major General, ich, der ich für Ihre Army arbeite, bitte Sie, mich gegen die Infamie dieser Kreatur in Schutz zu nehmen!«

»Halt’s Maul, du Scheißkerl!«

»Jake, vielleicht sollten wir … vielleicht hast du dich geirrt … und Mister Herresheim ist wirklich ein Widerstandskämpfer …«

»Ich irre mich nicht! Widerstandskämpfer! Peter, ich beschwöre dich: Hör auf mich, sonst bist du deine Stellung los! Was glaubst du, was passiert, wenn ich mit General Clay rede …«

»O Gott, ist das alles furchtbar! Wär’ ich doch in Heidelberg geblieben …«

»… und ihm von dem Drecksack hier berichte und von den lieben Ortsgruppenleitern und den Bubis, die er sich hergeholt hat, um eine schöne warme Gesellschaft zu haben …« Jakob schrie jetzt, denn er sah, daß nicht nur Hobson, sondern auch die MPs unsicher geworden waren. »… und um sich vollzufressen und vollzusaufen und die ganze Army lächerlich zu machen!« (Jetzt ist mir herrlich warm!)

»Haben Sie General Clay gesagt?« fragte der von Herresheim, plötzlich sehr bleich.

»Habe ich, ja. Das ist ein Freund von mir. General Clark auch. Governor van Wagoner auch!«

»Der auch …« Wehrwirtschaftsführer von Herresheim mußte sich gegen die Wand lehnen. Er atmete schwer. Na also, du Hund, dachte Jakob. Der von Herresheim sagte zu Hobson: »Erlauben Sie, daß ich zwei Minuten unter vier Augen mit diesem … Herrn rede, Major General? Das Ganze scheint mir in der Tat ein gewaltiges Mißverständnis zu sein, an dem dieser … Herr … hrm … allerdings wohl … unschuldig ist.«

»Reden Sie … reden Sie mit ihm … mein Gott, wir sind doch übers Meer gekommen, damit hier endlich wieder Gerechtigkeit herrscht …«, stammelte der unglückliche Peter Milhouse Hobson.

39

»Zwanzig Ballen französische Seide, Herr Formann. Garantiert echt. Direkt aus Lyon …«, flüsterte der von Herresheim. Er stand vor Jakob in einem Zimmer, das an die Halle grenzte, und jetzt blinzelte er vertraulich.

»Wir sind doch beide deutsche Menschen, wie? Müssen uns doch gegen diese Kaffern schützen, was? Die zwanzig Ballen sind für Sie!«

»Ist das alles, Herresheim?« fragte Jakob verächtlich.

»Warten Sie! Auch noch ein herrlicher russischer Zobel gehört Ihnen, wenn Sie jetzt bloß den Mund halten und wieder verschwinden …«

»Für ein bißchen Seide und einen Zobel … Finden Sie das nicht selber reichlich dünn, Herresheim?«

»Herrgott, nehmen Sie doch Vernunft an! Haben Sie Mitleid!«

»Wann haben Sie denn mal Mitleid gehabt, Sie Schwein?«

»Den ›Blauen Turm von Westkapelle‹ kriegen Sie auch noch!«

»Was für einen Turm?«

»Den blauen! Von Piet Mondrian! Dem großen holländischen Maler! Müssen Sie doch kennen!«

»Klar kenne ich den«, sagte Jakob. Klar kannte er ihn nicht. »Wenn Sie glauben, daß Sie mich damit bestechen können …«

»Himmel, ich gebe Ihnen mein Letztes! Eine vom Führer persönlich unterschriebene Verleihungsurkunde für das Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern …!«

»Was soll ich denn mit dem Appelsinenorden?«

»Da ist kein Name eingesetzt! Aufheben sollen Sie die Urkunde für später, wenn alles wiederkommt! Dann können Sie da Ihren eigenen Namen einsetzen und …«

»Das ist ja ’n tolles Ding!«

»Nicht wahr? Also seien Sie vernünftig und lassen Sie uns hier in Ruhe!«

»Nein.«

»Sie haben immer noch nicht genug?«

»Was gibt’s noch, Herresheim? Wie ist das mit den Vorräten? Haben Sie die wirklich beiseite geschafft?« Jakob hatte plötzlich einen ganz anderen Ton angeschlagen. Der von Herresheim merkte es sehr wohl.

»Natürlich!«

»Was?«

»Lebensmittel …«

»Wo?«

»Kennen Sie den Wallberg?«

»Nein.«

»Der geht da gleich im Süden hoch. Daneben der Setzberg. Verbunden durch eine flache Senke. Dort steht eine Alm, ganz allein und verlassen. Aber gesichert! Dort habe ich …«

»Wann kann ich das Zeug runterholen?«

»Sie wollen mir alles … wirklich alles …?«

»Natürlich.«

»Sie elen … verzeihen Sie, Herr Formann! Wie Sie wollen. Es ist aber verflucht steil da hinauf. Und hinunter.«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Wann können wir da rauf?«

»Wann Sie wollen. Morgen … übermorgen …«

»Übermorgen«, entschied Jakob. »Ich habe schließlich noch was anderes zu tun. Die Seide, den Zobel und das ganze Zeug hole ich mir morgen … den Rest übermorgen … Jetzt lassen Sie mich den Major General beruhigen. Ich nehme alles auf mich. Ich muß mich da geirrt haben. Jemand hat Sie denunziert …«

»Ich danke Ihnen, Herr Formann, ich danke Ihnen, Sieg … äh, Gott vergelt’s!«

40

Zwei Tage später bezwangen zwei Herren den Wallberg in seiner herrlichen winterlichen Einsamkeit. Damals kletterte niemand zum Vergnügen. Dazu waren die meisten Menschen viel zu schwach. Der Wehrwirtschaftsführer nicht, der war ganz im Gegenteil mehr als herausgefressen und mußte immer wieder um Atempausen bitten. Er hatte Angst, das Herz könnte ihm versagen.

Jakob, der in sieben Jahren genug Zeit und Gelegenheit zum Trainieren gehabt hatte, nahm den Wallberg sozusagen im Laufschritt. Die Seidenballen, den Zobel, den holländischen Meister und die Ehrenurkunde, die Hitler blanko unterschrieben hatte, waren inzwischen nach München gebracht worden. Der wackere Fälscher Mader bewahrte alles in seiner Werkstatt auf.

Da war die Alm. Junge, Junge, ist der auf Nummer Sicher gegangen, dachte Jakob, als er sah, wie der Wehrwirtschaftsführer mit Spezialschlüsseln ein Schloß nach dem andern aufsperrte. Nebel hüllte alles ein. Gut so, dachte Jakob.

Jetzt hatte Herresheim das letzte Schloß auf. Er öffnete die Tür.

Jakob trat in die große Almhütte. Herresheim folgte ihm. Jakob pfiff anerkennend. Vom Boden bis zur Decke war hier alles gefüllt mit Zucker, Kaffee, Schokolade, mit Konserven aller Art, mit Mehl, Fett, geräucherten Schinken und Würsten. Es sah aus und roch wie im Magazin einer riesigen Lebensmittelhandlung.

»So«, sagte der von Herresheim, total erschöpft, »also das gehört auch noch Ihnen. Das Letzte, was ich habe. Sie sind mir vielleicht ein gerissener …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Jakob wußte, warum.

Hinter Herresheim war Generalmajor Peter Milhouse Hobson getreten. Er bohrte dem Wehrwirtschaftsführer die Mündung einer Pistole in den Rücken. Hinter Hobson sah Jakob Soldaten. Und ein paar Mann deutsche Polizei. (Darum habe ich gebeten, dachte er gerührt. Peter ist wirklich ein feiner Kerl.)

»Wa … wa … was soll das heißen?« stammelte Herresheim.

»Herresheim, Sie Verbrecher, Sie sind verhaftet, das soll es heißen«, sagte Hobson. (Ein bißchen zu theatralisch, dachte Jakob. Aber das ist wieder eine von seinen Sternstunden. Und auf dieses braune Mistvieh wirkt es! Laß nur …)

»Sie haben doch von den Vorräten gewußt, Major General«, stammelte der Wehrwirtschaftsführer. »Ich habe sie angegeben …«

»Die Pfoten über den Kopf, aber schnell!«

Herresheim hob die Hände.

»… Sie haben … haben … doch alles gewußt! Und alle meine Urkunden gesehen!«

»Das haben unsere Spezialisten in München auch«, sagte Hobson grimmig. »Alles Fälschungen, wirklich sehr gute Fälschungen. Kein Wort von all dem Quatsch, den Sie uns erzählt haben, ist wahr gewesen – für die Alliierten gekämpft, Sabotage gegen Hitler! Auch da habe ich nachforschen lassen. Nirgends ist etwas davon bekannt.«

»Darum wollte ich erst in zwei Tagen mit Ihnen hier raufgehen, Herresheim«, erläuterte Jakob. »Damit der Major General genügend Zeit hat …«

»Sie elender Verräter!« Herresheim machte Anstalten, sich auf Jakob zu stürzen.

Ein Militärpolizist schlug ihm den Schaft einer Maschinenpistole kurz und gar nicht einmal besonders heftig über den Schädel. Herresheim kippte um. Er begann zu weinen über soviel Unrecht, das es gab auf der Welt. Und weil ihm der Schädel weh tat.

»Ihre Saufkumpane, die Herren Ortsgruppenleiter, die sitzen schon alle. Ihre Bubis haben wir ins Arbeitslager Moosburg gesteckt, zu den braunen Bonzen. Und Sie, Herresheim, nehme ich mit nach München. Auf Sie wartet ein hübscher kleiner Prozeß«, sagte Hobson. »Da werden wir nicht mal einen Dolmetscher brauchen – bei Ihren Sprachkenntnissen! Danke, Jake, daß du uns die Alm so genau beschrieben hast. Wir haben sie gleich gefunden.«

»Gerne geschehen«, sagte Jakob, indessen vier kräftige MPs den von Herresheim schon ins Freie zerrten.

»Gebt acht, daß er sich nicht weh tut«, sagte Jakob.

»Sie Schwein! Sie Verräter! Die gerechte Strafe wird Sie treffen!« schrie der Gefangene, als er abgeschleppt wurde.

»Jajaja, sicherlich«, sagte Jakob gelangweilt. Er wandte sich an seinen Freund Hobson. »Ich schlage vor, daß zunächst einmal die Frauen und Kinder im Himmler-Hof mit einem Teil der Vorräte hier versorgt werden, Peter«, sagte er. »Den Rest bekommen die deutschen Behörden zur Verteilung. Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte Hobson. »Mensch, Jake, du bist schon ein Kerl!«

»Es geht«, sagte Jakob bescheiden, und danach summte er leise eine Melodie von Glenn Miller. Und sang schließlich zu ›In the Mood‹ einen Text, der jetzt gerade Mode geworden war:

»Auf, wir gründen wieder eine Nazipartei,

und die alten Bonzen, die sind wieder dabei,

mit Genehmigung der Militärregierung

bringen wir die Sache dann in Schwung …«

Jakob grinste. »Ja, Scheiße«, sagte er vor sich hin. »Hier haben jetzt die Frauen und Kinder aus dem Himmler-Hof ein schönes Heim.«

Wichtiger Hinweis: Der vorangegangene Bericht mußte mit besonderer Umsicht verschlüsselt werden, da es sich bei dem im Roman erwähnten ›Wehrwirtschaftsführer von Herresheim‹ um einen Mann handelt, der heute im Wirtschaftsleben der Bundesrepublik Deutschland eine sehr hohe Position einnimmt.

41

»Es wird Sie sicher interessieren, Mister Fletcher«, sagte der eleganteste der drei eleganten Nachtportiers des ebenso eleganten HÔTEL DES CINQ CONTINENTS in Paris zweiundsiebzig Stunden später zu Jakob Formann, der sich im Augenblick gerade Jerome Howard Fletcher nannte, »daß gestern noch Miss Rita Hayworth in diesem Appartement gewohnt hat.«

Der ›Orient-Expreß‹ hatte die Gare de l’Est um 3 Uhr 45 früh erreicht. Jetzt war es 4 Uhr 10, und der Nachtportier des HÔTEL DES CINQ CONTINENTS sah aus wie aus dem Ei gepellt.

»Die gute alte Rita«, sagte Hilde Korn, die sich des längeren schon Mrs. Laureen Fletcher nannte, wehmütig lächelnd, »ist sie noch immer mit Orson zusammen?«

»Selbstverständlich, Madame.«

»Na, so selbstverständlich ist das auch wieder nicht. Wird nicht mehr lange dauern, wie ich Rita kenne.«

»Darüber, Madame, steht mir natürlich keinesfalls ein Urteil zu. Diese herrlichen Orchideen … Ich werde mich selbst sogleich um eine Vase kümmern!« Der Nachtportier nahm Mrs. Fletcher ein wahrlich imposantes Gebilde von Cattleyen und Venusschuhen aus der zarten Hand und bedachte Mr. Fletcher mit einem Ausdruck der Wertschätzung. »Wirklich eine Pracht, Sir! Wenn die Herrschaften durstig sind … Die Direktion hat sich eine kleine Aufmerksamkeit erlaubt …« Er sah dezent zu einem Tischchen, auf dem sich ein großer Obstkorb, eine Vase voller Teerosen und eine Flasche Champagner in einem silbernen Kühler befanden. »Gläser stehen auf der Anrichte, Madame, Sir …«

Jakob befand sich zum erstenmal in seinem Leben in derartig unirdischen Gefilden. Aber das war ihm scheißegal, sonst wäre er nicht Jakob Formann gewesen.

»Oh«, sagte er (die Unterhaltung verlief englisch), »how very kind. Nur, leider, ich trinke keinen Alkohol. Wenn ich vielleicht etwas ›Preblauer‹ haben könnte …«

»›Preblauer!‹ … Aber, Sir, pardon me, das ist doch ein österreichisches Erzeugnis …«

Verdammt, aufpassen! dachte Jakob und sagte: »Ich trinke es am liebsten, und darum lasse ich es mir überallhin nachschicken. Das ist so’n Tick von mir. Den haben andere Leute auch, nicht wahr? Der König von England nimmt überallhin nur garantiert englisches Wasser für seinen Tee mit, wie?«

»Gewiß, Mister Fletcher. Um Himmels willen, das war kein Vorwurf!« Na also. »Nur – wir haben kein ›Preblauer‹.«

»Vier-Sterne-Hotel und kein ›Preblauer‹«, sagte Jakob im Tonfall der sogenannten klassischen Ironie.

»In Frankreich gibt es ›Perrier‹, Sir. Das ist auch … hrm … sehr bekömmlich und wird viel getrunken.«

»Na meinetwegen«, brummte Jakob.

»Es ist … hrm … allerdings fast halb fünf Uhr früh, Sir. Ich bin untröstlich, aber um diese Zeit ist auch in einem Hotel wie dem unsern niemand mehr … Selbstverständlich werde ich persönlich ein paar Fläschchen ›Perrier‹ für Sie besorgen«, sagte der Nachtportier und steckte die große Geldnote ein, die Jakob ihm gegeben hatte. Rückwärtsgehend entfernte er sich. Die hohe, weiß-goldene Tür des Vorraums zum Salon fiel sanft hinter ihm ins Schloß.

»Wer ist denn Rita Hayworth?« fragte Jakob. »Wer ist Orson?«

»Orson Welles ist ein weltberühmter amerikanischer Filmschauspieler. Rita Hayworth ist eine weltberühmte amerikanische Filmschauspielerin. Du willst doch nicht im Ernst behaupten, daß du von beiden noch nie gehört hast!«

»Doch«, sagte Jakob Formann, »will ich.«

Es klopfte, und drei Hausdiener brachten zwei Schrankkoffer, zwei Hutschachteln, einen selbstverständlich mit Nummernschlössern gesicherten Schmuckkoffer, Gepäck, das alles Laureen gehörte, und sodann einen Diplomaten- und fünf Schweinslederkoffer, die Jakob gehörten. Seit einer halben Stunde. Jakob schüttelte den Herren herzlich und reichlich die Hand. Die Herren wünschten angenehmen Aufenthalt und verschwanden. Kurz darauf erschien der Modejournal-Nachtportier mit einer Kristallvase für die Orchideen und einem zweiten silbernen Kühler. Darin schwammen zwischen Eisstücken vier Fläschchen ›Perrier‹. Der Gentleman entbot eine gesegnete Nachtruhe und entschwand rückwärtsschreitend.

Jakob sah sich gelangweilt in dem Riesensalon um und ging zum Fenster. Er öffnete und blickte hinaus. Das Appartement lag im vierten Stock. Jakob betrachtete die Avenue des cinq Continents. Sie war total verlassen und finster. Die Straßenbeleuchtung war abgeschaltet. Auch die Franzosen hatten sich halb zu Tode gesiegt. Es gab sehr oft Stromsperren, es gab immer noch Lebensmittelkarten, es gab einen riesigen Schwarzmarkt, und es gab sehr viele arme Leute.

»Na ja«, sagte Jakob.

»Na ja, was?« forschte Laureen, hinter seinem Rücken.

»Na ja, das wäre also die Lichterstadt an der Seine«, sagte Jakob und strich über den Kragen seines weißen Seidenhemds. Er trug einen dunkelblauen Zweireiher mit Nadelstreifen (aber ganz feinen), der ihm wie angegossen saß, obwohl er nicht eine einzige Anprobe gehabt hatte. Der Werwolf – jetzt nennen wir die Dame aber endgültig Laureen! – hatte dem Jakob anläßlich der zwei Wochen zurückliegenden Fahrt im Schlafwagen des ›Orient-Expreß‹ ordentlich Maß genommen. Sie kannte im exklusiven Faubourg-St.-Honoré einen Schneider, der es fertigbrachte, binnen kürzester Zeit Anzüge allein nach Laureens Angaben zu zaubern. Diesmal hatte er es für Jakob getan, in dessen funkelnagelneuen Schweinslederkoffern sich sieben weitere Anzüge und ein Smoking befanden. Schon zwei Wochen war Laureen mit dem Arnusch Franzl, Jakobs Schulfreund, in Paris. In Neuilly besaß sie eine ständige Wohnung. Dort hatte sie mit Franzl bis zu Jakobs Ankunft gelebt. Diese Wohnung wurde ständig von den unterschiedlichsten Mitgliedern der Organisation, die Laureen aufgezogen hatte, angelaufen und benützt.

