»Ich komme aus Berlin. Dort habe ich gehört, daß der arme Professor Donner gestorben ist und hier begraben wurde. Habe auch gehört, daß du jetzt hier bist, und da hab’ ich gedacht, nix wie her – mit einer PAA! Wie ich mich freue, dich wiederzusehen, Julia! Ich weiß schon, was du sagen willst! Ja, ich hab’ mich benommen wie eine Sau, eine gesengte, und es tut mir leid. Sehr leid. Wirklich leid, Ha … äh, Julia! Weißt du, ich war dauernd unterwegs, immer, die Geschäfte …« Jetzt war ihm endgültig die Puste ausgegangen.

»Ich weiß«, sagte der Hase still und traurig. »Ich weiß, was du alles getan hast in den letzten Jahren, Jakob. Es stand ja in den Zeitungen. Du bist ein großer Mann geworden. Ich gratuliere dir zu deiner großen Karriere! Und die wird noch viel größer werden, denk an meine Worte.« Der Lackel räusperte sich. »Verzeih, Erich. Das ist Herr Jakob Formann, von dem ich dir so viel erzählt habe. Jakob, das ist Herr Erich Fromm. Na, was ist, wollt ihr euch nicht die Hände geben?«

Sie wollten beide nicht, aber sie taten es, sehr zögernd und schwach. Und Jakob mußte dabei sehr an sich halten, um nicht zu sagen: »Ach so, Herr Fromm – der Erfinder des Aktes.«

»Ich habe nicht gedacht, daß wir uns je wiedersehen werden, Jakob«, sagte der Hase, in ein Wohnzimmer tretend. »Nimm Platz, bitte.«

Jakob plumpste auf eine breite moderne Couch. Alles war modern hier – die Möbel, eine kleine Hausbar, ein Plattenspieler …

»Wie hast du so etwas bloß denken können?«

»Ach, Jakob. Wollen wir das doch sein lassen, bitte!«

»Nein, das wollen wir nicht sein lassen. Ich … du … diese ganzen Jahre … Verflucht, warum setzt ihr euch nicht?«

»Du mußt ins Atelier, Erich«, mahnte der Hase und sah den Widerling verliebt an.

»Ich habe noch ein bißchen Zeit«, sagte Herr Fromm und setzte sich. Julia ließ sich in einen Sessel sinken. Stille. Gräßlich, dachte Jakob. Ich bin an allem schuld …

»Erich ist Schauspieler, Jakob. Beim Film. Am meisten spielt er bei der CYRIO. Kennst du doch!«

»Nie gehört«, log Jakob.

»Eine der ganz großen Filmgesellschaften.«

»Aha. Und da spielt der Herr Fromm.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Formann.«

»Was soll denn das heißen, Herr Fromm?«

»Es gibt Leute, die melden sich an, wenn sie zu Besuch kommen, wissen Sie?«

»Frau Martens hat noch kein Telefon.«

»Man kann Postkarten schreiben.«

»Ich bin so schnell wie möglich hergekommen, um meinem Freund Professor Donner einen Kranz zu bringen.«

»Der ist längst begraben. Auf dem Nordfriedhof.«

»Das weiß ich. Ich will einen Kranz auf das Grab legen.«

»Da liegen schon genug drauf. Was glauben Sie, was da für Honoratioren erschienen sind! Das war eine ganz feierliche Sache. Wir haben natürlich auch einen besonders großen Kranz …«

»Was heißt wir?« Jakobs Narbe begann zu pochen.

»Na, Julia und ich«, sagte Herr Fromm.

»Haben Sie den Professor denn gekannt?«

»Erst im Sarg.«

»Und wieso sagen Sie Julia zu Julia?«

»Weil sie so heißt, Herr Formann.«

»Herrgott, sind Sie verwandt mit Julia?«

»Bis jetzt noch nicht. Aber …«

»Was soll das heißen?«

»Ihr Verlobter bin ich«, sagte Herr Fromm. Mit Betonung.

Allmächtiger Vater.

Jakob sah den Hasen an. Der Hase senkte hilflos den Kopf. Herr Fromm klopfte mit einem Fingernagel gegen seine sehr weißen Zähne. Also, in meinem Leben habe ich kein widerwärtigeres Geräusch gehört, dachte Jakob. Schönling, verdammter.

Der Schönling sah ihn unfreundlich an. Sehr unfreundlich.

12

Eine qualvolle Viertelstunde später.

»Also, Erich, nun mußt du aber wirklich gehen«, sagte der Hase. »Direktor Mühsam ist im Atelier. Du weißt, ihm liegt dieser neue Film besonders am Herzen.« Der Hase sah Jakob an. »Sogar bei den Kostümproben ist er dabei, und er nimmt sich vor allem des Herrn Fromm an.«

»Wie interessant«, sagte Jakob, in einem Tonfall, den er für sarkastisch hielt.

Erich erhob sich.

»Ja, du hast recht, ich muß wirklich …« Herr Fromm sah Jakob an. »Und was ist mit dem da?«

»Der da bleibt noch ein Weilchen«, sagte Jakob, sehr leise.

»Sie! Werden Sie bloß nicht auch noch frech! Erst unangemeldet hier hereinschneien, und dann …«

»Erich, bitte! Sei nicht kindisch. Ich kann einen so alten Bekannten wie Herrn Formann nicht hinauswerfen, bloß weil du ins Atelier mußt.«

»Eben«, sagte Jakob.

Der jugendliche Held sah ihn an wie ein bissiger Terrier. Fehlt bloß noch, daß er knurrt, dachte Jakob. Dann zuckte der widerliche Schönling die Schultern. Und küßte Julia vor Jakobs Augen. Lange und innig. Er strich über ihr Haar. Er küßte ihre Hände. Außen und innen.

Jakob saß da und litt. Endlich war der schöne Widerling draußen. Abermals Stille. Nur von unten drang gedämpft Verkehrslärm herauf.

»Vielleicht ist es doch besser, ich gehe auch!« überlegte Jakob laut.

»Nein!« Julia gab sich einen Ruck. »Jetzt lassen wir endlich dieses Theater und benehmen uns nicht wie kleine Kinder, ja? Du bist enttäuscht. Du bist wütend darüber, daß ein anderer Mann bei mir lebt …«

»Richtig! Apropos: Lebt er nur bei dir, oder lebt er auch von dir?«

»Du bist reichlich geschmacklos, Jakob.«

»Es gab eine Zeit, da war ich dein Bär!«

»Die ist lange vorbei, diese Zeit, Jakob. Es gab auch eine Zeit, da war ich dein Hase.« Plötzlich sprang Julia auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das ist ja herrlich! Du saust in der Welt herum und machst Millionen und schläfst mit hundert Frauen …«

»Hundert waren es nie!«

»Unterbrich mich nicht! Schläfst mit hundert Frauen und läßt nie wieder ein einziges Wort von dir hören. Kein Anruf, kein Brief, keine Zeile, keine Nachricht, nichts, nichts, nichts. Der Professor stirbt. Ja, da kommst du! Du sollst mich nicht unterbrechen! Und hast das gleich mit einem Besuch bei mir verbinden wollen, wie? Sehr praktisch! Nur keine Zeit verlieren. Und jetzt bist du da und nimmst übel. Fehlt bloß noch, daß du sagst, ich betrüge dich!«

»Mein liebes Kind, um mich zu betrügen, müßtest du schon mit Stalin schlafen – und nicht mit so ’ner halben Portion.«

Julia empörte sich. »Erich ist keine halbe Portion! Erich ist … ist … ist …«

»Ja, ja, ja, was ist er denn? Siehst du, du weißt es selber nicht!«

»Natürlich weiß ich es! Ein wunderbarer Mensch ist Erich, der mich aufrichtig liebt – das ist er!«

»Haha.«

»Mach noch einmal haha, und ich schmeiße dich raus! Ich habe genug gelitten in der langen Zeit, in der ich auf dich gewartet habe in Theresienkron.« Sie brach in Tränen aus. Jakob sprang auf und wollte sie an sich ziehen. »Rühr mich nicht an! Ich schreie!« Er trat zurück. »Hast du ein Taschentuch?«

Er gab es ihr. »Danke.« Sie blies hinein. Und nun saßen beide wieder. »Hase und Bär gehören zusammen – hast du gesagt, damals, als es uns allen noch dreckig ging. Als du nichts hattest, und ich nichts hatte. Als wir uns aus dem Dreck rackern mußten. Und gerackert haben! Als du mich gebraucht hast!«

»Hase, sag noch ein solches Wort, und, wahrhaftig, ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Frau geschlagen, aber dann schmiere ich dir eine!«

»Schlag mich doch! Schlag mich doch! So ist es recht! Jetzt zeigst du dein wahres Gesicht!«

»Entschuldige …«

»Nichts zu entschuldigen. Du ahnst gar nicht, was für einen großen Dienst du mir da erwiesen hast! In der ersten Zeit habe ich gedacht, ich muß sterben ohne dich. Jawohl, sterben! Die gute Frau Pröschl, die war genauso verzweifelt wie ich. Gib mir das Taschentuch!«

»Hase, mein geliebter Hase …«

»Zuletzt bin ich sogar in die Kirche gelaufen und habe gebetet …« Der Hase nickte, erschüttert über sich selbst. »Ja, gebetet! So weit kannst du eine Frau treiben!«

»Furchtbar! Du bist in die Kirche?«

»Aber genützt hat es nichts! Der liebe Gott funktioniert bei mir nie, wenn es um dich geht.«

»Bei diesem Lackaffen, da funktioniert er, was?«

»Hast du Lackaffen gesagt?«

»Jawohl, habe ich. Der ist doch nichts anderes. Einer? Drei! Der nimmt dich doch nur aus. Der … benützt dich doch nur, Hase! Daß eine so kluge Frau wie du das nicht merkt!«

»Halt den Mund!«

»Ich denke nicht daran! Man muß sich doch bloß seine verschlagenen Augen ansehen und diese dünnen Lippen …«

»Er hat keine verschlagenen! Und dünne auch nicht!«

»Doch!«

»Nein!«

»Doch!«

13

Zehn Minuten später hatten sich beide so weit beruhigt, daß sie normal miteinander reden konnten. Die meiste Zeit redete Julia. Sachlich. Betont neutral. Professor Donner hatte unentwegt experimentiert, erfuhr Jakob. Julia hatte zuletzt alle Hoffnung verloren und einen Rat des Professors befolgt. Sie gehe ja zugrunde, wenn sie in Theresienkron bliebe und immer weiter ihrem Jakob nachtrauere – diesem Jakob, von dem sie in den Zeitungen las und im Radio hörte. Sie müsse fort, hatte Donner gesagt. Weit fort! Unter andere Menschen! Jakob vergessen! Seine Eier vergessen! Aber wie? Aber wohin?

Ins Rheinland! Dorthin müsse Julia jetzt gehen, hatte Professor Donner geraten. Dort sei was los jetzt! Und Donner habe gedonnert: Die großen und kleinen Industriellen und die großen und die kleinen Kaufleute hätten wieder Boden unter den Füßen gefunden. Während die Engländer und die Franzosen auf der einen Seite noch lustig demontierten, pumpten die Amerikaner auf der anderen Seite heftigst Milliarden in die westdeutsche Industrie und sorgten sich um deren Wiederaufbau. Kein Wunder: Denn westdeutsche Politiker hätten den Amerikanern versprochen, dieses neue Deutschland werde ihr bester Verbündeter gegen den Kommunismus und gegen die Russen sein, falls es wieder losgehen sollte. Die Herren Industriellen fanden sehr schnell, daß Düsseldorf ein prächtiger Platz für repräsentative Büros und angenehme Vergnügungen war. Ihre Frauen fanden das auch. Solches war das Resultat westdeutscher Steuergesetze. Wenn man Geld hatte, konnte man nach Düsseldorf fahren und dort Spesen machen – und das hieß: unversteuertes Einkommen in einer für das Finanzamt nicht nachzukontrollierenden Weise ausgeben.

»Früher war die Konfektion zu neunzig Prozent in Berlin«, berichtete der Hase, ernst und gefaßt. »Mit Berlin ist es vorbei. Also sind sehr, sehr viele Unternehmen der Bekleidungsbranche nach Düsseldorf abgewandert. Große Firmen haben sich zur IGEDO zusammengeschlossen …«

»Zur was?« (Und ich krieg’ sie doch herum, das wäre ja lächerlich.) »Abkürzung von: Interessengemeinschaft des Damen-Oberbekleidungs-Gewerbes. Der Erfolg der ersten Verkaufsausstellung war großartig …«

»Weiß ich, weiß ich«, sagte Jakob. (Und dachte: Ich weiß auch schon, wie ich den Hasen bändige. Der Widerling ist doch bestimmt zwei Stunden im Atelier festgehalten.)

»Professor Donner hat mir Kredite verschafft, der gute alte Mann. Ich zahle noch immer ab. Eigenes Geld hatte ich ja auch … na, und so bin ich also hergezogen vor einem halben Jahr und habe den Laden da unten aufgemacht. Er geht phantastisch«, berichtete Julia.

»Das freut mich. Das freut mich wirklich, Hase.« (Diese Beine. Und diese Brüste. Das leichte Kleid läßt den ganzen Körper ahnen. Ich kenne ihn ja schon … Und ob ich ihn kenne! Es war doch schlau von mir, daß ich das Geschenk mitgebracht habe. Wenn der Hase erst einmal das Geschenk … da hat er noch niemals Widerstand leisten können!)

»Jetzt, nach Donners Tod, leitet die gute Frau Pröschl den Theresienkroner Betrieb mit einem Nachfolger für den Professor, den er noch selbst bestimmt hat. Ach, das habe ich ja ganz vergessen. Es ist doch gut, daß du gekommen bist.«

»Nicht wahr?« (Noch ein kleines Weilchen, dann fange ich an.)

»Ich rede rein geschäftlich, Jakob! Wir müssen jetzt die Statuten ändern! Alle Filialen und Werke außerhalb Theresienkrons, die dem Professor und dir gehört haben, gehören nun dir allein!«

»Und du?«

»Ich will nichts davon haben! Ich habe genug! Im Gegenteil – ich muß dir noch etwas geben!«

»Was?«

»Die Forschungsergebnisse des Professors! Er hat sensationelle Entdeckungen gemacht! Unsere Hennen legen jetzt die besten Eier der Welt!« Julia sprang auf und lief zu einem zierlichen Schreibtisch. »Ich habe die ganzen Unterlagen hier drin, ich gebe sie dir gleich mit! Es ist ein Haufen Papiere! Die Erfindungen habe ich schon zum Patent angemeldet – in deinem und in Donners Namen. Nutzungslizenz für Theresienkron ist auch erledigt. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem ›Gacker-Blocker‹ …« Julia öffnete und schloß Schubladen, sie suchte.

»Hase, ich flehe dich an! Nach so langer Zeit sehe ich dich wieder … Ich liebe dich … Ich werde immer nur dich lieben! Ich nehme dich mit mir! Auf der Stelle! Hinaus in die Welt! Wir bleiben zusammen! Das haben wir doch immer gewollt!«

»›Gacker-Blocker‹ hat Professor Donner seine Entdeckung genannt«, sprach der Hase kühl und belehrend, als hätte Jakob nicht soeben seine Herzensnot herausgeschrien. »Dem ist er nach langer Zeit dahintergekommen. Dem Gegacker der Hennen, meine ich …«

»Herrgott, ich sch … ich pfeife auf alle Hennen, wenn du mich nur wieder lieb hast! Wenn du mich heiratest!«

»Ich werde dich nie heiraten, mein lieber Jakob. Ich werde Erich heiraten!«

»Diesen miesen Vogel? Das verbiete ich dir!«

»Du hast mir gar nichts zu verbieten, Jakob«, sprach der Hase, in Papieren wühlend. »Das Gackern der Hennen, hat der Professor herausgefunden, hemmt ihren Legeeifer.«

»Ich liebe dich doch, Hase! Bitte, verzeih mir!«

»Darauf ist der Professor nach langen Versuchen gekommen! Daß das Gackern der Hennen ihren Legeeifer hemmt, meine ich. Schau, natürlich ist Erich noch kein Star. Natürlich hat er noch sehr wenig Geld. Natürlich lebt er von mir. Na und? Wen geht das etwas an? Ich kann mit meinem Geld machen, was ich will!« Julia sammelte weiter Papiere aus den Schubladen. »Der Professor hat Reihenversuche angestellt, jahrelang. So kompliziert, daß er es mir niemals erklären konnte.«

»Ich liebe dich, Hase, verflucht noch mal, hörst du nicht?«

»Mit Hormonen. Erich ist hochbegabt. Er macht seine Karriere! Und dieser Direktor Mühsam hat Erich so gern! Auch Edda …«

»Hase!«

»…das ist die Tochter von Direktor Mühsam, die Edda. Dreizehn. Erich hilft ihr bei den Schulaufgaben. Also wirklich, die ganze Familie ist geradezu verrückt nach Erich! Der hat einen prima Start! Bestimmt gibt ihm Direktor Mühsam jede Chance. Bald wird er eine Hauptrolle bekommen.«

»Das ist ja zum Wahnsinnigwerden! Ich kann dir die Welt zu Füßen legen! Ich kaufe dir, was du willst! Was willst du? Sag es! Sag es, und du hast es!«

»Mit halbsynthetischen Hormonen, weißt du. Ich habe es nie verstanden, aber es steht alles präzise in den Patentschriften. Erich ist so gut. Er wird viel Geld verdienen. Und dann heiraten wir!« Immer noch wühlte Julia in einer Schublade.

Jakob erhob sich. Geräuschlos packte er sein Geschenk aus. Man wird ja sehen, dachte er.

»Tut mir leid, wenn ich dir wehtun muß, Jakob. Und mit den halbsynthetischen Hormonen hat Professor Donner alle unsere Hennen behandelt!«

»Dieser widerliche Kerl ist doch der Dreck vom letzten Dreck. Der stürzt dich doch noch ins Unglück! Das ist ein ganz gewöhnlicher …« Nein, das hätte ich nicht sagen sollen. Gerade noch konnte ich das Geschenk hinter meinem Rücken verstecken, bevor Julia herumfuhr. Ist die aufgeregt! Wieviel Platz liegt zwischen Liebe und Haß? Ein Millimeter? Zwei Millimeter? überlegte Jakob, während Julia schrie: »Ich liebe Erich! Ich liebe ihn, und wenn du platzt! Er ist ein prachtvoller Mensch, der mich verwöhnen und auf Händen tragen wird, sobald er kann! Ein Haus werden wir haben, nicht protzig, gemütlich, und drei Kinder.«

»Kinder …«

»Ja, drei! Soviel will ich! Und stell dir vor, alle behandelten Hennen sind verstummt und haben nie mehr gegackert!«

»Hase! Schau dir das an! Was ist das? Das ist die alte Hasenpfote, die mir Jesus geschenkt hat, damals in Linz, als ich abfuhr! Die Hasenpfote hat mir immer nur Glück gebracht, wirklich! Und warum? Doch nur darum, weil sie von einem Hasen ist, Hase!«

»Und sie haben ihr Plan-Soll weit überzogen! Jeweils dreitausend Hennen um hundertzwanzigtausend Eier! Stell dir das vor! Und es waren nicht nur viel mehr Eier, es waren auch noch viel bessere Eier! Die besten! Die Schalenqualität! Der Dotter! Die Spurenelemente! Und Erich ist der beste Mann von der Welt, damit du es weißt!«

An der Wand entlangschleichend hatte Jakob ein modernes Möbelstück fast erreicht. Indessen der Hase immer noch mehr Papiere zusammenraffte, sagte er: »Der beste Mann von der Welt! Daß ich nicht ohnmächtig werde vor Lachen! Wenn diese Tochter von seinem Direktor fünfzehn ist, wirst du was erleben! Von wegen bei Schulaufgaben helfen! Der hat sich das fein zurechtgelegt! Und glaube ja nicht, daß du die einzige bist! Der feine Herr Fromm betrügt dich nach Strich und Faden!«

»Was hast du gesagt? Nach Strich und Faden?«

»Jawohl!«

Sie stürzte sich auf ihn. Die Papiere flatterten auf den Boden.

»Du …! Du … was ist das?«

Musik erklang.

Jakob hatte sein Geschenk blitzschnell auf den Teller des Plattenspielers gelegt und diesen eingeschaltet.

Lena Hornes Stimme erklang: »Don’t know why, there’s no sun in the sky …«

Der Hase starrte Jakob mit offenem Mund an. Der Hase begann zu zittern und zu beben.

Na, habe ich es nicht gewußt? dachte Jakob.

»Unser … unser Lied …«

»Mhm.« Das wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht wiederkriegte, meine Julia.

»… since my man and I ain’t together …«

So, und jetzt nichts wie los, dachte Jakob, packte den schwankenden Hasen, preßte ihn an sich und küßte ihn leidenschaftlich.

»… it keeps raining all the ti-ime …«

Plötzlich öffneten sich Julias zusammengepreßte Lippen, sie stöhnte, und ihre Hände fuhren wild durch Jakobs Haar.

»›Stormy weather‹«, flüsterte der Hase.

»Unser ›Stormy weather‹!«

»Ach, Bär, mein Gott, wie glücklich hätten wir sein können …«

»Werden wir gleich sein«, sagte Jakob Formann.

14

Sie waren gerade zum drittenmal glücklich gewesen, als der Hase verschämt auf eine Uhr blickte, die neben dem breiten Bett stand, und meinte, nun müßten sie sich aber wieder anziehen.

Jakob vernahm es mit Schmerz, doch er sah es ein. Ewig kann dieser Widerling von einem Schönling wirklich nicht wegbleiben wegen dieser blöden Kostümprobe, dachte er. Und er dachte ganz richtig.

Der Hase saß erst eine halbe Minute wieder im Sessel, und der Bär zog sich gerade die Krawatte zurecht, als sich die Wohnungstür öffnete und Herr Erich Fromm in die Diele trat.

Also gerade noch geschafft, dachte Jakob. Gebadet haben wir, Julias Haare sind in Ordnung, die Krawatte sitzt richtig. Nun sehen wir mal weiter! Er war ungemein erstaunt über das, was nun geschah. Mit einem wahrhaft tierischen Schrei stürzte sich Herr Fromm auf Jakob, der sich höflich erhoben hatte, und trat ihm mit einem sehr harten Schuh sehr hart in die Garnitur. Daraufhin setzte sich Jakob wieder.

Das tut ja verdammt weh. Ach herrje, jetzt sehe ich es erst! Ich habe einen Toilettefehler, einen kleinen. Ich habe vergessen, den Reißverschluß zuzumachen, als ich aus dem Badezimmer kam. Schmerz, laß nach. Der eine Schmerz ließ nach, aber ein anderer quälte Jakob, weil Herr Fromm jetzt auf seinen Schädel eindrosch, während der Hase sich laut schreiend an den Film-Weltstar in spe klammerte.

»Erich! Erich! Was ist denn los? Deine Eifersucht ist ja nicht auszuhalten! Hör auf! Hör auf, du sollst aufhören, Herrn Formann zu schlagen, Erich!«

»Meine Eifersucht? Und deine Augen?«

»Was ist mit meinen Augen?«

»Die glänzen! Und wie! Und du weißt genau, wann die immer so glänzen. Du hast mit diesem elenden Lumpen …«

Herr Fromm sprach den Satz nicht zu Ende, denn Jakob hatte sich von seinem Schock erholt und war aufgestanden. Bedächtig schüttelte er den Kopf, schob Julia beiseite, zerrte den rasenden Mimen näher heran, stellte ihn sich so zurecht, wie er ihn haben wollte, und ließ dann seine Rechte vorschießen. Sie traf genau Herrn Fromms Kinnspitze. Jakobs Linke folgte allsogleich in die Magengrube.

Schauspieler Fromm ging zu Boden. Aber schon zog Jakob ihn wieder hoch. »Wehr dich, du Sauhund!«

Und obgleich auch Jakob noch einiges abbekam, schlug er den zukünftigen Superstar nun sachlich, präzise, man könnte fast sagen: emotionslos, zusammen.

Rechts, links, links, rechts trafen den schönen Herrn Fromm Jakobs Haken, und rechts und links, und wieder mal in den Magen, und dazu kreischte der Hase wie von Sinnen. Und immer noch lief die Schallplatte, sie drehte sich seit fast zwei Stunden auf dem automatischen Gerät. Und sie drehte sich weiter.

»… stormy weather! It keeps raining all the ti-ime …«

Und rechts und links. Und links und rechts.

Der schöne Herr Fromm ging endgültig zu Boden. Es erstaunte Jakob ungemein, daß er plötzlich zwei Ohrfeigen von Julia bekam.

»Nanu …«

»Was fällt dir ein!« schrie der Hase wild. »Jetzt sehe ich dich endlich, wie du wirklich bist! Infam und brutal! Verschwinde!«

»Wie bitte?«

»Raus! Raus! Raus!« Außer sich vor Zorn, packte der Hase die kreisende Platte, riß sie vom Teller, und im nächsten Moment knackte es sehr laut und sehr häßlich.

»Hase!« schrie Jakob.

»Julia«, stöhnte Herr Fromm.

Julia stand keuchend neben dem Apparat, eine halbe Schallplatte in jeder Hand. Sie hatte sie über einer Sessellehne zerbrochen.

»Unser Lied, Hase …«

»Weg! Verschwinde! Und laß dich nie mehr sehen! Nie mehr! Ich hasse, hasse, hasse dich!« schrie Julia. Und dann, Jakob sah es mit Beben, kniete sie neben Herrn Fromm nieder, wischte ihm Blut vom Gesicht, streichelte ihn, sprach sanft auf ihn ein. Jakob dachte: Jetzt ist sie mir böse dafür, daß sie gegen ihren so festen Vorsatz schwach geworden ist. Jetzt ist die Lage vollkommen verkorkst. Jetzt ist alles sinnlos.

Ohne ein Wort verließ er des Hasen Wohnung, schloß behutsam die Tür und ging die Treppen hinunter. Dabei übermannte ihn von neuem rasender Zorn. Sie hat unser Lied kaputtgemacht, dachte er, wirr im Kopf. Sie haßt mich wirklich, weil sie gezeigt hat, daß sie mich wirklich liebt. Ach, die Frauen! Wie soll einer aus den Frauen schlau werden? Aber diesem Sauhund, diesem Fromm, dem habe ich es gegeben! Der hat wenigstens sein Fett weg. So habe ich zugeschlagen. Und so. Und so. Jakob begann schattenzuboxen, während er weiter die Treppen hinabschritt. Und eine Linke! Und eine Rechte! Und eine Linke …

15

… und eine Rech …

Moment mal, bitteschön. Ein kleines Momentchen.

Jakob öffnete blinzelnd ein Auge. Danach das zweite. Wo war er?

Ach, verflucht! Im Bett des Appartements im CINQ CONTINENTS in Paris. Im Bett lag er, geträumt hatte er das alles, und in seinem Traum hatte er auf Kissen eingeschlagen, eines war geplatzt. Federn rieselten heraus, er lag auf dem Bauch, die Decke war zu Boden gerutscht, er keuchte vor Anstrengung. Den beiden Kissen, denen hatte er es aber gegeben! Die waren erledigt. Nicht mehr zu gebrauchen.

Jakob setzte sich auf. Er schüttelte den Kopf wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Kratzte sich am Kinn. Betrachtete den zerdrückten Pyjama, die nackten Zehen. Das ist ja zum Kotzen. Die Uhr auf dem Nachttisch: 10 Uhr. Also habe ich verschlafen. Gründlich verschlafen. Und was für ein Schlaf das wieder gewesen ist! 1956 habe ich geträumt, was 1949 passiert ist. Draußen in Belleville bei der lieben Claudine, wo ich gedacht habe, ich ersticke (und es war doch nur Freßasthma), habe ich ebenfalls von der Vergangenheit geträumt. Ich träume überhaupt immer von der Vergangenheit, und immer so lebhaft, so genau, so anstrengend!

Ist das ein Träumen? Das ist kein Träumen! Ich bin ja vollkommen erschöpft. Mein Puls rast. Schweiß rinnt mir vom Hals über die Brust, so aufgeregt habe ich mich bei der Prügelei mit den Hunden, den Kissen, äh, dem Hund, dem Herrn Erich Fromm, also nein, so geht das nicht weiter! Ich muß zu einem … Püsch … Püsch … Na! Der Senator Connelly und die liebe Jill waren auch bei einem! … Püscho – Püschoanalytiker! Zu einem Püschoanalytiker muß ich, zum besten, wo es gibt!

