Zu jener Zeit lag Mrs. Fletcher im Schlafzimmer ihres Salons wild schluchzend bäuchlings auf dem Bett und schlug mit den Fäusten auf die Kissen ein. Ihr Körper bäumte sich immer wieder auf. Es war ein schrecklicher Anblick, den Gott sei Dank niemand sah. Neben ihr lag ein Brief. Laureen hatte ihn nach dem Erwachen gefunden und gelesen. In diesem Brief stand:

Geliebter Schatz!

Ich habe nicht den Mut gehabt, es Dir zu sagen, darum schreibe ich es. Und gebe einen Weckauftrag für 20 Uhr. Damit du Deinen Zug nicht versäumst. Wenn Du also um 20 Uhr geweckt wirst, wirst Du diesen Brief finden. Ich weiß, ich tue Dir sehr weh – aber es geht nicht anders. Natürlich kann ich nicht mit Dir an die Riviera fahren, denn ich muß zurück zu meinen Eiern, und zwar schnell. Verzeih mir. Du erreichst Deinen Zug leicht, er geht erst um 24 Uhr. Ich danke Dir für all Deine Güte. Vielleicht werden wir uns einmal wiedersehen. Wer weiß?

Ganz zärtlich umarmt Dich Dein Jakob,

in dem Du einen Freund fürs Leben gewonnen hast.

Tausend Bussi!

P. S. Dem Portier habe ich gesagt, ich fahre schon voraus an die Riviera. Keine Angst!

57

»Sie verfluchter Hund«, hörte Jakob eine Stimme toben. Es war am 9. Februar 1947. Jakob saß auf einer Kiste in einer der zweckentfremdeten ehemaligen Fabrikhallen nicht weit von Frankfurt am Main. Auf einer anderen Kiste saß Wenzel Prill. An die siebentausend Küken zwitscherten um sie herum. Von draußen donnerte es weiter: »Faule Sau! Glauben Sie, ich sage Ihnen zehnmal, Sie sollen Ihre Batterien reinigen? Mann, waren Sie vielleicht in der Partei?«

Eine ängstliche Stimme: »Nein, bitte.«

Die tobende Stimme: »Warum nicht? … Eh, ich meine: Wo waren Sie, als die Mörder herrschten?«

»An der Front …«

»SS?«

»Auch nicht. Ga … ganz normaler Schütze Arsch …«

»Zum Kotzen! Wenn Sie in der Partei oder in der SS gewesen wären, dann könnte ich jetzt wenigstens Ihren Ausschluß beantragen … eh, Ihre Bestrafung fordern! Faules Pack! Glaubt wohl alle, ihr seid noch unterm Hitler, was? Habt nicht gemerkt, daß eine neue Zeit angebrochen ist – wie?«

»Wem gehört denn das kräftige Stimmchen?« fragte Jakob.

»Hölzlwimmer heißt der Kerl. Mein Stellvertreter, wenn du willst.«

»War dieser Hölzlwimmer im Gefängnis oder im KZ?«

»KZ! Gefängnis! Mensch, ich lach’ mich kaputt! Ein alter Nazi ist er! Hat vor 45 genauso gebrüllt und getobt mit den armen Hunden, die ihm ausgeliefert waren hier.«

»Was heißt hier?«

»Na, hier in dieser Flugzeugfabrik! Der Hölzlwimmer, der war hier Vertrauensmann der Partei für die Deutsche Arbeitsfront!«

Jakob starrte Wenzel an.

»Und so was setzt du als Aufpasser ein?«

»Selbstredend«, sagte Wenzel. »In Waldtrudering und in Bayreuth habe ich das auch getan. Es gibt keinen Besseren. Diese Typen haben es in sich, Junge. Gestern Nazis, heute Superdemokraten! Brüllen und drohen und bescheißen. Funktionäre eben! Das ist kein Beruf. Das ist ein Charakter. Du wirst dich noch wundern, mein Alter, wie das weitergeht mit denen. Wir sind ja nur klein-klein. Aber warte mal die Großkopfeten ab – in der Politik, in der Kultur, in den Parteien, in der Industrie! Gestern: Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Heute: Freiheit und Demokratie! Morgen: Rotfront und Arbeitereinheit. Funktionäre! Die Herren der Zukunft!«

»Den Typ muß ich mir ansehen«, sagte Jakob zu Wenzel. Sie gingen ins Freie.

Wenzel machte die Herren miteinander bekannt. Ein Ehrenmann, dieser Ignaz Hölzlwimmer, dachte Jakob. Also wirklich! Das selbstbewußte Auftreten. Die imposante Erscheinung. Die blauen Augen, die so aufrecht, treu und wahr ins Leben blicken, das herzhafte Lachen … Wenn man sich dagegen ansieht, was sonst so zwischen den Flugzeughallen im Schneematsch herumschlurft, könnte man meinen, das sind lauter pervertierte Asoziale, die zu Arbeit und etwas Würde angetrieben werden müssen von eben jenem unermüdlichen Ignaz Hölzlwimmer, der allerdings, wie Jakob sehr schnell feststellte, überhaupt nichts arbeitete (und auch im Tausendjährigen Reich niemals gearbeitet, aber seine Haltung offenbar von Napoleon persönlich vermittelt bekommen hatte).

Markig war Hölzlwimmers Händedruck, bewegt waren seine Worte: »Glücklich, Sie endlich kennenzulernen, Herr Formann. Auszeichnung, für Sie arbeiten zu dürfen …«

Hm …

Auszeichnung …

Hmmmm!!!

Da fällt’s mir wieder ein! In der Münchner NEUEN ZEITUNG habe ich es gelesen vor drei Tagen. Überschrift: ›Auszeichnung für österreichischen Devisenfahnder‹! Und auch an den Text darunter kann ich mich noch einigermaßen erinnern. So etwa stand es da: ›Den größten Devisenschieber Belgiens, Robert Rouvier, ließ ein österreichischer Fahndungsagent bei der Bekämpfung des illegalen Devisenhandels in Brüssel auffliegen. Zur Entgegennahme einer Auszeichnung wird er am 20. Februar im Bundeskanzleramt Wien von Bundeskanzler Ing. Dr. Leopold Figl persönlich und von vier hohen Beamten empfangen werden.‹

Das war die Meldung. So gefreut habe ich mich, daß der Arnusch Franzl auch noch eine Auszeichnung kriegt dafür, daß ich dem Schieber Rouvier zweihunderttausend Dollar abgeknöpft habe. Und jetzt spricht dieser Hölzlwimmer von der Auszeichnung, für mich arbeiten zu dürfen!

Er klopfte dem forschen Herrn auf die Schulter.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Herr Hölzlwimmer.«

»Danke, Herr Formann! Tue mein Bestes! Manche von den Kerlen – wie der eben – haben leider immer noch nicht kapiert, worum es geht. Glauben, daß sie es sich hier gemütlich machen können mit amerikanischen Rationen und Kohlen für die Familien und dem Grundstein einer gesicherten Existenz. Keine Sorge! Werde die Kerle schon auf Vordertrab bringen!«

»Davon bin ich überzeugt, Herr Hölzlwimmer.« Vordertrab – schönes Wort!

»Nur meine Pflicht und Schuldigkeit! Verantwortliche Stellung, die mir Herr Prill da anvertraut hat. Weiß Vertrauen zu schätzen. Wo ein barbarischer Unrechtsstaat das eigene Volk fast vernichtet hat, ist es eine Selbstverständlichkeit für jeden redlich Gesinnten, bis zum Umfallen zu schuften beim Wiederaufbau des Vaterlands – in Frieden, Freiheit und Demokratie. Als Bollwerk gegen den Osten.«

»Gegen wen?«

»Na, die Russen! Wen gibt’s denn in Europa noch, der die Rote Flut aufhalten könnte? Italien? Frankreich? Österreich? Lächerlich! Alles Schlappschwänze! Wie schon im Krieg! Nein, diese Aufgabe ist uns beschieden, Herr Formann!«

»Nun ja, Herr Hölzlwimmer«, sagte Jakob. »Sagen Sie, Herr Hölzlwimmer« (der Name gefiel Jakob!), »Sie waren schon früher hier?«

»Jawoll, Herr Formann. Hier sind Flugzeuge gebaut worden. Die Zentrale war aber in der Nähe von Berlin! Ist ausgebombt natürlich! Aber Fachleute sind noch da, beiseite gebrachtes Material und Maschinen sind noch da! Ich weiß doch Bescheid! War oft genug dort! Hinbefohlen, verstehen Sie? Um mich anscheißen zu lassen. Besonders von einem solchen Nazi! Hohlweg heißt das Schwein! Ist natürlich ein Superkommunist heute, klar!«

»Klar«, sagte Jakob.

»Ganz mieses Stück! Ist jetzt ganz oben! Brüllt in der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung herum, so wie er unter den Nazis mit mir herumgebrüllt hat! Versorgung, das ist natürlich vor allem Ernährung … Was schauen Sie so? Ach, weil ich auch mit Ernährung … ja, das ist wirklich komisch, hahaha!«

»Hahaha, Herr Hölzlwimmer.«

»Alle diese Nazis machen jetzt natürlich gemeinsame Sache mit den Russen! Was glauben Sie, was da vorbereitet wird in der Sowjetzone? Was glauben Sie, was da bald losgehen wird? Die Amis sind ja so harmlos! Die werden’s erst mitkriegen, wenn’s schon fünf vor zwölf ist! Und dann müssen wir unsern Mann stehen, Herr Formann! Wir! Vertrauen gegen Vertrauen! Demokratie verdient nur der, der sie mit allen Kräften verteidigt!«

»Schön haben Sie das gesagt, Herr Hölzlwimmer.«

»Meine Ansicht eben! Verlaß auf mich, Herr Formann! Bei mir …« – mir sagt diese schleimige Sau! dachte Jakob verblüfft – »… werden die Kerle lernen, was Demokratie ist! Und wenn es täglich bis Mitternacht dauert!« Jakob sah Wenzel fragend an. Der sagte ernst: »Herr Hölzlwimmer veranstaltet regelmäßige Abendkurse für die Belegschaft. Über Rechte und Pflichten des einzelnen in der Demokratie!«

»Lobenswert, lobenswert«, murmelte Jakob, während er dachte: Vor drei Jährchen hast du bestimmt noch Abendkurse über Wesen und Ziele der Deutschen Arbeitsfront gehalten.

»Herr Hölzlwimmer ist auch sonst unermüdlich«, sagte Wenzel. »Er hat da eine Erfindung gemacht, die sich sehen lassen kann.«

Hölzlwimmer errötete. »In ein paar Monaten legen die Hühner, nicht wahr, und dann wird die Sache vonnöten sein.«

»Was für eine Sache?«

»Komm mal mit in mein Büro«, sagte Wenzel.

»Gerne. Der Krach und die Piepserei hier … Wieviel Tierchen haben wir denn?«

»Achtundzwanzigtausend in fünf Hallen, Herr Formann!« meldete Hölzlwimmer stramm. »Alle gesund und munter! Werden hervorragende Ware legen. Und eben deshalb habe ich nachts wach gelegen und mir den Kopf zerbrochen und … Wollen wir nun ins Büro von Herrn Prill gehen?«

58

Jakob stockte der Atem.

Da stand Hölzlwimmers Erfindung, als Modell gebastelt, auf Wenzels Arbeitstisch. Er hatte sie aus dem Schrank geholt.

»Das Modell haben Sie auch gemacht, Herr Hölzlwimmer?«

»In den Nachtstunden, jawohl! Erlauben Sie, daß ich die Sache kurz erkläre, Herr Formann. Unter allen Legebatterien befinden sich laufende Bänder. Hier, sehen Sie, und hier und hier … Die Eier der Hühner fallen direkt auf diese Förderbänder. Die sind geschützt gegen jeden fremden Zugriff. Kann also nichts geklaut werden von dem Gesindel. Weiches Material, vielleicht Leinenbänder, damit den Eiern nichts passiert. Und hier, sehen Sie, treffen sich die Bänder! Sammelstelle! Die ist, sehen Sie, durch verschiedene Sicherungsvorkehrungen nur durch den Stamm des Führungsstabes zu betreten!«

Jakob holte Luft.

»Ein Ding, wie?« fragte Wenzel.

»Mein Kompliment, Herr Hölzlwimmer.«

»Nur meine Pflicht. In der Sammelstelle gleiten die Eier dann in einen Apparat, der eigentlich sehr einfach ist. Zählwerk. Schiene mit Transportantrieb. An ihrem Ende gabelt sie sich, ein Ei wird durch mechanische Türchen nach links, eines nach rechts geleitet. Und hier geht es wieder ins Freie, zur Abfüllstelle.«

»Aber wieso teilen Sie die Ei …« Jakob hatte gefragt. Jakob hatte sich selbst unterbrochen. Denn Jakob hatte verstanden. »Donnerwetter!«

»Was?« fragte Wenzel strahlend, während Hölzlwimmer stramm dastand, mit blauen Demokraten-Augen. Da war kein Falsch in ihnen. »Die Produktion wird halbiert, ohne daß jemand außer uns das merkt! Bei so vielen Eiern … Wir haben eben keinen größeren Ertrag! Wird so schon groß genug sein.«

Jakob brachte kein Wort heraus.