An der Gare de l’Est hatte Laureen Jakob abgeholt. Sie hielt einen Riesenstrauß Orchideen in der Hand, den sie sich selbst gekauft hatte. Im Gewimmel der aus dem Zug Steigenden überreichte sie den Strauß Jakob, wonach sie einander so lange und leidenschaftlich küßten, daß es auf dem Bahnsteig zu Stauungen kam. (»Daß du mir ja leidenschaftlich genug bist!« hatte Jakob Laureen beim ersten Wiedertreffen eingeschärft. »Gehört alles zum Human touch! Auch im Hotel mußt du dich benehmen wie seit gestern verheiratet!«)

Auf der Gare de l’Est war Jakob sodann mit einem der fünf Koffer und seinem billigen Fiber-Koffer in die Herrentoilette gegangen. Dort hatte er sich eingeschlossen und umgekleidet. (Rasiert hatte er sich noch im Schlafwagen.) Seine schreiend bunte amerikanische PX-Kleidung aus Linz – (Ach, ist das eine Ewigkeit her! Was wohl der arme Hase macht? Ich wünsche mir so sehr, daß ich mich wieder um ihn kümmern könnte, dachte er voll Selbstmitleid, aber ich muß doch meinen Krieg gewinnen!) – hatte er sodann in dem billigen Fiber-Koffer verwahrt, nachdem er der alten Jacke alle die liebevoll von Josef Mader (dem mit den Schmalzbroten) gefälschten Dokumente und der alten Hose die glückbringende Hasenpfote entnommen hatte. Der Fiber-Koffer ruhte nun in einem Fach der Gepäckaufbewahrung. Und wenn ihn niemand herausgeholt hat, ruht er noch heute dort.

Laureens Schrankkoffer waren voller Dior-Kleider, Kostüme, Abendroben, feinster und raffiniertester Wäsche und kostbarer Schuhe. In dieser Nacht trug Laureen ein schlichtes Woll-Jersey-Kostüm (Dior), einen Nerzmantel (›Black Diamond‹), einen verwegen schief aufgesetzten Filzhut mit breiter Krempe und ausreichend Chanel No. 5.

Jakob holte noch einmal tief schlechte Stadtluft, dann zog er den Kopf zurück, schloß das Fenster und drehte sich um. Laureen trug nur noch ausreichend Chanel No. 5.

42

Es war schon hell, als Mrs. Fletcher dazu kam, ihren Champagner, und Mr. Fletcher dazu kam, sein ›Perrier‹ zu trinken. Die Jungvermählten hatten es beide außerordentlich eilig und nötig gehabt, und so waren die Stunden dahingeflossen. Nachdem Mrs. Fletcher genügend Champagner und Mr. Fletcher genügend ›Perrier‹ getrunken hatten, gingen sie zunächst ins Badezimmer des Luxus-Appartements. Danach fielen sie wieder übereinander her.

Das Frühstück nahmen sie um 11 Uhr zu sich. Im Appartement. Zu Mittag aßen sie um 15 Uhr. Wieder im Appartement. Sie hatten sich die Speisekarte bringen lassen. Die Preise waren astronomisch und für den normalen Mitteleuropäer nicht nur unerschwinglich – woher hätte der denn auch das Geld nehmen sollen? –, sondern schlechthin unvorstellbar. Mr. und Mrs. Fletcher waren keine normalen Mitteleuropäer. Das Personal wechselte bereits bedeutungsvolle Blicke. So muß es sein, nur so geht die Chose mit meinem Human touch, dachte Jakob, als er bemerkte, wie einer der beiden Kellner, die im Salon servierten, den andern ansah, und wie sie dann beide in Laureens Dekolleté starrten, das unter dem listig sich öffnenden Morgenmantel außerordentlich günstig zu betrachten war. Jakob trug ebenfalls einen Morgenmantel, ihm schaute aber keiner in den Ausschnitt, obwohl er einen goldgelben Pyjama und golden glänzende Pantoffeln besaß. Damit aber die Kellner auch von ihm etwas zu sehen bekamen, streichelte er fleißig Laureens Hals, Nacken und Arme.

Am späteren Nachmittag ruhten Mr. und Mrs. Fletcher. Dann badeten sie gemeinsam, was natürlich wiederum Folgen hatte. Anschließend badeten sie, jeder allein, noch einmal, und dann zog Jakob – zum erstenmal in seinem Leben! – einen Smoking an. Laureen wählte ein langes Kleid aus weißem Seidenchiffon, das die Brüste hoch- und herausstemmte und sich, gefältelt, eng an den Körper schmiegte.

Während des Anziehens in dem eigens dafür vorgesehenen Raum des Appartements blickte Jakob plötzlich starr auf seine Lackschuhe (er hatte auch noch nie im Leben Lackschuhe getragen). Laureen bemerkte es.

»Warum stierst du denn so auf deine Lackschuhe?« fragte Laureen, mit ihren Nylonstrümpfen beschäftigt.

»Ich denke gerade an die armen Frauen und Kinder, die wir im Himmler-Hof gefunden haben«, sagte Jakob und bewegte die Füße mit den Lackschuhen hin und her.

»Was ist mit denen?« Laureen schlüpfte in das Chiffonkleid.

»Die haben es jetzt warm und schön in der ›Nibelungentreue‹, fast so wie wir«, sagte Jakob. »Hab’ dir doch erzählt, nicht?«

»Ja, hast du.« Laureen gab leichte Zeichen von Nervosität zu erkennen. »Würdest du mir bitte den Reißverschluß und die Häkchen hinten zumachen, Liebling?«

Er stand auf und trat hinter Laureen. Es gibt so vieles, was ich nicht kann, dachte er. Aber Frauen an- und ausziehen, das konnte ich schon immer. Allerdings hatten sie nicht solche sündteuren Fetzen an. Er nestelte an den Häkchen, während er sprach. »Den Himmler-Hof haben wir also erobert, der Wenzel und ich. Wenzel hat im Tiefbunker beim Hauptbahnhof dreißig Mann ausgesucht, die machen den Dreckstall erst mal sauber. Jetzt frieren die, die armen Hunde. Woher sie was zu fressen bekommen, ist mir ein Rätsel. Wenzel hat allerdings gesagt, es gibt eine Menge abzustauben bei den Bauern, und so eine Sau ist schnell organisiert und geschlachtet. Aber auf die Dau …«

Danach geschah etwas zutiefst Erschreckendes. Nie wieder ist in Jakobs Leben ähnliches geschehen. Etwas Derartiges ereignet sich – und wir haben uns bei mehreren international bekannten Psychiatern erkundigt – überhaupt höchst selten: daß nämlich ein Mensch in einem Zustand der Erstarrung und der Trance die Summe aller Erfahrungen zieht, die er noch gar nicht gemacht hat, die er erst machen wird! Das Phänomen erleben die Betroffenen unbewußt. Niemand erträgt es bewußt – haben uns die international berühmten Psychiater gesagt – mit Ausnahme von Heiligen, und selbst diese finden es schwierig.

Jakob stand, die Finger an der Häkchenreihe über dem Reißverschluß von Laureens Kleid, unbewegten Gesichts, wie zu Stein erstarrt. Sein Gesicht hatte einen absolut idiotischen Ausdruck angenommen, seine Stimme, mit der er nun plötzlich leiernd redete, einen völlig anderen Tonfall.

»Eitelkeit«, sprach Jakob mit fremd klingender Stimme. »Eitelkeit der Eitelkeiten. Alles ist eitel …«

Laureen fuhr herum. »Jakob!«

Doch der sah und hörte sie nicht.

»Ein Geschlecht«, leierte er, »geht, und ein Geschlecht kommt, die Erde aber bleibt bestehen ewiglich …«

»Jakob!« rief Laureen. »Laß den Quatsch! Du hast mich zu Tode erschreckt!«

Jakob sprach in seinem absonderlichen Singsang weiter, ohne sie zu beachten: »Die Sonne geht auf, und die Sonne geht unter und läuft an ihren Ort, daß sie wieder aufgehe daselbst …«

»Mein Gott, Jakob! Liebster Jakob! Armer Jakob! Du hast den Verstand verloren! Ein Arzt … ein Arzt …« Sie wollte aus dem Umkleideraum zu einem Telefon eilen, aber Jakob stand mitten im Zimmer, und sie wagte sich nicht in seine Nähe. Das Ganze war gespenstisch. Sie wich zurück.

»Alle Wasser laufen ins Meer«, psalmodierte Jakob, »doch das Meer wird nicht voller; an den Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder zurück …«

»O mein Gott«, flüsterte Laureen erschüttert.

Unbeweglich stand Jakob, während er wie aus dem Schlaf sprach: »Ich will meine Eier. Du willst etwas anderes. Wenn wir haben, was wir wollen, werden wir wieder etwas anderes haben wollen. Sieh dir die Welt an! Was in ihr geschieht, und was die Menschen tun, und was die Menschen sich wünschen … Alles das, was geschieht und was sie tun und was sie sich wünschen, alles das, was wir Leben nennen, ist nicht so ungeheuer wichtig und ist nicht so ungeheuer tragisch und ist nicht so ungeheuer aufregend, wie wir wohl denken, sondern nur ungeheuer blöde …«

Laureen stand mit halbgeschlossenen Häkchen vor ihm, dessen Hosen-Reißverschluß nur halb geschlossen war, und flüsterte: »Jakob, mein armer, armer Jakob …«

»Dank dieser ungeheuren Blödheit der Menschen«, sprach Jakob entrückt und mit Toilettefehler, »werde ich meinen Krieg gewinnen. So wie noch nie ein Krieg gewonnen worden ist! Denn ich werde mich auf die Seite der einen schlagen und an ihrem Munde hängen und ihnen recht geben in allem, und ich werde mich auf die Seite der anderen schlagen und ihnen recht geben in allem und an ihrem Mund hängen, und ich werde sie bewundern und beschenken und werde glauben, was beide Seiten mir sagen, obwohl ich deutlich, ganz deutlich spüre, daß man auf keiner der beiden Seiten stehen kann. Weil sie nämlich alle beide stinken …«

»Manchmal hilft ein heftiger Schock«, murmelte Laureen todesmutig und trat an Jakob heran.

Der fuhr aus seiner Erstarrung empor. Der Blick seiner verschwommenen Augen wurde klar, er sah Laureen an. »Grüß Gott. Was hast du eben getan?«

»Ich habe dir eine geschmiert«, erwiderte Mrs. Fletcher zitternd.

»Geschmiert … Aber warum denn?«

»Damit du wieder zu dir kommst! Du warst auf einmal völlig weg und hast so wirres Zeug geredet …«

Absolut kraftlos ließ Jakob sich in einen weiß-goldenen Sessel mit rotem Samtbezug fallen.

»Wirres Zeug …«

»Ja.«

»Was für wirres Zeug?«

»Das weißt du doch selber!«

Unglücklich erwiderte er: »Ich habe keine Ahnung …« Er griff sich an den Kopf. »Nicht die Ahnung einer Ahnung … Was habe ich denn gesagt? Eine Schweinerei?«

»Viel schlimmer.«

»Dann sag’s mir doch!«

»Nein! Ich bin froh, wenn du ihn wirklich nicht mehr weißt, den ganzen Quatsch! Niemals werde ich es dir sagen! Wie konntest du nur …« Eine Idee kam ihr. »Hast du vielleicht vor kurzem in der Bibel gelesen?«

»Bibel?« wiederholte er verloren.

»Ja! In diesen Hotels liegt doch eine Bibel in jedem Nachttisch!«

»In jedem Nachttisch …«

»Erinnere dich, Jake! Es ist wichtig!«

»Wichtig … Warte … Ja, ich erinnere mich … Ich habe in so einer Nachttischbibel gelesen, während du im Bad warst, nachdem wir gerade …«

»Schon gut. Was hast du gelesen?«

»Weiß ich nicht … oder doch … Prediger Salomo … und dann in der Apostelgeschichte … die Sache mit der Bekehrung von diesem Paulus … nein, Saulus … was da in der Nähe von Damaskus passiert ist … die ganze Geschichte von dem Licht, das auf ihn zugestürzt gekommen ist vom Himmel, und dieses ›Saul, Saul, warum verfolgst du mich?‹-Rufen der Stimme, die plötzlich gesagt hat … gesagt hat … ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat … jedenfalls ist der Saulus ein Paulus geworden, nachdem er seinen Unfall gehabt hat, du kennst ja die Story …«

Laureen mußte die Augen schließen. Sie kniete jetzt vor ihm, der Häkchenverschluß und der Reißverschluß waren wieder ganz aufgegangen, bis zum Höschen hinunter.

»Erleuchtung«, stammelte sie.

»Was, Erleuchtung?«

»Hast du gehabt. Du hast eine Erleuchtung gehabt! Du warst weg von einem Moment zum andern … und geredet hast du wie im Schlaf … aber jetzt bist du wieder wach, ja?«

»Vollkommen. Dein Reißverschluß ist offen.«

»Deiner auch, Liebling.«

Sie schloß seinen. Er schloß ihren.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte er wieder mit normaler Stimme. »Wir können den Handelsattaché nicht warten lassen.«

»Bist du auch bestimmt sicher, daß alles wieder okay mit dir ist?«

»Bestimmt.« Er lachte. »Muß ein richtiger Filmriß gewesen sein! Ich habe ja auch ganz schön was geleistet vorher, wie?«

»Das hast du, mein Schatz!« sagte Laureen.

Und dann lachten beide.

Paulus hat, wie alle großen Propheten und Religionsphilosophen unserer Welt, seine Erleuchtung schwer und qualvoll durchlitten. Danach war er ein anderer Mensch. Jakobs Erleuchtung war weder qualvoll noch schwer. Sie war gleich einem Traum gewesen, in dem man mit einem Male die Wahrheit über die Menschen und die Welt in blendender Klarheit erkennt – um schon im Augenblick des Erwachens nicht die winzigste Spur einer Erinnerung an das Erkannte zu haben. Nicht einmal eine Minute lang hatte Jakob – fürwahr ein seltenes Phänomen, wie uns die erwähnten psychiatrischen Zelebritäten bestätigen – den Schlaf der Wahrheit geschlafen. Und gleich danach alles vergessen, was er in ihm erkannt hatte. So also regelt sich diese Welt von selbst. Was dabei herauskommt, sollte eigentlich jeder sehen können. Für jene, die es trotzdem nicht sehen können, ist dieses Buch geschrieben.

43

Das Foto zeigte das Gesicht eines Herrn mit edlem Aristokratenkopf, vollem schwarzem Haar und großen feurigen Augen. Das Foto lag auf der Damastdecke eines Tisches. Der Tisch war einer der besten des Lokals. Das Lokal war das berühmte russische Feinschmeckerrestaurant ›Sheherazade‹. Das Restaurant ›Sheherazade‹ liegt in der Rue de Liège. Ein normales Menü in der ›Sheherazade‹ kostete damals etwa dreimal soviel, wie ein französischer Staatssekretär im Monat verdiente. Der Franc war nicht derart wertlos wie die Deutsche Reichsmark, denn die Franzosen hatten ja den Krieg gewonnen, aber viel mehr wert war er auch nicht! Hatte man Dollars, dann konnte man in Dollars bezahlen!

Der im Augenblick sehr menschenscheue Franzl Arnusch, der in Laureens Wohnung in Neuilly geblieben war, hatte einige Dollars vorgeschossen. Sie genügten für ein phantastisches Abendessen zu dritt.

Fünf Geiger, die von Tisch zu Tisch gingen, spielten schwermütige russische Weisen für ein fast ausschließlich amerikanisches Publikum. Und das war ungemein zahlungsfähig. Ein Amerikaner, der anno 1947 einen Scheck über nur dreißig Dollar hergab, erhielt dafür – durch gefällige Vermittlung der Herren Schieber – eine Summe französische Francs, die normalerweise der Kaufkraft von einhundertfünfzig Dollars entsprach. Die Amerikaner empfahlen einander die Schieber, denn natürlich dachte keiner von ihnen daran, seine Dollars bei der Banque de France einzuwechseln, die nur den Tageskurs zahlte.

»Einen Ami, der so blöd ist, daß er das macht, den gibt’s nicht«, hatte der Arnusch gesagt. Und auf dieser einfachen Erkenntnis basierte der ganze Plan, der nun Wirklichkeit werden sollte.

»Er heißt Robert Rouvier. Die Adresse und die Telefonnummer des Schweinehunds stehen auf der Rückseite des Fotos, Sir«, sagte der argentinische Handelsattaché Amadeo Juarez.

»Der sieht aber gar nicht aus wie ein Schweinehund«, sagte Jakob. »Wenn ich eine Frau wäre – in den täte ich mich verknallen.«

»Das tun die Frauen ja auch ununterbrochen«, sagte Juarez, ein plumper Mann von solcher Häßlichkeit, daß sie bereits faszinierte: Halbglatze, bleiches, rundes Gesicht, Schnüffelnase und Mäusezähnchen, die sich hinter den wulstigen Lippen eines schiefen Mundes verbargen: Das ist Amadeo Juarez, der Wüstling, der Frauenheld, der pathologische Rammler, dachte Jakob. Extrawünsche hat er vermutlich auch. So was geht natürlich ins Geld! Und der Schöne, der auf dem Foto, der gar nicht aussah wie ein Schweinehund, sondern wie ein barmherziger Samariter, dieser Robert Rouvier, dieser bedenkenlose Schieber und Schuft – so etwas an Charme und männlicher Schönheit hatte Jakob noch nicht gesehen. Dieses Lächeln! Diese Zähne!