Er erhob sich, seltsam schwankend. Nahm ein Bad, seltsam benommen (wie immer nach diesen Träumen, und die kamen wieder und wieder und wieder). Rasieren, Zähneputzen. Anziehen. Halb elf! Ich hab’ zu arbeiten, Herrgott! Ich muß nach Hamburg. Das Flugzeug …

Er ging zur Tür, die in den großen Salon führte, und hielt jäh inne. Moment mal, die Edle. Der habe ich doch versprochen, zu husten und zu pfeifen und zu klopfen, bevor ich eintrete, damit ich sie nicht beschäme, falls ihre große Liebe sie vielleicht gerade mal an der Türklinke hängen läßt, Zustände sind das, das ist ja ein Irrenhaus hier! Aber schön, husten wir. Noch mal. Noch mal, ganz laut! Klopfen. Laut klopfen. Klopfen und Husten und Pfeifen. Nichts.

Jakob öffnete die Tür zum großen Salon. Der war leer. Jakob ging zur Tür, die in das Appartement der Edlen führte. Klopfte wieder. Nichts. Keine Antwort. Verflucht, was haben die beiden Weiber jetzt wieder angestellt? Oder ist die Edle abgenibbelt, während ich geschlafen habe, und die andere, die Claudia, ist getürmt? Jakob bekam einen Schreck. Bei diesen meschuggenen Lesben soll man wissen! Er nahm einen Telefonhörer ans Ohr und bat – ach Gott, was sind wir vornehm! –, ihn mit den Gemächern der Edlen zu verbinden. Nichts. Keine Antwort. Also der Portier. Nein, die gnädige Frau Baronin sei nicht in der Halle oder fortgegangen. Jakob, immer noch etwas benommen und unter dem Eindruck seines Erinnerungstraumes, riß die Geduld.

Scheiß auf das ganze vornehme Getue! Die Edle weiß genau, daß wir wegmüssen! Die kann doch nicht einfach machen, was sie will! Er ging entschlossen zu ihr hinein. Niemand im kleinen Salon. Im Schlafzimmer niemand. Aus dem Badezimmer kam ein Stöhnen.

Jakob erstarrte. Um Himmels willen. Wenn die Edle sich die Pulsadern … Wieder ein Stöhnen, tief und lang. Stöhnen wie ein Tier …

Unterlassene Hilfeleistung …

Das Tier stöhnte wieder …

Das Tier hörte überhaupt nicht mehr auf zu stöhnen.

Entsetzt riß Jakob die Badezimmertür auf und blieb erstarrt stehen. Sie saß nackt in der Badewanne, die Edle.

Ihre Nichte saß auch in der Badewanne. Der Edlen gegenüber. Sie hatte Tantchen mit Seife eingerieben und massierte nun.

Donnerwetter, ist die Edle eine Wucht, durchzuckte es Jakob. Donnerwetter, aber die Nichte ist ja noch eine viel tollere Wucht … Mensch, diese … »Herr Formann!« Die Edle fuhr in der Wanne zurück, daß das Wasser spritzte. »Was unterstehen Sie sich?« schrie sie in höchstem Diskant.

Die Nichte wandte den Kopf, langsam und lässig, und sah Jakob ironisch an.

Ach so. Die Damen haben gerade Versöhnung gefeiert. Und ich bin mitten in die Versöhnung hineingeplatzt.

Jakob packte die Wut.

Erst dieser Scheißtraum, und dann so etwas!

So etwas will mir, mir, Jakob Formann, Bildung und Benimm beibringen! So etwas wagt dauernd an mir herumzunörgeln! Auf der Stelle fliegt die jetzt, auf der … Eijeijei, die kleine Nichte, jetzt hat sie sich ganz umgedreht und ist in der Wanne aufgestanden. Also, so etwas Bezauberndes habe ich ja wohl noch nie … Die Pfote, was macht denn die Hasenpfote in der Hosentasche? … Das ist ja gar nicht die Pfote! Und die Nichte sieht es. Und grinst sich eins. Na warte, dir werde ich es besorgen, du Luder, du kleines, dir werde ich jetzt gleich einen ver …

»Stehen Sie hier nicht so herum!« kreischte die Edle. »Was wollen Sie?« Die Dame brachte sogar einen so großen Mann wie Jakob aus der Fassung. Er stotterte, dabei gebannt die wunderschöne … Nase der Nichte betrachtend, von der Wasser tropfte und die sie provokant vorschob: »Es ist … elf … Uhr … Wir haben doch vereinbart, daß ich …«

»Was kann ich dafür, wenn Sie verschlafen?« wütete die Edle. »Claudia, bedecke dich! Herr Formann, verlassen Sie augenblicklich das Badezimmer!«

Jakob mahnte: »Und Sie beeilen sich, sonst versäumen wir das Flugzeug!« Er ging in den Salon zurück.

Warum lasse ich mir das eigentlich gefallen? Ich schmeiße sie raus! Scheiß auf Bildung und Benimm! Wem ich nicht fein genug bin, der soll nicht mit mir verkehren! Ein Riesengehalt kriegt die dämliche Arschkuh noch dazu! Fein tun und mich verachten und selber Sauereien machen noch und noch! Schluß! Aus! Fini! Ich bin schließlich kein Kretin! Ich bin ein Mann! Ich bin Jakob Formann! Sobald die angezogen ist und hier rauskommt, feuere ich sie.

Eine halbe Stunde später kam die Edle dann, hinter ihr die jugendliche Contessa, Mademoiselle la Comtesse. Angezogen, tadellos geschminkt, edler denn je. Jakob erhob sich. Jakob ging auf die Edle zu, einen Zeigefinger vorgestreckt, als wollte er die Blaublüterin durchbohren. Jakob sagte: »Sie …«

Und hier stockte er schon, und Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Diese Gedanken: Ich kann die ja gar nicht feuern, gottverdammich. Ich brauche sie doch wie das liebe Brot, diese Bestie. Ich gebe doch mit ihr an! Mit ihr und mit ihrer Nichte! Vor all diesen Arschgesichtern von feinen Leuten! Immer wieder lasse ich durchblicken, daß ich etwas mit der Edlen habe, oder mit der Contessa … oder mit beiden … Das hebt doch mein Prestige so ungeheuerlich! Und außerdem – es braucht ja keiner zu wissen – bin ich wirklich stolz auf meine zwei so aristokratischen Damen! Da kann man ja auch stolz und gebläht sein noch und noch mit zwei solchen Damen, jawohl, Damen! Sollen sie doch treiben, was sie wollen! Welche Würde bewahren sie dabei! Welche Haltung! Und ich, mit meinem Laden, der größer und immer größer wird, ich, Besitzer einer Flotte von fünfundvierzig modernen Hochseeschiffen mit einer Gesamttonnage von dreihundertzweiundachtzigtausend Tonnen, ich brauche die beiden Damen einfach! Besonders jetzt, vor diesen ganz wichtigen Verhandlungen in Hamburg!

»Ja?« Die Edle hatte sich zu ihrer ganzen Größe aufgerichtet und funkelte Jakob an.

Der lächelte charmant (das konnte er ja wirklich!) und erkundigte sich: »Nehmen Sie Eier zum Frühstück, Baronin?«

»Zwei«, sagte die Edle. »Claudia auch zwei.«

»Das wollte ich nur wissen«, sagte Jakob. Dann nahm er den Telefonhörer ab und verlangte den Room-Service. Dem gab er die Frühstücksbestellung auf. Wenn die kleinen Leute wüßten, dachte er dabei wieder, wenn die Kleinen auch nur einen Schimmer davon hätten, in welcher Welt wir Großen eben leben! Wir Großen!

Wenn ich denke, wie schnell das gegangen ist und wie leicht es war! Wer heute in Deutschland noch nicht Millionär ist, der ist selbst dran schuld. Das habe nicht ich gesagt, das hat der Arnusch Franzl gesagt. Vor fünfeinhalb Jahren ist das gewesen, 1951, im Haus vom Jaschke, in Murnau …

16

»Adolf Hitler ist ein großer Deutscher, der bald wiederkommen wird, um das deutsche Volk zu befreien«, sagte Thomas Jaschke, dreizehn Jahre alt. Da hatte er schon eine Ohrfeige von seinem Vater weg. Er heulte los. Frau Jaschke fuhr dazwischen: »Du wirst meinen Sohn nicht schlagen, Karl, verstehst du, du nicht!«

»Glaubst du, ich höre mir solche Blödheiten an?« schrie der Ingenieur Jaschke so laut, daß die vielen alten Zinnteller und Zinnkrüge in dem Wohnraum des schönen Hauses schepperten, das die Jaschkes sich hatten bauen lassen.

»Kleb doch Onkel Heinrich eine, Vati!« rief Thomas. »Der hat uns das gesagt.«

»Jawohl!« rief sein Bruder Dieter. »Der hat uns genau das gesagt! Und außerdem hat der Thomas nur dem Onkel Jakob geantwortet!«

»Der hat uns gefragt, ob wir wissen, wer Adolf Hitler war.«

»Das stimmt, Karl«, sagte Jakob Formann. Er war mit Wenzel zu den Jaschkes auf Besuch gekommen. »Ich wollte mal sehen, ob das wirklich wahr ist, was man mir erzählt hat, was die Kinder über Hitler zu hören bekommen.«

»Na, eben das!« rief Thomas.

Die Mutter schob sie beide aus dem Wohnzimmer. »Kommt«, sagte sie, »wir gehen in unseren Hobby-Keller und spielen Pingpong. Schäm dich«, sagte sie noch zu ihrem Mann, dann fiel die Tür zu.

»Ist das nicht eine Sauerei?« empörte sich Jakob. »Die einen von uns trauen sich nicht, weil sie glauben, daß sie vielleicht Krach kriegen oder Ärger im Beruf, wenn sie die Wahrheit erzählen, und die anderen waren selber Nazis, wie dieser Onkel Heinrich …«

»Und in zwanzig Jahren werden sie den Hitler feiern als den tapfersten Kämpfer gegen die Gefahr aus dem Osten, das prophezeie ich euch«, sagte Wenzel. »Ich gehe jede Wette ein: Da wird es wunderbare Biographien über diesen großen Mann geben und wunderbare Filme – alles ganz, ganz objektiv und kritisch natürlich –, und dann hat er bereits einen Heiligenschein und ist ein so großer Mann wie Napoleon, ach was, größer, wir Deutschen haben immer die größten Männer gehabt!«

Das war am Nachmittag des 13. Februar 1951 gewesen, und im Kamin brannte ein fröhliches Feuerchen, während draußen ein Schneesturm tobte. Jakob hatte seine Mitarbeiter nach Murnau gerufen, weil es galt, die nächsten Schritte zu besprechen. Sie waren mit ihren neuen Wagen gekommen, Mann für Mann im schmucken Mercedes. Es ging ihnen allen ausgezeichnet. Der Arnusch Franzl war Jakobs Wirtschaftsberater geworden und so fett, daß er auch die Kragenknöpfe der eigens für ihn geschneiderten Spezialhemden nicht mehr schließen konnte. Der Ingenieur Karl Jaschke führte eine vorbildliche Ehe, ging des Sonntags zur Kirche, wo er ehrerbietigst als der große Mann von Murnau hofiert wurde, und hatte eine ebenso bildhübsche wie junge Freundin in Garmisch-Partenkirchen. Der hatte er eine Wohnung eingerichtet, einen Wagen geschenkt und Schmuck natürlich auch, von den Pelzen ganz zu schweigen. Und Jaschke hatte oft in Garmisch zu tun, das angenehm nahe lag. Sein Haus war mit dem größten Geschmack (seiner Frau) auf das teuerste eingerichtet, und neben seiner Leidenschaft für Zwanzigjährige hatte Jaschke noch eine Leidenschaft für das Sammeln von alten Zinnkrügen und -tellern entdeckt. Wenzel Prill war seit längerem Leiter der Rechtsabteilung, die für alle Betriebe Jakobs arbeitete. Außerdem studierte er an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main Jus, in der Hoffnung, in etlichen Jährchen ein richtiger Rechtsanwalt zu sein. Seine schöne Villa stand im Taunus, unweit von Frankfurt, nahe der zentralen Hühnerfarm. Des Erwähnens wert ist auch, daß er Expressionisten und gleichfalls Zwanzigjährige sammelte; sie, die Zwanzigjährigen, mußten aber alle rothaarig sein, echt rothaarig. Das war sein Tick.

Die Herren rauchten dicke Zigarren und tranken Scotch Whisky. Amerikanischen Whiskey mochten sie nicht mehr so recht. Sie waren mittlerweile alle eng miteinander befreundet, was unseren Jakob sehr erfreute. »Franzl, du hast das Wort«, sagte er nun, sanft lächelnd.

»Die Lage, meine Herren«, sagte der Arnusch Franzl, »erfordert sofortige Maßnahmen, wenn wir nicht das von uns so mühsam Geschaffene gefährden wollen.«

»Was soll das heißen?« fragte Jakob.

»Wir, nein, du, Jakob, mein alter Freund, du warst zu tüchtig! Du hast allzuviel auf die Beine gestellt! Deine Betriebe blühen allzusehr. Sie werden in diesem Steuerjahr einen Gewinn ausweisen, den wir vor dem Finanzamt einfach verstecken müssen. Die Eierfarmen, die Fertighäuser, OKAY bei achthunderttausend Exemplaren Woche für Woche, die Plastikwerke vor dem Einsatz, unsere Eierlikör-Busse – mein lieber Jakob, so geht das einfach nicht weiter!«

Mit der Erwähnung der Eierlikör-Busse hatte Franzl Arnusch auf eine weitere Akquisition Jakobs angespielt. Als noch alles in Schutt und Trümmern lag, hatte Jakob doch mit Franzls Hilfe Aktien der verschiedensten Unternehmen zu lächerlichen Spottpreisen gekauft. Inzwischen produzierten alle diese Unternehmen wieder, die Kurse der Aktien waren emporgeschnellt, und allein mit seinen Aktien war Jakob bereits mehrfacher Millionär. Aber auch sonst hatte er allerlei erworben, zum Beispiel eine pleite gegangene Likörfabrik bei Mainz; dort wurde jetzt der FORMANN-EIERLIKÖR gebraut und mit Bussen in das letzte Provinznest gebracht.

Nun, am 13. Februar 1951, sprach der Arnusch Franzl diese Worte: »Der lange gestaute Hunger der Deutschen auf Nahrhaftes, auf Süßes und auf Alkohol, in unserem Fall diese drei Dinge geradezu ideal integriert als Eierlikör, hat der Formann-Eier GmbH – zum Glück habe ich daraus noch rechtzeitig eine GmbH gemacht! – einen ungeheuren Gewinn zusätzlich gebracht.« (Gesellschaften mit beschränkter Haftung unterlagen laut westdeutschen Steuergesetzen nach der Währungsreform mit ihren Gewinnen nicht mehr den hohen Sätzen der Einkommensteuer – damals bis zu neunzig Prozent! –, sondern nur noch der Körperschaftssteuer mit sechzig, später sogar nur höchstens fünfundvierzig Prozent!)

»Mit diesem naheliegenden Trick«, fuhr Franzl fort, sich behaglich in seinem Sessel wälzend, »ist die Gefahr, daß wir uns an Steuern blöd zahlen, indessen noch lange nicht gebannt. Wir müssen schnellstens zu neuen Abwehrmaßnahmen Zuflucht nehmen.« (Der Arnusch Franzl redete gern so geschwollen daher.)

»Nämlich zu welchen?« fragte Jakob.

»Du bist doch ein begeisterter Schwimmer, nicht? Du hast doch immer Schiffe geliebt, was?«

»Ja. Wieso?«

»Weil du jetzt Schiffe bauen mußt, mein Guter«, sagte der Arnusch Franzl und streifte die Aschenkrone seiner Zigarre in einen schweren Bronze-Aschenbecher. »Viele große Schiffe, viele schöne Schiffe.«

Es war so still geworden, daß man aus dem Hobbyraum im Keller das Schlagen der Pingpongbälle hören konnte.

17

Der Paragraph 7 d des Einkommensteuergesetzes und das Gesetz über Darlehen zum Bau oder Erwerb von Handelsschiffen besagte in jenen Jahren: ›Wer Darlehen zum Bau oder Kauf von Handelsschiffen vergibt, darf den gesamten Darlehensbetrag von seinem steuerpflichtigen Gewinn absetzen.‹

Nachdem alle Herren den vom Arnusch Franzl auf mehreren Blättern hektographierten Paragraphen 7 d zur Kenntnis genommen hatten, fuhr der fette Exschieber und nunmehrige Wirtschaftsberater feierlich fort: »Du wirst also jetzt von deinen Eier-Betrieben, von den Fertighausfabriken und von der OKAY die Gewinne an eine Reederei überweisen – wahrscheinlich werden es sogar zwei sein müssen! – und sie beauftragen, Schiffe für dich zu bauen. Damit hast du deine Millionen vor der Besteuerung gerettet, und die Bilanzen deiner Betriebe und des Verlages werden rechnerisch leider, leider, einen nicht unbeträchtlichen Verlust aufweisen.«

Wieder die Kirchenstille. Wieder das Klack-Klack der Pingpongbälle.

»Franzl«, sagte Jakob zuletzt mit erstickter Stimme, »du bist ein Genie.«

»Ich weiß«, antwortete dieser bescheiden. »Doch um fortzufahren: Zwar müssen die Rückflüsse aus den 7 d-Darlehen, das heißt, also die Tilgungsbeträge, später wieder als Einnahme versteuert werden, aber das macht uns nichts, weil ich aus absolut sicherer Quelle weiß, daß in den kommenden Jahren der deutsche Steuertarif nicht einmal, sondern zweimal gesenkt werden und – Achtung, meine Herren! – es drei Jahre lang die Möglichkeit geben wird, diese 7 d-Gelder in Form eines verlorenen Zuschusses von der Steuer endgültig abzusetzen. Endgültig, sage ich!«

»Das heißt«, flüsterte Jakob ganz aufgeregt, »wenn ich in dieser Zeit vierzig oder achtzig oder hundert Millionen als einen solchen 7 d-Zuschuß an eine Reederei – oder an zwei – transferiere und dafür Schiffe bauen lasse oder Schiffe kaufe, dann brauche ich diese Millionen überhaupt niemals zu versteuern?«

»So ist es, mein Bester, wie es so geht im menschlichen Leben. Und es kommt noch besser! Einer Reederei, die dein Geld nimmt, schlagen unsere für die Reichen so prachtvollen Steuergesetze noch einmal zum Wohle aus! In den beiden Jahren nach dem Bau eines Schiffes darf die Reederei nämlich dreißig Prozent der Baukosten vom steuerpflichtigen Gewinn absetzen!«

Da konnte der Ingenieur Jaschke, der mit der Zwanzigjährigen in Garmisch-Partenkirchen, nicht mehr an sich halten. Voller Begeisterung schrie er: »Verflucht, sprach Max, und schiß sich in die Hose!«

Und der werdende Doktor der Rechte, Wenzel Prill, der mit der Leidenschaft für Rothaarige, rief geradezu verzückt: »Das soll uns Deutschen erst einmal einer nachmachen!«

»So etwas kann uns keiner nachmachen«, belehrte ihn der Arnusch Franzl. »Ich habe bei einem Wirtschaftsinstitut eine Überschlagswahrscheinlichkeitsrechnung anstellen lassen. Danach werden 1965/66, also in fünfzehn Jahren, einskommasieben Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik siebzig Prozent des Produktivvermögens der deutschen Wirtschaft besitzen.«

»Mir wird schwindlig«, sagte Jakob. »So tüchtig können die einskommasieben Prozent unserer Bevölkerung doch gar nicht sein!«

»Müssen sie auch gar nicht«, konterte Franzl rülpsend. »Ich will dir einmal etwas sagen, lieber Freund: Aus einer Million zwei Millionen machen, das ist eine bemerkenswerte Leistung. Wenn du hingegen erst einmal hundert Millionen besitzest, was ich dir, du weißt es, von Herzen wünsche, dann kannst du, und wenn du dich bis zum Herzinfarkt anstrengst, es einfach nicht verhindern, daß daraus hundertzehn Millionen werden, wie es so geht im menschlichen Leben. Im übrigen bin ich noch nicht am Ende meiner lichtvollen Ausführungen. Zweierlei habe ich zu bemerken: Erstens, es gibt einen Haufen Reedereien im Norden, nicht wahr, mein Lieber?« Jakob nickte verträumt. »Wir könnten sie die Schiffe für uns bauen lassen, nicht wahr?« Wieder nickte Jakob verträumt. »Muß ich noch weiterreden, oder …«

»Durchaus nicht«, sagte Jakob mit samtener Stimme. »Oder wir kaufen die Reedereien und bauen uns unsere Schiffe selber und haben den Rebbach mit den 7 d-Geldern und der dreißigprozentigen Abschreibung beim Bau eines Schiffes!«

»Ich habe ja gewußt, daß du mich verstehen wirst«, sagte der Arnusch Franzl und sog an seiner Zigarre.

»Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus«, sagte dieser heiter.

18

In den Jahren 1951 bis 1956 kaufte Jakob Formann mit 7 d-Geldern zunächst zwei Hamburger Reedereien auf und baute sodann auf diesen, ebenfalls mit 7 d-Geldern, eine Flotte von insgesamt fünfundvierzig modernen Hochseeschiffen mit einer Gesamttonnage von dreihundertzweiundachtzigtausend Bruttoregistertonnen.

Die Baukosten für Schiffe sind nun allerdings so groß, daß für dieses Riesenprojekt Jakobs Millionen nicht reichten. Doch fiel es ihm keinen einzigen Moment schwer, die fehlenden Summen aufzutreiben. Dabei wandte er einen ebenso einfachen wie genialen Trick an, auf den er selbst gekommen (und deshalb sehr stolz) war: Er sammelte 7 d-Gelder von anderen Firmen ein, die gleichfalls das brennende Bedürfnis empfanden, im Boom der deutschen Nachkriegswirtschaft ›Gewinne wegzudrücken‹, wie der Fachausdruck lautete. Er kassierte von nahezu zweihundert Firmen. Unter diesen befanden sich viele Werke, bei denen er auch Riesenpakete von Aktien besaß. Die meisten der zweihundert Firmen, die er solcherart zu ihrer grenzenlosen Erleichterung erleichterte, erzeugten Güter, die sie dann später mit Jakob-Formann-Schiffen nach Übersee, insbesondere nach Nord-, Mittel- und Südamerika verfrachteten. Und daran verdiente Jakob Formann zum drittenmal!

Eine solche Hasenpfote hingegen gab es nur einmal auf der großen, weiten Welt!

19

Die Außenstelle Seefahrt des Bundesverkehrsministeriums in Hamburg wurde geleitet von einem Staatssekretär. Der ließ Jakob monatelang ohne Antwort auf seine Bitte um eine Audienz. Dann erhielt Jakob endlich einen Termin für ein Gespräch mit dem Herrn Staatssekretär Bredendorff: Hamburg, Mittwoch, der 29. Oktober 1956, 17 Uhr präzise. Der Herr Staatssekretär habe an diesem Abend noch nach den USA zu fliegen … Es ist jetzt – Blick auf die Uhr! – 14 Uhr 42, und Jakob verläßt mit seinen zwei Begleiterinnen soeben das HÔTEL DES CINQ CONTINENTS in Paris. Das Gepäck ist in den Rolls geladen. Monsieur le Président-Directeur Général des CINQ CONTINENTS küßt den Damen die Hand und schüttelt Jakobs Pranke in herzlicher Verbundenheit.

»Mensch, Otto, nun tritt aber auf den Stempel«, sagte Jakob zu seinem Freund und Kumpel, dem Chauffeur Otto Radtke. »Unsere Maschine geht um fünfzehn fünfundvierzig, und ich muß sie kriegen!«

»Stempel ist gut, Jakob, du siehst doch: fast stehender Verkehr!«

»Herrgott, wenn ich ihn heute nicht erwische, läßt der Staatssekretär Bredendorff mich wieder ein Jahr warten! Oder empfängt mich überhaupt nicht mehr!«

»Ich tu, was ich kann«, sagte Otto. Er tat wirklich, was er konnte.

Bis zum Flughafen Orly hinaus war es ein hübsches Stück Weg. Und der Verkehr war wirklich abenteuerlich. Sie erreichten den Airport deshalb auch erst um 15 Uhr 51.

Jakobs Maschine, eine Caravelle der AIR FRANCE, war abgeflogen. Flugplanmäßig. Einen weiteren Direktflug nach Hamburg gab es an diesem Tag nicht mehr.

»Ohne mich abfliegen!« tobte Jakob purpurn im Gesicht. »Na wartet, jetzt werdet ihr was erleben!«

20

Um 15 Uhr 51 schrie Jakob Formann das.

Um 16 Uhr 16 bereits raste er, hinter dem Piloten sitzend, in einem T-33-Düsenjagdflugzeug mit einer Geschwindigkeit von etwa siebenhundert Kilometer in der Stunde und in einer Höhe von achttausend Meter Hamburg entgegen. Der Pilot drehte sich immer wieder mit scheuer Hochachtung zu Jakob um. Das muß ja ein ganz großes Tier sein, dachte er, wenn man den Mann mit einem US-Air-Force-Trainer der NATO von Paris nach Hamburg zu bringen hat. Noch dazu einen Deutschen! (Der allerdings fließend Englisch spricht.)

Sie durchflogen eine Sturmfront, die Maschine wurde nach oben und unten geschleudert, trudelte, fing sich, trudelte … Na, wann kotzt diese Very Important Person endlich? dachte der Pilot.

Die VIP kotzte nicht. Sie lachte dem Piloten zu.

»Viele Schlaglöcher!« rief Jakob in bester Laune durch das Kehlkopfmikrofon. (Da sieht man, was ein regelmäßiges Körpertraining ausmacht, dachte er.)

Und, dachte er weiter, es steht nun also eindeutig fest, daß ich jemand bin, vor dem sogar die Vereinigten Staaten von Amerika strammstehen. Jakob Formann – ein Welt-Begriff eben!

Der Welt-Begriff war sofort nach Ankunft in Orly zum Chef des Flughafens gespurtet und hatte eine Blitzverbindung mit dem Weißen Haus in Washington gefordert.

»Hören Sie, Monsieur – ah, Sie sprechen nicht Französisch, hören Sie, Mister, Sie sind wohl ein wenig … äääh … wie?« Der Chef von Orly hatte auf einen Alarmknopf gedrückt und war hinter seinen Schreibtisch retiriert. Drei wahre Gorillas kamen hereingestürmt, im Begriff, den zweifellos Irren in den Griff zu bekommen. Doch der eine, die Faust schon erhoben, stoppte entgeistert.

»Was ist?« schrie der Chef des Flughafens, der inzwischen unter Bergen von Papier eine Pistole gefunden hatte und mit ihr herumfuchtelte. »Wollen Sie warten, bis er uns alle umbringt, dieser Wahnsinnige?«

»Sie … sind … Monsieur … Formann, nicht wahr?« stammelte der entgeisterte Gorilla erbleichend.

»Ja. Und wenn ich nicht schnellstens …«

»Ich bin ein paarmal im selben Flugzeug wie Sie nach drüben geflogen. Als Begleitschutz für die Maschine. Ich kenne Ihr Gesicht!«

»Rollandeau, ich schieße Sie über den Haufen!« brüllte der Chef.

Die beiden anderen Gorillas hatten Jakob gepackt und hielten ihn eisern fest.

Rollandeaus Worte überstürzten sich: »Nicht doch, Chef, nicht doch! Ich flehe Sie an! Das ist Monsieur Formann! Ein ganz berühmter Mann! Arbeitet mit dem Pentagon zusammen!«

»Das ist mir egal! Schafft ihn raus hier und bringt ihn zur Polizei! Und ruft einen Arzt!«

»Machen Sie sich nicht unglücklich, Chef! Wir kriegen die ärgsten diplomatischen Verwicklungen, wenn wir nicht tun, was Monsieur Formann verlangt! Was verlangt er denn?«

Jakob verstand nur jedes fünfte Wort. Jedes fünfte Wort genügte ihm. Es ist schon eine Freude, einem vernünftigen Mann zu begegnen. Und ein Glück dazu, dachte er, während der Chef dem vernünftigen Gorilla sagte, was Jakob verlangt hatte.

»Dann geben Sie ihm eine Blitzverbindung mit dem Weißen Haus, Monsieur! Ich flehe Sie an! Tun Sie, was ich sage, sonst sind Sie Ihren Posten hier los!«

Ein Mädchen in der Telefonzentrale hatte es auszubaden.

»Washington … Weißes Haus … Blitz … Höchste Dringlichkeit … Schnell, Sie Kuh!« wütete der Flughafenchef, nun erst in richtiger Panik. »Staatsgespräch, bitte!« sagte Jakob liebenswürdig.