»Nennen wir die einen fünfzig Prozent weiße und die anderen fünfzig Prozent schwarze Eier«, schlug Hölzlwimmer vor. »Die weißen liefern wir …« – wir hat der Kerl gesagt, dachte Jakob! – »an die zuständigen Erfassungsstellen und so weiter ab, die schwarzen verteilen wir selber.«

»Wir selber …« Jakob sah Wenzel an. »Die kommen auf den Schwarzen Markt. Weißt du, daß du da zehn- bis zwölfmal soviel bekommst?«

»Es ist keine Frage der Bereicherung«, sagte Hölzlwimmer. »Ich habe übrigens als Dank für meine Erfindung von Herrn Prill eine Beteiligung erhalten.«

»Beteiligung?«

»Ist schon okay, Jakob«, sagte der Halbjurist Prill. »Wir haben einen Vertrag mit Herrn Hölzlwimmer. Er stellt uns auch Transportkolonnen und zuverlässiges Personal und sorgt dafür, daß wir bei unseren Lieferungen niemals belästigt werden.«

»Wie … wie wollen Sie das denn machen, Herr Hölzlwimmer?«

»Kameraden von früher! Sitzen hier und in Bayreuth und in München bei der Polizei. Baue diese Organisation gerade auf. Kameraden, treu wie Gold! Herr Prill sagt, Sie haben einen prima Fälscher?« Moment, Moment, das geht mir alles viel zu schnell! dachte Jakob und sagte: »Ja, habe ich.«

»Sehr gut. Kriegt auch seine Eier. Liefert uns Fahrbefehle und falsche Papiere.«

»Falsche Papiere wofür?«

»Na, für die Autos. Sind doch lauter geklaute.«

»Sie haben schon Autos geklaut?«

»Noch nicht«, sagte Hölzlwimmer. »Gibt ja noch keine Eier. Ich gehe da Schritt um Schritt vor. Alles nach genauem Zeitplan. Die Chauffeure suche ich persönlich. Kenne mich im Frankfurter Raum besser aus als Sie, meine Herren. Nummerntafeln machen wir selber. Meine Kameraden bei der Polizei kriegen auch ihren Rebbach – äh, Anteil – und geben stets rechtzeitig bevorstehende Razzien bekannt.«

»Na, hab’ ich den richtigen Mann ausgesucht, Jakob?« fragte Wenzel.

Jakob stand immer noch mit offenem Mund da.

»Man hat seine Verantwortung«, sagte der Funktionär bescheiden. »Bedenken Sie, Herr Formann: Wenn Sie alle Eier abliefern – welch Mißbrauch würde da getrieben! Wie würden die staatlichen und halbstaatlichen Stellen da schieben! Glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung! Ist das im Sinne unserer jungen Demokratie? Niemals, sage ich! Gemeinnutz geht vor Eigennutz!«

»Sage ich auch!« Wenzel grinste.

»Im Sinne unserer jungen Demokratie, die man pflegen und hegen muß wie ein zartes Pflänzlein, ist es, daß die Eier möglichst weit gestreut werden, daß praktisch jeder sie erwerben kann – ohne Dirigismus und Bürokratismus. Den lehnen wir ab!«

»Entschieden«, sagte Wenzel.

»Es ist nur eine Frage der Investitionen. Diese Abfüllmaschine muß natürlich erst gebaut werden. Auch für die beiden anderen Höfe. Die Autos werden Geld kosten. Die Polizeibehörden desgleichen. Die Verteiler …«

Jakob dachte erschüttert: Wo alles schiebt, kann ich’s allein nicht lassen! (Woraus man sieht, daß seine Bemühungen um Bildung bereits erste Früchte getragen hatten, sofern hier nicht sein gutes Gedächtnis mitspielte, denn des Don Carlos’ »Wo alles liebt, kann Carl allein nicht hassen« war vielleicht von der Schulzeit her bei dem so liebebedürftigen Jakob hängengeblieben.) Jakob sagte: »Geld ist da. Dollars. So viel Sie brauchen, meine Herren.«

59

Die Tür war versperrt.

Jakob klopfte. Niemand antwortete. Jakob klopfte nochmals. Nichts. Jakob schüttelte die Klinke. Ganz leicht. Da hatte er schon die Tür in der Hand. Sie entglitt ihm und stürzte ins Dunkel. Wasser platschte. Wieso Wasser? dachte Jakob erstaunt. Diese Tür, dachte er, die ist aber morsch, so etwas! Finster ist es auch noch vollkommen. Die Leuchtziffern seiner Fliegeruhr (auf dem Schwarzen Markt erstanden) zeigten 6 Uhr 58.

Er trat zwei Schritte vorwärts.

Und stürzte in eisigkaltes Wasser. Aber wieso? rätselte er, während er nach Luft schnappte. Wieso Wasser, eisigkaltes? Im nächsten Moment flammte eine schwache elektrische Lampe auf. Sie stand auf einem Nachttischchen. Das Nachttischchen stand auf einem Steg. Wiederum im nächsten Moment (man kommt und kommt nicht zum Überlegen, dachte Jakob) ertönte ein gellender Schrei. Er fuhr herum. Hinter ihm war noch jemand in das eiskalte Wasser gestürzt. Eine junge Frau. Eine sehr aufregende junge Frau, stellte Jakob im Schein der Nachttischlampe fest. (In diser Hinsicht war Jakob ganz besonders schnell.) Eine der aufregendsten Frauen, die er in seinem Leben gesehen hatte. Die Dame ging unter, tauchte wieder auf und schrie um Hilfe. Jakob kraulte zu ihr und nahm sie in die Arme. Eijeijeijeijei! Einen Apparat hatte die Dame – so was von Brüsten! Wenn ich schreiben könnte – ein Buch könnte ich schreiben über diese Brüste. Besonders jetzt, wo sie im eiskalten Wasser ganz hart werden und … und die Dame nur ein Nachthemd anhat, das natürlich völlig durchweicht ist, so daß ich alles sehe, wenn ich an der Dame runtersehe. Er sah runter. Junge, Junge, also über den Rest könnte ich drei Fortsetzungsbände schreiben. Am liebsten würde ich sofort, im eiskalten Wasser … Wie war noch der Vers? ›Die Ente sprach zum Enterich: Im kalten Wasser steht er nicht‹ … Und im übrigen stellt man sich erst einmal vor, wenn man gut erzogen ist, nicht wahr?

»Einen recht schönen guten Morgen. Mein Name ist Jakob Formann. Küß die Hand, gnä’ Frau.«

»Sind Sie wahnsinnig geworden?« schrie die Dame.

»Aber Sie erwarten mich doch!«

»Ich … Sie?«

»Ich habe doch extra noch einen Mann vor mir her nach Murnau geschickt, der mich für heute angemeldet hat … Höpps, spucken Sie’s aus! Fest! Noch mehr!« Er klopfte der Dame auf den Rücken. Sie würgte, hustete und spuckte wieder Wasser, denn sie war kurz untergegangen. »Warum haben Sie mich auch losgelassen, Frau Jaschke? Sie sind doch die Frau des Herrn Ingenieur Karl Jaschke aus Niesky von der Firma Christoph und Unmack da in der Lausitz?«

»Nein! Bin ich nicht! Hilfe! Ein Verrückter! Lassen Sie mich augenblicklich los!« schrie die Dame.

»Wenn ich Sie loslasse, gehen Sie mir wieder unter! Also Sie sind nicht die Frau Jaschke?«

»Nein! nein! Nein!« Die Dame wurde hysterisch. Und ihre Brustwarzen wurden immer härter. »Ich heiße Malthus! Doktor Ingeborg Malthus! Die Jaschkes wohnen nebenan. Sie haben sich im Haus geirrt!«

»Jessas, das ist mir aber peinlich …«, stammelte Jakob.

»Wie kommen Sie überhaupt dazu, meine Tür einzuschlagen?«

»Nicht doch. Sie ist mir glatt aus der Hand gefallen. Ich habe geklopft. Und als ich nach langem Klopfen keine Antwort bekam …«

»Ich schlafe sehr tief …«

»Sie müssen wirklich verzeihen … Wieso … Wieso fällt man bei Ihnen gleich mit der Tür ins Wasser?«

»Weil das kein normales Haus … Sagen Sie mal, wollen Sie mir vielleicht freundlicherweise wieder aufs Trockene helfen!«

»Natürlich. Ich hab’ in der Aufregung den Kopf verloren. Kommen Sie, ich stemme Sie.« Er tat es. Wasser troff. Einen Popo hat das Weib. Allmächtiger! Und zudem kann man bei der Frau jetzt ganz genau …

Jakob, reiß dich zusammen!

Er wuchtete die Dame hoch und kletterte nach. Auf dem Steg befand sich ein Bett, ein schmaler Schrank und eine große Kleiderkiste, auf der ein Haufen Bücher lag – die länglichen Pocket-books der amerikanischen Armee. Jakob kannte sie. Natürlich hatte er niemals ein einziges gelesen.

»Nachthemd aus!« sagte er besorgt.

»Sie sind … Lassen Sie mich los! … Ich schreie! … Ich schreie! … Sie können mich doch nicht einfach ausziehen, Sie Wahnsinniger!«

»Muß sein. Sie holen sich ja sonst den Tod, und ich muß mich auch ausziehen. Es tut mir wahnsinnig leid, daß ich das muß, aber mein junges Leben …« Jakob tat, was er sagte. Danach frottierte er die Dame, die nun völlig nackt auf dem Bett lag, trocken. Sie schrie nicht. Sie fing nur an, leise zu stöhnen. Jakob frottierte fester. »Das tut gut, wie? Jetzt drehen Sie sich um! Auf den Rücken, bitte …« Sie drehte sich um. O Gott.

»Ich bin aus München hergeradelt … Keine reine Freude ist das bei diesem Wetter. Also, ich habe mich im Haus geirrt … Jetzt die Schenkel … Was sind Sie? Ärztin?«

»Journalistin … Den Unterschenkel auch, bitte.«

»Gerne, Frau Doktor. Und den … den Rest? …«

»Ich bitte darum, Herr … Wie war der Name?«

»Formann. Jakob Formann. Wieso sind Sie … Jetzt die Brust, zuerst die linke … Wieso sind Sie auch ins Wasser geflogen?«

»Weil … Nicht so fest! Zart, Herr Formann, zart …«

»Pardon …«

»Weil ich so erschrocken war, als ich aufgewacht bin und Licht gemacht habe! Und da bin ich auf der falschen Seite … die andere Brust jetzt … aus dem Bett gestiegen … Sie sehen, wenn man das tut, fällt man direkt in den Staffelsee.«

»In den was?«

»In den Staffelsee! Murnau liegt am Staffelsee. Und aus meinem Bett darf ich nur auf der anderen Seite … Uuuuuuhhh! … aussteigen … das ist ein Bootshaus, Herr Formann! Ich glaube, unter den Armen bin ich noch naß …«

»Stimmt. Wieso Bootshaus?«

»Weil es in diesem Murnau keinen anderen Platz für mich … Oh, Sie kitzeln mich! … Nicht, nicht doch! Doch, ja, ja! Weiter! … gegeben hat! Alles überfüllt mit Flüchtlingen … Danke, das Haar mache ich mir selber …«

»Bootshaus«, wiederholte Jakob. »Wo ist denn das Boot?«

»Legen Sie sich jetzt auf den Rücken! Jetzt trockne ich Sie ab! Gestohlen natürlich.«

»Natürlich … Oh … Oh … Nicht … Ich muß sonst …«

»Was, Herr Formann?«

»Nichts, Frau Doktor … Machen Sie bitte weiter so … Das war nur momentane Überreizung … Gott, tut das gut …«

»Gefällt’s Ihnen?«

»Sehr, Frau Doktor.«

»Sind Sie aber kräftig!«

»Ach, ich bin noch viel kräftiger, aber das kalte Wasser …« (›Die Ente sprach …‹)

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht! Herr im Himmel!«

»Jetzt bitte aufhören, sonst muß ich doch noch … Was … Was machen Sie denn in Murnau am Staffelsee, Frau Doktor?«

»Eine Illustrierte.«

»Wie bitte?«

»Hören Sie schlecht?«

»Nein … Fester! Da können Sie ruhig fester! … Eine Illustrierte?«

»Ja, das ist nämlich so …«

Er packte sie.

»Nachher! Jetzt müssen wir erst sehen, daß uns warm wird«, sagte Jakob Formann.