»Ich weiß, was Sie denken, Sir«, sagte der Handelsattaché, Speichel versprühend. ’n Sprachfehler hat er auch noch, dachte Jakob. »Man muß nicht aussehen wie ein Schweinehund, um einer zu sein. Das gilt für den da ebenso wie für mich … Schon gut …! Es ist lieb von Ihnen, daß Sie widersprechen wollen, aber ich weiß, wie ich ausschaue! Und ich bin keiner! Der da hingegen …« Flink wie ein Taschenspieler legte Amadeo Juarez eine Reihe anderer Fotos auf den Tisch. »Die schickt Ihnen Monsieur Arnusch. Sie sehen die beiden Landsitze dieses Schweinehunds Rouvier, ein Schloß, das ihm gehört, sein Stadtpalais – und hier wäre eine kleine Auswahl seiner Opfer. Der und der und der hier haben sich in den letzten Monaten das Leben genommen, nachdem Rouvier ihnen alles andere genommen hatte.« Weitere Fotos. »Das hier sind Kopien der Abschiedsbriefe, die von der Polizei gefunden und an alle Devisenfahnder weitergegeben wurden – also auch an Monsieur Arnusch. Monsieur Rouvier ist ein ungemein gerissener Schweinehund. Die Polizei, die Fahnder, sie können ihm nichts nachweisen. Niemals! Man lasse ihn so weitermachen – noch ein, zwei Jahre –, und ganz Belgien wird im Eimer sein!«

»Da hörst du es, Darling«, sagte Laureen.

Die fünf Geiger spielten das Lied von Stenka Rasin.

»Ich sehe jetzt zweifelsfrei, daß es sich um eine zutiefst moralische und gerechte Sache handelt, die wir erledigen müssen – schon im Gedenken an die unglücklichen Toten.« Jakob unterbrach sich, erstens, um Laureen die Hand zu küssen, zweitens, weil gerade die Vorspeise – große Belon-Austern – serviert wurde. »Vielen Dank, Towaristsch«, sagte Jakob freundlich und auf russisch zu dem Kellner, der – wie alle seine Kollegen und die Musiker – eine Russenbluse trug. In der Sowjetunion war Jakob lange genug gewesen, um ein wenig von der Landessprache zu erlernen. Zu dem Getränkekellner, der mit einer Flasche eisgekühltem Wodka bereitstand, sagte er, ebenfalls auf russisch: »Mir keinen Wodka, bitte, mir ein ›Perrier‹!«

»Bedaure, Monsieur«, sagte der Kellner auf französisch, »ich habe Sie nicht verstanden.«

»Ich auch nicht. Wir können nicht Russisch«, sagte der Sommelier, gleichfalls auf französisch.

Jakob sagte auf englisch: »Ich verstehe nicht Französisch.«

Der Handelsattaché sprang ein: »Erlauben Sie …« und übersetzte zum einen Jakobs Wünsche auf französisch und zum andern die Antworten der Kellner auf englisch.

Die Kellner nickten erfreut. Sie waren beide noch jung und russische Prinzen. So erläuterte nun der Handelsattaché. Ihre Großväter waren klapprige alte Fürsten und fuhren klapprige alte Taxis. Viele russische Blaublüter hatten, wie der abgrundhäßliche Amadeo Juarez erzählte, nach 1917 Mütterchen Rußland verlassen und waren vor allem nach Paris gegangen. Ihre Enkel wollten nicht mehr Russisch lernen.

»Ich kann mir’s ganz gut vorstellen, daß es den Alten zu Hause nicht mehr gefallen hat«, sagte Jakob. Er hatte so seine Erfahrungen. »Bitte, bitte, beginnen Sie zu essen!« Jakob unterbrach sich und lächelte gewinnend. Noch nie im Leben hatte er Austern gegessen und also keine Ahnung, wie man das anfing. Er mußte es nachmachen. Er machte es nach. Einmal sah er dabei zu Laureen hinüber, einmal zu Juarez. Mit einem Gäbelchen fing es an. Natürlich erwischte Jakob zunächst die größte Gabel, die vor ihm lag. Laureen hustete. Jakob blinzelte, legte die größte Gabel zurück und nahm die kleinste. (»Da wird eine Menge Besteck um deinen Teller liegen, Schatz«, hatte Laureen im Hotel noch gesagt. »Der Fall ist ganz einfach, du arbeitest dich von außen nach innen.«) Haha, und jetzt habe ich gedacht, von innen nach außen! Na ja, dachte Jakob, außer Laureen hat’s niemand gemerkt. Er nahm eine Austernhälfte zur Hand wie seine Tischnachbarn, träufelte wie diese Zitrone darauf (der Attaché roch auch noch intensiv an dem Zeug, bevor er träufelte, aber das erschien unserm Freund etwas überspannt), sodann schälte Jakob, aufmerksam alle Bewegungen seiner Begleiter nachahmend, das schlabbrige grau-bräunliche Zeug aus der harten Schale, hob Schale und Schlabbriges zum Munde und glaubte, sich übergeben zu müssen. Rotz mit schlechtem Fischgeschmack! Er unterdrückte mühsam seinen Ekel und schluckte das Zeug. Und was das kostet! dachte er. Weit, weit entfernt glitt, ein Schatten nur, Josef Mader, der Fälscher, Schmalzbrot essend, vorbei. Was hätte Jakob jetzt für ein Schmalzbrot gegeben! Aber: Nimm dich zusammen! sagte er zu sich selbst. Du führst Krieg. Du willst ihn gewinnen. Gegen diese ganze verfluchte Welt. Da heißt es auch Opfer bringen und Austern essen. Die zweite, o Gott. Neun hat jeder von uns bestellt. Runter damit! Bleiben immer noch sieben.

»Hervorragend«, wagte Jakob zu sagen.

»Ganz hervorragend, Mister Fletcher.« Der Attaché betupfte sich mit seiner Serviette die Lippen. »Ich esse nur Belons. Niemals die spanischen.«

»Ich auch«, sagte Laureen. »Die spanischen verdaut man schwer, sie sind so fett.«

»Absolut richtig, Darling«, sagte Jakob und küßte Laureens Hand.

»Igitt! Nicht doch, Schatz! Deine Lippen und deine Hand sind doch jetzt auch fett.«

»Würde ich spanische essen, wären sie noch fetter«, gab Jakob von sich und lachte schallend. Na schön, dachte er, keiner lacht mit. Großer Gott, noch sechs Stück von dem Schlabberzeug. Ob ich nicht einfach aufstehe und weggehe, zurück zu Wenzel, zum Hof des Herrn Reichsführers Himmler? Er stand nicht auf. Er schluckte heldenmütig weiter. Kellner brachten silberne Schalen voller Wasser, auf dem große Zitronenstücke schwammen. Jakob versuchte munter Konversation zu machen. »Hier in Paris, Señor Juarez, können wir uns in der Öffentlichkeit treffen. Können ausgehen wie heute und vergnügt …« Uah! Wieder eine, runter damit! »… sein wie heute. Alte gute Freunde … hrm.« (Und ich übergebe mich doch noch. Das habe ich wirklich nicht gewußt, daß alle feinen, reichen Leute pervers sind.) »Wenn wir uns jedoch jetzt in Belgien sehen, kennen wir uns nicht, sind wir uns absolut fremd. Fremder als fremd. Sie verstehen, mein Lieber?« Noch fünf.

»Ich verstehe, Mister Fletcher.«

»Iß deine Austern, Liebling«, flötete Laureen. »Oder sind sie nicht in Ordnung? Du machst so ein … gequältes Gesicht. Warte, ich winke dem Maître. Er soll dir sofort neun neue brin …« Verdammter Scheiß! Noch einmal alles von vorne! Jakob ließ Laureen nicht aussprechen.

»Das sind die besten Austern, die ich je gegessen habe, ich bitte dich, Darling!« Und die fünfte. Dafür hätte ich das EK 1 verdient! Ääääh, das ist einfach zu widerlich! Jakobs Hände bebten, als er die nächste Auster zum Munde führte. Er schabte sie aus der harten Schale, hob das Gäbelchen – und blitzschnell rutschte die Auster davon, talwärts. Eijeijeijei! Jakob stockte der Atem. Wenn das jemand gesehen hat …

Es hatte niemand gesehen, nicht einmal Laureen und Juarez. In der ›Sheherazade‹ brannten nur Kerzen, es war sehr schummrig hier. Zum Glück. Wo ist das Zeug bloß hin? überlegte Jakob besorgt. Unauffällig tastete er über sein Knie. Da war das Zeug nicht. Unauffällig tastete er mit den Lackschuhen über den Boden unter dem Tisch und trat auf etwas Glitschiges. Seligkeit erfüllte ihn. Da war das Zeug! Zwischen seinen Smokinghosenbeinen unter den Tisch gesaust. Und niemand hatte es bemerkt. Jakob war plötzlich bester Laune. Wenn das so einfach ging!

Es ging so einfach. Die restlichen Austern ließ Jakob dezent auf die gleiche Weise unter den Tisch sausen, eine nach der andern. Er plauderte sogar dazu. Ich bin eben doch ein Weltmann! Wie’s da unten aussieht, geht niemanden was an. Ich hätte keine einzige mehr runtergebracht. Ums Verrecken nicht! Aber so … So war Jakob zugleich mit Laureen und dem Attaché fertig.

Die beiden prosteten einander mit Wodka zu. Jakobs ›Perrier‹ war noch nicht gekommen. Er wollte nicht unhöflich sein, hob die Fingerschale, die vor ihm stand, sprach sanft lächelnd »Na sdarowje« und trank die halbe Schale aus, bevor er Laureens erschrecktes »Aber Jerome!« wahrnahm.

»Was gibt’s denn, Darling?«

»Was machst du da, Sweetheart?«

»Das siehst du doch«, sagte Jakob. Er sah auch den verwunderten Blick des Attachés, sah, wie Gäste an den Nebentischen ihn verblüfft-spöttisch betrachteten. »Das mach’ ich immer so. Zitronenwasser nach Austern. Die liegen mir sonst zu schwer im Magen. Ihr trinkt Wodka. Ich mein Zitronenwasser.«

»Um Gottes willen, Jerome«, flüsterte Laureen, »stell sofort die Schale hin!«

»Aber warum?«

»Aus der trinkt man nicht!«

»Wozu stehen die Dinger denn dann aber da? Was macht man denn damit?«

»Damit wäscht man sich die Fingerspitzen«, flüsterte Laureen.

Jakob gelang es, ein schallendes Gelächter zu produzieren, obwohl er sich fühlte, als wären mindestens fünf der neun Belons nicht mehr gut gewesen. Die Narbe an seiner Schläfe pochte heftig.

»Hahaha!« lachte Jakob. »Recht geschieht mir! Wer blöd fragt, bekommt blöde Antworten!« Immer noch lachte niemand. Jakob winkte dem Getränkekellner, der eilends herbeischoß.

»Monsieur?«

»Wodka«, sagte Jakob, mit lebenslangen Gewohnheiten brechend. »Einen großen Wodka! Du verstehn?«

»Oui, Monsieur, s’il vous plaît«, sagte der Sommelier unbewegten Gesichts.

Jetzt starrten alle Menschen Jakob an. So ein Scheißlokal, dachte der. Scheißaustern. Scheißfingerschale. Scheißscheißscheiß!

Im nächsten Moment streifte Laureen unachtsam ihr goldenes Feuerzeug fort. Jakob erbleichte. Schnell wollte er sich bücken, denn das Feuerzeug war … war … war unter den Tisch gefallen. Mit einem so seltsamen Geräusch. Als ob … O Gott!

Jakob war nicht schnell genug. Der Maître d’Hotel war schneller. Er bückte sich, tastete kurz, dann erhob er sich, dunkelrot im Gesicht. Bohrer, so hieß beim Barras der ärgste Schinder, als ich Rekrut war, dachte Jakob. Adolf Bohrer. Auf mich hat der es besonders abgesehen gehabt. Herrgott, was habe ich unter diesem Bohrer gelitten. Der hat mich zusammengebrüllt und was gepiesackt, daß ich gedacht habe, ich überlebe es nicht, und nach der Brüllerei hat er mich dann mit einem vor Wut dunkelroten Gesicht angestarrt, daß ich immer gehofft habe, es trifft ihn der Schlag. Der Kellner da, der Laureens Feuerzeug aus dem Schlabberhaufen zwischen meinen Füßen herausgefischt hat, der ist doppelt so dunkelrot! O verflucht, wenn den jetzt der Schlag trifft! Oder wenn er mir eine in die Fresse haut! Richtig reingepatscht in die Austernversammlung ist er. Wie er jetzt das Feuerzeug und seine Hand an der Hose trockenwischt! Wie heißen diese Viecher mit dem grauenvollen Blick, an dem die Leute gestorben sind?

Basilisken!

Jakob schenkte dem Basilisken ein unbeschwertes, heiteres Knabenlächeln. Das Basilisken-Rot wurde noch um eine Spur dunkler.

»Voilà, Madame …«, würgte der Kellner mit Mühe hervor. Dann stürzte er davon. Ich glaube, ich werde wohl nicht mehr in die ›Sheherazade‹ kommen, überlegte Jakob.

44

Sie kehrten sehr spät ins HOTEL DES CINQ CONTINENTS zurück.

Amadeo Juarez fuhr sie hin – in einem schwarzen Bentley, der eine CD-Nummer hatte. Er begleitete Mrs. und Mr. Fletcher noch in die Halle. Zwei Pagen schleppten die Rosen. Alles strahlte das Liebespaar an. Na schön, die Fingerschale, dachte Jakob. Ach leckt mich doch … Aber der Human touch! Der funktioniert! Wie die hier alle Laureen und mich angaffen – die Portiers, die Gäste! Gegen unsere Liebe ist die von dieser Rita Dingsbums und ihrem Kerl, mir fällt der Name nicht ein, ein Dreck!

Der Attaché verabschiedete sich, nachdem er noch bekanntgegeben hatte, daß er für die nächsten Wochen Urlaub habe und jederzeit zur Verfügung stünde.

»Hat Franzl alles geliefert, was wir brauchen?« flüsterte Jakob. Laureen nickte.

»Okay. Dann werden wir morgen nach Brüssel fahren, Señor Juarez«, flüsterte Jakob. »Ich mit der Bahn, Sie mit dem Wagen.« Danach flüsterte er noch allerhand …

Im Appartement angekommen, zog er so schnell wie möglich seinen Smoking aus. Auch Laureen entkleidete sich und schlüpfte in ein dünnes Negligé. Dabei machte sie Jakob immer noch Vorwürfe.

»Jetzt habe ich aber genug!« sagte der nun doch etwas gekränkt. »Ich weiß selber, was ich nicht weiß. Aber was ich nicht weiß, werde ich lernen. Basta! Als ob die Welt von Fingerschalen abhinge!«

»Die Welt nicht, Schatz, aber unser Geschäft«, antwortete Laureen, auf Anhieb liebevoll. Sie schmiegte sich an ihn. Es war ein sehr dünnes Negligé. Jakob trug nur noch Unterhemd und Unterhosen. »Nicht doch, Laureen. Nicht! Bitte!« (Wenn die von dem Austernhaufen unter dem Tisch wüßte!)

»Aber ich liebe dich so sehr.«

»Ich liebe dich auch! Erst noch schnell der Rest vom Geschäftlichen. Ich will doch morgen fahren. Also was sagt Rubinstein?«

Dieser Rubinstein, Serge mit Vornamen, war 1947 ein mysteriöser Bankier in New York. Laureens amerikanischer Bankier. Die Verbindung hergestellt hatte – wie es so geht im menschlichen Leben – der Arnusch Franzl. (1955 wurde der mysteriöse Rubinstein in der Wohnung seiner Frau Mama auf grausame – und mysteriöse – Weise ermordet. Schlagzeilen in der Weltpresse! Bis zum heutigen Tag hat die Polizei die Täter nicht gefaßt.)

»Muß das sein?« Laureen schubberte sich an Jakob.

»Muß, ja. Ganz schnell.« Er ging in den Salon voraus. Sie folgte ihm. Aus der Mittellade eines herrlichen Louis-XV-Schreibtisches nahm Laureen zahlreiche Papiere. Jakob setzte sich in einen Sessel vor dem Kamin. »Hier, bitte …« Laureen kam mit den Papieren. »Hat alles der Franzl vorbereitet. Er hat an Rubinstein geschrieben – als mein Sekretär. Ich habe angefragt, ob Rubi bereit ist, ein Konto auf den Namen Miguel Santiago Cortez zu eröffnen und darauf hunderttausend Dollar einzuzahlen – selbstverständlich nur auf dem Papier und für die Dauer von höchstens zwei Monaten.«

»Der echte Cortez liegt noch immer in Davos?«

»Ja. Es geht ihm sehr schlecht.«

»Endlich eine gute Nachricht! Und Rubi hat das Konto eröffnet?«

»Längst.« Laureen überreichte ein Schreiben. Ihr Negligé rutschte. Sie stöhnte leidenschaftlich.

»Ja, ja. Gleich, gleich«, sagte Jakob. Er las, daß der mysteriöse Rubinstein, der später auf so mysteriöse Weise abgeschlachtet worden ist, durchaus bereit sei, den Wunsch seiner guten Kundin Laureen Fletcher zu erfüllen. »Na prima«, sagte Jakob.

»Ganz so prima ist es nicht. Du brauchst nicht weiterzulesen. Es geht schneller, wenn ich’s dir sage. Rubi schreibt, daß er für diese kleine Gefälligkeit natürlich etwas verlangen muß.«

»Was muß er denn für diese kleine Gefälligkeit verlangen?«

»Zwanzigtausend Dollar.«

»Das ist ja ein Früchtchen! Mit dem wird es noch mal ein böses Ende nehmen.«

»Warte, es kommt noch schöner. Rubi schreibt, daß er sein Geld irgendwie absichern muß und daß er darum seiner Bank den Auftrag gegeben hat, die Zahlungen einzustellen, wenn die Gesamthöhe der Schecks, die du ausschreibst, den Betrag von zehntausend Dollar übersteigt.«

»Wieso ich ausschreibe?«

»Señor Miguel Santiago Cortez natürlich. Der bist du doch in Brüssel.«

»Ach ja, natürlich. Verzeih.«

»Ist schon verziehen. Nun komm endlich …«

»Sofort. Aber bis zehntausend darf ich gehen?«

»Bis zehntausend darfst du gehen.«

»Bankunterlagen? Scheckbücher?«

Laureen warf ihm das Erbetene auf die Unterhose.

Jakob blätterte gedankenvoll in Scheckheften. Nun besaß er also, er, der falsche Miguel Santiago Cortez, bei der ›Guaranty Trust Bank‹ in New York ein Konto in Höhe von hunderttausend Dollar. Josef Mader hatte ihm, Jakob, alle Papiere für Miguel Santiago Cortez hervorragend gefälscht, vor allem einen Paß. Und ähnlich sah Jakob dem lungenkranken Milliardär auch. Jakob angelte einen weiteren Brief Rubinsteins aus dem Haufen auf seiner Unterhose. In diesem Brief teilte Rubi seinem lieben Freund Franzl Arnusch mit, auf welchen Banken der echte Miguel Santiago Cortez, der – bislang ohne Erfolg, Gott sei’s gedankt – in Davos versuchte, die Tuberkulose loszuwerden, sein Vermögen verwahrte. Es handelte sich um (allein in den USA) sechs Banken, und die Beträge, die dort lagen, waren phantastisch.