»Staatsgespräch!« schrie der Chef. »Jeden Vorrang, los, los, los!« Er ließ sich erschöpft in seinen Sessel fallen, nachdem er Jakob den Hörer gereicht hatte. Der lächelte ihm freundlich zu. Eine knappe Minute später meldete sich das Weiße Haus. Jakob hatte die blonde Jill Bennett mit den Marlene-Beinen am Apparat.

»Jake! Mein Gott, Jake! Deine Stimme … Geht es dir gut?«

»Ausgezeichnet. Ich muß nur schnell nach Hamburg. Ich …«

»Mir auch, Jake. Ich bin wieder normal, absolut normal!«

»Wieso? Eh … Ich meine: Was soll das heißen?«

»Doktor Watkins ist ein Genie …«

»Wer ist Doktor Watkins?«

»Erinnerst du dich nicht mehr? Mein Psychoanalytiker.«

»O ja, natürlich. Wegen deinem …«

»Frustrationssyndrom! Zuerst mal hast du es weggebracht, Liebster! Aber du bist nicht bei mir geblieben. Und so ist es noch heftiger als vorher wiedergekommen. Und da hat es dann Doktor Watkins weggebracht – absolut und für immer! Ich empfinde jetzt wie jede normale Frau, nur schneller und mehr so.«

»Phantastisch. Ich brauche nämlich auch einen guten Püschoanalytiker. Ich werde also zu Doktor Watkins gehen …«

»Mußt du. Er ist wirklich der Größte! Es hat sich jetzt alles umgekehrt!«

»Umgekehrt?«

»Ja, auch für den Senator! Der ist auch ge … Ich kann nicht offen sprechen … Er tut jetzt das, was ich früher getan habe, und ich tue, was er früher getan hat. Natürlich kratzt er mich nicht … auch keine Peit … o Gott, das ist ein Staatsgespräch … aber Doktor Watkins ist doch genial, wie?«

»Genial, Süße! Zu dem muß ich auch! Aber jetzt gib mir den Senator, ich habe es furchtbar eilig!«

Der Chef des Flughafens Orly und zwei der drei Gorillas betrachteten Jakob wie eine Geistererscheinung. Das, was sie da hörten, konnte doch nicht wahr sein! Der dritte Gorilla lächelte mit dem Gesichtsausdruck »Na, was habe ich gesagt?« seinen Chef an.

»Hallo, Jake!« Die Stimme des Senators Connelly: »Sie haben Ärger?«

»Großen, Senator. Sie müssen mir helfen. So schnell es geht.«

»Ich tue, was ich kann, Jake! Sie … Sie haben uns ja auch geholfen, sehr geholfen!«

21

Das kann man wohl sagen, daß ich den Amis sehr geholfen habe, verflucht noch mal!

1950 im Mai war das, da ist einer vom amerikanischen Geheimdienst in München angekommen und hat gesagt, der Senator bittet mich, umgehend nach Key Largo zu fliegen. Das ist nicht bloß der Name von dem herrlichen Gangsterfilm mit Humphrey Bogart, die Key-Inseln, das ist auch eine Inselgruppe im Atlantik, ganz unten im Süden des Staates Florida. (Der Geheime hat mir alles genau erklärt.) Key Largo besteht wie die anderen Inseln aus Korallenkalk und Korallensand. Sehr romantisch. Es wäre ein ganzer Roman, wenn ich erzählen wollte, wie ich dahin kam. Überall hatten sie Posten und Sperren, und ich mußte die blödsinnigsten Erkennungsworte sagen (ein kleiner Sturm tobte damals übrigens, nicht so ein ganz großer Hurrikan wie in dem Film!), und ich landete zuletzt in genauso einem Haus wie im Film. Dort haben Senator Connelly (der mit dem Nazi-Museum, dem Werwolf-Sohn und Jill) und drei Zivilisten auf mich gewartet, die sagten, ich solle sie Jim, Joe und Jack nennen. Kurz und klein – all dieses blödsinnige Geschisse wie in den dämlichen Agentenfilmen.

Was sie gewollt haben, hat mir der liebe Senator Connelly gesagt. Die drei Herren waren ganz große Bosse aus dem Pentagon. Sagte der Senator, während draußen, wie bei Humphrey Bogart, nur viel weniger, der Sturm tobte …

»Ganz Key Largo ist gesichert. Hier kommt keine Maus durch.«

»Warum, Senator?«

»Militärisch-politische Zusammenkunft!«

»Aber weshalb ausgerechnet hier? Auf der Brücke von Key West herüber bin ich fast ins Meer gepustet worden!«

»Eben deshalb! Ihre Fertighäuser, Jake.«

»Was, meine Fertighäuser?«

Da hat der, der sich Jim nannte, gesagt: »Schon mal was von Krisengebieten gehört, Mister Formann?«

Ach, du liebes bißchen, habe ich gedacht, vor einem Jahr haben bereits die lieben Russen, der liebe Major Assimow und der liebe Gospodin Jurij Blaschenko auf dieser Datscha mir so ein Angebot gemacht!

»Nein«, habe ich natürlich gesagt, da auf Key Largo. Das ging die doch einen Dreck an, was ich mit den Russen … nicht wahr?

»Kann ich nicht glauben!« hat der, der sich Joe nannte, gebrummt. »Bei Ihrer weltumspannenden Tätigkeit! Sie wollen nicht, sagen Sie’s doch gleich! Ich habe auch gleich gesagt, er wird nicht wollen, habe ich es euch nicht gleich gesagt?«

Und da hat der, der sich Jack genannt hat, gesagt: »Joe, du verstehst nichts von püschologischer Kriegführung! Das macht man ganz anders. Paß mal auf … Lieber Mister Formann, schauen Sie, die Welt ist schon wieder in Aufruhr! Die Kommunisten, nicht wahr? Bitte, Korea! Da steht doch ein neuer Krieg unmittelbar bevor – oder vielleicht nicht?«

»Das ist wohl nicht zu bestreiten, Jack.«

»Sehen Sie, Mister Formann! Unsere tapferen Jungs sind dort. Schützen die Freiheit. Geben ihr Leben für Freiheit und Demokratie. Da müssen wir ihnen doch wenigstens anständige Unterkünfte bieten, erstklassige – oder? Und wer hat die erstklassigsten? Sie, Mister Formann, nicht wahr?«

»Stimmt«, habe ich gesagt und gedacht: Mensch, Korea! Da unten ein Krieg! Steht unmittelbar bevor, hat dieser Jack gesagt! Ob ich das überhaupt schaffe, so viele Truppenunterkünfte – und so schnell? Und dann wird’s gleich auch anderswo losgehen. So wie es fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aussieht. Und jetzt wird der todsicher von Krisengebieten sprechen …

»Und dann all die Krisengebiete, Mister Formann!« (Na bitte, habe ich richtig gedacht?) »Da haben die Kommunisten ihre größte Chance, klar?«

»Klar«, habe ich gesagt und gedacht: Seid ihr also auch schon draufgekommen!

»Na«, hat der, der sich Jack genannt hat, väterlich zu mir gesagt, »wer nichts zu fressen hat und kein Dach über dem Kopf, der wird natürlich Kommunist!« (Natürlich. Das habe ich aber schon ein Jahr früher gehört.) »Besonders schnell würde er natürlich Kommunist, wenn ihm die Russen was zu fressen und ein Dach über den Kopf geben würden.« (Also, ich muß aufpassen, daß ich nicht loslache. Die wollen genau denselben Dreh wie die Sowjets … mit einjähriger Verspätung!) »Klar?«

»Klar, Jack.«

»Deshalb müssen wir amerikanische Hilfslieferungen in die Krisengebiete schicken! Fertighäuser zum Beispiel! Dann werden die armen Leute dort sagen: Amerika ist unser Freund, nicht Rußland!« (Sie werden sagen: Amerika und Rußland sind nicht unsere Freunde, die interessieren sich für uns nur, weil sie uns als Einflußsphäre haben wollen! Nehmen tun wir natürlich von beiden, dann sehen wir weiter.) »Und auf diese Weise werden alle Krisengebiete für Amerika sein und nicht für Rußland, wenn es zur großen Auseinandersetzung kommt!«

(Dasselbe haben mir Blaschenko und Assimow im Garten hinter der Datscha vor Moskau erklärt vor einem Jahr. West oder Ost – sie wollen beide wirklich nur das Beste für die Menschen!)

»Lebensmittel werden wir natürlich auch in alle Krisengebiete liefern«, hat der gesagt, der gesagt hat, er heißt Joe. »Und Fertighäuser! Ihre Fertighäuser, Mister Formann! Weil es die besten sind!« (Ja, ja, das haben die Russen auch gesagt.) »Amerika ist voller russischer Agenten! Wenn die melden, daß wir von Amerika aus Fertighäuser in Krisengebiete schicken, tun die Russen das auch, und alles ist umsonst. Klar, wie?«

»Klar, Joe«, habe ich gesagt.

»Wenn wir aber«, hat der, der sich Jim genannt hat, gesagt, »die Häuser nehmen, die Sie in Deutschland bauen – natürlich bezahlt das Pentagon alles! –, und sie verschiffen über Hamburg oder Bremerhaven, ist jede Gefahr gebannt. Das sehen Sie doch ein – wie?«

»Das sehe ich ein«, habe ich gesagt.

»Wenn Sie uns jetzt helfen, werden wir auch Ihnen helfen, wo immer wir nur können«, hat der Senator gesagt. »Wann immer Sie was brauchen. Sie kriegen alles, wenn Sie uns jetzt diesen Dienst erweisen. Mein Büro ist die Anlaufstelle. Sie telefonieren mit mir, wo immer in der Welt Sie sind – und schon kriegen Sie Hilfe von uns, wenn Sie uns jetzt helfen. Denn das ist unsere Idee mit der Hilfe für Krisengebiete! Auf so was kommen die Russen nie!«

Ogottogottogott, habe ich gedacht, und gesagt habe ich: »Nein, Senator, auf so was kommen die Russen nie, da haben Sie ganz recht!«

»Natürlich habe ich ganz recht. Also?«

Also:

»Aber das ist doch selbstverständlich, meine Herren«, habe ich gesagt. »Die Häuser kommen aus Westdeutschland. Aber ich bin Österreicher. Und Österreich ist neutral. Okay, meine Herren, ich liefere, was Sie brauchen!«

22

Ja, und da stehe ich nun im Büro des Flughafenchefs von Orly und führe ein Staatsgespräch mit dem lieben alten Senator Connelly, und er sagt atemlos: »Ich tue, was ich nur kann, Jake!«

»Sie können blitzschnell die NATO hier bei Paris anrufen und sagen, daß ich dringend eine amerikanische Jagdmaschine brauche, denn ich muß um siebzehn Uhr präzise in Hamburg sein, und meine Linienmaschine ist mir vor der Nase davongeflogen, Senator!«

»Wenn’s weiter nichts ist, lieber Jake. Ist doch eine Freude für mich! Sofort rufe ich das NATO-Hauptquartier an, und in einer Viertelstunde spätestens ist ein ›Trainer‹, den die gerade startbereit haben, in Orly. Ich bin ja so froh, Ihnen auch mal einen Dienst erweisen zu dürfen …«

Na ja, elf Minuten später ist dann so eine T-33 auf dem großen Flughafen Orly gelandet. Ich nix wie rein und dem Piloten gesagt: Fuhlsbüttel-Hamburg – und los ging’s! Aber wie! Das fliegt sich vielleicht. Also jetzt habe ich aber die Schnauze voll von Linienmaschinen! Ein Mann wie ich braucht seine eigene Maschine! Der wird ja dauernd hin und her gejagt! Wieder eine Sturmfront. Ach, ist das hübsch, dieses Fallen und Steigen, das macht mir richtig Spaß. Ich muß eine Privatmaschine kaufen, damit ich absolut unabhängig bin. Zunächst mal eine. Dann wird man weitersehen …

Was? Wie? Ist doch nicht möglich! Wir gehen schon zur Landung runter? Wir sind schon da? Noch vor der Maschine, die mir davongeflogen ist? Phantastisch! Händeschütteln. Danke sagen. Der Ami reißt die Hand an die Mütze, tja, ich bin ein großer Mann, denkt Jakob, während er durch die Flughafenhalle rast, sich in ein Taxi fallen läßt, die Adresse der Außenstelle Seefahrt angibt.

In Hamburg scheint die Sonne. Der Chauffeur legt eine Zeitung beiseite. Jakob kann gerade noch die Schlagzeile erkennen.

DEUTSCHE WIDERSETZEN SICH DER REDUZIERUNG BRITISCHER STREITKRÄFTE!

Also ernst nehmen kann man diese Welt wirklich nicht mehr! Wenn das nicht die Schlagzeile ist, auf die die Engländer ihr Leben lang gewartet haben!

23

»Jakob Formann mein Name, Fräulein. Ich bin Punkt siebzehn Uhr mit dem Herrn Staatssekretär Bredendorff verabredet. Es ist Punkt siebzehn Uhr.«

»Tut mir leid, Herr Formann, der Herr S-taatssekretär Bredendorff mußte schon fort! Seine Maschine ging früher!«

»Hören Sie, er hat mich eigens für heute herbestellt! Das ist doch eine Sauerei, das kann man mit mir nicht machen, das …«

»Beruhigen Sie sich, Herr Formann, ich bitte, beruhigen Sie sich. Der Herr S-taatssekretär hat einen Persönlichen Referenten. Der ist über alles informiert. Der erwartet Sie. Der wird mit Ihnen reden.«

»Na schön, wo ist er?«

»Im Moment hat er gerade Besuch. Bitte gedulden Sie sich ein wenig, Herr Formann.«

»Hören Sie, ich war um Punkt siebzehn Uhr …«

»Ja, ja, gewiß, Herr Formann. Aber Sie können sich bes-timmt vors-tellen, daß der Herr Persönliche Referent vor Arbeit kaum aus den Augen zu schauen vermag, jetzt, da der Herr S-taatssekretär nach Amerika geflogen ist.«

»Also schön, liebes Fräulein, ich warte …«

Jakob wartete eine halbe Stunde in einem eleganten Vorraum. Er blätterte in einer Gazette. In dieser ersten halben Stunde bildete er sich. Er las eine Würdigung des Dichters Bertolt Brecht, der im August dieses Jahres gestorben war, sowie Kritiken der Bücher ›Die Wurzeln des Himmels‹ von Romain Gary (da geht es um einen Mann, der will die Ausrottung der Elefanten in Afrika verhindern, ich muß unbedingt auf eine Safari, meinen Elefanten schießen! dachte Jakob), sowie ›Die Dämonen‹ von Heimito von Doderer (eine Hymne, diese Besprechung, ein wirklicher Dichter, na ja, ein Wiener natürlich!) und des Theaterstücks ›Blick zurück im Zorn‹ von John Osborne. (Ich weiß nicht, ich kann nicht im Zorn zurückblicken, er kann es offenbar, dachte Jakob.)

In der zweiten halben Stunde las er Kinoprogramme. Angelaufen waren ›Baby Doll‹, ›Der Hauptmann von Köpenick‹ (mit dem Heinz Rühmann, den sehe ich so gerne!), ›Ich denke oft an Piroschka‹ (und ich an den Hasen, ach, verloren, verloren, die wird jetzt die Frau eines Filmschönlings! Was soll mir Glück, was soll mir Geld, wozu hetze ich mich überhaupt ab wie ein Irrer und hocke jetzt da? Für die Edle vielleicht? Einsam ist der Mensch, allein, ausgesetzt dem Leben, der hat doch ganz recht, dieser Dings, dieser Osborne, und ich blicke auch zurück im Zorn! Jetzt warte ich eine Stunde, jetzt reicht’s mir!).

Jakob ging in das Zimmer der Sekretärin des Persönlichen Referenten. Hier lief leise ein Radio, Jakob hörte einen Schmalztenor: »Arrivederci, Roma …«.

Der Schlager des Jahres.

»Hören Sie, liebe Dame, ich warte jetzt …«

»Es tut mir leid, Herr Formann, aber der Herr Persönliche Referent hat noch etwas ganz Dringliches zu erledigen …«

»Dann soll man mich nicht um siebzehn Uhr bestellen!« lärmte Jakob. »Ich habe meine Zeit nicht gestohlen! Das ist ein Skandal!«

»Whatever will be, will be …«

Ein anderer Schlager des Jahres.

Eine dick gepolsterte Tür ging auf.

»Was ist ein Skandal? Wer schreit denn hier so herum?« fragte gereizt ein Hüne von Mann, tadellos gekleidet, mit unmutig hochgezogenen Augenbrauen.

»Also, das ist doch nicht wahr«, sagte Jakob entgeistert. Pfote, wo bist du? »Was ist nicht wahr, Herr Formann?« fragte der tadellos gekleidete Hüne. Er war ein alter Bekannter von Jakob. Es war der ehemalige Wehrwirtschaftsführer Herr von Herresheim, den Jakob mit seinen Saufkumpanen und blonden Buben aus der NIBELUNGENTREUE am Tegernsee vertrieben hatte.

»… the future’s not our’s to see, que serra, serra …«

24

»Haben Sie sich denn jetzt über unser Wiedersehen beruhigt, Herr Formann?«

Fünf Minuten später, in dem prachtvoll holzgetäfelten Büro des Persönlichen Referenten Herrn von Herresheim. Derselbe saß hinter einem riesigen Schreibtisch, Jakob davor.

»Nein!«

»Nein?«

»Jetzt kapiere ich, warum man meinem Ersuchen jahrelang nicht stattgegeben hat, warum hier jahrelang für mich niemand zu sprechen gewesen ist, warum niemand meine Briefe beantwortet hat, wenn einer wie Sie hinter so einem Schreibtisch sitzt.«

»Donnerwetter, Herr Formann, Sie kapieren aber schnell.«

»Sie haben auch überhaupt keinen Besuch oder zu tun gehabt! Sie haben mich einfach so eine Stunde lang warten lassen! Absichtlich!«

»Herr Formann, Sie überschlagen sich, Sie sind ein Genie, wie können Sie das alles so rasch begreifen?« Der von Herresheim lehnte sich in seinem schönen geschnitzten Lehnstuhl zurück und betrachtete Jakob lächelnd, die Fingerspitzen aneinandergepreßt.

»Wozu haben Sie mich hergebeten? Nur um mir zu zeigen, daß mein Ersuchen abgelehnt ist?« fragte Jakob lauernd.

»Können Sie Gedanken lesen, Herr Formann?«

»Herresheim …«

»Herr von Herresheim bitte.«

»Herresheim!« Gott, wird mir warm! Pfote. Pfote drücken. Drücken. Was ist das? Das ist meine Narbe an der Schläfe. Die pocht. Mit Recht. Ich poche … äh, koche auch! »Mit mir kann man so was nicht machen, verstehen Sie? Ich bin nicht irgendwer, Herresheim! Ich bin ein Mann, den die ganze Welt kennt und achtet!«

»Sie haben eine sehr gute Meinung von sich, Herr Formann.«

»Habe ich auch! Und Millionen Menschen haben die gleiche, sie bewundern mich, danken mir!«

»Wie schön. Ich nicht.«

»Was Sie nicht?«

»Ich bewundere Sie nicht. Ich danke Ihnen nicht.«

»Ach, so läuft das! Rache, wie?«

»Rache? Welch absurder Gedanke, Herr Formann! Nur Pflichtbewußtsein. Ich bin meinem Staatssekretär gegenüber verantwortlich. Er hat meine Ansicht zu Ihrer Bitte eingeholt. Ich mußte Ihre Bitte nach reiflicher Überlegung ablehnen.«

»Und warum?«

»Herr Formann, das Bundesverkehrsministerium teilt meine Besorgnis, Sie könnten Ihre bereits steuerbegünstigt angelegten Millionen jederzeit wieder aus der Schiffahrt herausziehen und anderswo anlegen.«

»Hören Sie …«

»Einen Moment, ja, wenn Sie mich gütigst aussprechen lassen wollen. Ein solches von mir, vom Herrn Staatssekretär und vom Bundesverkehrsministerium in Bonn befürchtetes Verhalten Ihrerseits kann und darf nicht auch noch durch eine Finanzhilfe des Bundes beim Bau eines modernen Passagierschiffs, wie Sie es sich wünschen, sozusagen honoriert werden, Herr Formann. Im Interesse der Bundesrepublik, unserer jungen Demokratie …«

»Sie … Sie …« Etwas sehr Seltsames geschah: Jakob brachte kein Wort heraus. Um ihn drehte sich alles, rote Schleier wehten vor seinen Augen. Jetzt weiß ich, wem ich alle nur möglichen Schwierigkeiten beim Aufbau meiner Flotte zu verdanken habe!

Alle nur möglichen Schwierigkeiten hatte man Jakob in der Tat von Anfang an gemacht. Das war ihm so sehr auf die Nerven gegangen, daß er beschlossen hatte, mit Bankgeld zu arbeiten.

Die Banken boten Jakob zu diesem Zeitpunkt bereits Millionen mit aufgehobenen Händen an: Nimm, großer Jakob, o, nimm doch von uns! (Man bedenke, was die Banken da an Zinsen bekamen! Im übrigen: Zinsen nehmen und den Emporkömmling verachten, das war etwa ihre Grundeinstellung.)

Warum brauchte Jakob so viele Millionen zusätzlich?

Nun: Er betrachtete sein See-Imperium als unvollständig, solange ihm ein modernes Flaggschiff fehlte! Indessen, so ein modernes großes Fahrgastschiff kostete an die hundert bis hundertfünfzig Millionen D-Mark. Einen derartigen Betrag besaß Jakob 1956 nicht. Noch nicht. Die Banken hätten ihn liebend gerne zur Verfügung gestellt, aber da war der Arnusch Franzl gewesen, der hatte protestiert: »Bist du deppert, Jakob? Da zahlst du dich ja blöd an Zinsen! Das verbiete ich dir! Da muß die Bundesregierung einspringen!«

»Muß? Warum muß sie?«

»Laß mich nur machen«, hatte der Arnusch Franzl gesagt. »Schweineglück, wo wir haben.«

»Das wir haben«, korrigierte ihn Jakob, was die Edle erfreut hätte. »Wieso haben wir ein Schweineglück?«

»Na, lieber Freund, die ›Andrea Doria‹ ist doch gerade abgesoffen!« hatte der Arnusch Franzl gesagt.

Die ›Andrea Doria‹, ein italienisches Prachtschiff, war mit dem schwedischen Ozeandampfer ›Stockholm‹ vor der nordamerikanischen Küste zusammengestoßen und gesunken.

»Und die Italiener haben nicht nur ein Schiff, sondern ein nationales Aushängeschild verloren«, hatte der Arnusch Franzl damals erläutert. »Darauf mußt du jetzt herumreiten, mein Bester. Jedes Land braucht nationale Aushängeschilder, wie es so geht im menschlichen Leben.«

Daraufhin hatte Jakob herzbewegende Briefe an das Bundesverkehrsministerium in Bonn geschrieben: ›… und verweise ich auf die ungeheuer werbende Wirkung, die ein solches Schiff für die gesamte Volkswirtschaft der Bundesrepublik und für unser Ansehen im Ausland haben wird …‹

Diese süße Lockung hatte er Dutzende von Malen variiert. Natürlich war Klaus Mario Schreiber der Schreiber dieser Lockbriefe gewesen, wozu gab es ihn? Und wer hätte es besser gekonnt?

Es erwies sich leider, daß nicht einmal ein so guter Schreiber wie Klaus Mario es gut genug konnte.

Aus Bonn hatte Jakob einen höflichen Brief nach dem anderen bekommen. In allen diesen höflichen Briefen wurde seine Bitte, die Bundesregierung möge so ein Schiff mitfinanzieren, weder positiv noch negativ beantwortet. Dann, plötzlich, schien das Bundesverkehrsministerium sich entschieden zu haben, denn es teilte Jakob (höflich) mit, daß die für die ganze Affäre zuständige Außenstelle, eben die für Seefahrt in Hamburg, den Sachverhalt noch einmal überprüft habe und Jakob doch am 29. Oktober 1956 pünktlich um 17 Uhr beim Leiter dieses Amtes, Herrn Staatssekretär Bredendorff, erscheinen möge.

Es ist jetzt 18 Uhr am 29. Oktober 1956, und Jakob hat soeben zwar nicht von Staatssekretär Bredendorff, jedoch von dessen Persönlichem Referenten, Herrn von Herresheim, erfahren, daß sein Ersuchen endgültig abgelehnt worden ist. Nach reiflicher Abwägung aller Gründe, die dafür und dagegen sprechen, durch den Herrn Persönlichen Referenten des Herrn Staatssekretärs …

Jakob Formann hat kapiert. Hier, das sieht ein Blinder, kommt er nicht weiter. Nicht bei diesem Sauhund, der auf solch ein Wiedersehen gewartet, gewartet, sicherlich fieberhaft gewartet hat. Um es mir zu geben, um es mir zu zeigen, denkt Jakob und sagt: »Herr von Herresheim …«

»So ist es endlich richtig, Herr Formann!«

»… ich gehe.«

»Tja, ich denke, das wird wohl das beste sein.«

»Aber ich gebe nicht auf, Herresheim! Ich gebe niemals auf! Ich bekomme mein Flaggschiff! Mit Hilfe der Bundesregierung! Da können Sie Gift drauf nehmen, Herresheim! Ich werde mich jetzt an die Bundesregierung in Bonn wenden!«

»Das bleibt Ihnen natürlich unbenommen.«

»Bleibt es mir, ja. Ach, und noch etwas, mein lieber Herr von Herresheim …«

»Ja? Was denn?«

»Sie können mich am Arsch lecken, und zwar kreuzweise, da kommen Sie öfter durch die Mitte!«

25

Die Edle wäre in Ohnmacht gefallen ob dieses Betragens ihres Schülers. Auch wir sind entsetzt. So benimmt man sich einfach nicht. Und wenn man sich so benimmt, darf man sich nicht darüber wundern, wenn man daraufhin aufgefordert wird, augenblicks den Raum zu verlassen.

Was Jakob wurde.

Er verließ den Raum, in welchem der Herr Persönliche Referent des Herrn Staatssekretärs Bredendorff arbeitete, knallte ein paar Türen zu, fluchte im Fahrstuhl unmäßig und ertappte sich, als er die Straße betrat, dabei, daß er vor Wut zitterte. Sofort wurde er streng selbstkritisch: Ein Jakob Formann zittert nicht! Auch nicht vor Wut. Das ist unwürdig. Und zudem sinnlos. Geduld, Jakob Formann, sagte Jakob Formann zu sich selbst. Du kriegst dein Schiff, und das Herresheim-Schwein kriegt sein Fett. Es wird eine Weile dauern, aber Sieger wirst zuletzt du sein, Jakob Formann. Das sagt dir Jakob Formann, denn er weiß schon, wie er es richtig anfangen muß. Danach stellte er fest, daß er noch immer vor Wut zitterte. Dagegen mußte man augenblicklich etwas unternehmen!

Schmalzbro …

Nein. Er war zu wütend. Selbst Schmalzbrote halfen da nichts.

Bewegung! Bewegung! Bewegung!

Das wäre jetzt angebracht!

Radfahren!

Ein Rad! Ein Rad! Ein Königreich für ein Rad!

In der Nähe gab es keine Geschäfte, in denen man Fahrräder hätte kaufen können, und dort, wo es solche Geschäfte gab, waren sie schon geschlossen.

Was tun?

Dreizehn Autos sausten an Jakob vorbei. Dann nahte ein Bürger auf einem Rad. Jakob lief ihm buchstäblich in die Speichen. Der Bürger kippte, stand, schrie: »Besoffen, was?«

»Mitnichten, mein Herr. Leihen Sie mir bitte Ihr Rad.«

»Wahnsinnig geworden?«

»Mitnichten, mein Herr.«

Der Bürger wollte sich aufs Fahrrad schwingen und flüchten. Jakob schubste ihn zurück. »Sie wollen es mir nicht leihen? Nur für zwei, drei Stündchen?«

»Nicht für eine Sekunde! Lassen Sie mich los, oder ich schreie!«

»Ich kaufe Ihnen das Rad ab.«

»Ich verkaufe mein Rad nicht! Es ist ein ganz neues Rad, ein gutes Rad.«

»Das sehe ich. Fünfhundert Mark?«

»Nie! Nie! Niemals!«

»Was kostet es, daß Sie sagen, es ist ein altes, schlechtes Rad?«

»Sie sollen mich loslassen, verflucht!«

»Sechshundert?«

»Sie … Sie …«

»Siebenhundert, meinetwegen.«

Jetzt zitterte der Bürger.