60

Die Dame, die gegen 9 Uhr am 15. Februar 1948 eilig durch Murnau radelte, trug einen Pullover, unter dem man muskulöse Arme sah, jedoch nicht die Spur von Busen, einen schottischen Wickelrock, der oben, weil zu eng, mit einer sehr großen Sicherheitsnadel zusammengehalten wurde und unten bei jedem Tritt in die Pedale auseinanderklaffte, wodurch zwei behaarte Männerbeine zum Vorschein kamen und desgleichen ein lachsrotes Spitzenseidenhöschen. Die Herrenschuhe, welche diese Dame trug – Strümpfe hatte sie nicht –, quatschten bei jedem Tritt. Wasser tröpfelte. Die Dame hatte ein großes Bündel und einen Brotbeutel der ehemaligen Deutschen Wehrmacht auf den Gepäckträger geschnallt, war unrasiert, trug die Haare im Herrenschnitt und hatte ein freundliches Lächeln bereit für jedermann, der ihr nachstarrte, und das waren gar viele.

Auf der Hauptstraße versuchte ein amerikanischer Soldat, die Dame anzuhalten. Sie rief: »Leck mich doch am Arsch!« und sauste mit erhöhter Geschwindigkeit weiter. Endlich erreichte die Dame, keineswegs außer Atem, obwohl sie zuletzt steil bergauf gefahren war, das Anwesen des Attinger-Bauern. Im Eingang zum Hauptgebäude, vor dem eisigen Wind geschützt, wartete hier Frau Dr. Ingeborg Malthus.

»Was war?« fragte sie besorgt.

»Was soll gewesen sein?« fragte Jakob Formann, elegant ein Bein schwingend und noch einmal das lachsrote Spitzenhöschen in ganzer Pracht zeigend.

»Ich habe geglaubt, Sie kommen niemals.«

»Jakob Formann kommt immer«, erwiderte er ernst. »Wollen wir vielleicht hineingehen? Dein Höschen ist verflucht eng für mich, Ingelein.«

Sie erstarrte. »Mein Herr«, sagte sie dann mit Eisesklirren in der Stimme, »ich muß doch sehr bitten, nicht derart leutselig zu werden. Ich heiße Frau Doktor Ingeborg Malthus – und immer noch ›Sie‹ für Sie, Herr Formann!«

»Aber …«

»Aber was? Ach so! Reichlich primitiv veranlagt sind Sie, Herr Formann. Eine mehrfache Ausschüttung von Hypophysenhormon rechtfertigt in keiner Weise derart plumpe Vertraulichkeit. Ich muß doch schon sehr bitten.«

»Mehrfache was?«

»Ausschüttung von Hypophysenhormon. Sie werden doch noch wissen, was die Hypophyse ist, Herr Formann.«

»Klar weiß ich das«, sagte Jakob. Keine Ahnung hatte er. Es muß aber irgendwas zu tun haben mit dem, was wir getrieben haben, dachte er voll feinem Instinkt. Du Luder, du elendes, dachte er weiter, und vor zwei Stunden hast du dich gewälzt und gestöhnt und mich in die Schulter gebissen. Das haben wir gerne! Scheint mich nicht zu mögen, die Frau Doktor. Außerhalb des Bettes! Verdammt, ich weiß genau: Mit der Person werde ich noch eine Menge Ärger kriegen! Jakob sagte: »Aber gewiß, verehrte Frau Doktor, wenn Sie meinen, es soll beim ›Sie‹ bleiben, dann bleibt es natürlich dabei.«

»Danke.«

»Nichts zu danken, Frau Doktor Malthus.« Mir ist manches schon passiert, aber so etwas noch nie!

»Kommen Sie, Herr Formann«, sagte die Frau Doktor und betrat das Bauernhaus. Hier war es herrlich warm, in der Küche stand ein mächtiger Kachelherd. Der Bauer saß am Tisch und starrte Jakob an. Die Bäuerin stand am Herd und stieß einen Schrei aus.

»Grüß Gott«, sagte Jakob Formann, gewinnend lächelnd. Auch Frau Dr. Malthus – sie trug Pullover, Hosen und einen Schafsfellmantel – entbot einen christlichen Gruß.

»Was is denn nacha dös?« fragte der Bauer. Er war ungeheuer fett und trank angeekelt dünnen, grünlichen Tee.

»Das ist Herr Jakob Formann, Herr Attinger … Herr Attinger, Herr Formann. Und das ist Frau Attinger.«

»Grüß Gott«, sagte Jakob wiederum.

»Er ist in den Staffelsee gefallen«, erklärte Frau Dr. Malthus. »Ich mußte ihm etwas von mir zum Anziehen geben. Seine Sachen will ich bei Frau Kalder trockenbügeln. Dürfen wir hinaufgehen?«

»So kann er fei net weita rumlauffa, der Herr!«

»Ich danke, Herr Attinger.« Jakob verbeugte sich. (Der Schottenrock ging wieder auf bis zum Höschen. Die Attinger-Bäuerin kreischte.) Jakob sah, daß der große Raum mit teuersten Orient-Teppichen ausgelegt war. Im Hintergrund erblickte er einen Bechstein-Flügel und eine Maria-Theresia-Kommode mit wunderschöner Intarsienarbeit. Kultivierte Leute, diese Attingers! Und fett, großer Gott, sind die beiden fett, dachte Jakob und erkundigte sich: »Schmeckt der Tee nicht?«

»Himmikreuzsaggramentglumpvarecktz, i kriag’n kaum nunter. Aber mei Frau sagt, es muaß sei.«

»Worum handelt es sich denn?«

»Dokta Schlichters Frühstücks-Kräutatee! Das Beste, was gibt zum Abmagern, hat der Arzt gesagt.«

»Übergewicht ist stets schlecht für Herz und Kreislauf«, sagte Frau Dr. Malthus.

»Des is ja«, sagte die Attinger-Bäuerin.

Jakob schritt schon, den Rock gelüpft, die knarrende Holztreppe in den ersten Stock empor. Die Schuhe quatschten. Jakob hinterließ eine feuchte Spur.

»Dritte Tür links«, sagte Frau Dr. Malthus. Sie trug ebenfalls ein Bündel. Nun ging sie voraus, klopfte, nannte ihren Namen, und gleich darauf stand sie mit Jakob in einem Raum, in dem es eiskalt war. Jakob sah ein dick zugefrorenes Fenster, einen Schrank, einen Tisch, ein Bett – verrostet das Eisengestell – und Klosetts sowie Waschbecken in enormer Anzahl. Die Becken und Klosetts, hochgestapelt an allen vier Wänden bis hinauf zur Decke, beanspruchten mehr als zwei Drittel des Raumes – ein wahrhaft bedrohlicher Anblick.

Auf dem Bett saßen ein grauhaariger älterer Mann und eine grauhaarige Frau (aber offenbar jünger als er), beide sehr mager. Sie frühstückten auch gerade. Zwei Blechtassen erblickte Jakob, einen Spirituskocher (man muß ja Strom sparen!) sowie zwei Blechteller, auf denen vier äußerst dünne Scheiben trockenes Brot lagen.

Frau Dr. Malthus stellte Jakob vor. Die Herrschaften auf dem Bett waren Herr und Frau Kalder. Beide hatten Decken um die Schultern geschlungen – der großen Kälte wegen. Beide sprachen lupenreines Hochdeutsch – wie Frau Dr. Malthus. Feines Deutsch, aber nix zum Fressen, dachte Jakob, indessen er hörte, wie Frau Dr. Malthus die Sachlage erklärte und bat, Jakobs Sachen und die eigenen bügeln zu dürfen. Es wurde ihr gestattet. Jakob öffnete sein Bündel und entnahm ihm einen nassen Anzug, nasse Wäsche und den nassen Mantel.

»Sie müssen verzeihen, wenn wir uns nicht erheben, Herr Formann«, sagte Kalder und verbeugte sich im Sitzen. »Es ist wirklich sehr eng hier, wie Sie sehen.«

»Ich sehe«, sagte Jakob. »Was um Himmels willen wollen Sie mit all den Klosetts und Waschbecken?«

Kalder trank einen Schluck – Jakob erkannte eine durchsichtige hellbraun-grünliche Flüssigkeit – und lachte bitter. »Was wir damit wollen, Roxane, hast du gehört? Guter Witz, was?« Roxane, seine Ehefrau, nickte gramvoll. Ein so guter Witz schien es nicht zu sein. »Das ganze Zeug da hat der Bauer 1945 aus einer Fabrik – Industrie-Keramik, ganz in der Nähe – gestohlen, und seitdem bewahrt er es hier auf.«

»Aber wozu?« fragte Jakob.

»Für die neue Währung natürlich, Herr Formann.«

»Was für eine neue Währung?«

»Na, hören Sie! Die R-Mark ist doch überhaupt nichts wert! So kann es doch nicht weitergehen, nicht wahr? Eine Währungsreform muß kommen, wird kommen, jedermann spricht davon!«

»Ach so, natürlich, eine neue Währung muß kommen«, sagte Jakob, den Wickelrock krampfhaft zusammenhaltend, denn Roxane starrte diesen und die darunterliegenden Partien gebannt an wie das Kaninchen die Schlange. »Muß kommen, aber keiner weiß, wann …«

»Eben! Und so wartet der Bauer. Er hat Zeit. Wir sind froh, daß wir in diesem Zimmer eine Bleibe gefunden haben. Es gab nichts anderes mehr in Murnau. Die Bootshäuser am Staffelsee waren auch schon alle überbelegt, als wir kamen. Wir müssen dem Bauern sehr dankbar sein, daß er uns das Zimmer hier für dreihundert Mark vermietet hat.«

»Im Jahr?«

»Im Monat, Herr Formann!«

»Das fette Schwein, das elendige – entschuldigen Sie, meine Damen.« Ich kann mich einfach nicht benehmen, dachte Jakob betrübt.

»Nichts zu entschuldigen, Herr Formann«, sagte Roxane. »Wir sitzen hier in der Kälte und schlafen in Kleidern und Mänteln, und am Morgen ist uns immer das Kinn an die Decke gefroren vom Atem, der zu Eis wird – und die Attingers überheizen ihre Räume unten und nehmen den armen Städtern für ein paar Eier oder ein Stück Schinken Bechstein-Flügel und Smyrna-Teppiche und was weiß ich noch alles ab. Sogar eine Harfe!«

»Wie?«

»Bitte, Roxane …«, murmelte Kalder.

»Ist doch wahr, Jan! Und sind so fett, daß sie Abmagerungstee trinken müssen!«

»Das habe ich gesehen.«

»Ach, Sie haben längst nicht alles gesehen! Im Schweinestall sollten Sie sich mal umschauen! Die Harfe! Ein Harmonium! Und Teppiche und Brücken liegen da einen halben Meter hoch übereinander!«

Jakob konnte diesen Jammer nicht länger ertragen. Er öffnete den zum Platzen vollen Brotbeutel. Den Inhalt hatte er eigentlich dem Ingenieur Jaschke mitbringen wollen. Der muß sich jetzt mit der Hälfte zufriedengeben, dachte Jakob, ich hole noch mehr. Und er häufte seine Gaben auf den Tisch – Speck, Butter, Kaffee, Zucker, Marmelade, Fleischkonserven, dazu Mehl, Kaugummi, Zigaretten und drei Zigarren.

Totenstill war es in dem zum Wohnzimmer umfunktionierten Lagerraum für sanitäre Anlagen geworden. Frau Dr. Malthus und das Ehepaar Kalder starrten die Bescherung an. Jakob wurde es ungemütlich. Roxane begann heftig zu heulen. Das auch noch, dachte Jakob.

»Herr Formann … Herr Formann … Sie sind … sind …«

»Der gute Mensch von Sezuan«, sagten Frau Dr. Malthus und Jan Kalder feierlich im Chor.

»Von wo?« forschte Jakob, mit einem sehr unguten Gefühl im Magen. Die reden alle so gepflegt …

»Von Brecht«, sagte Dr. Malthus.

»Vorher haben Sie was anderes gesagt, Frau Doktor Malthus!«

»Sezuan. ›Der gute Mensch von Sezuan‹ ist ein Theaterstück von Bertolt Brecht«, sagte Frau Dr. Malthus fein lächelnd. Herr und Frau Kalder lächelten auch. Auch fein.

Verflucht, dachte Jakob, ausgerechnet mit so vornehmen und gebildeten Leuten muß ich zusammenkommen hier in Murnau! Hätte ich mich bloß nicht im Bootshaus geirrt. Jetzt bin ich glücklich bei … bei … Es gibt doch da einen Ausdruck … Ach ja, bei Intellellen bin ich gelandet, Gott verdammich!

61

Eine halbe Stunde später …

Zwei glückliche Intellelle hatten sich über Jakobs Gaben hergemacht, die dritte bügelte gerade seine Hosen. (Wenigstens ein Reise-Bügeleisen hatten Kalders in ihrem Flüchtlingsgepäck gerettet, und wunderbarerweise gab es in dem Sanitäre-Anlagen-Wohnraum sogar eine Steckdose.) Und aß dazwischen. Den halben Tisch bedeckten verschlissene Bettücher als Unterlage, auf dem Frau Dr. Malthus bügelte. Die andere Hälfte des Tisches bedeckten Jakobs Gaben. Er selbst saß auf einem abgestoßenen Koffer in der Ecke. Könnte ich bloß raus hier, dachte er. Dieses Geschwätz macht mich noch wahnsinnig! Aber ich kann nicht raus, bevor diese Zimtzicke von Ingeborg Malthus meine Sachen trockengebügelt hat. Und das wird noch ein Weilchen dauern! Aber das Bügeln vorhin ist lustiger gewesen …

Sehr viel lustiger war es auch als das unverständliche Geschwätz, dem er jetzt zuhören mußte, ob er wollte oder nicht.