»Phantastisch«, murmelte Jakob. »Unser Franzl ist ein Genie!«

»Darum arbeitet er ja auch für mich«, sagte Laureen.

Sie zeigte Jakob, in dessen Schoß wühlend, einen Haufen Papiere. »Was ist … nicht doch, Laureen, bitte! … was ist das?«

»Industriekataloge, Aktienofferten, Bankrundschreiben … Die schicke ich dir nach Brüssel ins Hotel. Weil du doch jetzt ein internationaler Finanzmann bist. Ein ganz großer. Ein ganz großer internationaler Finanzmann bekommt solche Post.«

Er sah sie zärtlich an.

»Woran denkst du, Liebling?« forschte sie.

»An meine Eier«, gestand er.

»Jakob!«

»Nein, wirklich, Laureen. Ich bin ja so glücklich. Ich könnte dich abschlecken vor Glück!«

»Na endlich!« Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich. Alle Papiere fielen zu Boden. Laureens Negligé auch. »Dem steht nicht das geringste im Wege, Sweetheart«, sagte Mrs. Fletcher.

45

Den Abschied von ihrem geliebten Gatten gestaltete Mrs. Laureen Fletcher auf Jakobs ausdrückliches Geheiß (»Daß es dir aber auch wirklich erstklassig das Herz zerreißt!«) in der Halle des HÔTEL DES CINQ CONTINENTS so herzzerreißend sie konnte, und das war eine Menge. Sie küßte Jakob ununterbrochen, während sie mit ihm zum Ausgang schritt. Das gesamte Personal war zutiefst gerührt. Mit Liebe kann man jeden Franzosen zutiefst rühren. Und darauf kam es jetzt an. Der Human touch! Der mußte nach Jakobs Plan von allem anderen ablenken. Wenn man seiner oder Laureens später gedachte oder über sie befragt wurde, dann durfte niemandem etwas anderes einfallen als die Erinnerung an diese übergroße Liebe!

Laureen war eine prächtige Partnerin. Gotterbärmlich schluchzte sie im Taxi, das sie beide zum Bahnhof brachte. Sie heulte auf der Gare du Nord wie ein Schloßhund. Sie klammerte sich an Jakob und barmte bitterlich. Bahnpolizisten, Zugpersonal und sehr viele Reisende betrachteten das so interessante Paar voller Wohlwollen.

»Wie lange wird das Ganze dauern, Darling?«

»Eine Woche vielleicht«, sagte der Darling, »oder zehn Tage.«

»Nein! Das ertrage ich nicht! Das ertrage ich nicht!« Jetzt – Jakob bemerkte es voller Entsetzen – weinte Laureen echt! Verflucht, dachte Jakob, das Luder wird sich doch nicht in mich verknallt haben? Ich meine, verstehen könnte ich es ja. Aber dann hätte ich ja schon wieder eine am Hals …

»Sweetheart«, sagte er, ihren bebenden Rücken streichelnd, indessen sie sich an ihn preßte, »du mußt jetzt vernünftig sein. Zweihunderttausend Dollar verdient man nicht im Bett … äh, im Schlaf, wollte ich sagen!«

46

Von Paris bis Brüssel sind es zweihundertachtundneunzig Kilometer.

Dazwischen liegt die Grenze. Polizei- und Zollbeamte kontrollierten Jakobs amerikanischen Paß auf den Namen Jerome Howard Fletcher und fanden nichts zu bemängeln. Mein lieber Freund Josef Mader, der Münchner Fälscher, ist wirklich Weltklasse, dachte Jakob frohen Mutes. Ich darf nicht vergessen, ihm ein paar Dosen Schmalz mit genug Zwiebeln und feinen Grieben mitzubringen.

Auch in den vielen Gepäckstücken fand sich nichts, was die Zöllner zu beanstanden gehabt hätten. Sie wünschten Mr. Fletcher eine angenehme Reise. Mr. Fletcher dankte. Die erste Station auf belgischem Gebiet hieß Frameries.

In Frameries stieg Jakob aus. Zwei Träger transportierten seinen Schweinslederkofferberg durch das Bahnhofsgebäude auf den Platz davor.

Unter einem verschneiten Baum am Ende des Platzes stand ein Bentley mit französischer CD-Nummer. Die Scheinwerfer flammten auf, der Wagen kam angesummt und hielt. Der abnorm häßliche Handelsattaché Amadeo Juarez mit dem abnormen Frauenverschleiß stieg aus. Die Gepäckträger verstauten Jakobs Koffer. Zum Glück war es ein großer Bentley. Jakob entlohnte die Träger. Die Träger verbeugten sich geradezu ehrfürchtig. Wieder zuviel Trinkgeld, dachte Jakob verärgert. Aber schon war die Rechtfertigung da: Warum sollen die armen Hunde, die sich für mich abmühen, nicht auch eine Freude haben? (Solch Alibi brachte es mit sich, daß Jakob niemals davon zu heilen war, viel zu hohe Trinkgelder zu verteilen.) Der Attaché und Jakob kletterten in den Wagen.

»Wo sind die Scheckhefte und die Papiere von Rubi?« fragte Jakob.

»Hier.« Der Handelsattaché war maulfaul. Er reichte Jakob einen Diplomatenkoffer. »Hat mir Ihre Frau gegeben.«

Das ist der Diplomatenkoffer, den mir der Hase in Linz im PX gekauft und zu Weihnachten geschenkt hat, dachte Jakob sentimental. Der Hase … wie gemein benehme ich mich gegen ihn. Und ganz gewiß werde ich niemals im Leben und in der ganzen Welt eine bessere Frau finden als Julia, mein Gott. (Genau diesem Gedanken hat er in Abständen das ganze nächste Vierteljahrhundert hindurch nachgehangen.)

»Jetzt geben Sie mir den anderen Paß.« Daraufhin gab der mürrische Juarez ihm den Paß, den der Milliardär Cortez in Paris verloren und den nun Juarez mit über die Grenze gebracht hatte. Juarez besaß diplomatische Immunität. Er und sein Wagen wurden niemals untersucht. (Schlauer Franzl!)

Jakob nahm den erstklassig gefälschten amerikanischen Paß auf den Namen Jerome Howard Fletcher aus der Jackentasche und reichte ihn Juarez, der ihn aufbewahren sollte. Den echten argentinischen Paß steckte er ein.

»Was ist los mit Ihnen, Juarez? Warum sind Sie so mürrisch?«

»Ich bin nicht mürrisch, ich bin müde.«

»Sie sollten doch nachmittags schlafen!«

»Habe ich auch.«

»Aber nicht allein«, sagte Jakob ergrimmt.

»Sie kennen Yvonne nicht. Das ist die süßeste …«

Mit diesem Typ muß man gleich Fraktur reden, dachte Jakob und schnauzte den Mann, der an übermäßiger Hormonausschüttung litt, an: »In der nächsten Zeit werden Sie sich zusammenreißen, verstanden? Es wird Ihnen ja Gott behüte wohl möglich sein, für einen Riesenverdienst zehn Tage lang nicht herumzuhocken!«

»Ich will’s versuchen«, sagte Juarez kläglich, »aber versprechen kann ich es nicht. Es ist einfach zu stark – stärker als ich, Señor Cortez.«

Zwei Stunden später erreichten die beiden einen Taxistand an der Peripherie von Brüssel. Gemeinsam holten sie Jakobs Schweinslederkofferpracht aus dem Wagen. Dann wählten sie ein Taxi, in dem all die Koffer auch Platz hatten.

»Ich rufe Sie an«, sagte Juarez.

»Aber nur …«

»…aus einer Telefonzelle«, knurrte Juarez gereizt. »Ich bin kein Idiot.«

»Geb’s Gott!« Jakob sah dem Bentley nach, der davonschoß. Wetten könnte ich, daß der Kerl schon wieder zu irgendeiner Puppe saust, die er in Brüssel kennt, dachte er traurig. Es ist zum Verzweifeln mit dem Burschen! Das ist ja ein … ein … na ja, eben ein!

Jakob nannte dem Chauffeur den Namen des Hotels, zu dem er wollte. »PLAZA, sehr wohl, Monsieur. Sind Sie Amerikaner?« Der Taxifahrer drehte sich um. Das hätte er nicht tun sollen. Er stieß um ein Haar mit einem anderen Taxi zusammen, das gerade vorüberfuhr. Halt. Große Beschimpfung, von der Jakob nichts verstand. Zwei Worte blieben haften: ›Flame‹ und ›Wallone‹. Endlich hatten die beiden Herren sich ausgetobt. Sein Fahrer kletterte hinter das Steuerrad, wüst vor sich hinfluchend. Nur soviel verstand Jakob, daß der Chauffeur dauernd einen dreckigen Flamen verfluchte. Das muß der andere gewesen sein, überlegte Jakob. Aber was sind Flamen? Und was sind Wallonen? Um Gottes willen nicht fragen, sonst gibt’s einen richtigen Unfall! Ich werde mich erkundigen. Vielleicht kann man dabei was herausschlagen. Ich habe schon aus den sonderbarsten Sachen was herausgeschlagen …

Auf dem Weg durch die Stadt beruhigte der Taxifahrer sich langsam. Gott sei Dank, dachte Jakob. Ich hab’ mich nicht durch einen ganzen Krieg gerettet, damit mich jetzt irgend so ein Fallone oder Walme totfährt.

»Nein, Argentinier«, antwortete Jakob. Mit einiger Verspätung.

»Was, Argentinier?« fragte der Chauffeur, der englisch mit schwerem Akzent sprach.

»Bin ich. Haben sie mich gefragt. Vorhin.«

»Ah!« Der Chauffeur begann zu schwärmen. »Schauen Sie sich das an, Sir! Klein-Paris hat man Brüssel immer schon genannt. Aber ich glaube, jetzt ist es mehr Paris als Paris selber!«

Das stimmte. Jakob erblickte breite Boulevards, Luxusgeschäfte, Häuser mit üppigem Stuck. Alle Straßen waren taghell erleuchtet. Hier existierten offenbar keine Strombeschränkungen. An den Geschäftshäusern sah man Leuchtreklamen in allen Farben. Der Chauffeur teilte Jakob mit, daß die Geschäfte bis Mitternacht geöffnet seien. In den Schaufenstern lagen Luxusartikel aus der ganzen Welt. Belgien hat den Krieg eben nicht annähernd so gewonnen wie Frankreich, sinnierte Jakob.

»Auch auf kulturellem Gebiet ist alles in Ordnung …« Der Taxichauffeur war äußerst gesprächig. »Sartre, Anouilh, Wilder …«

Keine Ahnung, wer die Herren sind, dachte Jakob. Nie gehört. Schieber offenbar nicht. Er sagte: »Großartig!«

»Und ›Egmont‹!« Der Chauffeur kam immer mehr in Fahrt. »›Don Giovanni‹ und ›Tristan‹ sind zu erwarten – mit österreichischen Solisten! Ah, und Schönberg! Lieben Sie die deutsche Musik auch so sehr?«

Fragen kann ein Mensch stellen!

»Hm …«

»Fast den ganzen Tag hören Sie deutsche Musik im Radio – von Bach bis Reger, alles! Wenn Sie amerikanischen Jazz wollen, müssen Sie einen deutschen Sender wählen …« Jakob döste sanft, bis das Taxi hielt.

Aus dem Innern des PLAZA kamen Hausdiener und Portiers geeilt. Bei der Reception wieselten Herren um Jakob herum. Der Name Miguel Santiago Cortez schien allenthalben einen märchenhaften Klang zu haben. Na, wartet mal, bis ich meinen Krieg gewonnen habe, dachte Jakob. Der Klang von meinem Namen dann!

»Appartement dreihundertsieben, Señor Cortez – das schönste unseres Hauses!«

»Haben wir sofort für Sie reserviert, nachdem Ihr Pariser Büro anrief.« (Braver Franzl.)

»Es ist Post für Sie da, Señor Cortez!« (Brave Laureen.)

Der weltberühmte (falsche) Cortez, der in Wahrheit ein armes Landserschwein gewesen war, steckte Expreßbriefe und größere Kuverts lässig in die Tasche seines Flanellmantels. Der Hoteldirektor persönlich brachte ihn nach oben. Jakob überlegte: Kann man einem derartigen Gentleman Geld geben? Wird er es ablehnen? Ein so imposanter Mann! Der so imposante Mann nahm mit tausend Dank. Von diesem Moment an war Jakob davon überzeugt: Es gibt keinen Menschen auf der Welt, dem man kein Geld geben darf. Vielleicht mit Ausnahme des Heiligen Vaters. Er sollte noch daraufkommen, daß auch …

Er badete.

Er saß im Salon still vor einem anderen herrlichen Louis-XV-Schreibtisch (ohne eine Ahnung davon zu haben, daß es ein Louis-XV-Schreibtisch war) und räusperte sich ein paarmal, um für seine Rolle als Milliardär fit zu sein. Dann wählte er die Nummer, die der Handelsattaché auf die Rückseite des Fotos des Herrn Robert Rouvier geschrieben hatte. Er verabredete sich – man sprach Englisch – mit Rouvier für den nächsten Vormittag im Hotel. Rouvier äußerte ungeheure Freude darüber, mit einem Mann wie Miguel Santiago Cortez ins Geschäft zu kommen.

Zufrieden ging Jakob schlafen, nachdem er noch einmal sein Prachtappartement inspiziert hatte. Das Ding konnte sich sehen lassen, wahrhaftig! Unser Freund schlief sehr unruhig in dieser Nacht. Immer wieder schreckte er aus gräßlichen Alpträumen auf. In ihnen sprachen mit ihm vertraulich Herren, die er nicht kannte, nie gesehen hatte, von denen er nicht das geringste wußte. Die Herren hießen Egmont Wilder, Reger Anouilh, Giovanni Sartre und Don Schönberg …

47

»Hören Sie, lieber Monsieur Rouvier, es ist eigentlich für den Moment nur eine Gefälligkeit, um die ich Sie bitten möchte«, sagte Jakob zu dem Brüsseler Monsterschieber. Der saß ihm in dem prachtvollen Salon von Jakobs Appartement im Hotel PLAZA gegenüber, rank, schlank, glänzend gekleidet, griechisch edle Gesichtszüge, exotische feuchte Glutaugen mit langen Wimpern.

»Was immer ich für Sie tun kann, Señor Cortez … es ist mir eine Ehre und Freude, Sie persönlich kennenzu …«

»Mir auch. Ich bin erst gestern angekommen, verstehen Sie.« Mit einer weiten Armbewegung umrundete Jakob den Salon solcherart, daß der Schreibtisch und die vielen Aktienofferten und Industriekataloge dem Schieber ins Auge stechen mußten (und stachen). »Ich denke, ich werde hier in ein solides Unternehmen … äh, einsteigen. Für den Moment brauche ich etwas Kleingeld. Haha. Sie verstehen? Könnten Sie mir – reiner Freundschaftsdienst von Ihnen, ich weiß, das bringt Ihnen nichts ein, aber wie gesagt, ich bin eben erst angekommen –, könnten Sie mir wohl ein paar Dollar wechseln?«

»Mit Freuden, Señor Cortez. Wieviel darf’s denn sein?«

»Ach, nur ein Klacks. Sagen wir, vielleicht fünftausend?«

Der traumhaft schöne Rouvier sprach mit Betonung: »Ich wechsle Beträge in jeder Höhe, Señor Cortez. Auch in der höchsten. Ich stehe Tag und Nacht zu Ihrer Verfügung, wenn Sie … ich meine, wenn Sie später mehr …«

»Ja, natürlich, gewiß. Ich muß Ihnen aber einen Scheck geben – auf eines meiner amerikanischen Konten.«

»Den akzeptiere ich mit Vergnügen, Señor Cortez, mit Vergnügen!«

»Lassen Sie mal sehen … Ja, mein Spesenkonto werde ich nehmen, denke ich. ›Guaranty Trust‹ in New York. Hier, der letzte Auszug, sehen Sie. Es sind nur noch jämmerliche Hunderttausend drauf. Schauen Sie sich den Auszug an. Damit Sie nicht denken, ich will Sie reinlegen.« Dankbar gedachte Jakob an dieser Stelle des Franzl Arnusch und seines finanziellen Schnellsiederkurses, der ihm via Laureen zuteil geworden war. Er selbst hatte bis dahin nicht einmal den Unterschied zwischen einem Wechsel und einem Scheck gekannt.

»Nein, also wirklich nicht, Señor Cortez«, sagte Rouvier.

»Ich bestehe aber darauf!« sagte Jakob.

»Sie machen sich lustig über mich! Sie sind mir doch für jeden Betrag gut! Ich weigere mich ganz einfach, den Auszug anzusehen«, sagte Rouvier und sah ihn sich ganz genau an.

Mittlerweile schrieb Jakob zügig einen Scheck auf das ihm von Serge Rubinstein eröffnete Konto aus. Natürlich unterzeichnete er mit ›Miguel S. Cortez‹. Den Scheck reichte er Rouvier. »So, bitte. Sie schicken den … äh, Scheck natürlich per Luftpost. Vielleicht dazu noch Expreß. Dann sind Ihnen die Dollars in vier Tagen auf Ihrem Konto gutgeschrieben. Sie haben doch ein Konto in Amerika?«

»Selbstverständlich, Señor Cortez. Wie sollte ich sonst arbeiten?« Rouvier holte eine Brieftasche hervor und zählte Jakob den Schwarzmarktgegenwert von fünftausend Dollar in belgischen Francs auf den Tisch. Jakob stand gelassen daneben, eine Hand in der Hosentasche. Die Hand hielt die vertrocknete alte Hasenpfote.

»So, bitte. Und … Sie vergessen mich ganz bestimmt nicht … ich meine später, wenn Sie mehr brauchen für das belgische Unternehmen?«

»Ich vergesse Sie ganz bestimmt nicht, Monsieur Rouvier«, sagte Jakob und dachte: Worauf du dich verlassen kannst!