Jakob zählte ihm sieben Hundertmarkscheine auf die Hand.

»Das wär’s«, sagte er sodann, schwang sich in den Sattel und radelte davon.

Siebenhundert Piepen sind siebenhundert Piepen! Der Bürger beruhigte sich.

Jakob hatte sich bereits beruhigt.

Regelmäßig und schnell trat er die Pedale, sauste über Kreuzungen, um Ecken, ein friedliches Lächeln im Gesicht, sanft vor sich hin pfeifend. Gott, hatte er sich nach einer Radpartie gesehnt!

Diese Radpartie brachte ihn hinaus zur Elbchaussee und zu jener Luxusvilla, die sich sein Experte in Plastikfragen, der smarte, gutaussehende Dr. Addams Jones im Vertrag ausdrücklich – ebenso wie Diener und Firmenwagen – ausbedungen hatte.

Wenn du schon hier bist, dachte Jakob, kannst du gleich mal sehen, wie es mit den Plastikwerken geht.

Das Parktor stand offen.

(Eingebrochen wurde 1956 in dieser feinen Gegend nicht – das waren noch Zeiten!)

Jakob radelte bis an die Haustür und klingelte.

Der von Jones zur Bedingung gemachte Diener öffnete.

»Tag«, sagte Jakob.

»Guten Tag, mein Herr«, antwortete langsam und feierlich der Diener, und sein Gesicht nahm dabei einen Ausdruck grenzenloser Verachtung und unsäglichen Hochmuts an. »Was wünschen Sie?«

»Ich will mit Doktor Jones sprechen.«

»Sind Sie angemeldet?«

»Nein.«

»Bedaure, dann ist es nicht möglich …«

»Es wird schon möglich sein. Hier, nehmen Sie mir das Rad ab.«

»Sagen Sie einmal, wer sind Sie überhaupt?«

»Jakob Formann.«

»So eine Unverschämtheit! Verschwinden Sie jetzt, oder …«

»Sie glauben mir nicht, daß ich Jakob Formann bin?«

»In diesem Aufzug? Mit einem Fahrrad? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

Immer noch hielt Jakob an sich. »Wir kennen uns nicht, lieber Mann.«

»Gott sei Dank«, sagte der Diener.

»Sie haben Jakob Formann noch nie im Leben gesehen?«

»Bedaure. Noch nie im Leben.«

»Auch nicht auf Fotos?«

»Auch nicht auf Fotos.«

»Dann erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Ich bin Jakob Formann.«

Der Diener hatte noch einen hellen Moment. »Tut mir leid, aber da kann ja jeder kommen und sagen, er ist Herr Jakob Formann.«

»Ich bin Jakob Formann, der Mann, der Jones und Sie und das alles hier bezahlt!«

»Jetzt hauen Sie aber ab!« Bei dem Diener war der helle Moment vorbei. Er packte die Fahrradstange und versuchte, sie umzudrehen und Jakob fortzudrängen.

»Tck, tck, tck, so etwas tut ein guter Diener aber nicht«, sagte Jakob und drehte die Fahrradstange energisch zurück. Der Diener rutschte aus und flog zu Boden. Jakob lehnte das Rad an die Hauswand und schritt über den Gestrauchelten hinweg in die Halle der Villa.

Die Treppe aus dem ersten Stock herunter kam Dr. Addams Jones gerannt.

»Was ist? Was geht hier vor?«

»Dieser Mann …«, begann der vornehme Diener, noch im Liegen, und verstummte erschüttert.

»Haben Sie das getan, Mister Formann?« Dr. Jones sah Jakob entsetzt an.

»Ich habe gar nichts getan. Ihr Diener hat den Halt verloren.«

»Wobei?«

»Er hat versucht, mich … egal. Wirklich, Jones, Sie müssen diesem Mann beibringen, sich höflich auch gegen Menschen zu betragen, die ihm fremd sind. Sonst feuere ich ihn!«

»Sie … ich … er … Ich wußte gar nicht, daß Sie in Hamburg sind, Mister Formann!«

»Ich komme gerade aus Paris.«

»Mit dem Fahrrad?«

»Haben Sie etwas dagegen?«

»Nein, nein, natürlich nicht! Was kann ich für Sie tun, Mister Formann?«

»Sie können mich über Ihre Arbeit unterrichten, Jones«, sagte Jakob und trat einen Schritt vor. Danach stoppte er abrupt. Er stoppte immer abrupt, wenn er ein schönes weibliches Wesen sah. Das weibliche Wesen, das Jakob sah, war eine ganz besondere Schönheit – schlank und grazil wie ein Reh, mit langen Beinen, braunen Augen und braunem Haar. Jung. Sehr jung noch. Das Reh war, durch den Lärm beunruhigt, aus einem Zimmer in die Halle getreten. Es sah Jakob, es sah den Diener auf dem Boden, es sah Dr. Addams Jones. Der Blick irrte im Dreieck.

»Oh!« rief das Reh erschrocken und flüchtete in das Zimmer zurück, aus dem es gekommen war. Die Tür fiel hinter ihm zu. Dr. Addams Jones war bekannt dafür, daß er stets die schönsten Mädchen Hamburgs zu Freundinnen hatte. Nicht nur Hamburgs.

»Hübsch, hübsch«, sagte Jakob, nachdem er anerkennend gepfiffen hatte.

»Also was ist, kann ich nun mit Ihnen reden oder nicht, Jones?«

»Aber natürlich, Mister Formann, aber selbstverständlich, Mister Formann, es wird mir eine Freude sein, Sie zu unterrichten, Mister Formann. Fred! Fred, zum Teufel, stehen Sie endlich auf und nehmen Sie Mister Formann seinen Mantel ab!«

Der Diener Fred erhob sich taumelnd, schwankte auf Jakob zu und lallte, wobei sich die Wörter überschlugen: »Ihren-Mantel-mein-Herr-ich-bitte-sehr-und-verzeihen-Sie-mir-mein-Benehmen-ich-konnte-doch-nicht-wissen-wie-konnte-ich-denn-ahnen …«

»Sie müssen noch eine Menge lernen, Fred. Und schnell«, sagte Jakob und warf dem Diener seinen Mantel in die Arme. »Und bringen Sie mein Fahrrad in die Garage!«

26

Eine Stunde später, in Dr. Jones’ Arbeitszimmer …

… war Jakob Formann vollkommen über die bereits angelaufene Produktion der drei (mit 7 d-Geldern erbauten) Plastikwerke unterrichtet. Im Detail. Dr. Jones hatte wie ein Pferd geschuftet, das muß man zugeben, dachte Jakob. Der Kerl stellt unverschämte Forderungen noch und noch – aber er leistet auch was.

»Hm … Ist das Ihre neue Freundin, Jones? Die Braune, Hübsche?«

»Ja, Mister Formann. Ein Top-Mannequin.«

»Wirklich süß.«

»Nicht wahr?«

»Gratuliere, Jones.«

»Danke, Mister Formann. O, was ich noch sagen wollte …«

»Ja?«

Dr. Addams Jones sagte, was er noch sagen wollte. Er hätte es besser nicht getan. Nicht gerade an diesem Tag jedenfalls! Er verstimmte Jakob außerordentlich mit dem, was er sagte. Er verstimmte Jakob so sehr, daß dieser bat, ein Telefongespräch führen zu dürfen. Natürlich durfte er. Es dauerte ziemlich lange, bis er zu Dr. Jones zurückkam, und er hatte einige Wünsche, die Dr. Jones sofort erledigen mußte, denn Jakob brauchte gewisse Unterlagen und Berichte – sofort! Sagte er jedenfalls. Er war nun wieder besserer Laune.

»Also, machen Sie mir das alles fertig, Jones, ja? Tut mir leid, muß aber sein. Ich gehe solange hinunter und unterhalte mich mit Ihrer Freundin – wie heißt sie?«

»BAMBI«, erwiderte Jones mit einem unguten Gefühl.

»Wie?«

»BAMBI. Sie schreibt sich mit lauter Großbuchstaben. Das tun alle Mannequins, wenigstens die guten, bekannten, begehrten.«

»Aha.«

»In Wirklichkeit heißt sie Schalke, Brigitte Schalke.«

»Aha.« Jakob grübelte. »Sagen Sie, war die nicht Fisch? Oder Käse?«

»Vor einem Jahr«, antwortete Dr. Jones. »Vor einem Jahr hat sie noch Reklame für Fisch und Käse gemacht. Jetzt nicht mehr. Jetzt macht sie in Wäsche …«

27

»… und das«, sagte BAMBI am Abend des 29. Oktober 1956, »hat mir schon eine Masse Ärger gebracht.«

Sie warf ihr braunes Haar zurück und zog die Unterschenkel elegant auf der Couch vor dem englischen Kamin unter den Leib. Wirklich eine Wucht, dachte Jakob, diese Beine, diese Beine … BAMBIS Beine halten mühelos den Vergleich mit denen von Jill und Marlene aus – und das will was heißen! Ich bin eben doch ein Bein-Fetischist! (Und ich weiß sogar, was ein Fetischist ist – die Edle hat es mir erklärt.)

»Ärger, wieso?« fragte Jakob und lächelte gewinnend.

»Also wissen Sie, Herr Formann, in Deutschland können Sie den langweiligsten Fummel vorführen oder in der blödesten Filmplünne mitmimen, Reklame machen für Brusttee oder Ssahnpulver, reine Wolle, Lopsodent, Nährbier, Nagellack, Konfekt und Konfektion, für die gute Sama, für Senfgurken oder Vorderradantrieb …« Sie sprach sehr ernsthaft und lispelte ein ganz klein wenig, was Jakob begeisterte. Er stellte sich bereits vor, wie … Das ist das Verfluchte bei mir, dachte er: Immer muß ich mir die Hübschen gleich dabei vorstellen! »… aber eines ist ungeschriebenes Gesetz: Niemals in Wäsche machen! Ich ßage Ihnen, ßo wahr ich hier vor Ihnen ßitße, Herr Formann« (wie hübsch sie mit der Zungenspitze anstieß!), »man ßoll’s nicht glauben, aber ßo ist das bei uns: Schon ein Bikini bringt einen oft um. Und der kleinste Bikini ist noch die englische Königinnenrobe im Vergleich mit einer Korsage, besonders einer schwarzen, und wenn die noch ßo ßtabil ist! Ein deutsches Vorurteil, Herr Formann: Wer Wäsche ßeigt, gilt hier als leicht!«

»Hmhmhm.« Der Rock rutscht immer höher. Macht sie das absichtlich? Klar!

»Das war bei mir nur gemeine Hetze von Kolleginnen! Ich swöre es Ihnen, und wenn Sie wer weiß was gehört haben, alles Lüge, ich habe nur für Tischwäsche …! Was anderes würde ich schon wegen meinem Charakter nicht. Ich bin nicht leicht. Oder glauben Sie etwa, daß ich leicht bin, Herr Formann?«

»Um Himmels willen, Fräulein BAMBI, das würde ich mir niemals erlauben zu glauben.«

»Natürlich«, sprach BAMBI (der Rock rutschte noch höher), ernst und in ihr Thema vertieft, »gibt es auch welche unter uns, die ßrecken vor nichts zurück. ULLA ßum Beißpiel. Miederbranche. Haben Sie ßicherlich schon geßehen, Herr Formann. Mieder jeder Art. Oder nur Beha und Hüftgürtel. Also ich würde ja ßterben! Aber die Honorare ßind die höchsten. Und ULLA trägt ja auch immer ßo einen offenen Morgenmantel. Das entschärft. MAXI macht auch ßo was, und USCHI auch. Sind Freundinnen von mir. Das Solideste, was es gibt!« BAMBI rief erregt: »Überhaupt, wir ßind nicht ßo, wie viele glauben, Herr Formann!«

»Ich bitte Sie. Sie haben doch nicht nötig, sich zu rechtfertigen, Fräulein BAMBI! Ich kenne bedeutende Männer, die bedeutende Mannequins verehren. Die meisten von ihnen werden, sagen sie, ihre Freundinnen heiraten! Denken Sie nur an Ernst Wilhelm Sachs oder seinen Bruder Gunter – beide lieben Mannequins! Und Thyssen! Und Karajan!« (Und das schönste Mannequin wird Jakob Formann haben, euch Burschen wird Jakob es jetzt zeigen!)

»Ja, das ist richtig. Ein Mann von Welt ßieht ßofort unsern Wert. Unsern inneren Wert, meine ich, Herr Formann.«

»Inneren und äußeren, Fräulein BAMBI. Als ich Sie sah, genügte ein Blick, ein einziger Blick, um zu wissen, daß Sie etwas ganz Besonderes, Außerordentliches, Edles« (eiweh, nur nicht an die Edle denken!) »sind. Ich wäre glücklich, wenn wir Freunde werden könnten.«

»Auch ich wäre es, Herr Formann. Warum ßtarren Sie meine Beine ßo an?«

»Ich … eh … hrm … Sie haben wundervolle Beine, Fräulein BAMBI, verzeihen Sie meine Unverschämtheit …«

Noch höher der Rock!

»Das ist doch keine Unverschämtheit! Das weiß ich ßelber. Und diese Reifenfirma weiß es auch!«

»Was für eine Reifenfirma?«

»Ich habe gerade einen Vertrag mit ihr geschlossen, nächstes Jahr ßoll es losgehen. Die haben einen Einfall gehabt. Auf dem Inserat das Foto von einem Auto, ja? Und ßwar ßo, daß man wenigstens einen Reifen ßieht, ja? Na, und ich ßteige gerade ein. So fotografiert, daß man nur meine Beine sieht. Von unten, ja? Und der Texter hat eine herrliche Sseile: ›Die Beine Ihres Autos …‹. Damit ßoll natürlich auf die Reifen hingewiesen werden. Aber meine Beine sind der Blickfang. Sie verstehen.«

»Ich verstehe.«

»Und ich wette, Sie glauben, ich trage Strümpfe.«

»Das tue ich nicht.«

»Das tun Sie nicht, Herr Formann?«

»Nein. Was Sie tragen, das ist eine Strumpfhose aus Nylon. Ich wette, Sie wissen nicht, was Nylon ist.«

»Sie haben die Wette verloren, Herr Formann«, antwortete BAMBI lachend. »Natürlich weiß ich, was Nylon ist!«

»Ja, aber wie es gemacht wird, das wissen Sie nicht!«

»N … nein, Herr Formann.«

Sanft sprach Jakob: »Durch Polykondensation von Adipinsäure mit Hexamethylendiamin.«

»Mein Gott! Aber woher wissen Sie das?«

»Ich befasse mich eben mit Kunststoffen aller Art, mein liebes Kind.«

»Ach.«

»Bitte?«

»Ach, und ich habe gedacht, Doktor Jones tut das.«

»Er ist mein Angestellter, liebes Kind.«

»Das … das habe ich nicht gewußt, Herr Formann. Er hat es mir nie gesagt. Ich habe geglaubt, er ist der Besitzer von all den Fabriken.« Dieser Schuft von einem Jones! Also auch noch angeben mit meinen Werken und sich Mannequins aufreißen auf meine Kosten! Dieser smarte Jones wird dem Faß noch die Krone ins Gesicht setzen und zum Überlaufen bringen! Aber jetzt soll er sich erst einmal wundern! Vor einer Stunde hat er einen zweiten Diener und einen geheizten Swimmingpool innen und einen dicken Mercedes verlangt. In seiner Stellung braucht er das, hat er gesagt. Sonst muß er leider kündigen. Also habe ich ihm alles in den Rachen geschmissen, weil ich ihn doch brauche, jetzt, wo die Produktion von Plastik der verschiedensten Art ganz groß losgeht und eben auch von Chemiefasern!

»Sie … Sie haben Herrn Jones alle diese Kunststoffwerke aufbauen lassen, Herr Formann?« hauchte BAMBI. Höher kann so ein Rock kaum rutschen. Mensch, Beine sind das, die hören ja überhaupt nicht auf! (Elender Schuft, dieser Jones. Angeber. Frech auch noch. Kriegt den Hals nicht voll genug. Als nächstes will er einen Rolls. Und eine Tennishalle, für den Fall, daß es regnet. Was mache ich mit dem Sack? Ohne ihn bin ich aufgeschmissen. Na, erst mal habe ich telefoniert! Kleine Genugtuung wenigstens …)

»Habe ich Jones aufbauen lassen, ja. Habe ihn mir neunundvierzig aus den Staaten rübergeholt als Experten.«

»Schon damals …«, hauchte BAMBI. Nun hatte sie hektische rote Flecken auf den Wangen.

»Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus, mein liebes Kind«, sprach Jakob milde. »Sehen Sie, ich habe gewußt, daß es etwa zweiundzwanzig Millionen Frauen und Mädchen in der Bundesrepublik gibt. Ich habe gewußt, daß Halter und Straps aus der Mode kommen werden. Gewiß kommen sie wieder, sind ja – pardon! – sehr aufregend, nicht wahr.

Aber mir war klar: Die Strumpfhose wird die Strümpfe ablösen. Also habe ich rechtzeitig geschaltet. In den nächsten Monaten werde ich Chemiefasern für Strumpfhosen in allen Farben liefern – rot, violett, gelb, grün, blau.«

BAMBI sah ihn mit aufgerissenen Rehaugen an. Sie war sprachlos.

»Da sind Sie sprachlos, was?« sagte Jakob Formann leichthin und liebenswürdig lächelnd. (Was der Karajan und der Thyssen können, kann ich alleweil noch!) »Ganz bezaubernd sehen Sie aus, mein liebes Kind.«

»Ach, Herr Formann …« BAMBI schluckte.

»Ja«, forschte er dezent.

Wie in einem englischen Lustspiel kam in diesem Moment Dr. Addams Jones die Treppe aus dem ersten Stock in die Halle herab.

»Zum Kotzen«, sagte Dr. Addams Jones.

»Addy! Wie sprichst du?« rief BAMBI.

»Entschuldige, aber es ist wirklich …«

»Was ist wirklich?«

»Ein Anruf. Soeben. Ich muß nach Boston. Sofort. Heute noch. Verdammte Schei … entschuldige, BAMBI.«

»Aber wieso mußt du nach Boston, Addy?« (Tja, wieso, dachte Jakob.) »Atkinson hat angerufen, der Alte. Eben jetzt.« (Schau an, schau an, dachte Jakob.)

»Atkinson Plastics ist eines der größten Kunststoffunternehmen der Welt«, erläuterte Jakob. »Von dort habe ich meine Lizenzen gekauft, wissen Sie, BAMBI. Und auch den Doktor Jones … eh, nicht gekauft, mitgebracht, als Fachmann. Was will denn Donald, Jones?«.

»Man hat völlig neue Methoden auf dem Gebiet von Plastikrohrleitungen gefunden. Wir müssen das zweite Werk entsprechend modernisieren.« (Also genau, wie ich Atkinson zu sagen gebeten habe, als ich ihn anrief vorhin. Das ist ein feiner Kerl, dieser Atkinson.) »Nicht einen Moment hat man Ruhe! Tut mir wirklich leid, BAMBI, aber jetzt kann ich wieder nicht mit dir nach Spanien fliegen.«

»Spanien?« fragte Jakob, unschuldig erstaunt.

»Costa Brava. Etwas ausspannen! Ich habe es BAMBI schon so oft versprochen, immer ist etwas dazwischengekommen.«

»Tja, das ist schlimm. Tut mir leid für Sie, Jones. Aber natürlich müssen Sie nach Boston, die Arbeit geht vor«, sagte Jakob ernst. »Ich glaube, es fliegt noch eine PAN AM über New York kurz nach zweiundzwanzig Uhr.« Er sah seinen Experten mitfühlend an. »Wirklich scheußlich, Jones, aber such ist life.«

Die Maschine der PAA ging tatsächlich um 22 Uhr 30. BAMBI und Jakob brachten den unwirschen Dr. Jones zum Flughafen nach Fuhlsbüttel. Sie standen auf dem Besucherbalkon und sahen der Maschine nach, bis sie mit ihren rot und weiß blinkenden Lichtern in den Wolken verschwunden war.

Ich bin ein geplagter, vielbeschäftigter Mann, ich habe keine Minute zu verlieren, dachte Jakob, packte BAMBI, drückte sie an sich und küßte sie leidenschaftlich. Es war außer ihnen kein Mensch mehr auf dem Balkon. BAMBI küßte Jakob noch leidenschaftlicher.

»Das ist mir noch nie passiert«, sagte sie sodann.

»Was, liebes Kind?«

»Daß ich einen Mann … daß ich ßo schnell … daß ich ßofort … Herr Formann, es ist ßo peinlich für mich … Was müssen Sie von mir denken?« (Na also, da haben wir es wieder einmal!) »Aber ich … ich …«

»Ja, mein liebes Kind?«

»… ich fürchte, ich habe mich wahnsinnig in Sie verliebt!«

»Und ich mich in dich, BAMBI. Auf Anhieb!«

»Wirklich? Wie wundervoll … Da ist es ja soßusagen direkt ein Glück, daß Addy wegfliegen mußte!«

»Sozusagen ja, nicht wahr?«

»Ssufälle gibt es im Leben! Also, wenn man das in einem Roman liest, ßagt man, ßo was gibt’s nicht, was, Herr Formann?«

»Jakob, bitte. Und wie du siehst, so was gibt es. Wo wolltet ihr hin? Costa Brava, Spanien?« Jakob verzog sein Gesicht zu einer Grimasse des Ekels. »Da kann man doch jetzt nicht mehr hin, mein liebes Kind. Da wimmelt es doch jetzt von Deutschen. Wie die Heuschrecken sind die über Spanien hergefallen. Genauso wie über Italien oder Jugoslawien oder Frankreich. Da darf ein Mädchen wie du oder ein Mann wie ich sich einfach nicht mehr sehen lassen! Ich habe zufällig ein wenig freie Zeit. Wollen wir zusammen Urlaub machen?«

»Oh …«, hauchte BAMBI.

»Also ja?«

»Ja …« Ein weiterer Hauch. »Wohin denn, Jakob?«

»Auf die Seychellen, mein liebes Kind!«

»Auf die See … wie?«

»Seychellen. Noch nie gehört?«

»N … nein, Jakob.«

»Ein Paradies im Indischen Ozean … Ich habe es entdeckt … In ein paar Jahren wird es auch kein Paradies mehr sein … Aber jetzt! … Ein Kleinod, BAMBI, ein Kleinod! … Du wirst niemals im Leben etwas Wunderbareres sehen … Mahé!«

»Bitte?«

»Mahé. So heißt die größte dieser Trauminseln. Dort fliegen wir hin. In ein paar Tagen.«

»O Jakob, du bist … du bist genial, wunderbar, einmalig!«

»Ach nein, gar nicht. Ich bin ein ganz einfacher Mensch, weißt du. Nur schneller als die andern. Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus.«

28

»Mein lieber, alter Freund«, sprach Jakob Formann ganz leise im Salon seines Appartements im Hotel ATLANTIC, einen Telefonhörer am Ohr. »Ich mache mir solche Sorgen um Sie, Sie können sich das nicht vorstellen. Fühlen Sie sich krank?« Sein Gesprächspartner befand sich auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans. Es war der Präsident eines der größten Flugzeugwerke der Welt. Jakob hatte zwar eine Frage gestellt, forschte jedoch, behutsam wie ein Priester, sofort weiter: »Sind es die Nerven? Das Herz? Wächst Ihnen alles über den Kopf?« Der Herr aus Übersee wollte wieder etwas sagen, doch der Menschenfreund Jakob Formann ließ ihn nicht. »Es gibt Momente – besonders nach einem so arbeitsreichen Leben wie dem Ihren –, in denen möchte man am liebsten in Pension gehen. Nein, nein, nein, so ist es, das habe ich schon oft bei meinen liebsten Geschäftsfreunden gesehen! Und zu denen zähle ich Sie doch, nicht wahr – wirklich nicht nur, weil ich einer Ihrer Großaktionäre bin, sondern aus menschlichen, tief menschlichen Gründen … Niemand«, fuhr Jakob fort und schnurrte dabei fast wie eine Katze, »ist diesem ungeheueren Streß gewachsen, dem Sie, mein Bester, nun schon seit so langer Zeit ausgesetzt sind, nein, nein, nein, ich weiß, was ich rede! Oder arbeitet hier Ihr Unterbewußtsein? Wollen Sie Ihren Posten los sein? Der Seele dunkle Pfade, ach ja, ach ja … Wie ich das meine? Nun schauen Sie, mein Bester, es macht den Eindruck, als wäre es so, wirklich … Ein Beispiel: Sie haben zwei Ihrer neuesten Düsenflugzeuge bereits an Deutsche verkauft. Natürlich weiß ich, wer die beiden Herren sind.« (Er wußte es seit einer halben Stunde.) »Sie haben ja eine ›Learstar‹ verkauft an die Herren … Jaja, ich verstehe, man könnte mithören. Aber überarbeitet, wie Sie sind, haben Sie vollkommen vergessen, auch mir eine ›Learstar‹ zum Kauf anzubieten. Das ist kein Vorwurf, mein Freund! Das ist nur Sorge um Sie, die mich so sprechen läßt. Denn wenn einem Mann in Ihrer Spitzenposition eine derartige Gedankenlosigkeit unterläuft, dann muß man doch – und das ist nur Christenpflicht! – besorgt um diesen Mann sein … Entschuldigen? Ich bitte Sie, ich habe doch nichts zu entschuldigen! Und vor allem: Sie haben sich nicht zu entschuldigen. Ein so großer Mann … Einer meiner Besten, jawohl! Darum mein Anruf, darum meine tiefe, tiefe Besorgnis: Schaffen Sie es noch? Ist es nicht zuviel für Sie geworden? Wäre es nicht nur human, Sie von so viel schwerer Verantwortung, von so gewaltigen Belastungen zu entbinden? Was für einen schönen Lebensabend könnten Sie noch haben, bedenken Sie das einmal! Ein Haus in Vermont … Golf spielen … Spazierengehen … Das Leben ist doch so schnell vorbei. Nur darum rufe ich an, lieber Freund. Weil mir Ihr Wohlergehen am Herzen, so sehr am Herzen liegt … Bitte? … Was sagen Sie? … Selbstverständlich benötige auch ich eine ›Learstar‹ … Nein, nein, nicht in einem Monat! Wenn überhaupt, dann sofort. Aber das ist für Sie wieder mit soviel Aufwendungen verbunden, daß ich es nicht verantworten kann, wirklich nicht … Bitte? … Sagten Sie, in zwei Tagen ist die ›Learstar‹ hier in Hamburg? … Und zugelassen, mit allen Papieren? Übermorgen nachmittag? Fünfzehn Uhr Lokalzeit? Mein Freund, das ist mehr als freundschaftlich, daß Sie das machen wollen, aber ich flehe Sie an, achten Sie auf Ihre Gesundheit …«

Zwei Tage später, pünktlich um 15 Uhr, landete eine fabrikneue ›Learstar‹ dann in Fuhlsbüttel. Sie war die teuerste damals in Deutschland zugelassene Privatmaschine. Preis: über eine Million Dollar. Jakob zahlte auf der Stelle per Scheck. (Nachdem er drei Prozent Skonto abgezogen hatte.)

Daß die ›Learstar‹ das Beste und Schönste war, was es im Moment gab, hatte ihm der US-Air-Force-Pilot der T-33 gesagt, mit dem er von Paris nach Hamburg geflogen war. Nun kletterte Jakob in das Innere der luxuriösen Maschine. Beseligt atmete er das Duftgemisch ein: Leder, Metall, Parfum und Benzin. Der Parfumduft kam von BAMBI, die mit nach Fuhlsbüttel gekommen war. (Die Edle war Jakob losgeworden, indem er ihr etwas von einer höchst dringenden Konferenz erzählt hatte.) BAMBI bekam kein Wort heraus, als sie den Salon sah, in dem vierzehn – nicht zu fassen! – Gäste Platz hatten.

BAMBI trug ein sandfarbenes Kostüm in Christian Diors ›Ligne Fuseau‹, der Spindellinie. Die Jacke hatte einen Gürtel. Nur die Hüften wurden sanft vom Stoff berührt, sonst war alles weich und weit und locker, auch der Kragen der Jacke. Dazu einen Schäferinnenhut, mit Rebhuhnfedern garniert. Als Parfum ›Miss Dior‹. Und eine ›Belle Amie‹-Frisur (mit besonderer Betonung der Stirn durch eine Art Hahnenkamm und großzügige weiche Seitenpartien). Jakob trug ›englisch‹: einen Einreiher aus Tweed, leicht tailliert und mit abfallenden Schultern, sowie eine in der Farbe dazu abgestimmte Weste.