»›Der Mensch‹ – wenn Sie erlauben, daß ich Leo Gabriel zitiere, mein Verehrtester – ›steht vor der Frage nach dem Sinn des Seins, daß er ist, in seiner Verantwortung, denn er ist sich ihr überantwortet‹.«

»Das trifft den Nagel auf den Kopf, Frau Doktor. Lassen Sie mich noch einmal vorlesen: ›Denn der Mensch‹ – mein Gott, schmeckt diese Marmelade gut! – ›ist nicht in abstracto, sondern er ist je-immer in einer konkreten Situation, in der er angesprochen wird. Die Existenz besteht ganz allgemein darin, daß ich je-immer in einer Lage bin, in einem ›Da‹ bin – sagen wir besser ›In-Sein‹ – und im besonderen darin, daß ich da-seiend in der Lage bin, Seiendes zu verstehen, dies aber‹ – Achtung, bitte! – ›weil ich nicht als ein Gegenstand unter anderen Gegenständen, als ein Seiendes unter Seienden da bin, sondern da-seiend ek-sistiere, und das heißt: aus allem heraus-stehe!‹ Wird nicht trocken, die Hose, wie?«

»Nein. Starke Spannungsschwankungen. Sie haben absolut recht, lieber Herr Kalder. Auch bei Husserl tritt dieser Gedanke, daß das faktische Dasein als unwesentlich bei einer Wesens-Erhellung außer Betracht bleiben müsse, deutlich hervor. Gerade diese Ausklammerung des Daseins ist aber nach Heidegger unmöglich, und zwar deshalb, weil eben darin dasjenige liegt, worauf es ankommt.«

»Genau so ist es, Frau Doktor. Wie der Speck riecht! Und wie sagt Heidegger doch so herrlich: ›Das Wesen des Daseins liegt in seiner Existenz!‹ Und noch dies: ›Die Welt ist ebenso unmittelbar da wie das menschliche Dasein selbst!‹«

»Sie dürfen aber auch Kierkegaard nicht unbeachtet lassen, lieber Herr Kalder! Der hat diesen merkwürdigen Sachverhalt der Beziehungen zu sich selbst nicht anders zu verdeutlichen gewußt als durch die paradoxe Bestimmung des Geistes als eines Verhältnisses, welches sich zu sich selbst verhält …«

Und so ging das weiter, bis Hose und Jacke endlich trockengebügelt waren. Jakob hielt sich an dem alten Koffer fest. Alles drehte sich um ihn. Nur weg hier, weg! Die drei sind doch verrückt! Welcher vernünftige Mensch erträgt denn so ein Gequatsche?

Das ist kein Gequatsche, Jakob, sagte ihm eine innere Stimme mahnend, sondern das ist eine intellelle Konversation, und du bist ein ungebildetes Rindvieh! Und weg kannst du hier nicht, denn dein Hemd und deine Unterhosen und deine Strümpfe und dein Mantel sind noch nicht trockengebügelt.

Frau Dr. Malthus mit dem hinreißenden Popo nahm sich das Hemd vor (Seidenhemd, Geschenk von Laureen, aus Paris, dachte Jakob) und sagte mit einem mitleidigen Blick: »Wir langweilen Sie, Herr Formann!«

»Aber überhaupt nicht, liebe Frau Doktor!« Jakob entschloß sich zu einem tollkühnen Schritt. Ohne mit der Wimper zu zucken, gab er folgendes von sich: »Die Sache ist doch ganz einfach. Der Mensch ist ein Seiendes, dem es um das eigene Sein-Können geht. Oder, um mich ganz präzise auszudrücken und nicht mißverstanden zu werden – dessen Sein als Sein zum Sein-Können aufzufassen ist. Ich finde, damit hat der Ausdruck Sein zum Sein-Können einen absolut klaren Sinn erhalten.« Und jetzt prügeln sie mich in den Schnee hinaus, dachte er, entsetzt von sich selbst. Wie kann bloß solcher Schwachsinn über meine Lippen kommen? Er bemerkte, daß ihn alle drei Intellellen anstarrten. Schon gut, schon gut, ich hab’s nicht anders verdient, dachte Jakob. Raus mit mir!

Frau Dr. Ingeborg Malthus öffnete die Lippen. Jakob erhob sich bereits halb, um zu flüchten.

»Bei Gott, faszinierend und brillant formuliert, Herr Formann!« sagte Frau Dr. Malthus und sah ihn genauso an, wie sie ihn im Bett angesehen hatte, jedesmal, wenn es bei ihr soweit gewesen war.

Jakob plumpste entgeistert auf den alten Koffer zurück.

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Von Sekunde an war er ein Gleichberechtigter, ein Freund, ja mehr: der Mittelpunkt dieser illustren Versammlung! Frau Dr. Malthus und Herr Jan Kalder zogen ihn ins Vertrauen. Soweit Jakob es mitbekam (es lag zum Teil an seiner Unbildung, zum Teil daran, daß seine neuen Freunde mit vollem Munde sprachen, was man gebildetermaßen ja eigentlich auch nicht tun soll!), war Dr. Malthus Redakteurin bei der ›Berliner Illustrierten‹, Jan Kalder Verlagsdirektor der ›Kölner Illustrierten‹ gewesen. Zusammen wollten sie nun eine neue Illustrierte herausgeben. In monatelanger Arbeit hatte Dr. Malthus eine ›Nullnummer‹ angefertigt. Das war, Jakob wußte es vielleicht nicht, eine Art Prototyp (was ist ein Prototyp?) der zu erwartenden Illustrierten, bereits mit Text und Bildern, alles aufgeklebt auf die einzelnen Seiten und sodann in der Druckerei der NEUEN ZEITUNG in München vollendet.

Mit dieser ›Nullnummer‹, die Jakob zunächst für etwas ganz anderes hatte halten wollen, war Jan Kalder bereits vor Wochen in München gewesen und hatte sie dort dem amerikanischen Presseoffizier bei der Militärregierung übergeben, der verantwortlich für die Lizenzen war. (Lizenzen waren offenbar etwas, was man brauchte, wenn man Zeitschriften oder Zeitungen oder Bücher veröffentlichen wollte.) Da Kalder eine absolut weiße Weste und unter den Nazis ein Jahr im Gefängnis gesessen hatte, besaß er alle Voraussetzungen, eine solche Lizenz auch zu erhalten, es konnte sich jetzt nur noch um kurze Zeit handeln, bis die Entscheidung fiel. Dann wollten Frau Dr. Malthus und er mit der Arbeit beginnen. Als gleichberechtigte Partner.

»Fifty-fifty, Sie verstehen, Herr Formann.«

Na, endlich ist das Hemd fertig. Jetzt die Unterhose.

»In Form einer GmbH.«

»Mhm.«

»Das ist die günstigste Form, wissen Sie, Herr Formann.«

Sicherlich die günstigste Form zum Bescheißen, dachte Jakob. Nun mach schon mit den Socken, Inge Malthus, ich muß rüber zum Jaschke wegen der Fertighäuser!

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»Alles ist da, was man für Fertighäuser braucht, die Hülle und die Fülle«, sagte am frühen Nachmittag dieses Tages Karl Jaschke zu Jakob. Diesmal war er in das richtige Bootshaus gegangen. Jaschke, als Ingenieur, hatte die Wasserfläche seines Hauses (das Boot war auch hier natürlich längst gestohlen gewesen, als er herkam) mit dicken Brettern zugenagelt. (Die Bretter hatte er nachts aus einem Lager der Bauteile für Fertighäuser geklaut, also gleichsam bei sich selbst.) Seine zwei minderjährigen Söhne schliefen in Kastenbetten übereinander, dem Bett der Eltern gegenüber. Auch die Kastenbetten hatte Ingenieur Jaschke, ein junger Mann mit einer hübschen jungen Frau, selbst gezimmert. Die Bretter für die Betten hatte Jaschke ebenfalls bei sich selbst geklaut. Die beiden Knaben waren in der Murnauer Volksschule. Auch Jaschkes hatten sehr wenig zu essen. Entsprechend groß war die Freude über alles gewesen, was Jakob mitgebracht hatte. Jaschke war Jakob sogleich sehr sympathisch. Mit dem Mann wird man arbeiten können, dachte er.

Seine Kleidung war immer noch klamm. Und bei Jaschkes war es so kalt wie bei Kalders.

»Sämtliche Einzelteile sind da, Herr Formann«, sagte der Ingenieur Jaschke. »Von der Tür bis zum Dachstuhl. Für viele Hunderte Hauseinheiten. Sicher verstaut in Ställen und Scheunen. Ich kontrolliere täglich. Und bloß für mich habe ich ein paar Bretter entnommen.« Er sagte es traurig.

»Warum sind Sie denn so traurig?« fragte Jakob. »Freuen Sie sich doch! Ich bringe Ihnen Leute, ich habe Dollars, wir können sofort anfangen mit dem Bauen!«

»Eben nicht, verflucht.«

»Warum, Herr Ingenieur?«

»Alles habe ich mit den letzten Zügen noch rechtzeitig in den Westen schicken lassen. Ich war selber in Niesky dabei und habe aufgepaßt. Holz, Aluminium, Spanplatten, Eternitplatten … dann alles hier gelagert …«

»Na, hurra doch!«

»Nix hurra doch!«

»Warum nix hurra doch?«

»Weil eines nicht da ist.«

»Was?«

»Die Verbindungsstücke der einzelnen Bauelemente.«

»Die Verbindungsstücke sind nicht da?« wiederholte Jakob idiotisch und dementsprechend langsam.

»Nein, leider! Ich habe das Verladen in die Waggons selber überwacht! Aber kurz vor der Abfahrt der Waggons bin ich nach Berlin befohlen worden. Die Russen waren schon sehr nahe. Und da haben die Trottel in Niesky vergessen, die Waggons mit den Verbindungsstücken an die Züge zu hängen. Ohne die Verbindungsstücke ist nichts zu machen. Es ist ja doch alles genormt und zugepaßt auf den Millimeter.«

»Die Verbindungsstücke sind also noch in Niesky?« fragte Jakob nach einer Pause, die er benötigt hatte, um seine Fassung wiederzugewinnen. Das war in der Tat ein Schicksalsschlag. Jakob fühlte die ihm schon bekannte angenehme Wärme in sich aufsteigen. (Paradoxes Symptom in akuten Fällen seiner Rasiermesserschneiden-Existenz.)

»Sage ich doch, Herr Formann! Wissen Sie, wo Niesky liegt? Weit hinter Dresden! Gar nicht weit von Görlitz! Also ganz, ganz hinten in der Sowjetischen Zone! Und das ist noch nicht alles!«

»Noch nicht alles?«

»Nein! Ich habe immer noch Verbindung mit Christoph und Unmack, wissen Sie. Halten Sie sich fest, Herr Formann: In den letzten Wochen haben die Russen damit begonnen, Christoph und Unmack zu demontieren. Alles, was da noch an Fertigbauhäusern und Bauteilen liegt, aber wirklich alles, wird verladen. Ab in die Sowjetunion! Natürlich, die brauchen in der Sowjetunion auch dringend Häuser, man kann es ihnen nicht übelnehmen!

Aber damit ist für uns Sense. Gleich zweimal Sense! In kurzer Zeit werden die Verbindungsteile nicht mehr in Niesky liegen. Und selbst wenn sie dort liegenbleiben – es kommt doch kein Mensch aus dem Westen so weit in den Osten hinein und holt das Zeug heraus!«

Die junge Frau Jaschke wurde plötzlich von einem Weinkrampf geschüttelt.

Jakob erhob sich hastig.

»Trocknen Sie Ihre Tränen, Frau Jaschke! Und Sie, Herr Ingenieur« (verflucht, ist meine Hose noch feucht!), »trommeln bitte geeignete Leute zusammen und suchen geeignete Werkhallen. Es wird Sonderzuteilungen geben, mehr Essen, mehr Marken, mehr Heizmaterial, für alle …«

»Für … für wen alle?«

»Na, für alle, die die Fertighäuser bauen.«

»Aber die kann doch keiner bauen! Die Verbindungsstücke sind in Niesky …«

»Ja, ja, ja«, unterbrach ihn Jakob Formann. »Das haben Sie mir schon einmal gesagt, Herr Ingenieur. Entschuldigen Sie, wenn ich so schnell aufbreche. Ich bin in ein, zwei Wochen wieder da. Grüß Gott …«

Fassungslos schaute Herr Jaschke dem Davoneilenden nach und murmelte: »Verflucht, sprach Max, und schiß sich in die Hose!«

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»Herr Hölzlwimmer, Sie haben mir einmal erzählt, daß diese ehemalige Flugzeugfabrik hier bei Frankfurt nur Zweig eines großen Werkes … Mann Gottes, vor mir brauchen Sie doch nicht strammzustehen!« sagte Jakob, schwer irritiert.