»Ich danke Ihnen, Señor Cortez! Ich danke Ihnen! Kann ich im Moment sonst noch etwas für Sie tun?«

Jakob erinnerte sich.

»Ja, Monsieur Rouvier. Sie können mir erklären, was Flamen und was Wallonen sind. Ich weiß, das klingt ungebildet, aber wir Argentinier …«

»Ich bitte Sie! Sie wissen, wann der Wiener Kongreß stattfand?«

»Selbstverständlich.« Selbstverständlich wußte Jakob das nicht, aber zum Glück sprach Rouvier fließend weiter.

»Sie haben doch den Film mit dem Fritsch und der Harvey gesehen ›Der Kongreß tanzt‹? Dieser Kongreß, 1815, diente der Neugestaltung Europas nach den Napoleonischen Kriegen. Den Vorsitz führte der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich.«

»Der österreichische Staatskanzler Metternich«, echote Jakob. Ich hab’ doch gewußt, da kommt was heraus, womit man was anfangen kann. Und natürlich hat ein Wiener seine Finger dabei im Spiel gehabt.

»Sehen Sie, ursprünglich gehörte das ganze Gebiet hier zu den südlichen Niederlanden. Auf dem Wiener Kongreß wollten die Franzosen das Gebiet schlucken. Die Briten – immer konträr, immer konträr! – wollten das Gegenteil: Sie wollten, daß die südlichen und nördlichen Niederlande wieder zusammengeführt wurden. Typisch österreichische Lösung: Das auch nicht, aber ein neuer Staat mit Namen Belgien!«

»Ja, aber die Wall …«

»Moment! In diesem Belgien hatte man also zwei verschiedene Volksstämme zusammengeschmissen. Die Wallonen und die …«

»… Flamen.«

»Richtig! Na ja, und die beiden konnten einander nie leiden. Etwa so wie Preußen und Bayern. Schlimmer! Weil sie zwei ganz verschiedene Sprachen sprechen – Französisch die Wallonen und so etwas wie Holländisch die Flamen. Und weil – so behaupten wenigstens die Wallonen! – die Flamen in industrieller und jeder anderen Hinsicht bevorzugt wurden, wuchs und wuchs der Abscheu voreinander, bis zum heutigen Tag.« Rouvier lachte heiter.

»Warum lachen Sie so, Monsieur Rouvier?«

»Der Abscheu ging so weit, Señor Cortez, daß es im Krieg eine wallonische und eine flämische Waffen-SS für den Herrn Hitler gegeben hat! Hahaha!«

»Hahaha! Sie sind flämischer Abstammung, Monsieur Rouvier?«

»Natürlich! Mein Name – so französisch er sich anhört – ist gut flämisch. Man sollte ihn Ruwihr aussprechen. Die Wallonen sitzen mehr im Süden Belgiens. Brüssel ist altflämisches Gebiet, aber französisiert. Und wann immer es geht, gibt’s Krach zwischen den beiden Sprach- und Volksgruppen.«

»Ich interessiere mich sehr für fremde Sitten und Gebräuche …«

»Wenn dem so ist … äh … hm … hätte ich noch einen Vorschlag zu machen, Señor Cortez …«

»Und zwar, Monsieur Rouvier?«

Der Glutäugige trat näher. Seine Augen wurden schmal. Um Himmels willen, dachte Jakob und drückte die Hasenpfote wie ein Verrückter, es wird jetzt doch nicht noch etwas schiefgehen …

»Was machen Sie heute abend, Señor Cortez?«

»Heute …« Gott sei Dank! »…abend? Nichts!«

»Dann erlauben Sie, daß ich Sie zum Essen einlade. Und anschließend gehen wir in die ›Chatte noire‹!«

Mit so feinen Leuten zum Essen gehen, das ist mir zu gefährlich, dachte Jakob in Erinnerung an das Austern-Desaster und sagte: »Ich nehme abends nur eine Kleinigkeit zu mir. Aber wenn Sie mich dann abholen wollen?«

Rouvier strahlte.

»Wunderbar! Sagen wir um elf? Das ist nämlich etwas absolut Sensationelles! Noch nie dagewesen! Phantastisch, Señor Cortez! Einmalig in der Welt!«

»Wovon reden Sie, Monsieur Rouvier?«

»Von Gloria Cadillac! Die tritt in der ›Chatte noire‹ auf!« Rouviers Stimme steigerte sich zu flüsternder Ekstase: »Striptease, Señor Cortez! Sie wissen vielleicht nicht, was das ist, ›Striptease‹, es kommt aus Amerika und stellt den absoluten Höhepunkt aller erotischen …«

»Ich weiß, was Striptease ist, Monsieur Rouvier«, sagte Jakob und dachte an ein verdrecktes Lokal in Linz und eine fette Schönheitstänzerin mit schmutzigen Schleiern und ebensolchen Fußsohlen.

»Sie wissen es nicht, Señor Cortez! Das hat die Welt noch nie gesehen! Stellen Sie sich vor: Diese Amerikanerin, diese Gloria Cadillac, zieht sich aus … ganz, ganz langsam … Sie sehen … einfach alles … vollkommen freie Brüste! Vollkommen freie Brüste, habe ich gesagt, Señor Cortez!«

»Hab’s gehört, Monsieur Rouvier!«

»Dann den Bauch!«

»Hm.«

»Warten Sie! Dann die Schenkel! Zuletzt hat Gloria nur noch ein winziges Höschen an. Und dann … dann …« Die Stimme versagte Rouvier. Röchelnd holte er Atem, »…aber Sie müssen höllisch aufpassen, damit Sie den Moment nicht versäumen!«

»Welchen Moment?«

»In dem Gloria das winzige Höschen abstreift. Wie gesagt, es geht um Bruchteile von Sekunden! Doch wenn Sie Glück haben, sehen Sie sogar …«

»Aha.«

»Unfaßbar, wie? Danach geht natürlich sofort das Licht aus.«

»Natürlich.«

»Aber dieser Sekundenbruchteil! Eine weitere Steigerung ist unmöglich! Wird es niemals geben! Nie! Sie müssen selbstverständlich ungeheuer konzentriert sein! Ich habe es fünfmal in der ganzen Zeit geschafft, die … ihre … na also, ich habe sie in der ganzen Zeit fünfmal gesehen!«

»Was heißt das, ›in der ganzen Zeit‹?«

»Na, in drei Monaten zirka! Solange Gloria auftritt!«

»Da sind Sie jeden Abend in die ›Chatte noire‹ gegangen?«

»Jeden Abend! Also nach dem Essen hole ich Sie ab, wir gehen in die ›Chatte noire‹ und sehen Gloria und vielleicht auch ihre …«

»Ja, und vielleicht auch ihre«, sagte Jakob und dachte: Nicht zu fassen! Und das ist der gefährlichste Schieber Belgiens!

48

Am Spätnachmittag rief der exemplarisch häßliche Handelsattaché an. »Endlich«, sagte Jakob erbost. »Warum nicht früher?«

»Ich habe gestern in meinem Hotel ein Zimmermädchen kennengelernt, Señor Cortez … Claire … So etwas Süßes, so etwas Aufregendes habe ich noch nie erlebt …« Und so etwas Teures vermutlich auch nicht, dachte Jakob. »… Claire hatte ab Mitternacht frei … da bin ich zu ihr gegangen und …«

»Zum Teufel, ja!« Jetzt habe ich schon zwei Sexual-Irre.

»Sie müssen entschuldigen, ich bin erst vor einer halben Stunde aufgewacht!«

»Sie fahren nach Paris zurück. Sofort. Wir treffen uns Punkt zwanzig Uhr in der Mitte der kleinen Rue de Loxum. Die liegt bei der Kathedrale Saint-Michel …«

»Sie kennen sich ja gut aus in Brüssel!«

»Wie in meiner Hosentasche«, sagte Jakob. Er hatte einen Stadtplan und einen Besichtigungsführer vor sich liegen. »Diese gotische Kathedrale gehört zu den schönsten Europas …«

Juarez kam zum Treff in der kurzen, sehr schlecht beleuchteten Rue de Loxum zwanzig Minuten zu spät.

Jakob war wütend: »Zwanzig Uhr habe ich gesagt!«

»Entschuldigen Sie, aber Claire hat noch immer frei …«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie schon wieder …?«

»Sie kennen Claire nicht … Ein Vulkan … Mittendrin sah ich auf meine Armbanduhr …«

»Na und?«

»Mein ausgeprägtes Pflichtgefühl hat mich hochgerissen. Coitus interruptus. Ich könnte Sie umbringen, Monsieur!«

»Und ich Sie! Reißen Sie sich nicht hoch, reißen Sie sich zusammen! Hier!« Jakob reichte dem Attaché seinen Diplomatenkoffer in den Bentley. Diplomatenkoffer, dachte er dabei, hin und her gezerrt zwischen Wut und Sentimentalität, Diplomatenkoffer, Hase, liebe Julia, wie es ihr wohl geht? Ach, Donner wird schon auf sie aufpassen. Trotzdem – ich muß Julia unbedingt so schnell wie möglich wiedersehen, ich benehme mich ja wie ein Schwein.

»Da sind belgische Francs drin«, sagte Jakob. »Sie fahren sofort nach Paris und geben den Koffer Laureen. Die wird sich umgehend mit Monsieur Arnusch in Verbindung setzen. Der wird die Francs schnellstens wieder in Dollar wechseln und telegrafisch auf mein New Yorker Konto überweisen. Kapiert?«

»Ja doch.« Der Attaché würgte.

»Was haben Sie?«

»Claire … Wenn sie mich jetzt betrügt …«

»Einen Mann wie Sie? Juarez! Ich bitte Sie! Ich würde Sie nie betrügen können!«

»Nei-nein?«

»Nein! Außerdem kommen Sie ja gleich zurück!«

»Ja-ha, das natürlich … Mein Gott, wenn Sie wüßten, wie sehr ich dieses Mädchen liebe!«

Es ist zum Verrücktwerden …

»Fahren Sie los!« schnauzte Jakob energisch, aber sehr leise. »Und in Paris vergessen sie nicht, Laureen zu sagen, daß ich sie unendlich liebe – und das sagen Sie, wie verabredet, so laut wie möglich und dann, wenn möglichst viele Leute zuhören!«

»Werde ich tun. So schnell ist noch kein Mann aus Paris wieder zurück in Brüssel gewesen!« erklärte Juarez und fuhr, gedeckt durch seine diplomatische Immunität, auf kreischenden Pneus los.

Jakob holte tief Luft.

Jetzt läuft also der Trick, dachte er. Gott steh uns bei! Bisher und bis auf weiteres arbeiten wir mit Verlust. Denn die Francs muß der Franzl bei Pariser Devisenschiebern ja wieder in Dollar wechseln, um sie nach New York überweisen zu können, und bei diesem Umwechseln verliert er natürlich. Trotzdem! Wenn alles gutgeht, schwimmen wir bald in Geld. In anständigem Geld. Wo ist die Hasenpfote? Fest drücken! Ach, meine Eier …

Jakob stand fünf Minuten reglos in der sehr düsteren Rue de Loxum und träumte mit offenen Augen von Millionen Eiern. Es war ein wunderbarer Traum – nach dem Alptraum mit den Herren Bach Wilder, Don Sartre, Giovanni Schönberg & Co. Dann schrak er auf. Um 11 Uhr holte ihn doch dieser Adonis von einem Devisenschieber im Hotel ab, um mit ihm zu Gloria Cadillac zu fahren, in der Hoffnung, vielleicht noch einmal die ihre zu erblicken.

49

Um 23 Uhr 57 hatte Robert Rouvier sie dann tatsächlich ein sechstes Mal erblickt. Jakob hatte überhaupt nichts erblickt, weil der Kerl, der vor ihm saß, aufgesprungen war. Rouvier fühlte sich einem Herzanfall nahe. Er konnte erst nach ein paar Minuten wieder sprechen und auch da nur keuchend: »Es war mir … noch einmal … vergönnt … Sie … Sie haben mir … Glück gebracht …«

Ich werde dir noch viel mehr Glück bringen, dachte Jakob.

Eine halbe Stunde später saß dann Gloria Cadillac, rothaarig, grünäugig, in einem ungemein dekolletierten Abendkleid an ihrem Tisch. Die Herrschaften tranken Champagner (Jakob trank ›Perrier‹). Rouvier sprach stotternd, er konnte sich nicht beruhigen. Der eine stottert, der andere bumst sich weich im Hirn – welch ein Vergnügen, dachte Jakob. Ein Glück, daß ich nicht bin wie jene.

Englisch spricht diese Cadillac. Wenn das eine Amerikanerin ist, bin ich ein Argentinier. Rouvier entschuldigte sich errötend für einen Moment. Die Erregung hatte sich ihm (unter anderem) auf die Blase geschlagen. Er werde gleich wieder da sein, sagte er.

»Schur, sanni-boi, schur«, sagte Gloria. Danach gab sie Jakob bekannt, daß sie seit ihrem ersten Auftreten jeden Abend nach ihrer Darbietung an diesem Tisch sitze und mit dem ›sanni-boi‹ Champagner trinke.

»Satsch ä neis män!«

Jakob riskierte es. In väterlichem Tonfall erkundigte er sich: »Woher in den Staaten kommen Sie denn?«

Sie musterte ihn und warf den Kopf zurück: »Ju hef notissed it, hef ju?«

»Yes, my dear …«

»Du ju spik Schermen?«

»Yes. My Kindermädchen was from Austria. Vienna.«

Im nächsten Moment hatte ihm Gloria derart auf den Rücken gehauen, daß das ›Perrier‹ in dem Glas, das er gerade zum Mund führte, drei Tische weit sprühte. »Aus Wean war dei Kindermadl? Da leckst mi am Oasch! Der Señor hat von aner Weanerin Deitsch g’lernt!«

»Was anderes too.«

»Was denn noch?«

»She has me … hrm … deflauert, when I was elf …«

Gloria konnte es nicht fassen.

»Entjungfert! Mit elfe! Jetzt gibst mir aba a Busserl!«

Er gab ihr ein ordentliches und ausgiebiges.

»Du, des derf aba kana erfahrn, vastehst? Dir hab i’s gsagt, weil i einfach Vatraun hab’ zu dir!«

»Kein Wort will ever come over my Lippe«, versprach er guttural. »Und wie heißen du really?«

»Woditschka Reserl.«

»And why du nennen dir Gloria Cadillac und machen auf Amerikanerin?«

»Heast, du hast ’leicht a Ahnung, wie’s zugeht in Wean! Nix zum Fressen! Nix zum Heizen! Trümma, Trümma, Trümma. Und die Besatzungsmächte, die viere! Was die aufführn! Des kann se ana aus Argentinien einfach net vorstellen, was für a armseliges Leben mir ham, mir Östarreicha!«

»No, surely, I can make mir keine Vorstellung davon. How should ich auch?«

»Sixt es! Ami-Girl? Freundin von am Russen? Heast, i brauch a Marie! Von der Liebe alla kann ma net leben!«

»Certainly not.«

»Na alsdann. Und dann des Ölend. Bin i also abghaut. Zuerst nach Hamburg. Du, da schaut’s no vü schlimmer aus als in Wean! Am Strich gehen mag i net. Mei Muatterl war Tänzerin im Staatsopernballett, mei Vaterl war Logenschließa. I hab Künstlablut in mia! Alsdann nix wie an amerikanischen Namen und außi aus Deitschland!«

»Aber wer hat dir denn das Striptease beigebracht?«

»Heast, wann dir dei Kindermadl des andere aa so gut beibracht hat wie Deitsch … na servas!«

Eiweih, dachte Jakob. Sie hat mir was Nettes sagen wollen. Es gibt Nettigkeiten, die sind lebensgefährlich. Also ließen seine Kenntnisse der deutschen Sprache rapide nach: »No, no, no … just a little … but who has tought jou striptease?«

»A ehemalige BDM-Führerin aus Castrop-Rauxel. Brunhilde Zecke. Die arbeitet jetzt in Schweden. Nennt sich Kitty Kattykitt … Fern der Heimat … oame Sau …«

»Well, she is German. But you, befreites Austria …«

»Des is aba ja woar, was du da sagst! Mir san a klaans, tapferes Volk, das wo der Hitla vergewaltigt hat …« Mit einem Schluchzen, ohne Übergang: »Und wer vergewaltigt mi?«

»Well, after all … was du tun … and here are only Männer …«

»Na eben!«

»Eben what?«

»Männa! Schau dir die Klacheln hier doch an! Geile Hund, alle miteinand. Aber können kann kana net. Der Robert aa net!«

Jakobs Brauen hoben sich.

»Monsieur Rouvier ist impotent?«

»Impotent? Im Gegenteil, Schatzi, im Gegenteil! Der kriegt ihn nimmermehr hoch! Was glaubst, was i schon alles angestellt hab, bloß damit er a klans bißl … du vastehst?«

»Verstehen, yes.«

»Und des seit fast drei Monat! Jede Nacht! I bin scho halb narrisch. Und mir kummt’s aus die Ohren außi!«

»But … but he is so wonderfully schön!«

»Dafür kann i mia was kaufn!«

»Hm.« Und angesichts dieses Adonis hatte Jakob fast schon Minderwertigkeitskomplexe bekommen! Er reflektierte: Rouvier ist also ein Beauty boy und Zéro, Juarez ist häßlich und rammelt wie ein Karnickel. Und was mich selber angeht, so könnte ich jetzt nicht einmal aufstehen, ohne daß der Tisch umkippte.

Die Göttin seufzte.