Otto hatte den Rolls auf das Flugfeld gefahren – bei einem so großen Mann wie Jakob Formann erlaubte das die Polizei. Otto und die beiden Piloten luden nun Gepäck in die Maschine. Die beiden Piloten waren von Jakob aus einer Gruppe von siebenundsechzig Bewerbern ausgewählt worden. Der eine hieß Jack Cardiff und hatte vor zwei Jahren mit einer ›Convair 440‹ im Ärmelkanal notwassern müssen, weil er vergessen hatte, in München vollzutanken.

Begründung Jakobs für die Wahl ausgerechnet dieses Piloten: »Der vergißt in seinem Leben nie mehr vollzutanken, auf den kann ich mich verlassen.« Der zweite Pilot hieß Jean Collero. Der war einmal mit einer Verkehrsmaschine losgeflogen, deren Tragflächen nicht genügend enteist waren, weil Collero nicht achtgegeben hatte. Absturz. Fünfunddreißig Tote. Jakobs Begründung für die Wahl ausgerechnet dieses Piloten: »Der gibt den Rest seines Lebens acht wie ein Schießhund darauf, ob auch nur ein Gramm Eis auf den Tragflächen ist. Auf den kann ich mich genauso verlassen.«

Sie flogen zuerst noch kurz nach München. Dort traf Jakob im Flughafenrestaurant seinen Schreiber Schreiber und gab ihm Anweisungen für eine sofort zu schreibende Serie mit dem Titel ›DIE NAZIS SIND UNTER UNS‹. Hier sollten eklatante Fälle von Besetzung wichtiger Stellen in Staat, Gemeinden und Wirtschaft durch alte Nazis aufgedeckt werden.

Eine halbleere Flasche ›Johnnie Walker Gold Label‹ vor sich, erhob der sonst doch zu allem bereite Klaus Mario Schreiber erstaunlicherweise Einspruch.

»Da … Das hau … haut nie hin, Ch … Chef! Da … Das ist ge … gen mein Ko … Konzept. N … Nach meinem Ko … Konzept ist das Thema N … Nazismus ein A … Anti-Thema. Das w … weiß man, aber man w … will es nicht w … wissen. Und schon gar nicht l … le … lesen! So was g … geht ins Au … Auge. M … Muß i … ins Auge gehen!«

»Aber warum? fragte Jakob.

»W … Weil w … wir w … wieder w … wer sind, Ch … Chef! Wei … Weil w … wir im Begriff sind, w … wieder mal die G … Grö … Größten zu wer … werden. Wei … Weil k … keiner hier an s … seine V … Ver … Vergangenheit erinnert werden will. W … Wenn Sie ein a … alter N … Nazi gewesen wären, wü … würden Sie jetzt, w … wo alles blüht und gedeiht, g … gerne daran er … erinnert w … werden, wa … was Sie angestellt haben?«

»Ich war aber kein alter Nazi!« sagte Jakob milde.

»Da … Dann können S … Sie da nicht m … mitreden. D … Dann können S … Sie sich da g … ga … gar nicht reinfühlen.«

»Aber Sie schon!«

»Ich schon!«

»Obwohl auch Sie kein alter Nazi gewesen sind.«

»O … Obwohl auch ich … Ich ka … kann mich in a … alle Men … Menschen hineinfühlen, Ch … Chef. So … Sonst wä … wären meine Serien Sch … Scheiße, und Sie hä … hätten mich längst gefeuert. Ich bi … bin ein Ke … Kenner der Me … Menschen!«

»Und ich bin Ihr Chef! Sie schreiben, was ich anordne!«

»I … Ich schrei … schreibe da … dann a … aber gegen da … das V … Verdrängte einer ga … ganzen N … Nation, Chef. Da … Das will do … doch wirklich n … niemand wi … wissen. Ha … hat doch gar keine Na … Nazis bei uns ge … gegeben. Je … Jetzt schon gar nicht mehr. W … Wir sind a … alle P … Pa … Patentdemokraten, christlich a … a … abendländische … Ga … Gar nicht zu reden von der Ka … Katastrophe für die In … Inseratenabteilung …«

»Was soll das wieder heißen?«

»Wa … was glauben Sie, Ch … Chef, we … wer uns alles mi … mit Anzeigenentzug d … dro … drohen wird, we … wenn diese Serie nicht a … abgebrochen wi … wird? Und von A … Anzeigen lebt jede Illustrierte!«

»Sie schreiben!«

»Mei … Meinetwegen. Aber ich ha … habe Sie g … gewarnt«, sagte Schreiber und kippte sorgenvoll sein Glas.

Sorgenvoll hat er sein Glas gekippt, dachte Jakob, als er auf das Flugfeld hinauseilte. Sind das seine Sorgen oder meine? Ich kriege dich schon noch, Herresheim!

Und jetzt denken wir nicht mehr daran. Jetzt machen wir Urlaub. Ach, meine ›Learstar‹! Ach, meine BAMBI!

Sie empfing ihn mit Küssen.

Die Maschine rollte zum Take-off-point.

Erhielt Starterlaubnis. »Los!«

BAMBI fand noch immer keine Worte. Und sagte es.

»Ich finde noch immer keine Worte …«

»Wofür, mein liebes Kind?«

»Einen Mann wie dich …«

»Ja, mein liebes Kind?« forschte er.

»…habe ich noch nicht erlebt! So etwas gibt es nur einmal«, flüsterte sie an seiner Brust.

»Ich bin ein Mann wie jeder andere. Nur meiner Zeit immer um zwei Schritte …«

»Ach, Jakob …«

»Ach, BAMBI …«

Schöner großer Salon mit genug Platz, dachte Jakob, während die ›Learstar‹ vornehm, leise und ohne auch nur zu vibrieren, geschweige denn im geringsten zu schwanken, eine Wolkenwand durchschnitt und in den österreichischen Luftraum eindrang. Nette Kerle, die Piloten. Die kommen niemals in den Salon. Ganz zur Sicherheit kann ich ja noch die Tür zum Cockpit zuriegeln.

Zwischen Salzburg und Neapel frohlockte BAMBI während der ersten Chinesischen Schlittenfahrt ihres Lebens. Jakob hatte es immer eilig. Bei einer einzigen Sache ließ er sich Zeit.

And it’s a long, long way zum Indischen Ozean, zu den Seychellen daselbst und im speziellen zur Insel Mahé – der größten und schönsten von den zweiundneunzig Inseln der Seychellen …

29

Ach, Mahé …

Ach, eines der letzten Paradiese dieser Erde! Ein tropisches Eiland. Korallen und Granit, weißer Sandstrand, Palmenhaine, in denen die phantastischsten Orchideen in zahllosen Bündeln von den Ästen der Bäume hängen. Die schönen Vögel. Die riesigen Schildkröten. Die unendliche See. Die PIRATE’S ARMS, das ›Seeräuberhotel‹ im kolonialseligen Victoria. Pittoresk außen, innen voller Komfort des zwanzigsten Jahrhunderts, anno 1957. Da wohnen wir, BAMBI und ich. Die PIRATE’S ARMS gehören mir. Ich habe sie, zusammen mit dem Jaschke natürlich, aufgebaut, als wir hierher Fertighäuser und Truppenunterkünfte und einen Behelfsflugplatz lieferten, für die Amerikaner. Nicht viele. Nur für die Befehlsstelle da oben auf dem höchsten Hügel von Mahé. La Misère, der ›Elendshügel‹, heißt er. Hundertvierzig Amerikaner – Offiziere und Wissenschaftler – leben dort. Basteln seit einer Ewigkeit an einer Sache herum, die sie ›Tracking Station‹ nennen. Haben mir oft erklärt, was das ist. Kontrollstation. Es scheint, die Amis wollen so ein Ding – ›Satellit‹ nennen sie es – entwickeln und in den Weltraum schießen, und dieser ›Satellit‹ soll dann dauernd die Erde umkreisen und Nachrichten und Bilder speichern und zur Erde zurückfunken – total meschugge, aber das waren die Amis schon immer, nicht zu fassen so ein Blödsinn, das kann es doch nicht geben, das wird es doch nicht geben, nie, die schmeißen auch mit den Millionen rum, Junge, Junge, Junge! Aber: Sind’s meine Millionen? Prima bezahlt haben sie mich. Prompt wie immer. Ich habe gleich gewußt, das wird hier nicht mehr lange ein Paradies bleiben, auch hierher werden die Touristen kommen! Die kommen überallhin! Also habe ich PIRATE’S ARMS bauen lassen. Es sind oft Amerikaner vom Hügel da. Touristen noch keine, die Zimmer stehen leer. Nicht mehr lange, das weiß ich. Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei … Darum habe ich auch den ganzen riesigen Strand von Beau Vallon gekauft – spottbillig, in ein paar Jahren wird hier jeder Quadratmeter ein Vermögen kosten.

Bestimmt ein goldrichtig angelegtes Vermögen. Das da wird mal eine Spielwiese für die Superreichen werden. Die Brandung schäumt, die Palmen rauschen leise. Ich mache mir ja nichts aus Natur. Überhaupt nichts. Natur – die ist mir immer ganz egal gewesen. Aber die Einsamkeit hier! Nackt können wir rumrennen, BAMBI und ich. Ein Temperament hat die – also, die ist nach drei Chinesischen Schlittenfahrten nicht zufrieden. Will eine vierte! Bei der sind wir gerade. Auf dem weißen Sand von Beau Vallon. Ach, ist diese BAMBI süß. Ach, ist diese BAMBI wild. Ich fühle, ich fühle, dieses vierte Mal wird es ein besonders wunderbares Ende geben. Wir nähern uns ihm, mit jeder Bewegung mehr, jetzt! BAMBI bäumt sich auf, mein Körper spannt sich, jetzt, jetzt, jetzt …

»Herr Formann!«

Verflucht und zugenäht!

Das gibt’s doch nicht. Das ist doch unmöglich.

»Herr Formann, wollen Sie nicht gefälligst aufhören, wenn ich mit Ihnen spreche?«

Ich bin hinüber, es ist soweit, ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, ich bin reif für die Klapsmühle. Mein schönes, junges Leben. Mein schöner Krieg. Alles aus und zu Ende. Wahrscheinlich war das bereits ein Irrenhaustraum, und wenn ich jetzt die Augen aufmache, werde ich mich in einem Gitterbett finden, vielleicht in einer Zwangsjacke. Gott, es muß ja entsetzlich um mich stehen.

Jakob öffnete ein Auge. Jakob öffnete das zweite.

Jakob fuhr in grauenvollem Entsetzen empor, stand schwankend auf dem weißen, heißen Sand von Beau Vallon.

Er hielt sich den Kopf.

Die Brandung schäumte, die Palmen rauschten, die langflügeligen Vögel flogen schreiend hoch über ihm. BAMBI entfloh kreischend, nackt, wie Gott sie geschaffen hatte. Und nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte, stand Jakob Formann vor der sehr ergrimmten ›Sehr Edlen und Sehr Mächtigen Frau‹, Baronin von Lardiac, Edle Frau und Gerichtsherrin von Valtentante, erbliche Palastdame am Hof von Jerusalem zufolge des Privilegs, verliehen der sehr ruhmreichen Familie Lardiac durch Kaiser Friedrich den Zweiten, späterhin König von Jerusalem.

»Baronin …«, lallte Jakob.

»Was fällt Ihnen ein, mich so zu hintergehen und auszureißen und sich hier mit einem Mädchen … Ich kann nicht mehr, das ist der Gipfel der Obszönität … Das ist zuviel … Ich sterbe vor Scham …« Und sie kippte rückwärts.

Immer laß sie kippen, die verfluchte Bestie, dachte Jakob. Doch dann bekam er einen zweiten Schreck. Hinter der Edlen hatte die schöne Claudia gestanden. Jakob sah das erst jetzt. Die schöne Claudia fing das kippende Tantchen gerade noch rechtzeitig in ihren Armen auf und hielt die Ohnmächtige dann reglos, den Blick gebannt auf den splitternackten Jakob gerichtet. Auf einen Teil des splitternackten Jakob.

30

»Ich habe sie natürlich Knall und Fall gefeuert«, sagte Jakob Formann. Er lag auf einer Ledercouch und starrte die Zimmerdecke an. Die Zimmerdecke befand sich in dem Ordinationsraum des Dr. Jerome Watkins, des großartigsten Psychoanalytikers von Washington.

Knall und Fall hatte Jakob die Sehr Edle und Sehr Mächtige an jenem 3. Januar 1957 gefeuert, und noch am gleichen Tag war er von den Seychellen nach Washington geflogen. Zu diesem wundervollsten aller Analytiker. Dr. Watkins, fett, kahlköpfig und kurzbeinig, saß hinter Jakobs Kopf in einem bequemen Lehnstuhl, lächelnd die Händchen über dem Bauch gefaltet wie ein Buddha.

Die Stille wurde unerträglich.

»Warum sagen Sie denn nichts, Doktor? War das nicht richtig von mir?«

»Hm«, machte Dr. Watkins.

»Was heißt hm?«

»Was meinen Sie? War es richtig?«

»Ich weiß es nicht, Doktor. Darum habe ich ja alles stehen und liegen lassen und bin sofort zu Ihnen geflogen.«

»Hm.«

»Warum machen Sie immer ›hm‹, Doktor?«

»Weil ich immer ›hm‹ mache. Wie alle guten Analytiker. Das ist ein ermunterndes ›hm‹, Mister Formann. Es soll Sie ermuntern, weiter aus sich herauszugehen. Nur so kann ich Ihnen helfen!«

»Ich verstehe. Ja, also was fange ich jetzt ohne die Edle an, die mir Benimm und Bildung beibringt? Ich meine Essen kann ich schon halbwegs nach der Art der feinen Leute. Aber sonst … Kunst …«

»Hm.«

»… Malerei …«

»Hm.«

»… Literatur …«

»Hm. Sagen Sie, Mister Formann, wie war es überhaupt möglich, daß die Baronin Ihnen auf die Seychellen folgte?«

»Sie hat mir nachspioniert und herausgefunden, wo ich bin.«

»Das ist mir klar. Aber woher hatte sie das Geld? Sie sagten, die Dame sei ziemlich mittellos.«

»Das ist sie auch.«

»Und da fliegt sie – noch dazu in Begleitung! – von Hamburg aus auf eine Insel im Indischen Ozean?«

»Na ja, das war eben auch falsch von mir, Doktor.« Jakob seufzte.

»Hm?«

»Daß ich der Edlen Vollmacht für eines meiner Spesenkonten gegeben habe. So hat sie einfach einen Scheck ausgeschrieben und ist zur Bank gegangen und – muß ich weitersprechen?«

»Nein, danke! Das genügt«, sagte der Doktor und dachte: Mit dem eine Psychoanalyse? Eine große Analyse? Kommt ja gar nicht in Frage! Geld genug für eine große Analyse hat er ja zwar ganz offensichtlich. Aber so, wie der redet über das, was er tut und läßt – so blöd, wie der ist, da lassen wir das hübsch sein. Gewiß, eigentlich … eine große Analyse … Aber der Kerl ist ja dauernd in der ganzen Welt unterwegs … Wie er das nur macht mit seiner Blödheit? Also keine Analyse! Wir können ja auch anders! Und das bringt auch sein Stückchen Geld … und außerdem schneller … Also sagte er zu Jakob: »Hm. Behaviour Therapy.«

»Bitte, was?«

»Verhaltenstherapie. Seien Sie ganz ohne Sorge. Sie bekommen wir mit Behaviour Therapy hin, auch ohne Ihre Baronin.«

»Dem Himmel sei Dank. Behaviour Therapy!«

»Sie haben natürlich keine Ahnung, was das ist, obwohl es weltweit praktiziert wird, wie?«

»Nein.«

»Hm.«

»Was ist es, Doktor?«

»Hm. Ich glaube nicht, daß ich es Ihnen erklären kann. Der Großvater der Behaviour Therapy, so darf man wohl sagen, war der Professor Iwan Petrowitsch Pawlow. Nobelpreis 1904 für seine Arbeiten zur Physiologie der Verdauung …«

»Entschuldigen Sie, Doktor, aber mit meiner Verdauung ist alles in Ordnung!«

»Hm.«

»Bitte?«

»Nichts, nichts. Ihre Reaktion auf meine Worte.«

»Wie war die? Falsch? Frech? Meine Verdauung ist aber wirklich …«

»Hm. Passen Sie auf, ich erzähle Ihnen jetzt eine Geschichte. Genauso, wie ich sie erzähle, ist sie sicher nicht passiert. Aber bei Ihrer … primitiven Grundstruktur … Hm … Also: Pawlow experimentierte mit Hunden, wissen Sie. In Sankt Petersburg … Hm … Hunde in einem Zwinger … Das Futter brachte ein Wärter immer auf einem Wägelchen. Wenn er die Tür aufstieß, ertönte ein Bimmeln.«

»Ein was?«

»Ein Bimmeln. An der Tür oben war eine Klingel.«

»Ach so. Und nun, Doktor?«

»Und wenn also der Wärter mit dem Fressen für die Hunde hereinkam, dann, so bemerkte Pawlow, fingen die bereits zu sabbern an! Neunzehnhundertzwölf gab es eine große Sturmflut in Sankt Petersburg. Alle Kirchenglocken läuteten Katastrophenalarm. Professor Pawlow war bei seinen Hunden. Was soll ich Ihnen sagen? Pawlow staunte nicht schlecht, als alle seine Hunde zu sabbern anfingen! Weit und breit kein Futter! Nur die Glocken – wie die Bimmel! Das genügte ihnen schon! Toll, wie?«

»Hm«, machte Jakob. »Pardon, das Hm ist Ihr Hm!«

»Jetzt ging Pawlow systematisch vor. Wenn die Hunde schon beim Bimmeln und beim Glockenläuten sabbern, ohne daß sie das Futter auch nur sehen oder schnuppern – vielleicht läuft ihnen beim Bimmeln das Wasser nicht nur im Maul zusammen, sondern auch im Magen. Also legte er Magenfisteln an.«

»Magenfisteln …«

»An den Hunden …« Dieser Watkins stinkt wie eine ganze Parfümerie, dachte Jakob benommen. Parfümiert der sich? Oder hat der die junge Dame, die vor mir da war …? Auf seinem Hemdkragen habe ich jedenfalls einen Lippenstiftfleck gesehen. »Also, Pawlow ließ jetzt nur noch die Bimmel ertönen, indem er die Tür auf und zu machte – und alle Hunde sabberten und sonderten durch die Fistel Magensaft ab – wie gesagt, das Wasser, das ihnen im Magen zusammenlief. Und diese Ursachenverkettung: erst Futter und Bimmeln und Sabbern, und dann Bimmeln und Sabbern ohne Futter, die nannte Pawlow einen Bedingten Reflex. Ich hoffe, Sie haben das einigermaßen verstanden.«

»Hören Sie, Doktor, wollen Sie mir vielleicht auch Magensaft abzapfen und mich sabbern lassen?«

»Hm.«

»Was, hm?«

»Aggressiv noch und noch.« Und nun murmelte der fette Doktor vor sich hin: »Übel, übel. Ist schon eine Charakterneurose … Nein, Magensaft nicht, Mister For …« Das Telefon läutete. Der parfümierte Seelenkundige hob ab und bellte in den Hörer: »Sind Sie wahnsinnig geworden, Eileen? Sie wissen doch, daß Sie nicht verbinden dürfen, wenn ich einen Patienten … Ferngespräch? … New York? Ja, natürlich, stellen Sie durch, Eileen.« Dr. Watkins sagte, nach Block und Bleistift greifend: »Mein Broker. Nur einen Moment, Mister Formann. Er gibt mir die letzten Börsenkurse aus Wallstreet durch. Sie verzeihen.«

»Aber selbstverständlich«, knurrte Jakob.

»Hallo … Hallo … Oh, hallo, Rod! Also, wie steht’s? … Hm … Hm … Ja, ich schreibe mit … Philips sechs Punkte plus, steigend … Unilever unverändert … Royal Dutch drei Punkte, zögernd …«

Jakob nahm einen Notizblock aus der Tasche und schrieb eifrig im Liegen mit. Das ging so eine ganze Weile, bis Sperry Rand kamen. Dr. Watkins wurde aufgeregt: »Sperry Rand zweihundertachtundachtzig? Das gibt es doch nicht! Das ist ja unglaublich!«

»Wirklich unglaublich«, attestierte Jakob verblüfft.

»… ja, Rod, natürlich ist das der Höhepunkt! Morgen sausen Sperry Rand runter, aber wie! Da hat einer dran gedreht, damit die Doofen … Aber wir sind nicht doof, Rod, wir nicht! … Na klar, verkaufen! Weg damit! Alles! Weg. Weg. Weg! … Okeydokey, Rod, ich danke Ihnen. Sie rufen morgen um diese Zeit … Sehr gut, sehr gut … bye, Rod.« Dr. Watkins legte den Hörer in die Gabel. »Hm. Solche Bedingten Reflexe kann man nun ausbilden, Mister Formann. Ein Unbedingter Reflex – das ist eine angeborene, vom Willen unbeeinflußte Reaktion – wird durch einen natürlichen Reiz ausgelöst, also zum Beispiel: Ihre Lider schließen sich blitzschnell, wenn sich den Augen etwas nähert.« Und dabei stieß dieser quasselnde Doktor mit dem Finger in Richtung auf Jakobs rechtes Auge, dessen Lid natürlich herunterklappte.

»Und was hat das mit mir zu tun?« fragte Jakob mürrisch.

»Man kann einen solchen Unbedingten Reflex – das Sabbern, wenn der Hund Futter riecht oder sieht – jedoch mit einem zunächst unwirksamen, neutralen Reiz, zum Beispiel mit einem Ton – die Bimmel! – koppeln, wir sagen ›konditionieren‹. Was machen Sie denn da die ganze Zeit für wilde Bewegungen, Mister Formann? Es scheint mir sehr schlimm um Sie zu stehen …«

»Ich … ich … Sperry Rand zweihundertachtundachtzig! Doktor, darf ich ganz schnell mit meinem Broker in Wallstreet telefonieren? Ich habe eine Masse Sperry Rand, und mein Broker weiß nicht, wo ich bin!«

»Natürlich. Geben Sie mir seine Nummer, Mister Formann.«

Jakob gab sie. Dr. Watkins wählte die Nummer von Schwester Eileen und gab ihr die Nummer. »Legen Sie das Gespräch dann herein, bitte. Hm. Ja, also ganz vereinfacht: Wir werden auch Sie konditionieren, Mister Formann. Essen wie die feinen Leute können Sie schon, gut. Bei allen anderen Fällen wollen wir Sie auf Reizworte trimmen. Also Wagner, Hemingway, Einstein, Stalin, Christian Dior, Eisenhower, Politik, abstrakte Malerei, Zwölftonmusik … Sie verstehen? Haha! Hmhm. Wenn Sie das Reizwort hören, reagieren Sie wie die Hunde in Sankt Petersburg beim Bimmeln. Sie fangen an zu sabbern. Sie sabbern die mit dem Reizwort als Bedingtem Reflex gekoppelten Worte, ganze Sätze. Die prägen sich Ihrem Gehirn unauslöschlich ein, Sie haben sogleich so einen Satz zur Hand und sind gerettet. Verstanden?«

»Nein.«

»Hm.«

»Wenn Sie mir vielleicht ein Beispiel geben könnten, Doktor?«

»Hm. Kennen Sie Meyerbeer? Natürlich nicht.«

»Natürlich nicht. Dazu hatte ich ja die Edle.«

»Die brauchen Sie nicht mehr. Ich konditioniere Sie, daß Sie über sich selber staunen werden. Hm. Schauen Sie: Wagner – ein Komponist. Meyerbeer – auch ein Komponist! Nur so, aus dem Handgelenk geschüttelt, als Beispiel: Sie hören den Namen Richard Wagner. Ich habe Sie für dieses Reizwort mit Meyerbeer konditioniert. Also: Man spricht über Richard Wagner, und Sie sabbern automatisch: ›Wagner kann ich nur dort folgen, wo er von Meyerbeer beeinflußt ist!‹ Umgekehrt geht’s genauso: Auf das Wort Meyerbeer sagen Sie: ›Ja, der Meyerbeer! Wagner kann ich nur dort folgen, wo er von Meyerbeer kondi … äh … beeinflußt ist … Man wird Sie für einen phantastischen Wagner- oder Meyerbeer-Kenner halten und nicht wagen, weitere Fragen an Sie zu richten. Apodiktisch sagen Sie den Sabbersatz natürlich. Und sind aus dem Schneider.«

»Apo …«

»O Gott, natürlich. Sie wissen nicht, was apodiktisch heißt. Unwiderleglich. So, daß sich keiner traut, noch etwas zu sagen, klar?«

»Das klingt verdammt gut, Doktor!«

»Es wird aber eine Menge Arbeit geben, Mister Formann, viele Sitzungen. Doch wir werden es schon schaffen.« Das Telefon läutete. »Ja? … Einen Moment … Für Sie, Mister Formann, Ihr Broker.«

Liegend nahm Jakob den ihm gereichten Hörer ans Ohr.

Eine Stimme erklang hastig, die Worte überschlugen sich. Das war Jakobs Broker. Er erhielt gleichfalls den Auftrag, Sperry Rand sofort abzustoßen. Jakob sprach nur kurz, dann hielt er den Hörer in die Luft. Der hinter ihm sitzende Analytiker legte den Hörer in die Gabel zurück. »Danke, Doktor. ›Wagner kann ich nur dort folgen, wo er von Meyerbeer beeinflußt ist …‹ Großartig! Da traut sich wirklich keiner, noch das Maul aufzumachen.«

»Hm.«

»Bitte?«

»Sie sagten, Sie leiden auch darunter, daß Sie von einer bestimmten Gruppe Menschen verachtet werden, daß es Ihnen nicht gelingt, in gewisse Kreise einzudringen, dort Freunde und Anerkennung zu finden – trotz Ihres Namens, trotz Ihres Geldes …«

»Ja, Doktor. Darunter leide ich wirklich. Das geht nun schon seit vielen Jahren so. Da kriege ich Minderwertigkeitsgefühle. Was ist das bloß? Warum, Doktor, warum? Ich habe doch so vieles geschaffen! Ich habe doch so unheimlich viel geleistet! Und trotzdem …«

»Nicht trotzdem. Deshalb, Mister Formann. Hm.«

»Deshalb?«

»Sehen Sie, hm, lieber Freund, hm, Sie haben Allmachtsphantasien, haben ein Streben nach Macht, und damit wollen Sie Ihre Minderwertigkeitsgefühle neutralisieren. Darum haben Sie soviel geschaffen, darum haben Sie soviel geleistet! Die Minderwertigkeitsgefühle waren zuerst da, deshalb die Leistung. Nicht, wie Sie meinen, zuerst die Leistung und dann die Minderwertigkeitsgefühle.«

»Aber …«

»Bitte, unterbrechen Sie mich nicht! Und diese Minderwertigkeitsgefühle sind natürlich durch sexuelle Störungen entstanden.«

»Sexuelle …?«

»Selbstverständlich. Sehen Sie: Sie können nicht, und deshalb versuchen Sie immer, das durch ständige Betriebsamkeit zu kompensieren.«

»Aber hören Sie …«

»Da haben Sie es: Machtstreben zur Abwehr der Angst. Der Sexualangst in Ihrem Fall natürlich, Mister Formann. Haben Sie auch schweinische Vorstellungen?«

»Und ob, Doktor!«

»Und Sie leiden unter ihnen.«

»Leiden? Ich genieße sie!«

»Entschuldigen Sie, wenn ich auf diese Frech … äh … Antwort hin deutlich werden muß. Wie ist Ihre Stellung zur Vagina?«

»Na, schräg nach oben, Doktor, wie denn sonst?«

»Mister Formann, wollen Sie sich über mich lustig machen?«

»Keinesfalls, Doktor, ich …«

»Hm! Also ganz brutal: Wann haben Sie zum letzten Mal?«

»Vor zwei Stunden, bevor ich zu Ihnen kam. Im Hotel. Ich sagte Ihnen doch, BAMBI ist mit mir geflogen …«

»Was?«

»Tut mir leid, ja.«

»Hm, hm, und seit wie langer Zeit war das wieder einmal? Ich meine: Welcher Durchschnittswert ergibt sich wohl bei Ihnen, Mister Formann?«

Jakob durchlebte gerade das letzte Treffen mit BAMBI im Detail. Mechanisch antwortete er: »Na, so ein- bis zweimal am Tag …«

»Wie oft?«

»Im Durchschnitt! Danach haben Sie ja gefragt! Es gibt natürlich auch Tage oder ganze Wochen ohne. Dafür dann wieder viel, viel öfter. Aber im Durchschnitt, also: ein- bis zweimal täglich.«

»Ein- bis zweimal … Was ist denn das?«

»Was bitte?«

»Sehen Sie sich an! Nicht so! An sich herunter, Mister Formann!«

»An mir herunter … O Gott, das ist mir aber peinlich. Verzeihen Sie, ich habe gerade an BAMBI gedacht, und da passiert das ganz von selber …«

Der Seelenarzt war erschüttert.