Ignaz Hölzlwimmer stand eisern weiter stramm.

»Zucht und Ordnung, Herr Formann! Sie sind der Boß. Man weiß, was sich gehört. Nicht das Gesindel draußen natürlich. Aber ein Mann wie ich!«

Jakob seufzte.

»Na schön, Herr Hölzlwimmer …« Jakob und Wenzel Prill saßen in Prills Baracke auf der Hühnerfarm nahe Frankfurt am Main. Draußen tönten zu ununterbrochenem Gegacker Lieder von Frank Sinatra. Im Moment sang der gerade ›A foggy day in London town …‹ Der Betrieb lief auf Hochtouren. »… also das hier ist nur Zweig eines großen Werkes in der Nähe von Berlin gewesen?«

»Jawoll, ja! Stimmt. Bin immer wieder nach Berlin zitiert worden.«

»Warum?«

»Intrigen! Gemeinheiten! Verleumdungen! Der Mann hat mich gehaßt wie die Pest. Habe ich doch schon erzählt!«

»Erzählen Sie’s noch mal!«

»Jawoll, ja! Ist ein ganz hohes Tier da oben gewesen, in der Verwaltung. Ganz hohes Tier auch bei der Arbeitsfront. Was mich diese Sau gepiesackt und bedroht hat – ich habe immer um mein Leben gezittert, Herr Formann, so hat der mich bedroht, dieser Hohlweg.«

»Hohlweg hat er geheißen, richtig.«

»Peter Hohlweg, ja! Das Werk ist ausgebombt, natürlich. Aber der Hohlweg, ich habe Ihnen ja schon erzählt, was der inzwischen drüben für eine phantastische Karriere gemacht hat! In der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung. Das ist die zentrale Verwaltung, ich hab’s schon mal gesagt, Herr Formann, für Versorgung, Herr Formann!«

»Ja, das habe ich gehört.«

»Nicht zu verwechseln mit den verschiedenen Erfassungsstellen für einzelne Lebensmittel! Ist ein kompliziertes System, wissen Sie. Aber die Zentralverwaltung erfaßt alles, was mit Versorgung zu tun hat, also mit dem Fressen!«

»Hübsche Bürokratie, was?«

»Ja. Und eine Stelle kommt mit der andern ins Gedränge. Und ein Bonze haßt den andern … Hohlweg!« Hölzlwimmer lachte, der ersten Silbe dieses Namens entsprechend. »Das ist vielleicht ein charakterloses Schwein, das kann ich Ihnen nur flüstern, Herr Formann!«

»Wieso?«

»Habe natürlich meine Informationen …«

»Natürlich. Und?«

»Na ja, und dieses Mistvieh, dieser Hohlweg, gestern Nazi, heute Kommunist, also der hat sich an die neuen Herren rangeschmissen, daß man nur stundenlang kotzen kann, Herr Formann!«

Genau wie über dich, dachte Jakob und fragte: »Was heißt das: Hat sich rangeschmissen? Wie schmeißt er sich ran?«

»Na, aus Moskau sind doch nach Kriegsende die Männer der ersten Stunde gekommen, nicht wahr? Der Spitzbart Ulbricht und so weiter …«

»My blue heaven …«, sang Frankie-Boy nun, auf daß die Hennen angeregt wurden und noch mehr legten.

»Und?«

»Und bei denen hat er sich sofort unentbehrlich gemacht, erzählen mir Freunde, die aus Berlin kommen. Raus aus dem einen Arsch, rein in den andern!«

Genau wie du, dachte Jakob und sagte: »Hohes Tier in der Zentralverwaltung …?«

»Eines der höchsten!«

»Bedeutender Funktionär«, sagte Wenzel Prill und sah Jakob mit ernster Miene an.

»Kann man wohl sagen!« Hölzlwimmer stand noch strammer. »Ein paar von seinen Freunden haben in den Westen gemacht und sind jetzt hier die Bosse von der KPD!«

»Aha«, sagte Jakob ausdruckslos.

»Persönlich kenne ich nur einen in Frankfurt. Leitet den Landesverband Hessen. Stephan Klahr. Mit a-ha.«

»Aha.«

»Lassen Sie bloß die Finger von dem Kerl! Das ist auch so ein Scheißer wie der Hohlweg! Wie kommen Sie überhaupt auf das ganze Thema?«

»Ach, da hetzen die Kommunisten und nennen mich einen beschissenen kapitalistischen Ausbeuter und drohen mit Sabotage. Nehmen Sie es nicht ernst, Herr Hölzlwimmer.«

»So was kann man gar nicht ernst genug nehmen, Herr Formann! Werde sofort Werkschutzgruppen aufstellen. Empfehle das auch für unsere« – (unsere!) – »anderen Höfe!« Hölzlwimmer war aufgeregt.

»Okay, Herr Hölzlwimmer. Ich vertraue Ihnen … wie immer«, sagte jetzt Wenzel Prill. Ganz lässig sagte er es. »Danke. Weggetreten!«

Der Funktionär Hölzlwimmer grüßte militärisch, machte auf dem Hacken kehrt und verließ die Baracke.

»So«, sagte Jakob. »Das klappt ja wie geschmiert. Jetzt kennen wir die Namen. Mit diesem Klahr rede ich allein, Wenzel. Du kannst dich schon mal um die Zugverbindung kümmern. Dann müssen wir runter nach München, zu unserem Fälscherfreund Mader.«

»In Ordnung.«

»Und dann kommst du mit.«

»Natürlich. Ich kann Russisch. Der Hölzlwimmer schmeißt den Laden hier allein. Der stellt uns jetzt ganze Heeresgruppen auf.«

»My blue heaven …«, sang Frank Sinatra.

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»Ich habe schon von Ihnen gehört, Herr Formann«, sagte Stephan Klahr, vom KP-Landesverband Hessen, höflich, aber sehr förmlich. »Nehmen Sie bitte Platz. Was kann ich für Sie tun?«

Jakob setzte sich auf einen wackligen Stuhl vor einen wackligen Schreibtisch. Herr Klahr setzte sich hinter den Schreibtisch. Ernst blickte Josef Wissarionowitsch Stalin aus einer Fotografie an der Wand auf Jakob herab. Beim Governor van Wagoner hat General Eisenhower auf mich herabgeblickt, dachte Jakob. Mit der Zeit werde ich die Herren schon alle noch kennenlernen.

»Herr Klahr«, sagte unser Freund und sah dem andern fest ins treue Männerauge. »Ich weiß, in Ihren Kreisen halten mich viele für einen Ami-boy, für einen Kapitalisten, für einen Kommunistenfresser, für …«

»Aber nicht doch, Herr Formann«, sagte Klahr, gepreßt höflich.

»Aber ja doch, Herr Klahr«, erwiderte Jakob mit Nachruck. »Ich höre doch auch, was geredet wird. Nur: Das stimmt nicht, Herr Klahr, das ist eine gemeine Verleumdung! Ich bin zu meinen Eiern gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Vorher war ich ein armes Schwein, das Wache geschoben hat vor einem amerikanischen Fliegerhorst.«

»Auch darüber sind wir informiert, Herr Formann.«

»Sie sind …? Na also! Da haben wir’s ja! Sie sind informiert über mich! Haben vielleicht schon ein ganzes Dossier angelegt?«

»Ein kleines. Wir haben eben damit begonnen. Wir legen Dossiers über alle potentiellen Klassenfeinde an, um sie bekämpfen zu können. Das ist überhaupt nicht gegen Sie persönlich gerichtet, Herr Formann! Der große Lenin hat gesagt: ›Wenn die Partei nicht Tag und Nacht wachsam ist …‹«

»… ist sie verloren.«

»Woher wissen Sie das?« Klahr starrte Jakob mit offenem Mund an.

»Weil ich Lenins Schriften immer wieder lese«, sagte Jakob, der in seinem ganzen Leben kein Dutzend Bücher und ganz bestimmt keines von Lenin gelesen hatte. »Karl Marx, Lenin und die Schreiber der Bibel – das sind doch die einzigen, die durch Schreiben die Welt verändert haben. Meiner Ansicht nach!« (In Wirklichkeit hatte Jakob es wenige Tage vorher in einer Zeitung gelesen.) »Entschuldigen Sie die Erwähnung der Bibel, aber ich komme aus einer bürgerlichen Familie.«

»Nichts zu entschuldigen, Herr Formann. Man kann sich seine Herkunft nicht aussuchen. Ich bin sehr überrascht.«

»Worüber?«

»Über Ihre Offenheit und Natürlichkeit. Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.« Gott im Himmel, dachte Jakob, sei bedankt. Da bin ich ja auf einen Trottel gestoßen. Die meisten KP-Leute, die ich kennengelernt habe, waren hochintelligent. Aber der hier – das ist ja ein richtiger handfester Trottel! Genau das, was ich brauche. Haargenau. Es scheint Dich also doch zu geben, lieber Gott! »Um was handelt es sich denn?« Himmel, dachte Jakob, der hat sogar äußerlich Ähnlichkeit mit dem anderen Trottel, mit meinem lieben Freund Generalmajor Peter Milhouse Hobson! Erst der Trottel Peter, dann der Trottel Klahr. Trottel gibt’s zum Glück überall. Darum sieht es ja so aus auf unserer Welt. Ob Ost oder West, ob Rot oder Schwarz, ob Kapitalist oder Kommunist – es ist wie beim Stricken, einmal links, einmal rechts! Er räusperte sich: »Also, passen Sie mal auf, lieber Peter …«

»Bitte?«

»Äh – entschuldigen Sie! Peter, das ist ein Freund von mir. Der ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten! Also, passen Sie auf, lieber Herr Klahr: Es handelt sich um ein ehrliches Geschäft.«

»Ehrliches Geschäft?«

»Schauen Sie: Unser Vaterland ist viergeteilt …«

»Durch die Schuld der Naziverbrecher, die einen Krieg …«

»Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund, Herr Klahr.« So blöde ist der auch nicht, verflucht. Was er da eben gesagt hat, stimmt! Also kein Trottel? O Gott!

»… und durch Schuld der amerikanischen Kapitalisten, die infolge ihres Imperialismus und ihrer feindseligen Haltung der glorreichen Sowjetunion gegenüber jede Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit verhindern. Die Schuldigen stehen rechts!« Gott sei Dank, doch ein Trottel. Als ob die Sowjets, deren Land wir bis zum Ural zerstört haben, an einer Wiedervereinigung interessiert wären, dachte Jakob, und ein Stein fiel ihm vom Herzen, während er eifrig sagte: »Genauso ist es, Herr Klahr. Und wer hat darunter zu leiden? Wir Deutschen in Ost und West. Vergessen wir jetzt einmal Weltanschauungen. Reden wir Tacheles. Die Deutschen hier und die Deutschen drüben haben zu wenig zu essen, und viel zu wenige haben ein Dach über dem Kopf.«

»Hier haben sie mehr zu essen, weil die Amis sie päppeln! Die große Sowjetunion verfügt nicht über solche Reserven, Herr Formann, weil die Hitlerverbrecher das Land zerstört haben, wie noch nie ein Land zerstört worden ist!«

»Na, aber das sagte ich doch!« Jakob nickte eifrig. Wo der Trottel recht hat, hat er recht. Hoffentlich hat er nicht noch einmal recht!

»Deshalb bin ich hier.«

»Weshalb?«

»Herr Klahr! Die Brüder und Schwestern im Osten haben’s nötig, daß man ihnen hilft, und wir hier haben es genauso nötig! Denn was kriegen wir schon von den Drecksamerikanern? Doch nur so viel, daß wir nicht verrecken! Hühnermais sollen wir fressen! Ist doch wahr! Oder leben Sie in Saus und Braus? Na also!«

»Ihnen geht’s doch aber nicht schlecht, Herr Formann!«

»Sagen Sie! Wissen Sie, was ich schuften muß? Wissen Sie, wie sehr ich auf dem Hund bin?«

»Aber Ihre Eier und die Fertigbauhäuser …«

»Was, was, was? Meine Eier muß ich abliefern! Und meine Fertigbauhäuser kann ich nicht bauen!«

»Wieso nicht?«

Jakob gab bekannt, wieso nicht.

»Die Verbindungsstücke liegen in Niesky! Das ist weit hinten in der Sowjetischen Besatzungszone. Bei der Firma Christoph und Unmack! Ihr könnt mit ihnen allein keine Häuser bauen, und ich kann ohne sie keine Häuser bauen, und die armen Teufel in West und Ost hungern weiter und haben weiter kein Dach überm Kopf. In so einer Situation müssen wir Deutschen doch zusammenhalten – oder nicht?«

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Herr Formann!«

»Auf folgendes: Ich will ein Geschäft mit denen drüben machen. Mit dem Osten. Solche Geschäfte sind schon haufenweise gemacht worden, das wissen Sie selber!«

»Sie meinen Tauschgeschäfte?«

»Ja. Tauschgeschäfte. Hilf dir selbst, dann hilft dir … Verzeihung, das ist so ein dummes Sprichwort. Helfen wir einer dem anderen, Herr Klahr!«

»Ich bin nur ein Beauftragter meiner Partei, Herr Formann. Und Sie sind nur ein Büttel der Amerikaner.«

Büttel?