»Na ja, und jetzt alsdern Rom. Bin neugierig, ob i bei die Spaghetti an reinkrieg …«

»Hrrm!«

»’tschuldige. I kumm aus Ottakring. Is dir ka Begriff, was?«

»Sorry. We lived in Döbling. My nurse came auch from dort.«

»Ja, Döbling! Des ist was für die feinen Leut! Aber Ottakring – des is des Volk! I bin a Kind aus der Hefe des Volkes!« verkündete Gloria. »’s Woditschka Reserl eben. Den Namen hab i natürlich ändern müssen, hat der Ferdl gsagt.«

»Who is Ferdl?«

»Mei Mänätscha.«

»Well now, could nicht your Ferdl …«

»So hab i mia des ja vorgstellt!«

»Yes. Und?«

»Unsaans hat ka Glück. Der Ferdl is a Warma. Hundat Prozent.«

»How sad. Where ist denn Ferdl?«

»Schon in Rom. Da soll i auftreten. Übermorgen. Im ›Casanova‹. Auf der Via Benito.«

Irgendwas stimmt da nicht, grübelte Jakob und forschte: »Via wie?«

»Benito … I denk mia, sie ham’s nach’m Mussolini so gnennt.«

»I see. Then this is your last Abend hier?«

»Ja. Aba der Robert waaß des net. I kann des nimmermehr ertragen, des Herumgewurschtel an ihm, des stundenlange. Bei allem Geld, wo er mir gibt.«

»Well, I don’t verstehen that! He kommt here jede Nacht to see deine … deine …«

»Ja, ich vasteh schon! Und?«

»Und he can see deine … your … zu Hause, as long as he will!«

»I hab’s eahm ja aa schon hundertmal zeigen wollen! Ab daham bei mia, da wü er’s net sehn!«

»What?«

»Des is pischologisch, waast? Daham da derf i mi net ausziagn. Da ziagt er mi imma aus! Weil er hofft, daß er dabei … du vastehst?«

»I understand.«

»Funktioniert nur nie. Beim Beha is Schluß. Zum Hoserl kommt er gar net amal! Da is er dann schon längst bös! Bös auf mi! Stell dir des vor! Bös auf mi, weil er net kann! I sag ja, zu dir hab i Vatraun. Vom ersten Moment an ghabt. Außadem bin i morgen früh weg. Acht Ua drei geht mei Zug. Nacha können mi alle hier am Oasch lecken.«

»Gibt surely welche, who would this gern schon vorher tun, with pleasure!« Jakob fühlte ein heftiges Rühren. Ob das eine echte Rothaarige ist? dachte er. Und grüne Augen. Grüne Augen haben schon immer Verheerungen angerichtet bei mir.

»Du maanst … Jessassmariandjosef! Und du bist doch so reich!«

»Hrm! Well, yes. But I am a Fremder hier. And I have practically kein Geld. Außer you nehmen Dollar-Schecks …«

»I nimm do ka Geld von dir! Um nix in der Welt. Du mit dein Weaner Kindermadl … Außadem, i hab dir ja gsagt, mir kummts aus die Ohren … Du bist doch ka Warma?«

»Bestimmt nicht, Reserl. Aber wo?«

»Bei mir! I hab a Zimmer, Rü dü Kanal! Und dem Robert sag i, daß die Englända kumma san.«

»What?«

»Daß mei Tant’ zu Besuch is! Vastehst des?«

»Sorry, no …«

»Komisches Kindermadl mußt du ghabt ham! Daß i meine Tag’ hab, Jessas!«

»You must verzeihen my schlecht Deutsch«, sagte Jakob. »But otherwise you’ll be very zufrieden.«

»Wann i mia di so anschau, nachha glaub’ i, wir wern an Wecka stellen müssen, damit i’n Zug net vasäum!«

»Mhm!« sagte Jakob Formann. Auf Englisch.

50

Am späten Nachmittag des nächsten Tages kehrte der liebestolle Handelsattaché Amadeo Juarez aus Paris zurück. Vor seiner Abfahrt war als Treff das Astoria-Kino an der Avenue Prince d’Orange ausgemacht worden. Letzte Reihe Parkett. Man gab ›Vom Winde verweht‹ mit Vivian Leigh und Clark Gable. Das Publikum war erschüttert, immer wieder klangen Schluchzer auf. Der Film war französisch synchronisiert. Jakob verstand kein Wort. Ich weiß nicht, dachte er, was die Weiber alle an diesem Rhett Butler gefressen haben. Besonders die Scarlett O’Hara! Der müßte ich begegnen – dann wäre der Film zu Ende. Aber sofort! (Er befand sich infolge der letzten Nacht noch in einer Phase männlichen Hochgefühls.)

Amadeo Juarez glitt auf den Sitz neben ihm.

»Bon soir.«

»Ja, ja. Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung. Das Geld ist längst nach New York unterwegs. Die besten Wünsche von Monsieur Arnusch. Madame liebt Sie unendlich und hält es mit ihrer Sehnsucht kaum noch aus. Vor großem Zuhörerkreis im Speisesaal des HÔTEL DES CINQ CONTINENTS. Wie befohlen. Monsieur Arnusch ist vor Ihrer Abreise noch in das größte Blumengeschäft der Stadt gegangen und hat als Mister Fletcher einen Dauerauftrag gegeben, samt einer Reihe von offenen Briefchen. Madame erhält täglich drei Dutzend herrliche Rosen und jeweils ein Briefchen …«

»Hm«, knurrte Jakob.

»Die Briefchen werden natürlich im Geschäft und im Hotel gelesen …«

»Natürlich.«

»Es sind glühende Liebesbriefe von Ihnen an Madame. Monsieur Arnusch hat sich die größte Mühe damit gegeben. Sie beide sind bereits die Sensation des CINQ CONTINENTS … Verzeihen Sie, wenn ich mich gleich entferne? Claire hat wieder Abenddienst im Hotel …«

»Okay«, sagte Jakob. »Machen Sie’s gut, Amadeo. Aber rufen Sie mich morgen abend noch an. Zwanzig Uhr dreißig.«

Der häßliche Handelsattaché hastete davon. Junge, Junge, dachte Jakob schläfrig, jetzt fängt der wieder an! Wir sind schon ein feiner Verein! Aber lieber mies und oho als schön und nix. Armer Rouvier.

Der arme Rouvier hatte im PLAZA eine telefonische Nachricht für Jakob hinterlassen. Er bat um Anruf.

Jakob rief an.

Der Menschheit ganzer Jammer schallte gleich darauf an sein Ohr.

»Sie wissen es natürlich noch nicht.«

»Was weiß ich noch nicht?«

»Gloria ist weg.«

»Was heißt weg?«

»Das heißt, was es heißt! Verschwunden! Abgereist!«

»Wohin?«

»Weiß ich nicht. Ich war in der Rue du Canal. Da hat sie ein Zimmer gemietet. Die Concierge sagte, Gloria sei heute ganz zeitig aus dem Haus gegangen. Zusammen mit einem Mann, mit dem sie gestern spät nachts gekommen sei.« Der Unglückliche schrie plötzlich: »Wer war der Hund?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte der Hund.

»Wenn ich den je erwische, töte ich ihn mit eigener Hand, so wahr mir Gott helfe! Ach, Señor Cortez, ich bin ja so verzweifelt … Gloria weg … Und hat mich betrogen zuletzt noch …«

»Vielleicht immer schon«, gab Jakob freundlich zu bedenken.

Ein Aufstöhnen, dann: »Ich darf heute nicht allein sein! Ich bringe mich um, wenn ich heute allein bin. In der ›Chatte noire‹ tritt eine Neue auf. Bitte, gehen Sie mit mir hin!«

»Nein«, sagte Jakob entschieden. »Ich kann mir nicht jede Nacht um die Ohren schlagen. Ich hatte sehr viel zu arbeiten. Ich gehe früh schlafen. Wenn Sie wollen, kommen Sie noch schnell zu einem Apéritif vorbei. Sie wissen, ich esse abends kaum.« (Das wird auf die Dauer auch nicht ziehen, ich muß mich mal nach jemandem umhören, der mir beibringt, diesen ganzen komplizierten, sündteuren Dreck zu fressen!)

»Ich danke Ihnen, Señor. Allein hätte ich den Abend nicht überstanden.«

Als der Schieber dann eintraf, ging Jakob mit ihm in die Bar. Eine halbe Stunde lang hörte er sich geduldig Rouviers Klagelieder an, dann kam er zur Sache. »Ach ja, meine Lieber … Ich muß zwei, drei Tage in die Provinz, wegen dieses … hrm … Unternehmens. Sie verstehen …«

Rouvier vergaß a tempo sein Leid. Die feurigen Augen wurden feucht. »Ich verstehe. Noch ganz geheim die Sache, wie?«

»Ja.«

»Die böse Steuer, was?«

»Die böse Steuer, ja.«

»Hahaha.«

»Hahaha. Ich brauche noch einmal ein wenig Kleingeld … Sagen wir noch einmal fünftausend Dollar … Wenn Sie Bedenken haben, da sind drei Herren, die mir inzwischen Beträge in jeder Höhe angeboten haben. Ich wollte nur aus Freundschaft zu Ihnen nicht gleich mit anderen …«

»Das ist hochanständig, Señor Cortez! Das werde ich Ihnen nie vergessen! Andere Herren? Ach, das sind doch Schweine! Dreckige Konkurrenz. Wie heißen sie? Ach so, die haben Ihnen natürlich falsche Namen genannt, klar. Weil sie wissen, daß ich mit Ihnen arbeite! Sinnlos, mir zu sagen, wie sie sich nannten, die Schweine.«

Es ist wirklich sinnlos, dachte Jakob. Wem Gott will rechte Gunst erweisen, dem nimmt er Antworten auf sinnlose Fragen ab. Ich hätte Namen erfinden müssen, denn natürlich ist kein Mensch an mich herangetreten.

»Folgen Sie mir, bitte, auf die Toilette«, sagte Rouvier atemlos.

»Auf die …«

»Ich kann Ihnen das Geld doch nicht hier vor allen Leuten geben, Señor Cortez! Wie sähe das denn aus?«

»Ach so …«

Auf der Toilette schrieb Jakob dann einen weiteren Scheck über fünftausend Dollar aus, und Rouvier überreichte ihm den Schwarzmarktgegenwert in belgischen Francs. Damit ist die Grenze erreicht, die Rubinstein gesetzt hat, dachte Jakob, als er das Geld verstaute und sich danach die Hände wusch. Mehr Schecks darf ich nicht ausschreiben, sonst wird Rubi böse. Der ist pingelig, hat Laureen mir gesagt, daß der Arnusch Franzl ihr gesagt hat. Er begleitete den Schieber zu dessen Wagen. »Speisen Sie gut«, riet er. »Schauen Sie sich die Neue in der ›Chatte noire‹ an. Vielleicht ist sie noch besser als Gloria.«

»Es gibt nichts Besseres als Gloria«, sagte der Schieber dumpf und ließ sich hinter das Steuerrad fallen. »Wer diesem Zauberwesen einmal begegnet ist – großer Gott, hat die mich Geld gekostet … aber es war’s wert, jeden Franc war es wert – den wird sie verfolgen sein Leben lang …«

»Unsinn«, sagte Jakob und ahnte nicht, als wie wahr des Schiebers Prophezeiung sich noch erweisen sollte. »Los, los! Viel Spaß mit der Neuen! Und vor allem: Kopf hoch!« Das war ein geschmackloser Zuruf, dachte er. Den hätte ich vielleicht unterdrücken sollen. Armer Rouvier …

Jakob ging in sein Appartement, setzte sich hinter den Prachtschreibtisch und wartete geduldig. Um 20 Uhr 30 schrillte das Telefon. Der Handelsattaché meldete sich wie verabredet.

»Wir treffen uns in genau einer Stunde, um halb zehn, in der Rue du Chêne«, sagte Jakob. »Sie müssen sofort wieder nach Paris.«

Der Attaché begann zu toben: »Schon wieder? Das können Sie mit mir nicht machen! In Paris hatte ich kaum eine Stunde Zeit für Yvonne, und hier liegt Claire in meinem Bett! Ich komme nicht!«

»Und ob Sie kommen«, sagte Jakob. »Oder ich lasse Sie auffliegen! Neues Geld muß nach Paris – schleunigst. Rue du Chêne! Hinter dem Manneken Pis! Und diesmal sind Sie pünktlich!« Er schmiß den Hörer in die Gabel. Diesmal war der Attaché pünktlich. Aber er platzte fast vor Wut.

»Hier, die belgischen Francs. Sofort nach Paris zu Laureen damit. Und sofort wieder zurück. Sie müssen jetzt jederzeit einsatzbereit sein.«

»Der Teufel soll Sie holen, Sie Hund!« (Irgend jemand hat heute schon mal Hund zu mir gesagt, überlegte Jakob träumerisch und ergebnislos.) »Wenn ich Schwierigkeiten mit meiner Potenz bekomme, lasse ich Sie von ein paar Macros zusammenschlagen!« Amadeo Juarez drückte den Gashebel des laufenden Motors ganz durch. In einem Rennstart schoß der Bentley davon. Ich fürchte, der hat schon Schwierigkeiten mit seiner Potenz, dachte Jakob. Er schlief recht tief in dieser Nacht. Ottakring bleibt Ottakring.

51

»Ich werd’ verrückt! Formann! He! Jakob! Jakob Formann!« schrie der deutsche Kriegsgefangene, der mit einer Kolonne anderer Gefangener, bewacht von ein paar gelangweilten Soldaten, da am Hafen arbeitete.

Verflucht, dachte Jakob. Das kommt davon, wenn man ein feiner Mann sein und sich bilden will. Er machte kehrt und versuchte zu türmen. Der Kriegsgefangene aus der Kolonne brüllte: »Mensch, Jakob! Was hast du denn? Ich bin’s doch, der Otto Radtke! Schau mich doch an! Orel! Kannst du dich nicht mehr erinnern, wie du mich zum Verbandsplatz geschleppt hast?«

Jetzt kommt der Radtke mir mit Orel, dachte Jakob wütend. Da muß man drei Tage warten, bis die Schecks, die man ausgeschrieben hat, in New York eingetroffen und bestätigt worden sind, damit man endlich diesen Schieber richtig aufs Kreuz schmeißen kann. Da fährt man drei Tage aus Brüssel weg mit einem gemieteten Wagen – nach Gent und Ostende und Zeebrügge und natürlich auch Antwerpen, und weil man doch gar nichts weiß und kann und einem solche Sachen wie die mit der Fingerschale und den Austern passieren und man nichts von Literatur und Malerei und Geschichte versteht, eben darum will man sich bilden und geht in Museen und weiß jetzt, zum Beispiel, daß die Meister der südniederländischen Malerei van Dyck, Matsys, Teniers, Rubens und noch ein paar andere sind, die man jetzt auch kennt, und man schaut sich die Pinseleien in den Kirchen und in der Kunstakademie hier und das Rubenshaus und eine Masse anderes Zeug an (viel zu fett, diese Weiber, die der Rubens gemalt hat!), und dann steht im Stadtführer, den man sich gekauft hat, man muß unbedingt den Hafen besichtigen, neben Hamburg und Rotterdam den bedeutendsten Seehafen Europas, im Scheldebogen gelegen, auswendig lernt man das, gottverflucht, herfahren tut man, herumlaufen tut man in Schnee und Dreck, nahe ran an die Hafenbecken, weil man gesehen hat, da schuften sich arme Landserschweine ab in ihren verdreckten Uniformen, mit dem weißen PW auf dem Mantel-oder Jackenrücken. Und dann!

Natürlich kenne ich diesen Radtke, der so schreit, weil er mich erkannt hat. Als wir wieder mal eine ›Frontbegradigung‹ in Rußland vorgenommen haben, hat’s ihn erwischt, nicht sehr gefährlich, Steckschuß im rechten Schenkel, aber er hat nicht laufen können, ich hab’ ihn auf den Rücken genommen und zum Verbandsplatz geschleppt, und daran erinnert der Kerl sich, was fällt dem ein, man war und ist immer viel zu gutmütig.

Der Kerl schreit schon wieder. Mensch, halt doch deine dämliche Schnauze. Nix zu machen. Hält sie nicht. Da sind jetzt schon mindestens zwei Dutzend Kameraden aufmerksam geworden, und ein paar von den Wachtposten zeigen auch ein müdes Interesse. Mist verdammter, ich muß zum Radtke, sonst schreit der Kerl so lange, bis ganz Antwerpen zusammenläuft. Wirklich, ich könnte mir selbst in den Hintern treten. Da sieht man es wieder: Wer sich in Kultur und Bildung begibt, kommt darin um! Also jetzt nix wie zum Radtke und gezischt: »Halt’s Maul, ich flehe dich an!«

Gott sei Dank schneit es, und es ist bereits sehr dämmerig. Kalter Nordwind, richtiges Dreckwetter. Die Posten haben schon wieder jedes Interesse verloren und stapfen herum, weil ihnen kalt ist. Die amerikanischen Soldaten, die alle Waren im Hafen bewachen sollen, hocken in ihren Baracken, die sind nicht so dämlich wie ich.

»Aber …«, begann Radtke, mit großen Augen, treuherzig wie ein Bernhardiner. »Aber … wieso bist du raus? Und so ein feiner Pinkel? Was machste denn hier? Richtig entlassen?«

»Ich hab’ mich selber entlassen.« Jakob bemerkte, daß ihn viele unfreundliche Gesichter ansahen. »Meine Herren, es ist ganz unnötig, mich so anzusehen«, sagte er lässig. Das Rasiermessergefühl – da war es wieder. Wohlig fühlte er es den Rücken hinabrieseln. Wird schon schiefgehen! Er sah viele Waggons. Die Waggons wurden mit Kisten und Kartons beladen.

»Wieso bist du in Antwerpen?« fragte Radtke. »Dich haben doch damals die Russen geschnappt!«

»Leise!« sagte Jakob. Weit hinten, auf dem Damm, sah er zwei Amis mit Maschinenpistolen. Die bemerken uns nicht, dachte er. Außerdem haben sie diese pelzgefütterten Windjacken mit Kapuzen. Denen ist alles zum Kotzen, die wollen sich nur warm halten, darum laufen sie so. Es ist doch in allen Armeen dasselbe mit den armen Soldaten. Während er das dachte, hatte er flüsternd von seiner Selbstbefreiung aus russischer Gefangenschaft berichtet. Er schloß bewegt: »Dich haben sie dann noch an die Westfront geschickt, Radtke, du arme Sau.«

»Wir sind alle arme Säue«, ließ sich ein anderer Gefangener vernehmen.

»Das kann ich euch nachfühlen«, sagte Jakob. »Aber ihr seid noch nicht die ärmsten. Ihr seid bei den Amis. Da kriegt ihr wenigstens genug zu fressen und zu rauchen und zu trinken.«

»Schon, aber …«

»… aber eure Familien in Deutschland, ich weiß, ich weiß«, Jakob nickte.