»Hm, hm, hm. Mein armer Freund. Das ist ja noch schlimmer, als ich dachte. Don Juanismus.«

»Don … Bitte schauen Sie ihn nicht immer an, Doktor, dann geht er nie wieder weg! Don … was sagten Sie da eben?«

»Don Juanismus. Diese zügellose Erregbarkeit. Eine schwere Störung, mein lieber Freund, hm, hm.«

»Schwere Störung?«

»Sie sehen es ja selber … Das ist übrigens ein absolut eindeutiges Zeichen für Sexualschwäche, dieser Don Juanismus!«

Also gestört bin ich auch. Grauenvoll. Und das alles doch wohl nur, weil ich den Hasen verlassen habe, dachte Jakob, da sagte der Analytiker schon: »In diesem Zusammenhang: Was Sie mir da von Ihren Träumen erzählen, in denen Sie immer von vergangenen Taten und Erlebnissen träumen, insbesondere von diesem Kaninchen …«

»Hasen, bitte, Herr Doktor! Mein geliebter Hase. Die beste Frau von allen! Ich habe sie verlassen … verraten … alles falsch gemacht! Nie, nie, nie mehr kommt sie zu mir zurück. Das quält mich am meisten in diesen verfluchten Träumen!«

»Sehen Sie, lieber Freund, und das ist das einzige, aber wirklich auch das einzig Erfreuliche an Ihnen.«

»Wieso, bitte?«

»Ein Mann mit einem solchen Don Juanismus, einer solchen Charakterneurose muß so träumen, Mister Formann! Sein Unterbewußtsein versucht auf diese Weise die Schlacken seiner Psyche zu entfernen. Sie leisten Trauerarbeit mit Ihren Erinnerungsträumen. Das ist Ihre letzte Chance, mein lieber Freund, noch einmal vielleicht – vielleicht, sage ich, und das bedeutet Schwerstarbeit für mich – normal zu werden und ein erfülltes Leben zu führen.«

»Und … und den Hasen zurückzubekommen?«

»Und den Hasen zurückzubekommen, Mister Formann.«

Jakob fühlte sich plötzlich ganz prächtig wohl.

»Die fünfundvierzig Minuten sind um, Mister Formann, erheben Sie sich.«

»Ich danke Ihnen, Doktor. Sie sind wahrhaftig der Größte, also wirklich!«

»Seien Sie ganz ohne Sorge. Sie stellen einen meiner kompliziertesten Fälle dar – aber ich hoffe, ich werde auch aus Ihnen wieder einen gesunden, glücklichen Menschen machen können. Die Honorarfrage regeln Sie draußen im Vorzimmer. Ich nehme immer pro Sitzung. Das ist einfacher so. Für Sie. Und für mich. Sie kommen … kommen …« Dr. Watkins blätterte in einem Terminkalender. »… Nein, früher geht es nicht, ich bin überlastet. Sie kommen am nächsten Freitag um drei Uhr nachmittags wieder.«

»Gewiß, Doktor. Nächsten Freitag, drei Uhr.«

Am nächsten Freitag um 3 Uhr p.m. US-Eastern Time war Jakob Formann dann schon einen ganzen Tag rund tausend Kilometer Luftlinie südlich von Moskau, in Rostow am Don, Hauptstadt (650 000 Einwohner) des gleichnamigen Gebietes der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, im Büro des dorthin kommandierten Genossen Jurij Blaschenko von GOSPLAN, der Zentralen Planungsbehörde für die gesamte Sowjetunion.

31

»Ich danke dir, Jakob, ich danke dir, daß du so schnell gekommen bist«, sagte Jurij herzlich und schlug Jakob mit Bärenkraft auf die Schulter. »Wir brauchen dich wie der Verdurstende einen Schluck Wodka. Denn wir sitzen in der Scheiße.« Im Gegensatz zu Jakob, der immer noch kein Französisch konnte, sprach Blaschenko mittlerweile ein fast akzentfreies Deutsch. Auf ein herzliches ›Du‹ hatten sie sich schon beim letzten Treffen geeinigt.

»War der Flug gut?«

»Ausgezeichnet. Diese ›Learstar‹ …« Jakob schwärmte ein bißchen. »Wir sind über Österreich geflogen, weißt du, Jurij, die Deutschen hätten da doch nur Schwierigkeiten gemacht.«

»Wir?«

»Meine Freundin habe ich mitgenommen. Ein Mannequin. Ein süßes Mädchen. Du mußt sie unbedingt kennenlernen. Wie die mich liebt! Und sie war noch nie in der Sowjetunion! Also, setz dich hin und sag deinem alten Freund Jakob, was du jetzt brauchst.«

Blaschenko kratzte sich verlegen den Nacken.

»Was hast du denn? Warum kratzt du dich so im Genick, Jurij?« fragte Jakob.

»Ich sag’ dir gleich, was wir jetzt brauchen, Jakob«, antwortete Jurij Blaschenko und blickte schwermütig durch das Fenster seines Büros auf den großen Hafen hinab. »Erlaubst du zuerst eine Frage?«

»Natürlich!« Jakob wunderte sich. »Was ist denn los mit dir?«

»Ich mache mir Gedanken. Über dich, Jakob.«

»Über mich?«

»Ja. Darüber, was du für ein Mensch bist.«

»Was für ein Mensch … Weißt du, ich glaube, der Kern ist gut.«

»Nein, ich meine, wie es in dir aussieht. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen wie dich. Einen, der so bedenkenlos und ohne Hemmungen vor sich selbst oder anderen Geschäfte mit dem Westen und dem Osten macht, mit dem Norden und dem Süden, mit Kommunisten und Kapitalisten, mit Juden und Katholiken, mit Schwarzen und Weißen. Ich kann das nicht begreifen!«

»Das ist ganz einfach, Jurij: Ich bin ein ganz einfacher Mensch«, sagte Jakob bescheiden. »Schau, du sagst: Bedenkenlos und ohne Hemmungen mache ich Geschäfte mit allen. Das stimmt. Aber warum fällt mir das nicht schwer? Warum habe ich keine Hemmungen? Weil ich ein Charakterschwein bin? Nein, lieber Jurij. Das ist alles neu gebaut, die Wohnhäuser und die Fabriken um die Stadt, nicht?«

»Ja, mein Freund«, sagte Blaschenko leise und traurig wie immer. »Im Krieg …«

»… haben wir das alles kurz und klein gemacht, ich weiß. Ich war schon einmal hier. Aber weiß Gott nicht freiwillig. Damals habe ich noch anders gedacht als heute. Heute, Jurij, habe ich so viel erlebt, daß ich eine ganz andere Einstellung zu dieser Welt und ihren Menschen habe. Ich habe Freunde, und ich habe Feinde. Ich arbeite, wie du sagst, für die eine Seite, und ich arbeite für die andere Seite. Ohne Skrupel! Warum? Ich kann mich in beide Seiten hineindenken, siehst du? Ich kann für beide Seiten Entschuldigungen oder Empfehlungen finden. Ich schätze beide Seiten gleich. Wenn ich die eine Seite und die andere Seite lobe und verstehe und entschuldige, dann kommen natürlich immer mehr Für und Wider.« (Vor ein paar Jahren, an einem Abend im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS in Paris, hatte er in einer Vision ganz anders gesprochen!) »Für und Wider, und Wider und Für in unserer so gescheiten und so verdrehten und so blödsinnigen Welt … Weißt du, Jurij, ich glaube, eine solche Welt könnte ohne das Für und ohne das Wider überhaupt nicht bestehen! Für und Wider gehören zusammen, das eine wie das andere hat die gleichen Rechte und die gleiche Berechtigung, und erst zusammen ergeben beide das Ganze – unsere Welt! Und es ist nur unsere Dummheit oder unsere Zerstörungswut oder unsere angeborene Schlechtigkeit, die uns zwingt, die eine Seite zu verehren, anzubeten, zu vergöttern und die andere zu verachten, zu bekämpfen, zu verteufeln. Denn diese Welt ist nur eine ganze Welt mit beiden Hälften, also mit dem Für und dem Wider. Und ich glaube eben, daß nur das Ganze recht hat!«

»Aber du mußt doch eine eigene Ansicht haben!« rief Jurij.

»Warum?« fragte Jakob erstaunt.

»Jeder anständige Mensch hat eine ganz bestimmte eigene Ansicht!«

»Da muß ich dir aber widersprechen, Jurij. Die meisten Menschen haben überhaupt keine Ansichten – und das sind weiß Gott nicht die schlechtesten.«

»Heilige Schwarze Muttergottes von Kasan, aber du mußt doch an irgend etwas glauben, Jakob!«

»Warum muß ich?«

»Weil kein Mensch leben kann, ohne an etwas zu glauben.«

»Na, ich weiß nicht«, sagte Jakob, »ich leb’ ganz gut so.«

»Verflucht, irgendeine Meinung von dieser Welt mußt du doch haben, Jakob!«

»Meinung … Also wenn du unbedingt darauf bestehst, bitte. Natürlich bin ich der Meinung, daß der Sozialismus das Beste für die ganze Welt wäre …«

»Na endlich!«

»Nein, nicht na endlich! Denn den Sozialismus, den ich mir vorstelle, den gibt es nicht, und den wird es auch sehr wahrscheinlich nie geben«, sagte Jakob. »Schade. Denn es wäre schön, wenn es ihn geben würde.«

»Dann sag mir doch wenigstens, was dann so schön wäre, sag mir wenigstens, wie dein Sozialismus ausschaut, den es sehr wahrscheinlich nie geben wird!«

»Jurij, mein Alter«, sagte Jakob. »Da haben sie einmal einen Juden ärgern wollen und ihn gefragt – du weißt, am Sabbath dürfen die Juden kein Geld und kein Gold anrühren –, also sie haben ihn gefragt: ›Stell dir vor, es ist Schabbes, und du gehst auf der Straße, und da siehst du ein Goldstück. Was würdest du machen?‹«

»Ja?« Jurij wurde sehr aufmerksam. Vom Hafen herauf dröhnte das Kreischen riesiger Kräne. »Und was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt: ›Es ist nicht Schabbes, und es gibt kein Goldstück, und also antworte ich nicht auf diese Frage.‹ Siehst du, Jurij, dasselbe antworte ich dir, wenn du mich fragst, was unter dem Sozialismus, den es vielleicht nie geben wird, so schön wäre. Ich kann dir nicht anders antworten, denn ich kann mich in keine Situation hineindenken, die es nicht gibt.« Jurij Blaschenko seufzte. »Seufze nicht, Towarischtsch, sondern sag mir endlich, was ihr diesmal braucht«, sagte Jakob sanft lächelnd.

Blaschenko seufzte noch einmal.

»Sprühgeräte«, sagte er dann. »Aus Plastik«, fügte er hinzu. »Und du hast doch Plastikfabriken, Jakob, mein Freund.« Ein Frachter fuhr eben in den Hafen ein.

»Was für Sprühgeräte?« fragte Jakob.

»Du weißt, daß wir in den letzten Jahren erhebliche Mißernten gehabt haben, nicht wahr?«

»Ja. Schlechtes Wetter, was?«

»Nur sehr bedingt schlechtes Wetter. Die Hauptursache war Unkraut!«

»Na, aber gegen Unkraut gibt es doch herrliche chemische Mittel, Jurij.«

»Die haben wir ja auch entwickelt, Jakob.« Jurij seufzte nun abgrundtief.

»Herrliche chemische Mittel! Das Beste, was du dir vorstellen kannst!«

»Aber?«

»Aber … Jakob, mein Freund, du weißt, daß bei uns alles genau geplant wird …«

»Ganz genau, Jurij.«

»Ganz genau eben nicht, Jakob. Leider. Eine andere Planungskommission hat vergessen, daß man die Chemikalien versprühen muß, und deshalb sind keine Anlagen gebaut worden, die solche Sprühgeräte herstellen, und jetzt liegen die wunderbaren Chemikalien da, und das Unkraut wächst weiter und weiter, es ist eine Katastrophe! Wir brauchen ein Werk, das solche Sprüher herstellt! Und Rohrleitungen dazu, viele Tausende Kilometer Rohrleitungen! Damit wir die Chemikalien auf weit entfernte Felder leiten können, über viele Tausende von Kilometern. Und wir werden viele Tausende von Plastik-Sprühern brauchen, die auf den Feldern aufgestellt werden! Das wird ein ungeheuer großes Werk nötig machen! Denn wir müssen die Chemikalien auch aus Flugzeugen absprühen! Und aus Plastik-Tanks auf LKWs, die durch die Felder rollen! Und noch auf viele andere Arten! Wenn wir mit dem Unkraut nicht fertig werden, verhungern unsere Menschen! Da drüben, auf dem Hügel hinter dem Universitätsviertel, da haben wir Platz, genügend Platz! Dort soll das Werk entstehen! Dort soll die Zentrale sein, verstehst du, mit Rohrleitungen überall hier im Gebiet hin, mit Pumpstationen hier auf der Strecke. Und mit großen Verlade-Anlagen zum Verschicken überall hin in die Sowjetunion. Wir brauchen also das größte Werk dieser Art, das je in Rußland gebaut worden ist! Und in kürzester Zeit! Die Lage ist verzweifelt, Jakob! Wirst du uns helfen?«

»Klar werde ich euch helfen«, sagte Jakob freundlich. »Jetzt verstehe ich, warum du mich gefragt hast, wie ich es mir zurechtgelegt habe, daß ich für beide Seiten, für alle, arbeiten kann. Du hast Angst gehabt, ich sage, ich arbeite nur für die eine Seite, was, mein Alter?«

»Also ganz ehrlich, ja, ich habe Angst gehabt!«

»Aber grundlos! Schau mal, Jurij, mein Freund: Du sagst, das Unkraut vernichtet eure Ernten. Und ich glaube dir und will dir helfen. Was denn?

Wo kommen wir denn hin, wenn einer dem andern überhaupt nichts mehr glaubt? Zum Teufel, wenn ein Kommunist kommt und behauptet, zwei mal zwei ist vier, dann muß ich den Mut haben, zu sagen: Das stimmt! Obwohl ein Kommunist das behauptet hat!«

»Ach Jakob.« Blaschenko seufzte. »Es müßte mehr Menschen wie dich geben! Viel mehr! Millionen Jakob Formanns!«

»Um Gottes willen«, sagte der. »Willst du mir das Geschäft verderben? Ein Jakob Formann genügt mir vollkommen! Das habe ich schon dem Oberst Assimow gesagt, drüben in Washington, als er mich gebeten hat, sofort zu dir zu fliegen!«

32

»Ich kann Ihnen flüstern, Oberst Assimow, ich habe alle Hände voll mit mir selber zu tun«, hatte Jakob gesagt. Auf der Commonwealth Avenue. Als er am 7. Januar 1957 aus dem Haus trat, in dem der große Psychoanalytiker Dr. Watkins seine Praxis hatte. Da war er nämlich mit einem Zivilisten zusammengeprallt, der das Haus gerade betreten wollte.

»Na!« hatte Jakob ärgerlich ausgestoßen, um sogleich die Sonne in seinem Gesicht aufgehen zu lassen. »Nein, Herr Major, das ist aber eine Freude!

Wie kommen Sie denn hierher? Was machen Sie in Amerika?«

»Ich bin inzwischen Oberst geworden und jetzt Militärattaché an der Sowjetischen Botschaft«, hatte Assimow geantwortet. Er sah elend aus. Bleich, mager, mit tiefen Ringen unter den Augen. »Ich habe eine Verabredung mit einem Psychoanalytiker. Doktor …«

»Watkins, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte der Attaché.

»Bei dem bin ich auch in Behandlung!« gab Jakob fröhlich bekannt.

»Ich weiß.«

»Sie wissen? Obwohl ich erst gestern angekommen bin?«

»Wir wissen alles über Sie, Herr Formann. Wir kümmern uns um Sie. Sie haben uns einmal sehr geholfen. Um solche Leute kümmern wir uns. Damit sie uns wieder helfen.« Assimow trug den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gezogen. Er blickte sich dauernd ängstlich um. »Kommen Sie in den Hausflur.«

»Warum?«

»Es braucht niemand zu sehen, daß ein Mitglied der Sowjetbotschaft zu einem amerikanischen Analytiker geht. Sie werden uns wieder helfen! Alle, die wir beobachten, weil sie es einmal getan haben, tun es wieder. Keine Ausrede! Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind …«

»Vor allem mit mir selber, Herr Oberst«, flüsterte Jakob, in Erinnerung an die letzte Stunde auf der Couch. »Mir geht es gar nicht gut. Darum bin ich ja zu Doktor Watkins gegangen. Ich habe eine Charakterneurose, und ich bin ein Don Pawlow, dem der Doktor hofft das Sabbern beizubringen, damit ich in der Gesellschaft anerkannt werde. Nein, da stimmt irgend etwas nicht, aber Sie verstehen schon …«

»Ich verstehe vollkommen, Herr Formann. Glauben Sie, mir geht es besser? Sexualschwäche, wie? Die ist der Grund von all dem!«

»Woher wissen Sie?«

»Bei mir ist auch Sexualschwäche der Grund.«

»Wofür?«

»Dafür, daß ich derartige Depressionen habe. Ich habe mir eingeredet – Idiot, der ich bin! –, die Depressionen kommen daher, daß wir schon in den kältesten Krieg hineinrodeln und ich bereits immer vom nächsten heißen Krieg träumen muß …«

»Sie träumen auch?«

»Natürlich. Und das ist das einzig Normale an mir. Das Unterbewußtsein arbeitet diesen Angstkomplex auf. Die einzige Hoffnung, die ich habe, daß es besser wird. Ursache: Sexualschwäche. Wie bei Ihnen, Herr Formann.«

»Wie bei mir.« Jakob nickte trübe. »Einst war ich ein so fröhlicher Mensch.«

»Ich auch! Erinnern Sie sich noch an Karlshorst? Gott, waren wir beide da fröhlich! Was, Herr Formann?«

»Ach ja«, sagte Jakob, immer trauriger. »Und noch vorher! Der Hase …«

»Welcher Hase?«

»Na, der, den ich so sehr liebe?«

»Sie lieben einen Hasen?«

Der Oberst erschrak.

»Ja! Und es gibt nur eine winzige kleine Chance für mich, ihn jemals wiederzubekommen. Trauerarbeit. In meinen Träumen.«

»Genau wie bei mir! Ich komme schon zu spät für die heutige Sitzung. Bleiben Sie in Washington? Dann melden Sie sich doch bitte. Kommen Sie einfach in die Botschaft. Mein Gott, waren das noch Zeiten, als wir zusammen nach Moskau geflogen sind. Zum Teufel, jetzt hätte ich ja fast das Wichtigste vergessen! Jurij Blaschenko braucht Sie ganz dringend. Er braucht Sie wie einen Bissen Brot. Sie werden uns doch nicht im Stich lassen, Herr Formann?«

»Worum handelt es sich denn?«

»Das muß Ihnen Blaschenko selber erzählen! Fliegen Sie sofort zu ihm – Sie haben eine ›Learstar‹, weiß ich, weiß ich – und helfen Sie ihm.«

»Ich habe wahnsinnig viel zu tun, lieber Major … Oberst …«

»Bitte, zwingen Sie mich doch nicht, zu veranlassen, daß Major Jelena Wanderowa nach Sibirien kommt – Ihretwegen! Die hat einen so schönen Posten an der Botschaft in Rom! Die Sonne! Die südliche Lebensart! Sie haben Jelena doch einmal geliebt – genau wie der arme Jurij, was?«

»Ja – hm.«

»Und das wollen Sie Ihrer Liebe antun? Hätte ich nie von Ihnen erwartet, Herr Formann. Eine so wunderbare Frau …«

»Hören Sie schon auf! Wer hat denn gesagt, daß ich nicht zu Blaschenko fliege?«

»Also Sie fliegen?«

»Natürlich. Wohin, bitte? Wenn Sie mir das freundlicherweise auch noch sagen würden, Herr Oberst!«

»Ach so, natürlich. Was für ein Wrack bin ich! Nach Rostow am Don. Das liegt …«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Ich kann also Blaschenko mitteilen, daß Sie schnellstens kommen? Wenn Sie nicht kommen, muß ich jetzt ein Telegramm nach Rom schicken. Wegen Jelena. Sibirien hat ja auch seine landschaftlichen Schönheiten. Das Amurland … Aber … ob Sie ihr das antun wollen …«

»Herrgott, ich fliege, so schnell ich kann!« lärmte Jakob.

»Wunderbar, ich telegrafiere Jurij nach … wohin habe ich gesagt?«

»Rostow, Herr Oberst.«

»Da sehen Sie, wie es um mich steht. Rostow!« Assimow schlug Jakob krachend auf die Schulter und eilte bereits zu einem der fünf Lifte. Über die Schulter rief er zurück: »Auch Don Juanismus?«

»Auch, ja«, sagte Jakob bitter.

Die Tür des Aufzugs schloß sich hinter Oberst Assimow. Der Lift glitt summend nach oben.

»Das werden wir jetzt gleich einmal sehen, wie schwach mein Sex ist«, murmelte Jakob zwischen den Zähnen und schritt hinaus auf die Straße, wo der livrierte Chauffeur eines Rolls-Royce den Schlag aufriß und die Kappe zog. Inzwischen hatte Jakob einen zweiten Rolls-Royce erworben. Nur für Amerika. Er ließ sich in den Schlag fallen.

»Ins Hotel, Sir?« fragte der Fahrer.

»Ja. Nein, warten Sie!« Jakob fuhr herum. Im Hotel wartet die süße BAMBI. Die will ich jetzt nicht als Versuchskaninchen hernehmen. Mein Don Watkinismus geht sie nichts an! Jakob sagte: »Fahren Sie mich down-town. Wie spät ist es jetzt? Halb sieben? Sehr gut. Hundertsechsundzwanzig, Huston Street.«

33

Eine Stunde später, als Jill Bennet ihm mit Tränen in den Augen sagte, er sollte bitte, bitte aufhören, sie könne nicht mehr, fühlte Jakob sich ein bißchen besser.

Er saß auf dem Bett der platinblonden Jill, die fast so schöne Beine hatte wie BAMBI, rauchte eine Zigarette und sah über die Stadt und den Potomac-Fluß. Er sah auch eine Menge Peitschen und Handschellen und SS-Mützen im Zimmer.

Die durch Dr. Watkins von ihrem Frustrationssyndrom absolut geheilte Jill hatte ihn (nach einer rührenden Wiedersehensszene) flehentlich gebeten, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, sich so eine Totenkopfmütze aufzusetzen und sie mit Handschellen ans Bett zu fesseln. (Auf diese Weise waren sie und der Senator doch geheilt worden – durch Tausch ihrer Rollen!) Jakob hatte sich empört geweigert.

»Du bist wohl verrückt? Nie und nimmer tue ich das!«

»Ich bin eine Verrätersau, eine kommunistische Agentin, eine …«

»Laß den Blödsinn, Jill!«

»Ich flehe dich an, Jake. Wenn du nur noch einen Funken Liebe für mich empfindest, dann beschimpfe und bedrohe mich, bis ich vor Angst fast ohnmächtig bin. Bitte, bitte, bitte.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Aber Doktor Watkins …«

»Eben. Von dem komme ich gerade. Ich muß etwas kontrollieren.«

»Was mußt du kontrollieren?«

»Meine Sexualschwäche. Los, leg dich hin und nimm das rechte Knie …«

»Oh … oh … Die Chinesische Schlittenfahrt!«

»Jawohl, die Chinesische Schlittenfahrt! Jetzt will ich doch wissen, ob ich die noch fertigbringe. Und ob du etwas hast davon!«

Er hatte es fertiggebracht. Sie hatte etwas gehabt davon! (Immer noch derselbe Dreckskerl von Nachbar, dachte Jakob. Haut schon wieder gegen die Wand, bloß weil Jill ein bißchen lärmt.) Ich weiß nicht, ist dieser Dr. Watkins vielleicht doch nicht so ein großer Mann? grübelte Jakob zuletzt. Er saß auf Jills Bett, rauchte eine Zigarette und betrachtete tiefsinnig den Potomac und die geschmackvollen Coca-Cola-Reklamen. Hinter sich hörte er ein langgezogenes Stöhnen. Dann spürte er Jills Hände. Dann ihre Lippen auf seinem Rücken. Dann bekam er viele heiße Küsse, den ganzen Rücken hinunter. Jill keuchte.

»Ist was?« fragte er und drückte die Zigarette aus, denn er bemerkte, daß – jedenfalls bei ihm – schon wieder etwas da war. »Hast du noch einen Wunsch, Liebste?«

Sie hatte beiläufig noch drei.

34

»Jetzt ins Hotel, Sir?« fragte Jakobs amerikanischer Chauffeur und riß die Tür des zweiten Rolls auf. Es war schon dunkel an diesem 7. Januar 1957.

»Jetzt ins Hotel, ja«, sagte Jakob.

Der Schlüssel seines Appartements (natürlich des schönsten und teuersten) hing nicht beim Portier. BAMBI, die Brave, erwartet mich. Wenn die nun auch noch Wünsche hat? Hat sie doch immer. Ach was, werden wir auch noch schaffen, dieser Dr. Watkins ist ein Trottel!

»Mister Formann! Mister Formann!« Einer der Portiers hatte ihm nachgerufen.

Schon fast im Lift, drehte er sich um.

»Gespräch für Sie! Transatlantik! München!«

»Legen Sie es aufs Appartement!«

»Verzeihen Sie, Sir! Aber darf ich Sie bitten, hier in der Halle, aus einer Zelle zu sprechen. Die Leitungen sind heute derart überlastet. Der Anrufer bemüht sich schon seit Stunden, wie er sagt. Wenn die Verbindung zusammenbricht …«

»Okay, okay.« Jakob betrat eine der vielen Telefonzellen im Hintergrund der Halle und nahm den Hörer ans Ohr. »Formann.«

»Sch … Sch … Schrei … Schreiber«, tönte eine bekannte Stimme an Jakobs Ohr. »E … Endlich haben wir Sie, Ch … Chef! G … Gott sei Dank. Hier sind a … alle am R … Rand des W … Wa … Wahnsinns.«

»Was ist denn passiert?«

»A … Also wir s … sind mit dem e … e … ersten T … Teil von DIE NAZIS SIND UNTER UNS seit d … drei Tagen auf dem M … Markt, Ch … Chef. Mei … meine sch … schlimmsten Be … Befürchtungen sind eingetroffen. So … So ma … machen Sie Ihren F … Feind, diesen Herresheim nie f … fertig, das habe ich Ihnen g … gleich gesagt! Je … Jetzt sitzen w … wir in der Sch … Scheiße.«

»Wieso?«

»Ich ha … habe den Ch … Chef der I … In … Inseratenabteilung n … neben mir. D … Der soll es I … Ihnen sagen. Ge … Geht schneller als b … bei mir. Ich überge … ge … gebe …«

Der Inseratenchef ließ seine Stimme ertönen: »Katastrophe, Herr Formann. Wir sind ruiniert, wenn wir nicht sofort …«

»Wieso ruiniert?«

»Vier unserer größten Stammkunden haben nach Erscheinen des ersten Teils angerufen.«

»Und?«

»Und alle dasselbe gesagt.«

»Was?«

»In der Bundesrepublik leben wir in einer idealen Demokratie, die wir uns selbst geschaffen haben. Es gibt hier keine Nazis. Wer so was behauptet, wird vom Osten gesteuert oder ist Kommunist! Seltsam, sehr seltsam, daß Sie so etwas in Ihrem Blatt dulden!«

»Was fällt Ihnen ein, Mann?« sagte Jakob, gefährlich leise. »Wie sprechen Sie mit mir?«

»Das sind nicht meine Worte, Herr Formann. Das sind die Worte unserer Inserenten. Unserer Großinserenten! Unserer größten Großinserenten! Diese Firmen haben nicht die Absicht, kommunistischer Verleumdung und Wühlarbeit Vorschub zu leisten. Wenn diese – ich zitiere jetzt wörtlich – Dreckserie nicht sofort abgebrochen wird, ziehen die Großunternehmen ihre wöchentlichen Inseratenaufträge zurück. Und zwar für immer. Wenn die ihre Drohung in die Tat umsetzen, können wir unsern Laden zumachen!«

»Also was?«

»Abbrechen, Herr Formann! Abbrechen! Das ist hier im ganzen Haus die Meinung! Bedenken Sie, wie viele Existenzen auf dem Spiel stehen! Abbrechen auf der Stelle, wir hauen ein Stück Satz von der ersten Fortsetzung raus, und Schreiber schreibt, warum wir die Serie nicht fortsetzen …«

»Weil wir Schiß vor unseren Inserenten haben? Das soll er schreiben?«

»Das natürlich nicht, Herr Formann.«

»Was dann?«

»Was ganz Gerissenes. Dem Schreiber fällt bestimmt was ganz Gerissenes ein … Wie? … Schreiber sagt, es ist ihm schon eingefallen. Und zur Wiedergutmachung bringen wir jetzt eine Landser-Serie. IN DER HÖLLE DES BEWÄHRUNGS-BATAILLONS. Hat Schreiber schon vorbereitet, sagt er, als Sie ihm den Auftrag für die Anti-Naziserie gegeben haben. Wußte, was kommt. Nun können wir nur hoffen, daß wir die Großunternehmen damit versöhnen. Jedem einzelnen in den Arsch kriechen – das ist das einzig Senkrechte! Die Preise für die Inserate senken wir auch, um zu locken. So etwas darf uns nie wieder passieren. Herr Formann! Moment, Schreiber will Ihnen noch etwas sagen …«

Dann hörte Jakob Schreibers Stimme: »D … Da ha … haben Sie es gehö … hört, Ch … Chef!«

»Schon gut, Schreiber, immer noch feste rauf aufs Schlimme!«

»Da … Das wollte ich nicht, Ch … Chef. Ich ha … habe w … was anderes für S … Sie. A … Auch eine w … wahre Geschichte über N … Nazis, die j … jetzt wieder g … ganz oben sind.«

»Na also!« Jakob wurde hellwach.