Was ist ein Büttel? dachte Jakob und nickte trübe.

»Sie brauchen erst die Erlaubnis der Amerikaner für so ein Geschäft, und ich muß mich erst mit der SED und der Sowjetischen Militäradministration in Berlin-Karlshorst ins Benehmen setzen.«

»Die Erlaubnis der Amerikaner kriege ich«, verkündete Jakob. (Mein Freund Josef Mader, dieser geniale Fälscher, arbeitet schon an den Papieren.) »Das ist kein Problem. Wir brauchen nur noch die Erlaubnis der Stellen in der SBZ für das Geschäft.«

»Was ist das überhaupt für ein Geschäft, Herr Formann?«

Jakob legte eine kleine Pause ein, blickte zu Josef Stalin auf, sah Klahr ins Gesicht und sagte: »Ich liefere Ihnen Eier, und Sie liefern mir dafür die in Niesky liegenden Verbundstücke für die Fertighäuser und die dazugehörigen Prägemaschinen, damit wir weitere Teile herstellen können.«

»Eier? Wie viele Eier?«

Steh mir bei, weiser Josef Wissarionowitsch, dachte Jakob und sagte mit fester Stimme: »Eine halbe Million!«

66

»Eine halbe Million Eier«, wiederholte KP-Funktionär Stephan Klahr, heiser vor Erregung.

»Eine halbe Million Eier«, antwortete Jakob liebenswürdig.

»Ich werde noch heute einen Kurier nach Berlin schicken«, versprach Klahr, der aufgesprungen war und im Zimmer hin und her lief. »Zu meinem Freund, dem Leiter der Abteilung für Interzonenhandel in der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung.«

Jakobs Herz klopfte heftig. So viel Massel gibt’s doch nicht, dachte er und fragte: »Wie heißt denn der Herr?«

»Genosse Peter Hohlweg.«

Gütiger Josef Wissarionowitsch, hab Dank, dachte Jakob und gab dem Foto des Vaters aller Werktätigen einen langen Blick.

»Genosse Hohlweg wird sich schnellstens mit Karlshorst, dem Sitz der Sowjetischen Militäradministration für Deutschland, in Verbindung setzen, und wenn wir von dort die Erlaubnis haben, kann das Geschäft über die Bühne gehen, Herr Formann. Sie sind Kapitalist, aber ein progressiv denkender Kapitalist. Nicht einer von den Finanzhyänen und Revanchisten, die nur an ihre Profite und an den nächsten Krieg denken.«

»Auch von Ihnen bin ich auf das angenehmste überrascht, Herr Klahr.«

»Ich bin doch das Schreckgespenst hier! Weil keiner mich wirklich kennt! Aber das wird sich ändern, Herr Formann, seien Sie beruhigt!«

»Da bin ich beruhigt. Unser Geschäft könnte ein Meilenstein sein!«

»Da haben Sie recht!« Klahrs Euphorie verschwand plötzlich. »Wenn Sie mich nicht bescheißen!«

»Entschuldigen Sie, diesen Ausdruck kann ich nicht hinnehmen. Vergessen wir das Ganze, Herr Klahr. Guten Tag.« Jakob ging zur Tür.

Klahr rannte ihm nach und hielt ihn fest. »Nicht doch, nicht doch, Herr Formann! Ich hab’ doch bloß Spaß gemacht!«

»Solche Späße mag ich nicht.«

»Verdammt, aber Sie verstehen doch, daß wir uns absichern müssen! Gut, Sie sind ein anständiger Mensch – aber wer weiß, was für andere Schweine uns da reinlegen wollen? Wie soll denn der Transport überhaupt vor sich gehen?«

»Per Bahn. Die Eier nach Berlin, Demokratischer Sektor, die Verbindungsstücke von Niesky auf möglichst kurzem Weg in den Westen.«

»Aber zuerst müssen die Eier geliefert werden!«

»Selbstverständlich. Erst die Eier und dann die Verbindungsstücke.«

»Eine halbe Million Eier … Wie viele Waggons brauchen Sie denn da?« Jakob zog einen Zettel aus der Tasche.

»Kann ich Ihnen ganz genau sagen. Habe mich erkundigt.«

»Wo?«

Es gelang Jakob, völlig ernst zu erwidern: »Beim ›Landesverband Hessen des Eier-, Geflügel-, Wild- und Honiggroßhandels‹!«

»Aber die haben doch überhaupt keine Eier, kein Geflügel, kein Wild und keinen Honig!«

»Das nicht, aber eine Dienststelle haben sie. Eine Dienststelle haben sie in Deutschland immer«, sagte Jakob. »Die Zahlen, die ich Ihnen nenne, stammen noch aus einer Zeit, in der es all das, was es jetzt nicht gibt, gegeben hat. Die Eier, hat man mir gesagt, werden in Kisten – nicht in Kartons! – verpackt. Holzwolle dazwischen. In einen Eisenbahnwaggon gehen vierhundert Kisten. In jede Kiste gehen dreihundertsechzig Eier. Das sind pro Waggon einhundertvierundvierzigtausend Eier. Wenn wir also vier Waggons nehmen, dann bringen wir – hier bitte, ich habe es ausgerechnet – sogar fünfhundertfünfundsiebzigtausend Eier rein! Fünfhundertfünfundsiebzigtausend, das ist mehr als eine halbe Million! Das ist mein Zeichen für Frieden und Völkerfreundschaft!«

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Es folgte eine Woche, in welcher der Funktionär Ignaz Hölzlwimmer auf Inspektionsreise geschickt worden war. Zum Himmler-Hof und zu der Hühnerfarm nahe Bayreuth. Von Jakob persönlich. Hölzlwimmer weinte vor Rührung. »Diese Ehre! Werde mich ihrer würdig erweisen, Herr Formann. Vertrauensstellung ist mir heilig! Können sich auf mich verlassen …«

Endlich hatten sie ihn draußen.

»You do something for me«, sang Frankie-Boy …

Folgten vier Nächte, in denen Jakob und Wenzel so hart schufteten wie noch nie im Leben. Es galt, viermal vierhundert Kisten zu laden. So etwas ist kein Honiglecken. Kisten hatten sie genug. Holzwolle auch. Pin-up-Fotos, die gewagtesten, die es zur Zeit gab, hatte Jakob in riesigen Mengen herangebracht. Es konnte einem ganz flau werden bei dem vieltausendfachen Anblick von Beinen, Busen und Popos.

Im Dunkel der Nacht füllten die Herren Formann und Prill Kiste um Kiste. Auf etwas eigenwillige Art. Zuunterst kam Holzwolle. Sehr viel Holzwolle. Darüber kamen Pin-ups. Sehr viele Pin-ups. Über diese wieder Holzwolle. Sodann, voreinander durch Holzwolle geschützt, eine Lage Eier. Neun Stück. Dann – trotz Wenzel Prills anfänglichem Protest – wieder Holzwolle. Und dann noch einmal eine Lage mit neun Eiern und wieder einmal Holzwolle. Deckel drauf, zugenagelt! Auf den Deckel eingebrannt: VORSICHT! OBEN! NICHT STÜRZEN! ZERBRECHLICH! Statt dreihundertsechzig Eiern befanden sich in jeder Kiste somit nur achtzehn. Wenzel hatte überhaupt nur eine Lage, also neun Eier laden wollen, doch Jakob hatte rundweg abgelehnt.

Also packten die beiden Herren von 18 Uhr bis um 6 Uhr am nächsten Morgen, schichteten, hämmerten Deckel fest, brannten die schwarzen Warnstempel ein. Zuletzt spürten sie ihre Knochen nicht mehr. Die Kisten wurden von ahnungslosen GIs auf US-Army-LKWs, die der Provost Marshal in Frankfurt (Jakob unterhielt die besten Beziehungen zu ihm) gestellt hatte, an den Güterbahnhof gefahren. Jakob persönlich überwachte ihre Verladung in vier bereitstehende Waggons. (Hier spielten bereits Maders Papiere eine Rolle. Eines davon wies den Provost Marshal Frankfurt im Namen von General Clay an, vier Güterwaggons für ein Interzonengeschäft bereitstellen zu lassen.)

Dann kam der gefährlichste Moment: die Inspektion der Kisten durch Stephan Klahr. Sie geschah in den Abendstunden und im Schein elektrischer Taschenlampen. Jakob stemmte eine Kiste auf – Klahr sah eine Lage Eier, nickte, und die Kiste wurde wieder vernagelt.

Das ging sechsmal so. Beim siebenten Mal begann der mißtrauische Klahr die erste Lage Eier abzuheben.

»Mal sehen, was drunter ist«, sagte er und lachte scheppernd. »Wir sind nämlich nicht dämlich, klar?«

»Klar, Herr Klahr«, sagte Jakob, während dieser, zufrieden, eine zweite Lage Eier unter der ersten entdeckte.

Jakob sah Prill, der mitgekommen war, bedeutsam an.

Wenzel senkte schuldbewußt das Haupt.

Der Funktionär betrachtete aufmerksam die zweite Lage Eier.

»Na, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte er.

»So schnell geht das nicht, Herr Klahr! Das müssen Sie mir schriftlich bestätigen. Achtmal! Tja, der Papierkrieg! Wenn ich bitten darf …«

Der KP-Funktionär bestätigte gern den Inhalt der vier Waggons achtmal durch seine Unterschrift. Funktionäre bestätigen immer gern. Sie sind immer für Korrektheit, und natürlich hatte Genosse Klahr auch ein Stempelkissen und den Stempel des KP-Landesverbandes Hessen dabei. Also noch achtmal ein Stempel auf acht Papiere!

Zuletzt wurden die vier Waggons plombiert und schon am nächsten Tag an einen Interzonenzug angehängt, der nach West-Berlin fuhr. Jakob und Wenzel fuhren mit. In West-Berlin wurden die vier Waggons abgekoppelt. Eine Lok der Reichsbahn (Jakob staunte: Ausgerechnet hier, im Demokratischen Sektor, gab’s noch eine Deutsche Reichsbahn!) brachte sie über die Sektorengrenze auf das riesige Gelände des Güterbahnhofs zwischen Schlesischem Bahnhof und Warschauer Brücke. Daselbst verteilte Jakob an einige Herren überreichlich amerikanische Lebensmittel und Zigaretten. Die Herren ließen die vier plombierten Waggons daraufhin auf ein ganz entlegenes Nebengleis rangieren. Der Lokomotivführer und der Heizer äußerten ihre Absicht, in den Westen abzuhauen, und taten das auch zu der gleichen Zeit, da Jakob Formann, begleitet von Wenzel Prill, sich gerade im Gespräch mit dem sowjetischen Major Assimow im Hauptquartier der Sowjetischen Militäradministration in Berlin-Karlshorst befand. Ebenfalls anwesend war der Freund des hessischen KP-Häuptlings Klahr, der Chef der Abteilung Interzonenhandel in der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung, Genosse Peter Hohlweg – vor vier Jährchen noch einer der gefürchtetsten Nazis in einem großen Flugzeugwerk nahe Berlin.

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Die Anwesenheit eines Dolmetschers (in welcher Eigenschaft Wenzel mitgekommen war) erübrigte sich, denn Major Assimow sprach sehr gut deutsch. Er überreichte Jakob alle nötigen Papiere für den Empfang der Verbindungsstücke in Niesky sowie Rückfahrbefehle via Berlin-Helmstedt mit den Worten: »Ich bin glücklich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Herr Formann. Männer wie Sie und der Genosse Hohlweg zeigen deutlich, daß mit gutem Willen von beiden Seiten eine Koexistenz zwischen zwei verschiedenen Systemen durchaus möglich ist, wie es der große Genosse Stalin immer wieder betont.«

»Und was die Amerikaner nicht glauben wollen«, antwortete Jakob und nickte betrübt.

»Ich hoffe, wir sehen uns wieder«, sagte der Major zum Abschied.

»Das hoffe ich auch, Genosse Major«, sagte Jakob und dachte: bloß das nicht!

In Hohlwegs Dienstwagen fuhren sie in Richtung Stalinallee zurück.

»Und die Waggons mit den Eiern, wo sind die?« fragte der Abteilungsleiter aus der Verwaltung für Handel und Versorgung.