»Das ist eine mächtige Scheiße.«

»Kann man wohl sagen«, ertönte eine dritte Stimme. »Was soll das Gequatsche? Wenn du uns hier vielleicht geistlichen Trost spenden willst, dann hau bloß ab! Wir haben den Kanal voll, wir wollen nichts wissen!«

»Vielleicht doch«, sagte Jakob. »Was, zum Beispiel, ist in den Kartons, die ihr da gerade in den Waggon verladet?«

»Präservative.«

»Was?«

»Na, Überzieher, Mensch. Kapierst du das nicht?«

»Ach so«, sagte Jakob. Er multiplizierte und dividierte bereits.

Das war eine Krankheit bei ihm geworden. Wann und wo er sich befand, wann und wo sich auch nur die kleinste Gelegenheit bot, ein Geschäft zu machen, Geld zu verdienen – er mußte dabeisein! Immer tätig, niemals ruhend. Sein Krieg! Sein Krieg! Er mußte doch seinen Krieg gewinnen!

»Nicht so’ne dreckigen Überzieher, die wir hatten«, sagte Radtke.

»Mensch, der Ami ist vielleicht ein reinlicher Mensch. Das sind sogenannte Pro-Kits!«

»Kenne ich.«

»Nanu, woher?«

Das Rattern von zwei Maschinenpistolen ließ Jakob zusammenfahren. Die andern blieben gelassen.

»Was war das?«

»Die Doppelwache auf dem Damm. Das machen die um diese Zeit immer. Da ist eine ewige Schießerei im Gange. Immer wenn die Flut kommt.«

»Wieso dann?«

»Dann sind unsere Baracken den Ratten zu feucht«, erklärte Radtke. »Ihr habt Ratten in euren Baracken?« interessierte sich Jakob.

»Sage ich doch. Woher du Pro-Kits kennst, hab’ ich gefragt!«

»Ich hab’ für die Amis gearbeitet … als Dolmetscher … in Wien … Kameraden, wie ich euch so sehe, kann ich mir vorstellen, wie euch zumute ist. Ich habe gerade nichts zu tun. Da könnte ich ein kleines Geschäft mitnehmen. Bei so einem Pro-Kit ist einiges in die Stanniolfolie geschweißt. Die Überzieher. Eine Tube Penicillin-Salbe zum Nachher-gleich-Reindrücken, damit’s keinen Tripper oder was Schlimmeres gibt. Ein Seifentaschentuch, gefaltet. Wieviel Pro-Kits verladet ihr in diese Waggons?«

»Der wird nur halb gefüllt, wie du siehst, Jakob. Das werden so vielleicht drei Millionen Stück sein.«

»Habe ich ungefähr geschätzt. Mein Vorschlag, Kameraden – und der Radtke weiß, daß ich ein ehrlicher Mensch bin! Ihr stellt mir kurz eure Arbeitskraft zur Verfügung. Jeder gibt mir die Adressen seiner Angehörigen in Deutschland. Ich verspreche, daß jede Familie fünf CARE-Pakete bekommt, und das ist sehr bald.«

»CARE-Pakete kannst du doch bloß in Amerika bestellen. Die verpacken alles drüben, und wer zehn Dollar zahlt, für den wird in Deutschland so ein CARE-Paket geliefert!«

»Ich habe einen Freund in New York«, sagte Jakob ungerührt. (Die kleine Gefälligkeit wird mir der Rubi doch noch erweisen!)

»Ich mache mit«, sagte Radtke. »Und ihr könnt auch alle mitmachen. Ich kenne den Jakob. Der bescheißt euch nicht!«

»Schreibt alle eure genauen Adressen hier rein. Aber leserlich!«

Jakob gab Radtke ein Notizbuch.

Während ein Gefangener nach dem anderen schrieb, erklärte Jakob das Technische. Der Waggon mußte noch abgefertigt und geschlossen werden, bevor die Gefangenen mit der Arbeit aufhören konnten, erfuhr er von Radtke.

»Dann schreie ich nach dem Corporal, und der kommt mit Draht und Plomben und versiegelt den Waggon. Dann kommt eine Rangierlok und schleppt den Waggon raus auf den Güterbahnhof.«

»Ist der bewacht?«

»Ja. Aber was glaubst du, was da trotzdem geklaut wird? Denn die Waggons – wir entladen ja nicht nur Präser! –, die bleiben bis morgen früh dort stehen. Dann wird eine Zuggarnitur zusammengestellt. Du mußt mir deine Adresse geben, Jakob. Einmal werde ich ja hier rauskommen, und dann such’ ich dich vielleicht.«

»Am besten, du wendest dich an die Adresse von Heinrich Himmler in Waldtrudering bei München«, sagte Jakob.

52

Das größte Puff in Antwerpen hieß ›Palais des Nations‹. Die Besitzerin, die eine kleine Brasil rauchte, sagte im Empfangssalon ihres Etablissements in der Beeldhouverstraat, die nahe dem Museum der Schönen Künste an dem Leopold De Waels Plaats liegt: »Also gut, ich übernehme die Pro-Kits.« Sie sprach Deutsch, was natürlich alles ungemein erleichterte.

»Das freut mich, Madame Willemsen.«

Die Dame Willemsen, eine stattliche Person mit vielen Ringen und Ketten und einem gepuderten Teiggesicht, dessen Züge freilich auch stahlhart werden konnten, sagte: »In schweren Zeiten wie diesen ist es gut, einen kleinen Vorrat anzulegen … Und sagen Sie besser Mevrouw zu mir. Das höre ich lieber.«

»Das ist ein lobenswerter Vorsatz, Mevrouw«, sagte Jakob und sah freundlich die braun-, schwarz-, gelb-, rosa- und weißhäutigen Mädchen an, die nackt oder halbnackt im Salon saßen, strickten, Kreuzworträtsel lösten oder an ihre Kinder schrieben. Es war noch zu früh fürs Geschäft. »Ich möchte aber Dollars.«

»Dollars?«

»Wenn’s recht ist, Mevrouw.«

»Da muß ich erst mit Mijnheer Huysman telefonieren.«

»Wer ist Mijnheer Huysman?«

»Mein Steuerberater. Ich habe soviel natürlich nicht in Devisen.«

»Hoffentlich hat Mijnheer Huysman soviel, Mevrouw. Mir liegen drei Angebote von wallonischen Herren vor.«

»Sie werden doch nicht …« Der Busen von Mevrouw Willemsen wogte heftig, sie griff sich an die Kehle. »Die Präservative müssen in flämischer Hand bleiben!«

»Wie Sie meinen, Mevrouw. Aber wenn Mijnheer Huysman, natürlich auch ein Flame, nehme ich an« (Gott segne Österreich), »nicht genügend Dollars hat …«

»Geduld, Mijnheer, ein bißchen Geduld. Dann wird er sich eben mit seinem Kompagnon Mijnheer Vermeylen besprechen. Gemeinsam haben sie genügend Dollars.«

»Wer ist Mijnheer Vermeylen, Mevrouw?«

»Ein reicher Fabrikant hier in Antwerpen, Mijnheer.«

»Aha.«

Mevrouw erhob sich. »Sie wollen die Dollars sofort nach Übernahme durch meine Freunde?«

»Ihre Freunde, Mevrouw, wer ist das?«

»Belgische Polizisten. Die bewachen den Frachtbahnhof, auf dem der Waggon stehen wird.«

»Aha.«

»Es sind natürlich auch amerikanische Posten da. Die werde ich abzulenken wissen, seien Sie beruhigt.«

»Da bin ich ganz beruhigt, Mevrouw.«

»Abtransportieren müssen wir die Dinger in Salatkörben.«

»Salatkörben, eh, hrm?«

»Im Französischen werden die ›Grünen Minnas‹ charmanterweise ›paniers de salade‹ genannt!«

»Wirklich charmant …!«

»Ich werde jetzt schnell telefonieren und alles vorbereiten. Auch meine Knaben muß ich verständigen.«

»Ihre Knaben?«

»Süße Kinderchen. Die helfen mir immer in solchen Fällen. Es sind auch Mädchen darunter. Die Eltern werden von mir natürlich entschädigt.«

»Natürlich.«

»Alle Soldaten – und ganz besonders die Amerikaner – sind doch so kinderliebend, nicht wahr?«

»So ist es, Mevrouw.«

»Ich habe Sie bereits gefragt: Sie benötigen die Dollars sofort, nachdem die Kinderchen und die Polizisten den Waggon geleert haben?«

»Wenn ich darum bitten dürfte, Mevrouw. Sagen wir bis spätestens zwei Uhr nachts. Dann muß ich nämlich abreisen.«

»Es wird klappen, Mijnheer. Auf meine Polizisten ist Verlaß. Die einzigen, auf die man sich in dieser Gangsterstadt noch verlassen kann. Während ich mich umhöre, wollen Sie nicht vielleicht eine kleine Distraktion? … Nein, nein, die Freude müssen Sie mir machen! Wer soll’s denn sein? Was hätten Sie denn gerne? Europäisch, afrikanisch …

»Chinesisch, wenn es nicht zu unverschämt ist, Mevrouw. Chinesisch habe ich noch nie.«

»Aber gerne. Yün-Sin, komm her!« Ein zierliches Geschöpf trat heran. »Yün-Sin heißt Pfirsichblüte, Monsieur. Pfirsichblüte, der Herr will dir die Ehre erweisen. Zeige ihm deine Spezialität, die ›Schlittenfahrt‹!«

»Gewiß, Mevrouw«, zwitscherte Pfirsichblüte englisch mit Piepsstimme. Sie kreuzte die Arme über der bloßen Brust und verbeugte sich tief vor Jakob. »Edlel Tai-Pan, dalf ich bitten, mil zu folgen?« Mit wackelndem Popo ging sie vor Jakob her, die Treppe empor, die zu den Zimmern führte. Die anderen Mädchen nahmen keine Notiz davon.

»Kennt eine von euch eine Sowjetrepublik mit acht Buchstaben?« fragte die Mulattin, die Kreuzworträtsel löste.

Um 1 Uhr 30 war alles vorbei.

Jakob saß im Büro der Dame Willemsen und ließ sich fünfundzwanzigtausend Dollar vorzählen. Der Steuerberater und der reiche Fabrikant hatten ihr unter die Arme gegriffen. Die Kondome waren bereits über die ganze Stadt verteilt. Reizende Kinder hatten die Plomben des von Radtke mit einem verabredeten Zeichen (es stand in deutscher Sprache da: ICH LIEBE DICH) versehenen Waggons aufgebrochen und die Kartons zu zwei ›Salatkörben‹ getragen, die unentwegt an- und abfuhren.

Es war zu keinerlei Zwischenfall gekommen. Mevrouw Willemsen hatte Damen aus den Etablissements ›Zum heißen Trichter‹, ›Zur flotten Hendrikje‹ und ›Zum roten Stiefel‹ um Mitarbeit gebeten. Die Damen leisteten ganze Arbeit in den Wachbaracken der amerikanischen Posten, die schon vor Anlaufen der Aktion nicht mehr stehen konnten – entweder infolge Suffs oder Erschöpfung oder von beidem. So waren denn alle zufrieden … Jakob, der mitgezählt hatte, steckte die fünfundzwanzigtausend Dollar ein und küßte Mevrouw Willemsen die Würstchenfinger.

»Es war mir ein Vergnügen, Mijnheer«, sprach Madame.

Schon eine halbe Stunde später hatte Jakob Antwerpen in seinem Mietwagen verlassen und fuhr durch eine Winternacht Brüssel entgegen. Es schneite. Jakob fühlte sich sehr wohl. Fünfundzwanzigtausend Dollar sind besser als in die hohle Hand, dachte er. Und jetzt weiß ich, was eine ›Schlittenfahrt‹ ist, Junge, Junge. Sollten wir unseren nächsten Krieg China erklären, melde ich mich freiwillig!

53

»Maître«, sagte Señor Miguel Santiago Cortez am Nachmittag darauf, nicht die Spur ermüdet, gebadet, rasiert, frisch und munter, »wie Ihnen Monsieur Rouvier schon am Telefon erzählt hat, werde ich in Belgien ein Industrieunternehmen erwerben. Der Vertrag zwischen mir und den bisherigen Besitzern sieht vor, daß von der Kaufsumme zweihunderttausend Dollar bar in belgischen Francs bezahlt werden. Ich erlaube mir also, Monsieur Rouvier, meinem Bevollmächtigten für Belgien – ich bin nämlich dauernd unterwegs –, einen Scheck über zweihunderttausend Dollar zu übergeben. Er gibt mir dafür den Gegenwert in belgischen Francs. Das alles wollen wir in einem von Ihnen beglaubigten Vertrag festhalten …«

Maître Jean-Louis Labisse – sein Büro befand sich in dem altehrwürdigen Gebäude 42, Boulevard Leopold II. – war einer der feinsten und angesehensten Notare Brüssels. Das hatte Jakob schon am Vormittag von Rouvier erfahren, als sie miteinander telefonierten, nachdem ihm bei seiner Rückkehr ins PLAZA eine von der Telefonistin aufgenommene Nachricht übergeben worden war: ›Bitte rufen Sie mich gleich an. Herzlichst Rouvier.‹

Also hatte Jakob den Schieber angerufen.

Der guten Ordnung halber (wie Rouvier sagte) berichtete der Schieber zuerst, seine amerikanische Bank habe ihm mitgeteilt, daß die beiden Schecks zu je fünftausend Dollar, die Jakob ihm gegen belgische Francs gegeben hatte, bereits gutgeschrieben seien.

Damit habe ich endgültig sein Vertrauen gewonnen, dachte Jakob und sagte: »Das freut mich! Und sonst?«

Rouvier druckste eine Weile herum. Dann konnte er nicht länger an sich halten: »Hatten Sie Erfolg auf Ihrer Reise, Señor Cortez?«

»Ach ja, doch, doch, ich bin recht zufrieden«, ließ sich Jakob vernehmen. »Ich habe da was sehr Hübsches gefunden.«

»Oh!« Ein leises Keuchen Rouviers war zu hören. Dann stammelte er Unzusammenhängendes. Er brachte einfach nicht heraus, was er sagen wollte. »Ich will es Ihnen leichter machen, Rouvier«, sagte Jakob väterlich. »Sie haben mir seinerzeit gesagt, daß Sie gerne groß mit mir ins Geschäft kommen wollten …«

»Ja … und?«

»Sehen Sie, ich werde dauernd in der Welt herumgejagt, ich brauche deshalb einen Bevollmächtigten für Belgien. Ich habe noch keinen. Jetzt brauche ich ihn nötiger denn je, weil ich fort muß. Aber da habe ich nun das Ding hier am Hals. Wenn Sie also Zeit und Lust hätten …«

Rouvier stotterte vor Aufregung: »Bi … bi … bin in zehn Minuten bei Ihnen im Hotel, Señor!«

Er war binnen acht Minuten da, wie Jakob zufrieden feststellte. Sie setzten eine Bevollmächtigungserklärung des Señor Miguel Santiago Cortez für Monsieur Robert Rouvier, betreffend das Gebiet Belgien, auf.

»Nun brauchen wir noch einen Notar für das Geld«, sagte Jakob.

»Ich würde Maître Jean-Louis Labisse empfehlen, Señor. Er ist einer der feinsten und angesehensten Notare Brüssels …«

Zwei Stunden später saßen die beiden dann vor dem vornehmen alten Herrn mit dem Silberhaar, und Jakob sprach die Worte, die wir schon niedergeschrieben haben.

Der vornehme alte Herr mit dem Silberhaar rief eine ungemein hübsche Sekretärin herein. Ich könnte schon wieder, dachte Jakob. Diese ›Schlittenfahrt‹ … Aus! Seriös, Jakob, seriös jetzt!

Es wurde ein äußerst präziser Vertrag aufgesetzt, der alle Rechte und Pflichten Rouviers sowie die damit zusammenhängenden finanziellen Fragen genauestens klärte. Monsieur Rouvier wies sich mit einer belgischen Identitätskarte, Jakob mit dem argentinischen Reisepaß auf den Namen Cortez aus. Die ungemein hübsche Sekretärin tippte den Vertrag sogleich mit mehreren Kopien. Danach stempelte der vornehme alte Maître Labisse sämtliche Seiten des Vertrages, versah sie mit seinen Initialen und beglaubigte zum Schluß alles mit eigener Unterschrift und Siegel. Der Platz für den Namen des Industrieunternehmens, das Señor Cortez erwerben wollte, war freigelassen worden, denn dieser, so sagte er, hatte sich verpflichtet, den Namen bis nach Abschluß des Vertrages geheimzuhalten.

Der ebenso bildschöne wie impotente Rouvier wuchtete einen Koffer hoch und zählte belgische Franc-Noten auf den Schreibtisch, die dem Gegenwert von zweihunderttausend Dollar entsprachen. Es war ein hübscher Montblanc aus Papier, der da zuletzt aufragte, als Rouvier seinem Partner Jakob auf die Schulter schlug und mit hinreißend verlegenem Lächeln sagte: »Den Koffer schenke ich Ihnen!«

Sie bezahlten die Gebühren des vornehmen alten Maître Labisse und verließen das Notariat. Beim Abschied vor dem PLAZA, wohin ihn der Schieber zurückgefahren hatte, sagte Jakob, daß er nun für drei bis vier Tage nach Italien reisen müsse. Dann werde er wieder in Brüssel sein. (Er hatte keineswegs die Absicht, so bald wieder in Brüssel zu sein!)

Rouvier wünschte glückliche Wiederkehr und empfahl sich mit tiefen Verbeugungen.

Jakob saß geduldig in seinem Appartement, bis um 18 Uhr der Handelsattaché anrief. »Wir hauen ab«, sagte Jakob.

»Was, schon?«

»Ja. Alles erledigt.«

»Herrgott, und Claire hat morgen Frühdienst, und ich habe mich schon so auf morgen früh gefreut!«

»Freuen Sie sich auf Yvonne. Seien Sie um neunzehn Uhr dreißig bei der Abbaye de la Cambre in der Allée du Cloître, Ecke Avenue Emile De Mot«, sagte Jakob, einen Zeigefinger auf dem Stadtplan.

»Aber ich muß mich doch wenigstens verabschieden …«

Jakob legte einfach auf, packte seine Sachen und fuhr mit dem Lift in die Halle hinunter, um die Rechnung zu bezahlen. Der Hoteldirektor, alle Portiers und Receptionisten, die Dienst taten, bereiteten Jakob einen ergriffenen Abschied. Auch ihnen sagte er, er werde sehr bald wieder da sein. Das linderte ihren Schmerz – von den Trinkgeldern ganz zu schweigen. Jakob sah gern glückliche Menschen.