»A … aber v … ver … verschlüsselt, Ch … Chef, v … verschlüsselt! Ka … Kann k … keiner der B … Be … Betroffenen, de … der sich angesprochen fühlt, wa … was machen! G … gar nichts! He … Herrlicher Fall. Ha … Habe ihn schon zum T … Teil geschrieben als R … Roman.«

»Nicht für OKAY?« Jakob war verwundert. »Hören Sie, Schreiber, Sie werden von mir bezahlt, Sie haben für mich zu schreiben! Ihre Romane gehen nicht! Dabei könnten Sie verhungern, das wissen Sie doch selbst am besten!«

»W … Wei … Weiß ich. Ei … Ei … Eines Tages we … werden sie g … gehen, auch die e … er … ersten. We … Wenn der da jetzt auch als B … Buch nicht g … geht, m … m … meinetwegen Abdruck in OKAY. T … Titel ha … habe ich auch schon.«

»Wie heißt er denn?«

»SKANDAL NINA B. Wird sich der W … We … Wehrwirtschaftsführer f … freuen – und no … noch ganz andere hohe Tiere.«

»Den Vordruck muß ich haben, Schreiber! Ich bezahle Ihnen das Doppelte für eine Folge!«

»Da … Das wäre denn ja w … wohl au … auch das M … Min … Mindeste. L … Lä … Längst wieder ei … eine Ho … Ho … Honorarerhöhung fällig, Ch … Chef. O … Ohne mich sind S … Sie d … doch aufgeschmissen!«

»Sie sind ein Erpresser … Aber schön, ich rufe Buchhaltung und Rechtsabteilung an, damit Ihr Vertrag geändert wird. Ich bin jetzt viel unterwegs. Sie beginnen schon mit dem Abdruck!«

»Bu … Buch ist aber e … e … erst zu einem k … kn … knappen D … Drittel fe … fertig, Ch … Chef!«

»Na und? Waren Ihre Serien je fertig, wenn wir mit dem Abdruck begonnen haben? Nie! Höchstens einen einzigen Teil haben Sie im voraus geschrieben – einige Male, Sie faules Stück! Rein mit der NINA! Mit dem Herresheim werde ich auf andere Weise fertig!«

»S … Sie ve … verrennen sich, Ch … Chef! Mi … Mit diesen a … alten N … Nazis wird k … keiner fertig!«

»Jakob Formann schon!« sagte Jakob. »Falls ihr mich sucht – in den nächsten Tagen bin ich in Rostow, da in der Sowjetunion, am Don. Wenn was Ernstes vorliegt, was ihr nicht allein entscheiden könnt, ruft dort das Kulturhaus an. Da werde ich hinterlassen, wo ich bin!« Jakobs Herz klopfte plötzlich heftig. Das war wirklich ein prima Einfall, den ich da soeben gehabt habe! Blitzidee. Meine Blitzideen sind immer die besten.

»K … Kulturhaus von R … R … Ro … Rostow am D … Don ha … hat er gesagt …«, hörte er Schreiber stammeln. Dieser informierte in München offenbar die Umstehenden. »…Ü … Über … Übergeschnappt, der arme Kerl …«.

Ach, wie ist es warm geworden, dachte Jakob beseligt, als er den Hörer niederlegte und die Zelle verließ. Ich habe doch einen Schutzengel, wahrhaftig! Daß mir gerade heute mein alter, zum Oberst beförderter Major Assimow über den Weg laufen muß! Und daß die Russen mich brauchen! … Ich brauche auch was von den Russen! … Na warte, Herresheim, jetzt hat deine Stunde geschlagen!

Mit dem Lift fuhr Jakob in sein Appartement empor.

Die Eingangstür war unversperrt. Ach, BAMBI, dachte er gerührt, du wartest auf mich. Das ist Liebe! Wenn ich daran denke, wie der Hase mich behandelt hat in Düsseldorf … Jakob war ein bißchen durcheinander.

Er trat ein. Niemand war im Salon. Er ging weiter in das Schlafzimmer. Da war jemand. Da waren sogar zwei. Die braunhaarige BAMBI und die blonde Claudia Contessa della Cattacasa. Sie waren beide auf dem Bett, und er fand sie in einer Stellung und in einem Zustand, die zu beschreiben uns unmöglich ist, weil wir uns keinesfalls selbst in den Geruch zu bringen gedenken, pornographischerweise geschlechtliche Lust erregen zu wollen.

35

»O hallo, Herr Formann«, sagte die sehr jugendliche Claudia Contessa della Cattacasa zu dem sprachlosen Jakob. »Ist das eine Pistole in Ihrer Tasche, oder freuen Sie sich nur so, mich wiederzusehen?«

Währenddessen angelte die sehr jugendliche BAMBI ergebnislos nach der Decke, die vom Bett geglitten war. Sie lächelte Jakob an und sagte: »Das ist aber schön, daß du schon nach Hause kommst.«

»Ja wirklich«, sagte Claudia. »Jetzt wären wir drei.«

»Wie kommen Sie eigentlich nach Washington, Sie Luder?« erkundigte sich Jakob freundlich.

»Ein Gentleman sagt nicht Luder.«

»Ich bin kein Gentleman!«

»Würden aber gerne einer sein. Hätten Sie sonst mein Tantchen engagiert?«

»Wen?«

»Die Baronin Lardiac. Übrigens ist die gar nicht mein Tantchen.«

»Sie ist nicht …« Jakob erschauerte ob soviel jugendlicher Verderbtheit. Und aus einigen anderen Gründen.

»Nein«, sagte Claudia freundlich. »In keiner Weise. Wir sind nur immer so zusammen herumgezogen. Es war einfacher so. Du kannst du zu mir sagen, Jakob.«

Jakob schnappte nach Luft. Die Narbe pochte.

»Da können Sie lange warten, bis ich du zu Ihnen sage!«

»Gut.« Claudia räkelte sich. »Warten wir noch die drei Minuten.«

»Hören Sie, ich habe die Edle rausgeschmissen, das wissen Sie! Jetzt werde ich Sie rausschmeißen!«

»Das glaube ich nicht«, sagte Claudia freundlich und zeigte ihre Nase im besten Licht. »Ich weiß, daß du die Edle rausgeschmissen hast, ich war schließlich dabei. Du hingegen warst mit der süßen BAMBI beschäftigt. BAMBI ist wirklich süß – das habe ich damals sofort gesehen. Und du bist auch oho, Jakob! Habe ich auf Mahé auch gleich gesehen. Deutlich. Er ist doch oho, was, BAMBI?« Das Rehlein kicherte verschämt. »Ich habe doch kein Geld, Jakob! Du schmeißt die Edle raus. Ich stehe da, auf den Seychellen. Man muß leben, nicht wahr? Also habe ich der Edlen Geld geklaut und bin dir nachgeflogen. Weil du gefragt hast, wie ich nach Washington komme.«

Jakob mußte die Augen schließen.

Ein Radio neben dem Bett war eingeschaltet. Jakob hörte Musik.

»The wayward wind …«, sang Doris Day gerade.

Die Damen hatten es sich gemütlich gemacht. Jakob sah Fruchtschalen, Schokolade, Zigaretten und Champagner.

»Das hätte ich niemals von dir gedacht, BAMBI!« sagte Jakob in klagendem Ton. Die Empörung war ihm bereits vergangen. Diese Claudia hat aber auch eine zu aufregende … Ich muß mich endlich aufs Bett setzen mit meiner Pistole.

Die rehbraune BAMBI stellte sich – allerdings ohne jede Schwierigkeit – dumm und fragte: »Was hast du denn, Liebling? Ich war ßo allein … und mir war ßo … du verstehst schon … und da hat der Portier angerufen und gesagt, eine alte Bekannte von dir ist in der Halle, ob ßie heraufkommen darf. Sie war müde von dem weiten Flug und hat gebeten, baden zu dürfen. Das habe ich ihr natürlich erlaubt. Es wäre doch unhöflich gewesen, es ihr nicht zu erlauben – oder, Liebster? Dann habe ich auch gebadet. Ich bade jeden Tag ßweimal, das weißt du ja. Und das Weitere …«

»Ja? Und das Weitere?«

»… hat ßich dann halt ßo ergeben, Jakob. Ganz natürlich! Du bist doch nicht etwa böse auf deine kleine BAMBI? Da ist doch nichts dabei?«

»Natürlich ist er nicht böse, Süße«, sagte die Contessa und langte Jakob an. »Siehst du, daß er nicht böse ist? Nicht die Spur! Großer Gott, schau dir das an, nicht die Spur einer Spur!«

»Vielleicht willst du auch baden?« fragte BAMBI.

»Mit uns zusammen natürlich«, offerierte die Contessa.

»Wir ßeifen dich ein!« rief BAMBI und lachte wie ein unschuldiges Kind. Und so was hat deutschen Hausfrauen Tischwäsche angepriesen, dachte Jakob. Ich, ich kann einfach nichts dafür. »Ich kann einfach nichts dafür«, sagte er, leise keuchend, während beide Mädchen sich das nun ansahen.

»Du mußt dich doch nicht entschuldigen, Jakob«, sagte die Aristokratin.

»Los, zieh dich schon aus!«

»Niemals!«

»Willst du mit dem schönen Anzug in die Wanne?«

»Ich will überhaupt nicht in die Wanne!«

Zwei Minuten später war er drin. Zusammen mit BAMBI und Claudia. Und wurde geseift und geschrubbt und geseift, daß …

»Nicht! Halt! Hört auf! Aufhören, sage ich! Sonst …«

»Ja, stimmt«, sagte die Contessa. »Und das wäre ein Jammer. Also zurück ins Bett, marsch!«

An die nächste Stunde bewahrte Jakob zeit seines Lebens die angenehmsten Erinnerungen. Nach dem, was er zu leisten vermochte, stand für ihn nun eisern fest: Und meine ersten Eindrücke sind doch immer richtig! Dieser Dr. Watkins ist ein aufgeblasener Idiot! Ein Trottel, dachte Jakob, während er sich abwechselnd beiden Damen widmete, ein Trottel, der alles im Leben auf sexuelle Ursachen zurückführt – mit Ausnahme seiner eigenen Beschäftigung. Nie mehr gehe ich zu dem blöden Hund! Das viele Geld! Von wegen Sexualschwäche! Hier liege ich mit zwei Mädchen und tue dies und tue das und tue es schon seit einer Stunde, und die Mädchen schwimmen weg vor Entzücken und … Von einer Sekunde zur andern erstarrte er.

Die Stimme aus dem Radio …

Die Musik aus dem Radio …

Ogottogott …!

»Don’t know why, there’s no sun in the sky …«

Lena Horne. Das ist Lena Hornes Stimme!

»… since my man and I ain’t together …«

Unser Lieblingslied!

Dem Hasen und mein Lieblingslied.

Der Hase! Der Hase! Verloren, verloren! Ich kriege den Hasen nie und nimmermehr. Jakob fühlte sich plötzlich schlapp und schlaff. Und so sah er auch aus.

»Was hast du denn? Warum hörst du denn plötzlich auf?« erkundigte sich BAMBI besorgt. »Hast du uns denn kein bißchen mehr lieb?«

»Es ist nicht an dem. Er kann nicht mehr«, konstatierte die Contessa, nachdem sie Jakob untersucht hatte wie ein Kassenarzt. »Aus. Schluß. That’s the end, folks.«

»… it keeps raining all the time …«

»Entschuldigt, bitte … Das … das ist mir noch nie passiert!«

»Aber das macht doch nichts, Jakob!« sagte BAMBI.

»Nein, nein, das ist ganz anders, als ihr denkt! Das war einmal das Lieblingslied von einem Mädchen und mir, und das Mädchen habe ich verloren, und jetzt dieses Lied …«

»Jajaja«, sagte die kesse Contessa. »Setz dich da rüber und schau uns zu, Pappi.«

Pappi sagt das Luder zu mir, dachte Jakob, ganz schwach vor Wut und Kummer. Aber er setzte sich da rüber und sah zu. Und Lena Horne sang weiter ›Stormy Weather‹, und alles, was Jakob denken konnte, war: Hase! Hase! Hase!

36

»Also meinetwegen«, sagte Jakob vier Stunden später. Sie hatten inzwischen im Restaurant gegessen (In Amerika gab es für Jakob überhaupt keine Hemmungen beim Essen, die Amerikaner hatten einen so individuellen Stil, da konnte gar nichts passieren!) und saßen nun im Salon des Appartements. Die Damen tranken ›Dom Perignon‹, Jakob trank Coca-Cola. »Also meinetwegen, du kannst bleiben, Claudia. Denn ich bin kein Unmensch. Ich helfe, wo ich kann.«

»Entschuldige, das war taktlos«, sagte Claudia. »Natürlich ist es nur das Lied gewesen, dieses verfluchte ›Stormy Weather‹. Mein Gott, mußt du diese Frau lieben …«

»Halt sofort den Mund, oder ich schmeiß dich doch noch raus!«

»Entschuldige, Jakob. Das habe ich doch voll Sehnsucht gesagt. Wenn mich doch einmal eine Frau so lieben könnte! Oder ein Mann, wenn es denn gar nicht anders geht. Die Höhe meines Gehalts festzusetzen überlasse ich dir, du bist doch ein Gentleman. Du mußt doch zugeben, daß zwei Mädchen einen Mann ungemein schmücken. Hast du alle die Kerle im Speisesaal gesehen? Denen sind ja die Augen aus dem Kopf gefallen. Ein Mädchen, na schön. Aber zwei! Da wird jeder neidisch!«

»Das ist ja auch einer der Gründe, warum ich dich engagiere, Claudia.«

»Und die anderen?«

»Es geht so nicht weiter mit mir.« Jakob seufzte.

»Aber natürlich geht es weiter! Paß auf, morgen bist du wieder wie neu!«

»Es geht nicht so weiter mit mir gesellschaftlich«, sagte Jakob erbittert.

»Bildung? Benehmen? Da hat mich heute ein Arzt auf eine Idee gebracht! Das bißchen, was man braucht, um als intellell zu gelten in den feinen Kreisen, das bringe ich mir selber bei. Pawlow! Bedingte Reflexe! Alle seine Hunde haben gesabbert, wenn’s gebimmelt hat! Das kann ich auch! Ich werde auch sabbern! Das ist alles wissenschaftlich!«

»Wenn man das so genau wüßte«, sagte die Contessa.

»Mit der Erfindung von diesem Pawlow kann ich mir selber helfen bei Benimm und Bildung. Staunen werdet ihr, was ich von mir gebe!« Jakob wurde ernst. »Nur diese Scheißgesellschaft, die wirklich feine.«

»Was ist mit der?« fragte BAMBI, gleichfalls ängstlich geworden nach Jakobs Ausbruch.

»Na, die erkennt ihn nicht an, die lacht über ihn und macht sich lustig oder verachtet ihn«, sagte Claudia. »Stimmt doch, Jakob, nicht?« Der nickte düster. »Ich würde ja drauf scheißen – zuckt nicht so zusammen, wenn man eine Contessa ist, darf man scheißen sagen, da darf man noch ganz andere Sachen sagen –, aber Jakob will unbedingt von diesen Leuten geliebt werden. Ich habe ja nie verstanden, warum. Dabei hat er ein Schloß in Bayern!«

»Du hast ein …« BAMBI versagte die Stimme.

»Ja«, sagte er böse.

»Wo?«

»Da irgendwo am Starnberger See. Einen Riesenkasten in einem Riesenpark. Fünfzig Zimmer. Zwanzig Angestellte. Direkt am Wasser.«

»Und davon hast du mir nichts erzählt! Da hast du mich noch nie hingebracht?« BAMBI war erschüttert. »Mein Leben lang habe ich mir gewünscht, einmal in einem Schloß zu wohnen! Und du hast eines und nimmst mich nicht mit auf dein Schloß, sondern fliegst mit mir um die halbe Welt zu diesen blöden Seetsch … Seetsch … du weißt schon! Warum nicht auf dein Schloß?«

»Er ist nur selten dort«, sagte Claudia. »Es ist nicht fein genug für ihn.«

»Ein Schloß?«

»Wir haben es für ihn gekauft, weißt du, liebste BAMBI.«

»Wer wir?«

»Na, ich und die Edle. Gleich am Anfang, bald nachdem wir ihn kennengelernt haben. Ein Mann wie Jakob muß ein Schloß haben, das ist doch klar – oder?« BAMBI nickte entschlossen. »Also haben wir ihm eines ausgesucht, von einem verkrachten Aristokraten. Und dann haben wir ihm eine Menge Blaublüter geliefert, die da unten ein fröhliches Leben führen.«

»Ja, und? Die mag er nicht?«

»Nein, BAMBI. Es sind nämlich eben nicht die ganz Feinen, Edlen, die er sich so sehr wünscht.«

»Was für welche denn?«

»Na, solche wie mich und die Edle. Die laufen in Rudeln von einer großen Einladung zur andern! Haben tun sie einen Dreck, nur ihren Titel! Arbeiten können sie nicht, faul sind sie, degeneriert sind sie, verkommen sind sie!«

»Schau dir doch Claudia an«, sagte Jakob zu BAMBI.

Claudia war nicht im geringsten beleidigt.

»Ja, schau mich an, BAMBI! Wir – solche wie ich oder die Edle –, die haben ihr Vermögen verspielt oder verhurt oder versoffen – wirklich gut, der ›Dom Perignon‹, mach bitte noch eine Flasche auf, Jakob, Darling, also ich sterbe ja für ›Dom Perignon‹ …! Wo war ich? Ach ja: Also diese ganze Blase kenne ich in- und auswendig. Solche wie mich und die Edle kann der Jakob so viele haben, wie er will – er will bloß mehr und Besseres. Besseres!«

Jakob kratzte sich den Kopf.

»Herrgott, aber ein Mann wie ich muß sich doch umgeben … umgeben, weißt du, Claudia …«

»Weiß schon. Kroppzeug wie mich schaffe ich dir ja auch ran! Die haben daraus einen richtigen Beruf gemacht! Schnorren, so sehr sie können. Wie ich! Bei allen und jedem. Sie können natürlich auch Kontakte zu den ganz guten Leuten herstellen.«

»Wer? Wer kann solche Kontakte herstellen?«

»Das ist nicht so einfach, weißt du, Jakob. Eines steht fest: Wenn du einen einzigen wirklich guten Namen für dich gewinnst, dann bist du drin. Dann glauben auch alle andern wirklich guten Leute, daß sie unbedingt zu dir kommen müssen – und regelmäßig! Und du wirst regelmäßig von ihnen eingeladen werden!«

»Claudia, du kennst doch Gott und die Welt! Kannst du mir nicht eine Einladung zu einem einzigen wirklich Guten verschaffen?«

»Das ist schwer.« Die Contessa wiegte den Kopf. »Verdammt schwer. Natürlich kann ich es versuchen. Aber das wird Zeit kosten. Du wirst Geduld haben müssen, Jakob.«

»Ich laß dir Zeit, ich fliege jetzt nach Rußland.«

»Wohin?« BAMBI fuhr auf.

»Geschäfte, liebes Kind. Willst du mitkommen?«

»Mitkom … o ja, ja, ja! Das wäre toll! Ich war noch nie in Rußland! Du bist doch nicht böse, Claudia?«

»Ach wo, Ihr kommt ja zurück. Und ich tue inzwischen, was ich kann. Versprechen … versprechen tu ich dir nichts. Diese Leute sind grauenhaft exklusiv!«

»Na schön. Aber wenn es klappt, dann irgendwas ganz Tolles! In einer ganz tollen Gegend! Santa Monica! Acapulco! Monte Carlo! Glaubst du … Mein Gott, Claudia, süße Claudia, daß du es schaffen wirst?«

»Ich denke schon«, versprach die süße Claudia.

»Wirst du uns nicht ßehr vermissen? Und eifersüchtig sein?« fragte die süße BAMBI.

»Eifersüchtig vielleicht. Aber das wird sich aushalten lassen. Es gibt ja auch noch andere, nicht wahr? Mein lieber Jakob, du mußt jetzt arbeiten, arbeiten, wenn du all das da willst, denn das alles kostet einen Haufen Geld, und ich will auch gut leben!«

»Was ist Geld? Laß dich umarmen, Claudia, laß dich küssen!« Er umarmte und küßte und herzte sie.

Bleich, undeutlich, schemenhaft und weit entfernt glaubte er dabei das Bild des Hasen zu sehen, der über diese so fürchterliche Veränderung des Bären todtraurig den Kopf hängen ließ.

Der Hase …

Ach was!

37

»Wie lange wird es dauern, bis das Werk gebaut ist, Jakob, mein Freund?« fragte der schwerblütige ehemalige Major Jurij Blaschenko, nunmehr einer der höchsten Beamten der höchsten Planungsstellen der UdSSR am Freitag, dem 11. Januar 1957. Die Sonne sank. Rot färbten sich die Wasser des Don.

»Jurij, das ist ein Riesenauftrag, den du mir da gibst! Mit vier, fünf Jahren mußt du schon rechnen!«

»In vier Jahren muß das Werk arbeiten, sonst schickt Chruschtschow mich nach Kasakstan zum Wüstenbewässern!«

»Wenn nicht er schon vorher dorthin verschickt worden ist, Jurij. Bei euch geht das so abrupt.«

»Nikita bleibt noch eine Weile. Jedenfalls länger als vier, fünf Jahre. Ich flehe dich an, Jakob, halte diese Frist ein. Wird das gehen?«

Jakob überlegte und sah, wie nicht nur das Wasser, sondern auch die Schiffe, die Häuser, Fabriken und Museen blutrot wurden im Abendsonnenschein.

»Wir werden uns verflucht anstrengen! Dann müßte es hinhauen!« Jakob neigte sich vor, nun kam er mit seiner Blitzidee. »Du mußt mir aber auch helfen, Jurij!«

»Was soll es denn sein, mein Alter?« Jetzt senkten sich schon die Schatten der Dämmerung über die Stadt am Strom, die Farben wechselten von Rot zu Violett und Grau und Gelb und Grün, und die ersten Sterne erschienen am Himmel, als Jakob seinem Freund Jurij erklärt hatte, was es denn sein sollte und warum. Es war eine ziemlich lange Erklärung.

»Wenn’s weiter nichts ist, Jakob«, sagte Jurij Blaschenko zuletzt.

Nämlich:

Da gab es in dem großen Russenland eine Stelle (Vorsicht, es gibt sie noch immer!), in der ist belastendes Material über viele führende Politiker und Wirtschaftler der Bundesrepublik gesammelt – auch über solche, von denen man annehmen konnte, daß sie erst noch in führende Positionen aufsteigen würden –, und zwar über ihre Tätigkeiten im Nazi-Reich. Falls sie etwas übles angestellt haben in Hitlers Reich, pflegt die Sowjetunion bei gegebenem Anlaß derlei Material über diese oder jene Persönlichkeit an die Bundesregierung zu senden. Und zugleich auch noch an ein paar andere Regierungen.

Jurij Blaschenko hatte sich Notizen gemacht, während Jakob sprach. Jetzt schüttelte er den Kopf. »Und der hat dich aufs Kreuz gelegt, Jakob? Mit dem wirst du nicht fertig? Du, der große Jakob Formann?«

»Jeder von uns hat seine schwachen Stellen, Jurij«, sagte Jakob.

38

Das Werk da bei Rostow wurde in einer Bauzeit von drei Jahren und zehn Monaten gebaut. Es war eine der ersten großen deutsch-sowjetischen Gemeinschaftsarbeiten in der schönen (und kurzen) Epoche des Tauwetters. Vor seiner Einweihung kam es allerdings fast zu einer Katastrophe, über die wir noch ausführlich berichten werden.

Während der Bauzeit erhielt Jakob dringende Bitten um Besuche aus Tokio, Warschau, Belgrad und Peking – jawohl, Sie haben richtig gelesen, auch aus Peking, Rotchina.

Jakob hatte nun eine große Verkehrsmaschine erworben.

Der Bau der Plastikfabrik bei Rostow ließ sich natürlich nicht geheimhalten. Polen, Japaner, Jugoslawen und Rotchinesen hörten davon. Sie alle brauchten Kunststoffe. Sie alle (besonders die Rotchinesen) brauchten auch noch Fertighäuser, denn ihre Menschen waren sehr arm, und viele Hunderttausende hatten kein Dach über dem Kopf. Jakob baute, lieferte und arbeitete für alle. Das waren die Jahre, in denen er unablässig von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent hetzte, in denen er sein Riesenimperium aufbaute.

Wegen seiner Aktivitäten in Rotchina sah Jakob sich erregten Protesten besonders in der amerikanischen Öffentlichkeit ausgesetzt. Die Sache kam sogar vor den Senat, ohne daß sein Freund, der liebe Senator Connelly, es verhindern konnte. An dessen Stelle sprang ihm Senator Wayne Morse bei, der sich heftig für Jakob und seine Projekte in der Volksrepublik China einsetzte und den Durchbruch mit einem Donnerruf vor vollbesetztem Haus erzielte, den wir hier wortwörtlich wiedergeben: »Handel mit Rotchina ist die einzige christliche Sache, die Amerika tun kann. Man kann den Glauben an Gott nicht mit einer Politik vereinbaren, die Menschen gelber Hautfarbe in Armut und Entbehrung halten will, weil sie nicht unsere politischen Auffassungen teilen!«

39

»Wir werden«, sagte Jakob an einem schönen Junitag des Jahres 1957, »bald Übermenschliches leisten müssen, liebe Freunde, das ist euch doch klar?«

Seine lieben Freunde nickten ernst. Es waren der Wenzel Prill, der Karl Jaschke und der fette Arnusch Franzl. Alle saßen, nur der Franzl stand. Er hatte seit längerer Zeit Schwierigkeiten beim Sitzen und stand gerne – sagte er jedenfalls.

Alle Abmagerungskuren blieben beim Franzl nur ganz kurze Zeit wirksam, und zwar deshalb, weil er sogleich nach ihrer Beendigung alles nachfraß, was er hatte entbehren müssen. Auch Hypnose und Akupunktur führten zu nichts bei ihm.