»Auf Ihrem großen Güterbahnhof da in Berlin, Herr Hohlweg«, sagte Jakob, der wieder die angenehme Wärme in sich aufsteigen fühlte wie stets, wenn er sich in Gefahr befand. »Am besten, Sie setzen sich mit der Erfassungsstelle für Eier und Eierprodukte in Verbindung.«

»Wieso mit der Erfassungsstelle?«

»Na, die haben wir doch benachrichtigt.«

»Blödsinn! Ich habe über die Eier zu bestimmen!« schimpfte Hohlweg los. »Erfassungsstelle! Die reißen sich doch nur alles unter den Nagel! Das sind doch absolut unzuverlässige Subjekte!«

»Entschuldigen Sie, Herr Hohlweg, aber ist das wirklich wahr?«

»Was, was, was?«

»Daß es bei Ihnen in wichtigen Stellungen unzuverlässige Subjekte gibt?«

»Hrm … äh …«

»Bitte?«

»Sie haben mich falsch verstanden, Herr Formann! Natürlich sind hier alle Funktionäre von hervorragender Tüchtigkeit und Ehrlichkeit! Es ist nur … es gibt nur … eben weil alle so diensteifrig sind! … andauernd Mißverständnisse, verstehen Sie?«

»Verstehe.«

»Na, da muß ich sehen, was ich machen kann. Wir von der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung müssen eben versuchen, schneller zu sein als die Erfassungsstelle! Denn die Eier gehören zu uns, nur zu uns, verstehen Sie!«

»Ich verstehe. Und verzeihen Sie. Ich konnte nicht ahnen … Auf den Papieren des Genossen Klahr aus Frankfurt stand …«

»Der Genosse Klahr ist ein Trott … ist völlig überarbeitet, der hat sich geirrt, der liebe Genosse Stephan, hrm!«

Jakob war entzückt. Er warf Wenzel einen Blick zu. Der Hohlweg mit seinen Kumpanen will natürlich ein paar tausend Eier abstauben, besagte der Blick. Besagte des weiteren: Natürlich haben wir keine Erfassungsstelle für Eier und Eierprodukte verständigt. Das wird jetzt – toi, toi, toi! – ein wunderbares Durcheinander geben!

69

Von Berlin fuhren die beiden Freunde, in den Brieftaschen hübsche Papiere in deutscher und russischer Sprache, über Lübben und Cottbus bis Horka. Dort mußten sie umsteigen, um nach Niesky zu gelangen. Jakob pfiff sich eins. Wenzel flehte ihn an, mit dem Pfeifen aufzuhören.

»Warum? Seit wann stört dich mein Pfeifen?«

»Mensch, Jakob, bist du von allen guten Geistern verlassen? Wenn die die vier Waggons finden und die Kisten aufmachen, und wir sind noch in der Zone, dann bleiben wir ein Leben lang hier! Wegen Wirtschaftsverbrechen! Wirtschaftssabotage! Darauf gibt’s ›Lebenslänglich‹! Weißt du das nicht?«

»Natürlich weiß ich das. Vielleicht auch die Rübe ab. Bei uns sehr wahrscheinlich«, sagte Jakob und pfiff weiter. Sie standen auf dem Gang. Wenzel stöhnte so laut, daß er das Rattern des Zuges übertönte. Ein Mann, der in einiger Entfernung von ihnen stand, sah sie grübelnd an. Jakob schenkte ihm ein sonniges Lächeln. »Mein Freund fühlt sich nicht ganz wohl«, schrie er. »Geht gleich vorüber. Der hat zuviel gegessen!« Und zu Wenzel sprach Jakob, sehr leise, diese Worte: »Wenn du mit mir weiterarbeiten willst, darfst du dir nicht immer gleich in die Hosen scheißen, mein Lieber.«

70

Jakob Formann sagte: »Bitte, übersetze dem Herrn Major, daß ich ihm im Namen aller armen Menschen Westdeutschlands danke.«

Wenzel Prill übersetzte.

Der sowjetische Major Kotikow, der hinter seinem Schreibtisch saß (auch hier natürlich wieder unter einer Fotografie des Genossen Stalin), sprach: »Bitte, Herr Prill, sagen Sie Herrn Formann, daß ich ihm stellvertretend für die deutschen Menschen in der Demokratischen Zone Deutschlands für seine Gabe danke und ihm mit Vergnügen das erbetene Material für die armen Menschen Westdeutschlands übergebe.«

Wenzel übersetzte. (Der Wenzel hat eine widerwärtige Art, andauernd auf die Uhr zu schauen und sich nervös am Kopf zu kratzen, dachte Jakob. Wovor hat der bloß Angst? Vor dieser dämlichen Sowjetischen Militäradministration und davor, daß unsere vier Wagen mit den sehr wenigen Eiern gefunden werden? Der hat ja keine Zivilcourage! Der Major muß doch mißtrauisch werden!)

Doch der Major wurde nicht mißtrauisch. Er hatte ein großes, sentimentales russisches Herz und eine große, gütige russische Seele und liebte es, armen Menschen zu helfen. Ihm unterstand der Güterbahnhof von Niesky, der jedem Gebildeten bekannten Kreisstadt der Oberlausitz. Seine Dienststelle befand sich im ersten Stock des Bahnhofsgebäudes. Jakob sah aus einem Fenster, das zum Teil zugenagelt war, über das Bahngelände und hinüber zu den Werkshallen von Christoph und Unmack. In Niesky hatte es eine Fahrzeugbau-, Maschinen-, Glas-, Holz- und Elektroindustrie gegeben. Es gab also entsprechend viel zu demontieren und abzutransportieren, insbesondere natürlich die Maschinen und das Material der Firma Christoph und Unmack! Da sind wir gerade noch rechtzeitig gekommen, dachte Jakob, denn er sah auf den Gleisen mehrere Güterzüge, die beladen wurden. Rotarmisten unter Gewehr bewachten die Arbeiter. Die Lokomotiven aller Züge standen in Richtung Osten. Eine Lok fuhr gerade hin und her, bis sie schließlich Fahrtrichtung West hatte und vier Waggons angekoppelt wurden. Zwei offene Waggons waren randvoll mit Verbindungsstücken für Jaschkes Fertighäuser gefüllt, auf zwei weiteren standen, mit Planen zugedeckt, die Stanzmaschinen, die der Major in seiner übergroßen Güte (und auf Anweisung der Militäradministration) dazugegeben hatte.

Mein Zug! dachte Jakob Formann, angenehm durchwärmt. Er dachte des weiteren: Erstens hat der Fälscher Josef Mader wieder einmal bewiesen, daß er ein Genie ist. Zweitens sind der Wenzel und ich Genies (aber ich hau ihm doch eines hinter die Hörner, wenn er das mit dem Auf-die-Uhr-Sehen nicht läßt, der Trottel!). Drittens sind sie bei der Sowjetischen Militäradministration genauso blöde wie die bei der Amerikanischen Militärregierung und wahrscheinlich so dämlich wie jede andere Militärverwaltung auf der Welt auch!

Major Kotikow war ein pflichtbewußter Mensch. Der hatte selbstverständlich in Karlshorst zurückgerufen, als die beiden Herren hier auftauchten, um sicherzugehen, daß sie keine Schwindler waren. Karlshorst hatte ihn absolut beruhigt. Woraus eindeutig hervorging, daß man auf jenem endlos weiten Güterbahnhof in Berlin die vier Waggons mit den viel zu wenigen Eiern noch nicht gefunden hatte. Es war wirklich ein abgelegenes Gleis, auf dem die standen …

Die Tür ging auf. Zwei Männer kamen herein, ein sowjetischer Feldwebel und ein deutscher Zivilist. Der deutsche Zivilist beachtete Jakob zuerst gar nicht.

Er sagte zu seinem Begleiter: »Übersetzen Sie bitte dem Genossen Major, daß der Zug in Richtung Mücka-Hoyerswerda in einer Stunde abfahrbereit sein wird. Meine Männer haben bis an den Rand des Zusammenbruchs ge …« Den Satz sprach er nicht zu Ende, denn da hatte er Jakob erblickt. Und dieser ihn.

Nein, also so was, dachte Jakob. Das ist ja heiter! Der Zivilist, der da vor mir steht, untersetzt, stiernackig, mit einer Totschlägerfresse im roten Gesicht – das ist doch niemand anderer als der Unteroffizier Bohrer, Adolf Bohrer, der mich bei der Ausbildung halbtot geschliffen hat, der verfluchte Hund! Durch die tiefen Pfützen auf dem Kasernenhof hat er mich robben lassen, bis ich von oben bis unten vollgesaugt war! Ein besonderer Liebhaber von ›Maskenbällen‹ war er: Hopp, hopp! In drei Minuten im Dienstanzug angetreten … Und uns dann gehetzt … Im Arbeitsanzug angetreten … weggetreten … Im Ausgehanzug mit Mantel umgeschnallt angetreten … Singen unter der Gasmaske … Mit der Zahnbürste hat er mich den Stubenboden scheuern lassen. Alles Zeug hat er aus unseren Spinden gerissen, weil sie angeblich unordentlich waren! Stundenlang hat der Schuft uns Betten bauen lassen, weil wir alles angeblich zu schlampig gemacht hatten! Mein Gott, so sehr gehofft habe ich, daß es diese Sau an der Front erwischt. Nix! Hier muß ich ihn wiedertreffen. Von allen Orten hier! Und ausgerechnet jetzt!

»Formann, Sie müdes Arschloch! Was tun denn Sie hier?« schrie der Unteroffizier a.D. Adolf Bohrer, indessen ihm noch mehr Blut in seinen Schweineschädel schoß.

Jakob machte sein dümmstes Gesicht und sah den Brüllenden erstaunt an. »Was will der Mann? Warum schreit er?« fragte Major Kotikow den nervösen Wenzel auf russisch.

»Keine Ahnung«, sagte der und fragte Jakob auf deutsch: »Was ist mit diesem Scheißer los? Was will er denn von dir?«

»Ich habe keine Ahnung, was der will«, antwortete Jakob sanft. »Ich habe den Kerl nie im Leben gesehen.«

»Nie im Leben gesehen?« tobte Bohrer wiederum los. »Du wirst dich gleich an mich erinnern, du traurige Vogelscheuche!«

»Ich fürchte, es besteht Grund zur Besorgnis«, äußerte Jakob, und Mitleid trat in seine Augen. »Tck, tck, tck. Das scheint doch ein schwerer Fall zu sein. Ist er in ärztlicher Behandlung?«

All das übersetzte Wenzel dem Major Kotikow. Der Leuteschinder a.D. Bohrer lief schwarz-weiß-rot im Gesicht an. Auf seinem Stiernacken sträubte sich jedes einzelne blonde Härchen. »Kerl, ich bringe dich vors Kriegsgericht! Das ist ein Spion, Genosse Major! Ein amerikanischer Spion! Ich kenne das Schwein! Los, los, los, übersetzen Sie, Mann!« schrie Bohrer den Feldwebel an. »Ich kenne ihn! Ich war sein Ausbilder!«

»Wo?« fragte der russische Feldwebel irritiert.

»In der Wehrmacht natürlich, Sie Rindvieh!« Bohrers Stimme kippte. Er keuchte.

Der Feldwebel übersetzte. Wenzel übersetzte. Eine Übersetzung jagte die andere.

»Schlimm, schlimm«, sagte Jakob zuletzt erschüttert (und mit dem intensiven Gefühl innerer Wärme). »Das ist ein akuter Anfall. Da muß sofort ein Arzt her.«

Übersetzung zurück. Major Kotikow nickte erschrocken. »Gospodin Formann hat recht«, sagte er russisch, dann rief er ins Telefon: » Wache! Sanitäter! Doktor! Hier tobt einer!«

»Du Sau!« brüllte Unteroffizier Bohrer wie von Sinnen und drang rasend vor Zorn auf Jakob ein. Der hob gelangweilt ein Knie. Bohrer rannte in dasselbe hinein. Das Knie war hart, wie Knie eben sind, und Bohrer traf sich selbst an seiner empfindlichsten Stelle. Er stieß einen ersten und gleich darauf einen zweiten Schrei aus, denn Major Kotikow hatte ebenfalls eingegriffen und Bohrer wuchtig in den Hintern getreten.

Eine solche Attacke von hinten und von vorn erschwerte dem Unteroffizier a.D. der Deutschen Wehrmacht sel. das rasche Umkippen. Er kippte langsam, man kann sagen, er glitt zu Boden und hielt dabei die eine Hand auf das, was ihm vorne weh tat, und die andere Hand auf das, was ihm hinten weh tat. Er rollte über den Boden hin und her, und zwischen Wehlauten ließ er diese Worte vernehmen: »Spion … abknallen … Verbrecher … Mistvieh, verrecken sollst du … Genosse Stalin …«

Als er das herausgebracht hatte, fielen sämtliche Anwesenden über den Unteroffizier a.D. Adolf Bohrer her. Schließlich hatte er den Vater aller Werktätigen aufs gröblichste beleidigt, und es waren zwei Russen im Raum. Jakob und Wenzel aber konnten einen derart schweren Insult des sowjetischen Weisesten Führers und Generalissimus schon aus Gründen des Selbsterhaltungstriebes nicht hinnehmen. Sie machten mit.

Auf flog die Tür.