Der Taxichauffeur war Flame. (Auch in dieser Hinsicht hatte Jakob inzwischen einiges gelernt.) Unglaublich, wie einfach das alles gegangen ist, dachte er. Die menschliche Dummheit kennt keine Grenzen! Sie fuhren zur Gare du Nord. Jakob drehte sich um und blickte durch das Rückfenster. Ein schwarzer Wagen fuhr hinter ihnen her. Der Chauffeur dieses Autos und die drei anderen Herren darin sahen aus wie Catcher.

»Fahren Sie ein bißchen herum«, sagte Jakob. Vielleicht kannte die menschliche Dummheit doch Grenzen? Und dabei hatte dieser Schieber Rouvier sich so freundlich verabschiedet!

»Aber Sie wollten doch zur Gare du Nord …«

»Schauen Sie in den Rückspiegel. Der schwarze Wagen. Ich werde verfolgt.«

»Von wem?« fragte der Taxifahrer in flämisch gebrochenem Englisch.

»Von Wallonen.«

»Ah«, sagte der Taxichauffeur.

Sie fuhren zunächst zur Börse.

Das schwarze Auto mit den vier Kerlen folgte.

»Jetzt zum Justizpalast, Sir?«

»Zum … meinetwegen.«

Also fuhren sie zum Justizpalast.

Das schwarze Auto mit den vier Kerlen desgleichen, dicht hinter dem Taxi her.

Das ist aber gar nicht angenehm, dachte Jakob.

»Noch ein bißchen weiter«, sagte er.

»Zum Parc du Cinquantenaire?«

»Zum Parc du Cin … in Ordnung.«

Also fuhren sie über den Boulevard de Waterloo nordostwärts.

Der schwarze Wagen auch.

Jetzt erreichten sie den nach Norden führenden Boulevard du Régent. Der schwarze Wagen mit den vier Kerlen folgte, als wenn sie ihn mit einem unsichtbaren Seil abschleppten.

Ekelhaft, dachte Jakob, wirklich ekelhaft.

Das Taxi bog in die Rue de la Loi ein. Der schwarze Wagen auch. Also, so geht das nicht weiter, entschied Jakob.

»Halten Sie bitte da vorne bei dem Zeitungsstand!«

»Sehr wohl, Sir«, sagte der Taxichauffeur in flämischem Englisch.

Er hielt vor dem Zeitungsstand. Der schwarze Wagen hielt etwa acht Meter hinter ihm.

Jakob stieg aus, erwarb eine Ausgabe von ›La Dernière Heure‹ und trat dann in die Telefonzelle neben dem Zeitungsstand. In vier Sprachen stand hier über dem Apparat etwas auf einer Tafel. Er las ›Notruf Polizei‹ und eine dreistellige Nummer. Jakob wählte diese Nummer. Eine Männerstimme meldete sich französisch.

»Do you speak English?«

»Just a second, Sir.«

Eine andere Männerstimme fragte englisch: »Was kann ich für Sie tun, Sir?«

»Einen schönen guten Abend«, sagte Jakob. »Ich spreche aus der Telefonzelle vor dem Haus Rue de la Loi 48. Hier randaliert ein völlig betrunkener Privatchauffeur mit drei völlig betrunkenen Wageninsassen. Es ist ein Skandal. Die Kerle haben Pistolen. Jeden Moment kann ein Unglück geschehen.«

»Wie ist die Nummer des Wagens?«

Jakob verrenkte sich fast den Kopf, um das festzustellen.

»B 85 674«, sagte er dann.

»Wir kommen sofort. Bleiben Sie bei der Telefonzelle. Wir brauchen Sie als Zeugen.«

»Selbstverständlich, Wachtmeister«, sagte Jakob.

Er ging zu seinem Taxi zurück und setzte sich in den Fond.

»Wir warten noch einen Moment.«

»Okay, Sir.«

Vier Minuten später klang das Heulen einer Sirene auf. Ein Streifenwagen der Polizei kam angeschossen und bremste vor dem schwarzen Auto. Bewaffnete Polizisten sprangen heraus, zerrten vier baß erstaunte Herren mit Totschlägergesichtern ins Freie und begannen auf sie einzubrüllen. Die Herren brüllten zurück. Menschen strömten zusammen. Autos hupten. Der Abendverkehr stockte.

»Jetzt«, sagte Jakob, »fahren Sie bitte zur Gare du Nord.«

»Yes, Sir.« Der Chauffeur fuhr los und schüttelte besorgt den Kopf. »Eine Schande«, murmelte er.

»Was?« forschte Jakob.

»Diese dreckigen Wallonen. Was müssen Ausländer da für einen Eindruck von Belgien kriegen!«

»Aber ich bitte Sie«, sagte Jakob. Lieber Fürst Metternich, sei bedankt! An der Gare du Nord ging er auf ein Postamt und füllte ein Telegrammformular aus. So lautete der Text: + rubinstein associates new york stop happy birthday to you dear rubi stop cordially yours cortez +

Das war ein verabredetes Zeichen: Sobald Rubi diesen Telegrammtext in Händen hatte, löschte er das Konto des Señor Miguel Santiago Cortez. Das bedeutete natürlich, daß der Scheck über zweihunderttausend Dollar, den Jakob dem Schwindler Rouvier gegeben hatte, platzte. Aber das ist ja der Sinn der Veranstaltung, dachte Jakob. Und Rubi hat sogar noch zwanzigtausend Dollar verdient. Fünftausend weniger als ich mit meinen Präservativen.

»Normales Telegramm?« fragte das Fräulein hinter dem Schalter englisch.

»Blitz.«

»Zehnfache Gebühr! Das ist das Teuerste!«

»Manchmal, liebes Kind«, sprach Jakob Formann freundlich, »ist das Teuerste das Billigste.«

54

Sie erreichten die kurze Allée du Cloître erst um 20 Uhr 40. Der Bentley parkte bereits. Jakob stieg aus und begrüßte den Handelsattaché. Der war sauer. »Fast eine Dreiviertelstunde zu spät!«

»Tut mir leid.«

»Da hätte ich Claire noch Lebewohl sagen können.«

»Hören Sie bloß mit Ihren Weibern auf«, sagte Jakob. »Raus, helfen Sie!«

Zu dritt schleppten sie Jakobs schwere Koffer vom Taxi in den Bentley. Der Taxifahrer entschuldigte sich noch einmal für die elenden Wallonen.

»Glauben Sie, woanders geht’s besser zu?« fragte Jakob milde und stieg in den Bentley. Der Attaché fuhr los. Nach zwei Stunden hatten sie die letzte Bahnstation auf belgischem Gebiet vor der französischen Grenze erreicht. Diese letzte Station hieß Frameries. Juarez hielt.

»Geben Sie mir meinen Paß«, sagte Jakob.

Er bekam den gefälschten Paß auf den Namen Fletcher und gab Juarez dafür den echten Paß auf den Namen Miguel Santiago Cortez. Dann holten sie Jakobs Schweinslederkoffer aus dem Wagen. Der Koffer mit den belgischen Francs blieb natürlich im Wagen.

»Es geht ein Zug um zwei Uhr fünfzehn früh«, sagte Jakob, während sie gemeinsam das Gepäck über den Platz in den Wartesaal des kleinen Bahnhofs schleppten. »Sie fahren schon los nach Paris und zu Monsieur Arnusch. Es ist jetzt keine Zeit zu verlieren.«

»Und was machen Sie bis der Zug kommt?«

»Ich werde ein bißchen lesen«, sagte Jakob und zog ein schmales Buch aus der Tasche. Es war in englischer Sprache abgefaßt und trug den Titel DER SCHICKSALSKAMPF DER WALLONEN UND FLAMEN.

55

»Ach ja«, sagte Mr. Fletcher am nächsten Vormittag, träumerisch Mrs. Fletcher betrachtend, »es ist doch schön, wieder daheim zu sein.«

Er saß neben seiner Gattin auf einer zartgeschwungenen Recamière, im Salon seines Luxusappartements im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS in Paris. Große Bodenvasen voller roter Rosen verstellten den Weg. Es roch wie in einer Gärtnerei oder einer Aussegnungshalle. Rechts von Jakob saß der Handelsattaché Amadeo Juarez, links von ihm sein alter Schulfreund Franzl Arnusch. Jakob küßte Mrs. Fletcher in den Nacken. Sie schnurrte wie eine Katze.

»Schnell noch zum Geschäftlichen«, sagte Franzl. Damit überreichte er Jakob den Diplomatenkoffer aus dem Linzer PX. (Der Hase! Ich muß unbedingt zu ihm, dachte Jakob. Aber nicht jetzt. Erst habe ich noch andere Sachen zu erledigen.) Der vom Alliierten Kontrollrat für das befreite Österreich eingesetzte Devisenfahnder öffnete den Koffer. Liebliche grüne Notenbündel erblickte Jakob.

»Bittschön«, sagte der Franzl. »Das wären also fünfzig Prozent vom Dollar-Gegenwert für die belgischen Francs, die du diesem Rouvier abgenommen hast. Keine hunderttausend Dollar, nur rund achtzigtausend, denn beim Rückwechseln hier haben natürlich die Pariser Schieber wieder verdienen müssen, klar.«

»Klar«, sagte Jakob. »Ihr wart aber ganz schön fleißig, Kinder!«

»Gleich nachdem Amadeo zu mir gekommen ist, sind wir los zu den Schiebern. Zu allen, die ich kenne. Einer oder zwei hätten nie so viel Dollar flüssig gehabt. Trotzdem sind fast hundertfünfzigtausend Dollar in deinem Diplomatenkoffer, denn wir haben uns erlaubt, das Nadelgeld, das du dir privat in Antwerpen verdient hast, auch schon einzuwechseln. Damit wäre das Geschäfterl gelaufen.«

»Franzl, mein Bester, du mußt mir einen Gefallen tun, und zwar schnell!«

»Gerne, mein Lieber. Was soll’s denn sein?«

Jakob gab seinem Schulfreund eine Liste mit siebenundfünfzig Adressen in Deutschland und zweitausendachthundertfünfzig Dollar.

»Überweise bitte das Geld sofort an Rubi. Er soll fünfmal siebenundfünfzig CARE-Pakete kaufen und sie an diese Adressen schicken. Natürlich mit erfundenen Absendern.«

»Was sind denn das für Leute?«

»Verwandte von Freunden«, sagte Jakob kurz und gedachte dankbar der Kriegsgefangenen im Antwerpener Hafen.

»Mach’ ich noch heute«, versprach der Arnusch Franzl.

»Ich danke auch schön«, sagte Jakob.

»Wir danken dir«, sagten Laureen und der Franzl im Chor.

»Wofür eigentlich?«

Franzl wies auf die Bodenvasen. »Na, für deine Ideen mit dem l’Amour-Schmäh! Der hat vielleicht hingehauen. Ihr zwei seid das Stadtgespräch! Die Liebenden von Paris! Jetzt müßt ihr allerdings schleunigst verschwinden, Amadeo und ich können bleiben. Ich muß sogar. Hab’ noch was zu erledigen. Wie es so geht im menschlichen Leben.«

»Wir verreisen, Franzl«, sagte Laureen mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme und kraulte Jakobs Nacken. (Sie hatte ihn auf der Gare du Nord abgeholt und dabei ein Theater aufgeführt wie noch nie. Auch in der Hotelhalle.)

»Möglichst weit fort, Boß!« sagte Franzl.

»Ich denke, wir gehen an die Côte d’Azur«, sagte Laureen. »Da ist jetzt keine Saison, alle die ordinären Touristen sind noch nicht da, man hat Cannes und Antibes und Monte ganz für sich allein. Gefällt dir ›Eden Roc‹ und das ›Hôtel du Cap‹ auf Cap d’Antibes, Liebling? Ach, entschuldige, du kennst sie ja noch gar nicht.« Sie küßte Jakob leidenschaftlich. »Jetzt wirst du das alles kennenlernen, zusammen mit mir!«

»Hm.«

»Ich möchte, daß wir wirklich heiraten! Du bist der Mann meines Lebens, Jakob – ich empfinde keine Scheu, das vor unseren Freunden auszusprechen.«

»Wie wunderbar von dir.«

»Zwei Schlafwagenplätze im ›Train bleu‹ für heute abend habe ich schon bestellt, Darling.«

»Das ist sehr, sehr lieb, Laureen«, sagte Jakob. Abrupt erhob er sich jetzt. »Wenn ihr mich bitte entschuldigt – ich habe noch etwas zu erledigen.«

56

An diesem Vormittag kaufte ein gewisser Mr. Jerome Howard Fletcher in der Rue de la Paix einen sehr schönen Smaragdring von ungewöhnlicher Reinheit. Der sehr schöne Smaragdring kostete fünfunddreißigtausend Dollar. Ich habe schon immer viel zu große Trinkgelder gegeben, dachte Jakob.

Als er den Ring dann Laureen überreichte, begann diese fassungslos zu weinen.

»Das … das ist das erstemal in meinem Leben, daß ein Mann mir etwas schenkt!« stammelte sie.

»Na, einer muß ja mal anfangen«, erwiderte er freundlich.

Sie sprang ihn an wie eine wilde Bestie. Er kippte fast um. Zwei Minuten später lagen sie im Bett.

Vier Stunden lang waren sie tätig. Am Ende der vierten Stunde sah Jakob auf seine Armbanduhr. Sehr zärtlich. Denn mit dem Arm, an dem sich die Uhr befand, hielt er Laureens Kopf umschlungen. Verflucht, dachte Jakob, schon so spät? Jetzt muß aber Schluß sein, ich versäume ja sonst noch alle Anschlüsse! Wie kriege ich Laureen zum Einpennen? Ach, ich weiß schon, wie ich Laureen zum Einpennen kriege. Er ging ans Werk.

Laureen begann heftig zu keuchen.

»Was soll denn das? Was ist denn das?«

»In China nennt man es die ›Schlittenfahrt‹.«

»Oh … das … das ist verrückt … das halte ich nicht aus! … Weiter, mach weiter! … Wer hat dir das beigebracht, du Wüstling?«

»Mein Kindermädchen.«

Nach dem Ende der ›Schlittenfahrt‹ rutschte Laureen zur Seite und schlief vor Erschöpfung von einer Sekunde zur andern ein. Na also, ich hab’s ja gewußt, dachte Jakob. Seine Kraftreserven, wir sagten es bereits, waren unerschöpflich.

Punkt 8 Uhr abends schrillte das Telefon neben dem Bett, Laureen brummte, wälzte sich, erwachte mühevoll, nahm mit zitternder Hand den Hörer ab.

»Es ist zwanzig Uhr, Mrs. Fletcher. Ihr Herr Gemahl hat uns einen Weckauftrag gegeben«, flötete eine Telefonistin.

»Weck …« Laureen ließ den Hörer in die Gabel fallen. Sie stierte entsetzt auf die Kissen. Sie lag allein im Bett.

»Jerome!«

Sie konnte schreien, soviel sie wollte – Jakob blieb verschwunden. Mit ihm sein Geld und alle seine Anzüge und alle seine Koffer …

Etwa um diese Zeit erreichte der CD-Bentley des unfaßbar häßlichen argentinischen Handelsattachés Amadeo Juarez die französisch-deutsche Grenze vor Strasbourg. Hier stieg Jakob aus. Als Jerome Howard Fletcher fuhr er mit allen seinen Koffern bis auf einen über die Grenze. Die Polizisten und Zöllner hatten nichts zu beanstanden.

Auf deutschem Boden zeigte Jakob dann die ›Travel-orders‹, die der liebe Josef Mader für ihn gefälscht hatte und – endlich wieder einmal – seinen richtigen Paß. Alle Papiere waren auf einen gewissen Jakob Formann ausgestellt.

In Kehl, der ersten Station hinter der Grenze, stand ein Bentley mit CD-Nummer vor dem Bahnhof. Der argentinische Handelsattaché wartete schon ein Weilchen. Er gab Jakob nun auch noch den Diplomatenkoffer mit rund hunderttausend Dollar. Die Herren nahmen voneinander Abschied.

»Ich würde ja mit Ihnen warten«, sagte der Handelsattaché, »aber ich muß schleunigst zurück nach Paris.«

»Warum die Eile?«

»Yvonne hat eine jüngere Schwester. Die lebt in Le Havre. Heute ist sie nach Paris zu Besuch gekommen. Yvonne sagt, daß ihre Schwester fast noch besser … und daß wir zu dritt … Muß ich weitersprechen?«

»Absolut nicht«, sagte Jakob. »Viel Glück, Amadeo. Bleiben Sie ein braver Mensch.« Er sah dem Bentley nach, der davonschoß. Und dabei ist der Kerl der häßlichste Mann, den ich je gesehen habe. Also, darauf kommt’s nicht an! Nun will ich mir aber selbst auch etwas Gutes gönnen. Verdient habe ich es. Und gesehnt habe ich mich schon eine Ewigkeit danach …

Eine kleine Anfrage beim nächsten Polizisten genügte, dann wußte Jakob, wo in Kehl der Schwarzmarkt blühte. Daselbst erwarb er gutes, würziges Graubrot und fünf Schweineschmalz-Konserven. Auf einer Parkbank öffnete Jakob eine Büchse und genehmigte sich mehrere Portionen seiner Lieblingsmahlzeit. Ach ja, dachte er glücklich, so schmeckt das eben. Endlich wieder Schmalzbrot nach diesem ganzen verfluchten Dreck – Austern und Hummer und Langusten und Filet Wellington und Froschschenkel und Birnen auf Eis mit heißer Schokoladensauce, die er hatte hinunterwürgen müssen in den letzten Tagen. Und das war amerikanisches Schmalz! Da waren genügend Zwiebeln drin! Ach, und Grieben! Solche Grieben hatte Jakob noch nie gegessen! Die vier anderen Konserven bekommt der Josef, mein lieber Fälscher in München, dachte er, über sich selbst gerührt. Der hat sie verdient. Für derartig gute Arbeit! Kauend erreichte er den Bahnhof und erwartete ohne Unruhe das Eintreffen des ›Orient-Expreß‹, der ihn nach München zurückbringen sollte.

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