»Wir haben die moralische Pflicht«, sagte Jakob, »zu produzieren, soviel wir nur können, das ist klar. Unsere Produktionsstätten sind zu klein, wir müssen schnellstens größere, neue, bessere und vor allem mehr, viel, viel mehr bauen. Unsere Himmler-Eierfarm in Waldtrudering ist doch nur noch ein Witz! Frankfurt ist fast schon zu klein geworden. Wir müssen übersiedeln! Das Fertighaus-Zentrum in Murnau schafft es auch nicht mehr, das weißt du am besten, Karl. Meinetwegen bleibt dort wohnen wegen deiner Freundin in Garmisch-Partenkirchen, aber ich habe schon die Gelände für ein Werk bei München, eines bei Bremen und eines bei Nürnberg gekauft. Jakob Formann hat sehr viel Grund und Boden gekauft von diesen verfluchten Hunden, die Grund und Boden besitzen und jetzt die Preise hinauftreiben wie die Irren.« (Er hatte es sich, wie wir uns erinnern, in letzter Zeit angewöhnt, von sich selber häufig in der dritten Person zu sprechen.) »Wozu braucht Jakob Formann soviel Grund und Boden? Weil er Siedlungen für seine Arbeiter und Angestellten rund um jedes Werk anlegen will. Hochhäuser, aber auch Häuschen mit Gärten, alles mit allem Komfort. Supermärkte. Kinos. Ärzte. Und so weiter, und so weiter. Jakob Formann denkt stets an alle, die für ihn schuften! Er hat eine beispielhafte soziale Einstellung! Das ist wahrer Sozialismus!«

»Du kannst ihnen auch noch japanische Seidentapeten und Klos aus Gold schenken, und sie werden doch ›dreckiger Ausbeuter‹ und ›Er tut’s ja nur aus schlechtem Gewissen‹ sagen und auf dich scheißen«, sagte dazu der Arnusch Franzl, schnaufend an einer Hornbrille rückend, die er sich zugelegt hatte, um noch seriöser auszusehen.

»Du bist und bleibst ein Zyniker!« sagte Jakob mit Betonung und sah seine Stabsmannschaft erwartungsvoll an. In der Tat zeigten alle ein erfreutes Erstaunen darüber, daß er das Wort kannte.

»Wie es so geht im menschlichen Leben! Lehr mich die Menschen kennen«, brummte der Arnusch Franzl.

Die Zusammenkunft fand in der Bibliothek von Jakob Formanns Schloß am Starnberger See statt, das er seit einiger Zeit wieder ohne Hemmungen bewohnte, wenn er in der Nähe war. Die zentrale Verwaltung aller seiner Unternehmen befand sich in Frankfurt am Main. Jakob hatte seine ältesten und engsten Mitarbeiter über ein Wochenende zu Gast gebeten. Infolge der vielen neuen Freunde, die er hatte, wurde dieses Wochenende kein großer Erfolg.

So zum Beispiel gab es jetzt, mitten in der Besprechung, eine Unterbrechung von etwa zehn Minuten, weil Jakob einige neue Barone, Gräfinnen, Grafen und eine leibhaftige Hoheit begrüßen mußte. Die Herrschaften waren soeben eingetroffen. Das Schloß war seit langem voll mit Blaublütern. Sie wohnten hier, sie aßen und tranken hier nach Herzenslust, sie benutzten Jakobs drei Motorboote für Rennen auf dem See und seine schönen großen Wagen für Freundschafts-Rallyes über besonders schwierige Strecken in den nahen Alpen. Sie hatten ununterbrochen ›neue hochinteressante Projekte‹ zu offerieren, die natürlich Geld kosteten. Jakob gab es ihnen. Aus den ›Projekten‹ wurde niemals etwas. Die meisten dieser Parasiten schnorrten Jakob an, ohne jede Hemmung und bar jeder Scham. Er spendete stets reichlich. Dafür durfte er die Erlauchten aber auch mit ›Du‹ anreden, und sie redeten ihn mit ›Du‹ an, denn wie ein österreichischer Fürst sagte: »Wir sind alle Menschen, keiner soll sich besser vorkommen als der andere. Du bist genauso wertvoll wie wir, auch wenn du aus der Hefe des Volkes kommst.«

Das hatte Jakob, als er es hörte, nur grimmig belustigen können.

Als er zu seinen ältesten und engsten Mitarbeitern in die Bibliothek zurückkehrte, sahen ihm die drei ernst entgegen.

»Was habt ihr denn? Warum schaut ihr mich so ernst an?« fragte Jakob.

»Wir haben gerade darüber gesprochen, wie sehr du dich verändert hast«, antwortete Fertighaus-Jaschke.

»Ich mich verändert? Lächerlich!«

»Leider gar nicht lächerlich«, sagte Wenzel Prill. Er sah elend aus vor Überarbeitung – neben seiner Tätigkeit als Leiter aller Rechtsabteilungen von Jakobs Betrieben und als unermüdlicher Jäger von Rothaarigen studierte der nunmehr zweiundvierzigjährige noch immer Jus an der Frankfurter Universität. Mit fünfzig, zweiundfünfzig Jahren konnte er hoffen, seinen Doktor zu machen. So spät erst, weil er sein Studium natürlich dauernd unterbrechen mußte. »Leider gar nicht lächerlich, Jakob«, wiederholte Wenzel beklommen. »Und wie du dich verändert hast! Du merkst es nicht. Wir merken es wohl. Und viele andere Leute leider auch. Okay, okay, wir werden dir natürlich weiter mit allen unseren Kräften zur Verfügung stehen, wenn du jetzt auch bereits wahnsinnig, ja lebensgefährlich übertreibst!«

»Wieso übertreibe ich?« fragte Jakob. Draußen brannte die Sonne, die Fenster standen offen, und man hörte das Aufschlagen von Bällen auf den beiden Tennisplätzen hinter dem Haus, Stimmen und Gelächter. Ab und zu raste auf dem See ein Motorboot vorbei. »Du bist Multimillionär. Mehr als ein Steak auf einmal kannst du nicht fressen«, sagte Karl Jaschke aus Murnau. »Mehr als mit einem Mädchen kannst auch du nicht auf einmal schlafen.«

»Hast du eine Ahnung!« rief Jakob stolz.

»Unterbrich mich nicht. In mehr als einen Rolls kannst du deinen Arsch zur gleichen Zeit nicht setzen! Auch nicht in zwei Flugzeuge zur gleichen Zeit! Auch nicht mehr als einen Anzug von Cardin kannst du auf einmal tragen.«

»Jajaja. Was soll das heißen, bitte?«

Jetzt war die Reihe wieder an Franzl Arnusch: »Das soll heißen, daß du furchtbare Fehler begehst.«

»Jakob Formann begeht keine furchtbaren Fehler.«

Und das Ping und Pong und Ping und Pong von den Tennisplätzen.

»Du begehst drei furchtbare Fehler, mein Bester«, sagte der Arnusch Franzl. »Wir haben gerade über sie gesprochen. Der erste ist, daß du dein Imperium immer weiter vergrößerst, anstatt es zu sichern. Das ist gegen jede unternehmerische Vernunft. Wie es so geht im menschlichen Leben.«

»Blödsinn«, konterte Jakob, lachend zu den erlauchten Bildern der Ahnen aufsehend, die nicht die seinen waren. »Das ist das erste Gesetz jedes Unternehmers! Expandieren! Expandieren! Es tut mir leid, daß ich das ausgerechnet dem Chef des Rechnungswesens meiner Gesellschaften sagen muß! Ich weiß schon, was ich tue. Erlegt euch keinen Zwang auf! Und nun, bitte, den zweiten ›furchtbaren Fehler‹«, sagte Jakob ironisch. »Also bitte!«

»Schön, also zweitens: Du bist bereits soweit, alle anderen Menschen für blöd zu halten«, sagte Wenzel anklagend.

»Na, das sind sie doch auch!«

»Wenn alle Menschen blöd sind, dann bist du es auch. Das ginge noch. Lebensgefährlich wird es, wenn du davon überzeugt bist, der einzig Gescheite zu sein.«

»Ich habe ja euch zur Seite!« Jakob wurde grob. »Wenn es wirklich mal lebensgefährlich wird, entschärft ihr die Lage. Ihr seid nicht blödsinnig. Sonst hätte ich euch nicht engagiert.«

»Sehr liebenswürdig«, sagte Karl Jaschke leise.

»War doch nicht bös gemeint!« Jakob haute ihm auf die Schulter. »Aber wenn ihr schon damit angefangen habt, dann will ich auch wissen, welchem dritten ›furchtbaren Fehler‹ ich im Laufe meiner so entsetzlich verfehlten Entwicklung verfallen bin.«

»Du willst unbedingt in diese beschissene High Society«, sagte Wenzel, und er sprach, als hielte er bereits die Grabrede für Jakob. »Du willst, daß die Großen – nebbich – dieser Welt dich achten und lieben und fürchten – fürchten, ja, das kommt auch noch, warte nur ein Weilchen – und dich anerkennen als ihresgleichen. Nicht das Gesocks hier. Nein, das genügt dir nicht! Es müssen ganz feine Grafen und Fürsten sein und ganz gediegene Millionäre und Rothschilds und Rockefellers und Agnellis! Erst wenn du in ihre Welt eingebrochen bist, wirst du zufrieden sein! Wenn diese Großen nicht mehr hinter deinem Rücken über dich lachen werden – oder dir sogar mitten ins Gesicht!«

»Ihr habt ja Kompott im Hirn!« antwortete Jakob mit ärgerlich erhobener Stimme. »Ich scheiße auf diese ganzen Idioten! Es ist mir doch völlig egal, ob sie über mich lachen oder nicht! Also, da irrt ihr euch aber gewaltig, wenn ihr glaubt, daß ich mich nach Anerkennung durch dieses Pack sehne …«

»Nun beruhige dich, Jakob«, sagte Wenzel. »Wir meinen es doch nur gut mit dir! Wir machen uns doch nur Sorgen um dich!«

»Um mich braucht ihr euch keine Sorgen zu machen!« rief Jakob. »Um euch, um euch könnt ihr euch meinetwegen Sorgen machen! Und mit Recht! Daß ihr so lange mit mir zusammenarbeitet, ist noch keine Lebensversicherung, kapiert?« Er erschrak heftig über sich selbst, wechselte die Farbe und stammelte: »Das habe ich nicht so gemeint … Das ist mir nur so herausgerutscht … Meine alten Freunde! Meine besten Freunde! Die mit mir im Dreck angefangen haben! Mit nichts! Niemals würde ich einen von euch fallenlassen, niemals!«

Die drei saßen reglos.

»So sagt doch was!«

»Klar«, sagte Wenzel endlich, und die anderen nickten. »Du hast das in deiner Wut gesagt, wie ein unartiges Kind. Aber bald wirst du es nicht nur in Wut sagen und wie ein Kind, sondern du wirst es wirklich glauben!«

»Das werde ich nie! Natürlich habe ich viele fröhliche Huren hier und Burschen, die sich damit brüsten, keinen Verstand zu haben! Aber gönnt ihr mir nicht das Recht auf ein wenig Spaß? Wenn ich schon so schwer schufte? Schaut doch euch an! Ihr habt doch auch jeder was! Der Wenzel seine Rothaarigen! Der Jaschke seine Süße in Garmisch! Der Franzl sein Fressen! Und ich darf nichts haben, womit ich mich amüsiere, worüber ich lachen kann? Ich weiß doch genau, was ich von diesen Kaschperln zu halten habe! Ich leiste mir eben mein Kaschperltheater! Aber ich nehme es doch nicht im Traum ernst!« Das Telefon, das vor ihm stand, läutete. Jakob hob ab.

»Ferngespräch, Herr Formann«, sagte ein Mädchen in der Telefonzentrale des Schlosses. (Drei Mädchen taten da Dienst rund um die Uhr.) »Comtesse della Cattacasa verlangt Sie. Aus Cannes.«

»Bitte, verbinden Sie, liebe Anni.« Jakob sagte zu seinen Freunden: »Nur einen Moment. Das ist Claudia … Claudia? … Ja, ich bin’s, dein Jakob …«

An dieser Stelle sagte Karl Jaschke laut und vernehmlich: »Verflucht, sprach Max und schiß sich in die Hose.« Aber keiner lachte. Alle hörten, was Jakob nun am Telefon sagte.

Dies:

»Nein, ich bin nicht mehr in Tokio! Tut mir leid, daß du es dort versucht hast … Was gibt’s denn? … Was hast du geschafft? … Was? … Verdammt noch mal, gerade jetzt, wo ich soviel zu tun habe! Und soviel im Kopf! … Ja, ja, ja, ich weiß, ich habe dich darum gebeten, aber so wichtig ist das nun auch wieder nicht gewesen, mein liebes Kind … Natürlich ist mir bekannt, daß der Mann einer der drei größten Reeder Englands ist! Na wenn schon! Ich bin auch wer! … Wie? … Klar, man kann nicht mehr gut absagen, wenn er uns schon eine Einladung geschickt hat … Hm, hm, hm … Nein, so habe ich es nicht gemeint, Claudia! Ich bin dir auch sehr, sehr dankbar für deine Bemühungen! Aber gerade jetzt … Es soll bloß nicht der Eindruck entstehen, daß ich mich aus lauter Geltungssucht darum reiße, verstehst du? … Klar, es ist eine Sache der Höflichkeit! Also meinetwegen, werden wir halt hingehen … Wo ist das? Saint-Jean-Cap-Ferrat? … Selbstverständlich weiß ich, wo Saint-Jean-Cap-Ferrat liegt, liebes Kind, ich komme ja nicht gerade aus dem Kohlenkeller, wie? … Natürlich Tenue de soirée … Ja, kauf dir neue Kleider … Nein, da nicht! Bei Emilio in Rom! … Was? BAMBI ist auch eingeladen? Tck! Wieso BAMBI? Wird das gutgehen? Ich meine: Wird BAMBI nicht aus dem Rahmen fallen? … Na schön, wenn du meinst, Claudia … Also kleidest du auch BAMBI neu ein … Ach, wenn wir schon dabei sind: Mit euerm Schmuck könnt ihr da natürlich nicht hingehen in meiner Gesellschaft. Diesen Schmuck hat man schon zu oft gesehen … Neuen, natürlich neuen! … Ja, geh zu ›Cartier‹! Und nimm BAMBI mit! … Werde ich sie dir halt noch heute mit einer ›Learstar‹ nach Cannes schicken … Das weiß ich, daß sie in Nizza landen muß … Du hast doch den Mercedes Sport, den ich dir zum Geburtstag geschenkt habe, unten … oder? … Gut, dann hol BAMBI ab … Ach ja, wo bist du abgestiegen? … Natürlich, Hotel MAJESTIC … Am fünfundzwanzigsten ist die Gala? Da habe ich ja noch elf Tage Zeit … Da kann ich noch in Ruhe nach Peking fliegen! … Wie viele Gäste? …Zweiundachtzig? Großer Gott, ein Gedränge wird das werden … Tja, Claudia … ich muß jetzt Schluß machen. Ich habe eine wichtige Besprechung. In einer Stunde rufe ich dich an! Ciao, Claudia, Ciao …«

Jakob ließ den Hörer fallen.

Er saß da, als sei er im Sitzen gestorben. Mit einem idiotischen Lächeln des Triumphes auf den Lippen. Seine Freunde hatten sich, während er sprach, erhoben und waren in der Bibliothek auf und ab gegangen. Sie standen nun neben ihm, der langsam wieder zum Leben erwachte.

Jakobs Lächeln verschwand. Ernst und gefaßt wurde sein Gesichtsausdruck.

»Verzeiht die blöde Störung«, sagte er. »Ich bin da bei Sir Alexander Mills eingeladen. Auch noch alle diese Einladungen! Und all das Gequatsche mit all diesen Hocharistokraten und berühmten Schriftstellern und Malern und Bankiers … Als ob man nicht schon genug zu tun hätte!«

Das einzige, was er nicht beherrschen konnte, waren seine Hände. Die zitterten. Seine Freunde sahen es wohl. Über Jakob Formanns Kopf hinweg blickten sie einander sorgenvoll an.

40

Jakob Formann war vollkommen verzweifelt.

Sein Rolls-Royce, den er nach Cannes hatte fahren lassen, war nicht in Bewegung zu setzen. Der Verteiler sei im Eimer, sagte ihm Otto, einer der drei Chauffeure, die er mittlerweile beschäftigte.

»Tut mir leid, Jakob, aber da ist nichts zu machen. Bis ein Mechaniker aus London kommt und das Zeug repariert, vergehen zehn Tage. Es gibt aber in der Rue d’Antibes eine Großgarage, da kann man alle Arten von Luxusautos leihen.«

»Leihen!« sagte Jakob im Salon seiner Suite im Hotel MAJESTIC dumpf.

»Bist du wahnsinnig geworden, Otto? Willst du mich ruinieren? Ich kann doch nicht mit einem geliehenen Rolls nach Saint-Jean-Cap-Ferrat fahren!«

Natürlich. Gerade am fünfundzwanzigsten, dem Tag der Gala, die Sir Alexander gab, mußte der verfluchte Rolls kaputt sein.

»Nehmen wir eben den großen Merßedes«, sagte BAMBI. »Den hast du doch auch herkommen lassen, Jakob. Herr Emil hat ihn gefahren.«

»Mercedes? Wie stellst du dir das vor, BAMBI? Ich kann doch unmöglich mit einem Mercedes vorfahren! Die glauben ja, ich stehe vor der Pleite!« So ging das stundenlang. Am Ende waren es dann doch Otto Radtke und der Mercedes. Nichts zu machen.

Sie fuhren von Cannes nach Nizza. Saint-Jean-Cap-Ferrat liegt zwischen Nizza und Villefranche-sur-Mer. Es war ein heißer Sommerabend. Im Wagen war es angenehm kühl. Otto trug eine etwas übertriebene Uniform. Er sah aus wie ein Operettengeneral. Und die beiden Damen, die mit Jakob fuhren, sahen erst aus! Also schöner konnten Damen nicht aussehen! Die braune BAMBI trug ein hautenges, direkt auf ihren Körper gearbeitetes Kleid aus einem goldenen Glitzerstoff, sie hatte es von Emilio Schubert, und auch gesagt, wie der Stoff hieß, aber Jakob hatte es vergessen. Dazu Schuhe, die wie aus Gold gemacht aussahen. Und nur Rubinschmuck – rot, rot, rot! Der Riesenring, die Ohrringe, die Handgelenk-Geschmeide, das Collier. BAMBI saß neben Otto vorne. Sie sagte zu wiederholten Malen:

»Der Wahlspruch von uns Mannequins ist: Man muß ßein Bestes geben. Ich werde mein Bestes geben, ßeid ganz beruhigt.«

Otto antwortete jedesmal, daß er ganz beruhigt sei.

Jakob hingegen war nervös. Trotz der drei Beruhigungstabletten. Jakob schwitzte in seinem weißen Smoking, an dessen linkem Revers die Spangen von allerlei hübschen Orden und Ehrenzeichen prangten. Rot war die Fliege, das Smokinghemd vielfach gefältelt, die Manschetten hatten richtige Rüschen. Die glänzenden Lackslipper kniffen die in schwarzen Seidensocken steckenden Füße.

Sie fuhren am abendlichen Mittelmeer vorbei.

»Das Mittelmeer kennt weder Ebbe noch Flut«, dozierte Jakob. O ja, er hatte sich informiert. Er war gewappnet. Für jede Art von Konversation! Da hatte er seit seinem Besuch bei dem Psychoanalytiker Dr. Watkins an sich selbst gearbeitet, hart und unablässig. Claudia hatte ihm geholfen. Noch in Cannes war sie mit ihm das ganze Alphabet durchgegangen. Für jeden der vierundzwanzig Buchstaben kannte Jakob eine Anzahl von Begriffen oder Wörtern, mit deren Hilfe er seine Meinung zu den verschiedensten Themen (eigentlich zu beinahe allen denkbaren!) in Formulierungen äußern konnte, ähnlich der über Wagner und Meyerbeer, die ihm Dr. Watkins als Beispiel gegeben hatte.

Claudia, die blonde Contessa della Cattacasa, saß neben ihm. Sie trug ein Abendkleid aus hellblauem Chiffon, raffiniert gerafft. Dazu war sie behängt mit einer Ladung Saphirschmuck – auch eine ganze Garnitur. Im Mercedes roch es wie in einer Parfümerie, die ausschließlich ›Jean Patou‹-Parfums vertrieb.

Beide Damen zeigten bloße Schultern und erregende Dekolletés.

Otto bog nun rechts ab.

Saint-Jean-Cap-Ferrat: 1,5 km, stand auf einer Tafel.

Der Mercedes rollte auf die kleine Halbinsel hinaus.

»Dies«, gab Jakob bekannt, »war einmal ein Fischerdorf. Nun hat es sich zu einem Paradies der Reichsten der Reichen entwickelt – in der Mitte der Ostküste. Wer hier wohnt, kann sich sowohl in Nizza wie in Cannes wie in Monte Carlo vergnügen. Ein Kleinod.«

»Wie die Seetschellen?« fragte BAMBI.

»Wie die Seychellen, mein liebes Kind.«

»Wir ßollten auch hier ein Haus haben«, meinte BAMBI.

»Werden wir, werden wir«, murmelte Jakob, seine schweißnassen Hände reibend, verzweifelt immer wieder die Hasenpfote in der Smokingtasche pressend. »Vergiß nicht, BAMBI, du hast mir versprochen, schön zu sein und den Mund zu halten!«

»Willst du damit vielleicht ßagen, daß ich doof bin?« BAMBI regte sich auf.

»Um Himmels willen! Nur, du bist so schön … so schön … Die schönen Frauen sprechen kaum. Sie lächeln nur geheimnisvoll.«

»Sso?« fragte BAMBI und gab eine Kostprobe.

»Genau so, mein liebes Kind!«

»Wenn ich das nicht kann! Jahrelang habe ich das trainiert bei den Fotografen!« BAMBI war wieder besänftigt. Jakob warf Claudia einen Blick zu. Diese nickte dem Erschöpften aufmunternd zu. Ihr Blick sagte: Mut, nur Mut, es wird schon schiefgehen.

Wenn man etwas verschreit …

41

Natürlich war es noch zu früh.

»Man kommt nicht zu früh«, sagte die Contessa. »Zu spät ja, aber nicht zu früh. Das ist nicht fein. Wir müssen noch ein bißchen herumfahren, Otto. Zuerst zur Midi-Plage.« Claudia kannte sich hier aus. Sie sprachen alle Englisch miteinander, ganz blödsinnig, denn sie alle konnten deutsch. Mit Französisch war das so eine Sache. Jakob sprach es jetzt halbwegs, Claudia natürlich fließend, BAMBI kein Wort, Otto etwa so gut wie Jakob. Claudia hatte gesagt, daß hier unten jeder zweite Englisch verstehe und spreche. Ja, und was macht man mit jedem ersten?

Otto hatte den Mittelpunkt des Ortes, die Place Clemenceau, erreicht und bog nun, wie Claudia ihn geheißen hatte, zur Midi-Plage nach links ab. Rot färbte die sinkende Sonne das Meer. (Genauso rot wie den Don bei Rostow, dachte Jakob. Bei Rostow tut sie das freilich mit viel mehr Berechtigung! Wagner kann ich nur folgen, solange er von Meyerbeer beeinflußt ist.)

»Immer noch zu früh«, sagte Claudia. »Otto, fahren Sie jetzt zum kleinen Hafen und zur Kirche.«

»Jawohl, Frau Gräfin.«

Schließlich war es an der Zeit. Die Halbinsel bevölkerte sich mit Rolls-Royces, Bentleys, Cadillacs. Und ich mit meinem Mercedes, dachte Jakob voll Bitterkeit. In der Erde würde ich am liebsten versinken.

»So, Otto, nun können wir«, sagte Claudia. (Sie waren am Badestrand Anse de la Scalette angekommen. Die Straße folgte ihm eine Weile, dann führte sie in Kurven zur Spitze der Halbinsel. Da oben sah Jakob einen alten Wachtturm, eine Kapelle, einen Friedhof und eine riesige Statue.)

»Die Statue ist aus Bronze, die Madonna von Galbusieri«, gab Claudia bekannt, die seinen Blicken gefolgt war.

Verflucht, Galbusieri, dachte Jakob. Nie gehört. Da geht kein Sabbern. Nix. Hoffentlich kommt nicht die Rede auf diesen Galsowieso.

Zu seiner Überraschung hielt Otto plötzlich.

»Was ist los?«

»Wir sind da, Jakob.«

»Das gehört schon Sir Alexander?«

»Das gehört schon Sir Alexander«, sagte Claudia, kühl bis ans Herz hinan. »Rund um die ganze Inselspitze. Habe ich dir doch gesagt, Jakob. Ein ungeheurer Besitz, du wirst sehen.«

Otto war ausgestiegen, öffnete die vordere und die hintere Wagentür und war den Herrschaften beim Aussteigen behilflich.

Jakob hatte weiche Knie.

Er stand auf einem Parkplatz, der so groß war wie ein halbes Fußballfeld. Weißer Schotter. Ein Wagen nach dem andern kam angeglitten. Hielt. Chauffeure oder Diener rissen Schläge auf. Jakob sah gebannt, was da so alles aus den Wagen quoll – Herren mit Silberhaar oder ganz ohne, Damen sehr jung, sehr alt, allesamt unirdisch kostbar gekleidet, mit so viel Schmuck behängt, daß es Jakob schwindlig wurde. Zum Glück sind meine Sachen von ›Cartier‹ auch nicht ohne, dachte er. Mies … so mies sind viele von den Weibern! Je mieser, um so mehr Klunker. Donnerwetter, aber da gibt es ja auch einen Haufen junge Dinger, bei deren Anblick wird dir gleich freundlich in der Hose, da muß ich an den idiotischen Dr. Watkins und meine angebliche Sexualschwäche denken! Junge, Junge, sind das Puppen! Ganz Hollywood. Aber nicht auf Tinnef, sondern echt.

Jakob sah, daß sehr viele der Ankommenden einander kannten, sich umarmten, auf beide Wangen küßten. Tja, und ich gehöre jetzt auch dazu, sinnierte er benommen. Wer hätte das gedacht vor zehn Jahren, als ich noch Civilian Guard am Fliegerhorst Hörsching war, ein armer Hund in einer gefärbten Ami-Uniform und mit durchgelatschten Schuhen! Als ich noch bei der Pröschl-Bäuerin lebte mit dem Hasen …

Dem Hasen! durchschoß es ihn siedend heiß.

Ach was, dachte er sofort trotzig. Du solltest mich jetzt sehen, Hase, mich und meine beiden Schönen, hier bei der Welt zu Gast, und du mit deinem Kleiderladen und deinem Strizzi, diesem Schmierenkomödianten. Na ja, du hast ja nicht mir mir kommen wollen, damals in Düsseldorf. Warst böse auf mich. Hast meine Liebe nicht haben wollen. Wer nicht will, der hat schon.

Gott, was ich mich wegen dem Mercedes geniere!

Jakob war sofort mit seinen Begleiterinnen von dem Wagen fortgeeilt, so weit es ging. Da stand der Mercedes nun, erbärmlich hineingequetscht zwischen zwei Rolls-Royces. Dabei habe ich auch zwei solche, dachte Jakob, und der Schmerz ließ seine Lider flattern. Was denn, zwei Rolls? Auch eine ›Superconstellation‹ habe ich und zwei ›Learstars‹! In einer ›Learstar‹ hätte ich kommen müssen, da ist Platz für vierzehn Gäste, bequem. Das wäre standesgemäß gewesen. Nur daß man auf so einem verfluchten Autoparkplatz nicht landen kann. Zum Kotzen. Man hat und hat und kann’s nicht zeigen! Reden darf man auch nicht darüber, sonst glauben die hier, ich bin ein Neureicher, der nur angibt.

Leger, Jakob, vornehm, Jakob, lässig, Jakob!

Okay.

Gehen wir also leger, vornehm und lässig auf das geöffnete Tor zum Park, meine Schönen und ich, als Gleiche unter Gleichen. (Ich habe dafür gesorgt, daß mich im Laufe des Abends ein paar Leute anrufen werden, weil es ganz dringend ist – aus Tokio und Washington und aus Belgrad und … und …)

Jakob schritt, rechts eine Beauty, links eine Beauty, in den Park hinein. Er schritt zwölf Minuten.

Wirklich und wahrhaftig zwölf Minuten.

Was für ein Park, lieber Gott!

Der weiße Kiesweg, auf dem vor und hinter Jakob und seinen zwei Hübschen nun sehr viele andere Gäste wandelten, war zu beiden Seiten gesäumt mit riesigen Palmen, Kiefern, Eukalyptus-, Zitronen- und Orangenbäumen. Im letzten Tageslicht sah Jakob mächtige Blumenbeete, kunstvoll angelegt, sah er Rosen, Mimosen, Oleander. Sah er Marmorstatuen, Marmorbänke, Pavillons und helle Lichtungen, auf denen weiße Gartenmöbel standen. Doch nicht nur phantastische Bäume säumten den langen Weg. Da stand auch eine nicht zu zählende Schar von Dienern. Reglos. Schwarze Hosen, weiße Jacketts, weiße Fliegen, weiße Handschuhe.

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