Rotarmisten stürzten herein. Sie drängten alle anderen beiseite und nahmen sich Bohrers an, bis er bewußtlos war. Dann erschien eine Ärztin, mit ihr zwei breitschultrige Herren in weißen Pflegerjacken. Jetzt kam Bohrer wieder zu sich. Aber da hatte er schon eine Zwangsjacke an, die Enden der Ärmel waren zusammengebunden, und mit sanfter Gewalt geleiteten die beiden Pfleger den Herrn Unteroffizier a.D. Bohrer, der schon wieder brüllte, hinaus. Die Ärztin – sie war in Uniform – sprach russisch mit dem Major. Wenzel übersetzte ins Deutsche und zurück ins Russische, was Jakob gesagt hatte: »Ich fürchte sehr, die Frau Doktor hat recht. Dies ist ein gemeingefährlicher Fall von Tobsucht.«

Die Ärztin meinte auch, sie halte das für eine schwere manische Exaltation. Sie habe die sofortige Einweisung in das nächste Lazarett veranlaßt. Draußen hörte man Bohrer noch immer brüllen.

»Wohl ein Verlorener, sagt die Frau Doktor«, übersetzte Wenzel Prill. »Als Ärztin darf man niemals verloren sagen«, äußerte Jakob Formann. (Mariandjosef, ist die hübsch! Wenn ich jetzt Zeit hätte …) »Auch für ärgste Fälle gibt es noch Hoffnung. Wir in Westdeutschland haben erstaunliche Erfolge mit Elektroschocks erzielt.«

Wenzel übersetzte das für alle Anwesenden ins Russische zurück, während Jakob nonchalant eine Hand in die Hosentasche steckte. Gute, alte Hasenpfote …

Die hübsche Ärztin, so übersetzte Wenzel für Jakob, sei auch der Meinung, daß man es nur noch mit Elektroschocks versuchen könne. Jakob nickte.

Elektroschocks … Kameraden, dachte er, Freunde, die der Hund geschunden hat, wie er mich geschunden hat, besonders du, kleiner Swoboda Karli, der du beim fröhlichen Soldatenliedergesang unter der Gasmaske – »Und nun, meine Herren, Dauerlauf marsch, marsch!« – an Herzversagen gestorben bist, und du, Tschuppek Heinrich, der du dich umgebracht hast, weil du die Quälereien von diesem Schwein nicht mehr ertragen hast, und du, Flackerl Thomas, der du abgehauen und erwischt und vor ein Kriegsgericht gekommen und erschossen worden bist wegen Fahnenflucht – euch alle, hoffe ich, habe ich gerächt.

Und mich selber auch.

Elektroschocks …

71

Um 17 Uhr 45 fuhr der Zug mit den Verbindungsstücken und den Stanzmaschinen ab. Die sowjetische Begleitmannschaft grüßte den Major Kotikow, der zur Rampe gekommen war. Die milde Gabe sollte ohne Aufenthalt gen Westen gebracht werden. An der Grenze zur Amerikanischen Zone war die sowjetische Begleitmannschaft durch amerikanische zu ersetzen.

In einem der Bremserhäuschen saßen Jakob und Wenzel, beide dick vermummelt, denn es war immer noch hübsch kalt, lange Zeit stumm dicht beieinander.

Dann sah Wenzel auf seine Uhr.

»Himmelherrgottnocheinmal, laß das sein!« sagte Jakob ärgerlich. »Du machst mich noch wahnsinnig mit deinem Schiß!«

»Mensch, wir fahren über Berlin zurück! Wenn die inzwischen die vier Waggons gefunden haben, bleiben wir in Berlin! In Ost-Berlin!«

»Die haben die Waggons noch nicht gefunden!«

»Sagt wer?«

»Ich!«

»Sehr beruhigend.«

»Ach, halt doch dein Maul.«

»Was machst denn du für ein Gesicht? Ist dir nicht auch mies?«

»Ja. Mächtig.«

»Warum?«

»Wir haben die armen Hunde doch beschissen. Es sind in jeder Kiste doch bloß achtzehn Eier, nicht dreihundertsechzig.«

»Und deshalb ist dir mies? Versteh’ ich nicht.«

»Es ist doch eine Sauerei, die wir da gemacht haben mit den Leuten. Aber du hast eben kein Gewissen.«

»Und du hast eines, ja?«

»Ja, leider.«

»Darum hast du dir ja die ganze Geschichte ausgedacht! Das hab’ ich gern! Zuerst andere bescheißen und dann sich selber.«

»Du sollst dein ungewaschenes Maul …«

»Wenn die nur für fünf Groschen Verstand haben, müssen sie die Waggons schon gefun …«

»Halt’s Maul, Wenzel, verflucht!«

Dann blieb es wieder lange Zeit still.

Jakob war beklommen. Wenzel war beklommen. Wenzel weniger. Der sprach endlich wieder.

»Dieser Kerl, der uns in letzter Minute fast noch alles versaut hat, war das wirklich dein Ausbilder?«

»Ja, war er«, sagte Jakob.

Er fügte, in Gedanken versunken, hinzu: »Auch so einer von den Funktionären, wie du sie auf unsern Hühnerfarmen dreimal gefunden hast, Wenzel. Und auch so einer wie dieser KP-Boß Klahr in Frankfurt und wie dieser Oberbonze Hohlweg in Berlin. Funktionäre gibt’s überall. Und die funktionieren immer und überall.«

»Da hast du recht. Immer und überall. Dein Ausbilder und der Hohlweg, die beide gestern noch sich aufopfernd dem geliebten Führer Adolf gedient haben, dienen jetzt sich aufopfernd dem geliebten Führer Stalin. Unsere Funktionäre im Westen, die gestern noch dem geliebten Führer gedient haben, dienen heute opferwillig uns, die wir von der Sonne der amerikanischen Besatzungsmacht beschienen werden. Ein Funktionär sein, verstehst du, Jakob, das ist eine Lebenshaltung, die weitgehend unabhängig ist von Parteien und von Weltanschauungen.«

»Ist schon richtig. Aber paß auf, Wenzel«, sagte Jakob, »ich war doch auch noch auf der Farm in Bayreuth und auf dem ehemaligen Himmler-Hof und hab’ mir angeschaut, wie es da zugeht und was du dort für Typen eingesetzt hast.«

»Den Kleinhaupt und den Zerensky.« Wenzel nickte trübe. »Wir werden die nicht mehr sehen, die Herren. Wenn sie uns erst aus dem Zug holen …«

»Du sollst die Fresse halten, Mensch! Du machst mich noch ganz verrückt mit deiner Scheißangst! Hör zu, wenn ich mit dir rede! Den Kleinhaupt und den Zerensky habe ich mir angeschaut.«

»Ja, hast du schon mal gesagt. Und?«

»Und dabei ist mir was Komisches aufgefallen. Der Kerl da in Frankfurt, der Hölzlwimmer, der betreibt seine Schiebungen ganz offen und ohne Geheimnistuerei. Die beiden anderen, der Zerensky und der Kleinhaupt – also so was von Getue, daß niemand wissen darf, was sie vorhaben oder wie sie die Polizei bestechen! Wieso sind diese beiden so ganz anders als dein Hölzlwimmer?«

»Das kann ich dir erklären, Jakob«, sagte Wenzel. »Als Psychologe, nicht als Jurist! Die zwei in Bayern sind schwarz und katholisch – im Moment! Mein Hölzlwimmer, der ist gottlos und ein Roter. Auch nur im Moment natürlich!«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du wirst es gleich verstehen. Schau: Schieben und raffen und bescheißen tun diese Typen alle! Egal, ob schwarz und katholisch oder gottlos und rot – und dazwischen alle Schattierungen, die du dir denken kannst. Jedoch«, sagte Wenzel bedeutungsvoll, » ein Unterschied besteht – wir erleben es im Winzigen, wir werden es aber auch noch im Gigantischen erleben, das prophezeie ich dir! Also: Der Unterschied, der auch dir aufgefallen ist, hat verschiedene Gründe, zum Beispiel religiöse …«

»Ach so, du meinst also, die Katholen haben ein schlechtes Gewissen?«

»Na klar: Die denken doch, man weiß nix Gewisses – es könnt’ ja sein, daß es doch eine Hölle gibt und ein Fegefeuer, nicht wahr … Ich möcht’ also eher sagen, sie sind tabugehemmt.«

»Sie sind was?«

»Der Zug!«

»Was, der Zug?«

»Der Zug fährt langsamer! Merkst du es nicht! Die haben uns, Jakob, die haben uns!«

»Einen Dreck haben sie uns! Das ist eine Baustelle, kannst du das vielleicht noch sehen? Na also. Mensch, wenn du nicht endlich damit aufhörst, kriegst du ein paar gefeuert … Was heißt das, tabugehemmt?«

»Daß ich es dir erklär’: Ein Tabu ist etwas, das nicht verletzt werden darf, grob gesprochen. Die Schwarzen machen sich – symbolisch – noch immer in die Hosen, wenn sie betrügen, warum, sie sind religiös und glauben an ihre Tabus, an den lieben Gott. Und ans Fegefeuer und an die Hölle. Deshalb tun sie es also heimlich! Da haben es die Roten leichter! Die glauben den ganzen Salami aus der Bibel von vornherein nicht, und deshalb können sie auch ohne Angst vor einer Tabuverletzung frisch, fröhlich und frei öffentlich bescheißen! Aber tun tun sie’s natürlich beide!«

Nach einer langen Pause murmelte Jakob erschüttert: »Und ich bin um kein Haar besser. Ich habe auch beschissen! Und wie! Arme Leute, kleine Leute!«

»Jakob, wenn du jetzt zu spinnen anfängst, kriegst du ein paar von mir gefeuert! Wir gehen ja schon beide auf dem Zahnfleisch!«

So lief das weiter. Vor Berlin hielt der Zug. Wenzel sprang auf.

»Jetzt sind wir in der Falle! Raus, ich will raus hier! Raus!«

»Du bleibst da!«

»Bis sie uns holen, ja? Nicht ums Verrecken!«

»Halt’s Maul, ich flehe dich an, halt’s Maul! Mit deinem blödsinnigen Geschrei machst du ja noch die Iwans mißtrauisch!«

»Das ist mir scheißegal, ich …« Weiter kam Wenzel nicht, denn Jakob hatte ihn mit einem gezielten Faustschlag zu Boden gestreckt. Als er wieder zu sich kam, erhielt er einen neuen Hieb. Nach einer halben Stunde setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

»Was war das?«

»Keine Ahnung.«

»Warum sind wir stehengeblieben?«

»Ich sage dir doch, keine Ahnung, Trottel!«

Hinter Berlin überkam es dann Jakob wieder. Den Kopf in die Hände gestützt, murmelte er erstickt: »Eine halbe Million versprochen … und was haben wir geliefert? Ganze fünfundzwanzigtausendneunhundertundzwanzig Stück! Wir sind ja noch viel schlimmer als diese Funktionäre, Wenzel!«

»Ach, leck mich doch …«

»Du bist ein Zyniker. Dir ist alles egal! Mir nicht! Ich muß an die vielen Eier denken, die jetzt keiner von den armen Leuten hier kriegt. Besonders die Kinder! Die haben vielleicht noch nie ein Ei gesehen! Und hätten sie es sehen können, ihre Augen hätten geleuchtet … Glückliche Kinder, Wenzel … glückliche Kinder! Was können die kleinen Würmer für den ganzen Scheißkrieg? Und ich habe sie betrogen … betrogen … und sie sehen weiter kein Ei …«

»Ich werde noch wahnsinnig!« behauptete Wenzel brüllend. »Ich springe aus dem fahrenden Zug, wenn du nicht aufhörst, Jakob!«

»Das muß ich eben mit mir ganz allein abmachen«, murmelte Jakob gebrochen, »du hast kein Herz im Leib.«

»Ja, ja, ja! Mach’s bitte mit dir allein ab! Und halt die Schnauze!«

Jakob hielt die Schnauze, in unglückliches Grübeln versunken. Das nächste Mal konnte sie Wenzel nicht halten. Er schrie und wollte türmen, weil der Zug neuerlich auf freier Strecke gehalten hatte.

»Jetzt haben sie uns! Jetzt haben sie uns! Gleich kommen sie mit ihren Em-Pis …«

Also mußte Jakob ihn wieder k.o. schlagen. Tränen standen ihm in den Augen dabei. Nicht wegen seiner Roheit Wenzel gegenüber. Sondern weil er selbst so seelenlos beschissen hatte …

Jakob blieb während der ganzen Fahrt zerknirscht. Der Zug hielt noch einige Male, und Wenzel wurde noch einige Male hysterisch – mit den entsprechenden Folgen. Dann kamen sie endlich darauf, was schuld war an diesen unvermittelten Stops: Die Strecke verlief eingleisig! Das zweite Gleis war demontiert, und deshalb standen die Signale so oft auf Rot. Danach beruhigte sich Wenzel. Ein wenig. Ganz beruhigt war er erst, als kurz vor Helmstedt die sowjetische Begleitmannschaft ausgestiegen war. Jakob aber grämte sich bis Murnau – eine lange Zeit, wie man zugeben wird. Dann war ihm etwas eingefallen, und seine Miene hellte sich auf …

In Murnau wurden sie von einer großen Menschenmenge erwartet, die in Jubelrufe ausbrach. Es war gegen Abend. Bis in die Nacht hinein feierten die fröhlichen Bayern, und Jakob schwang das Tanzbein mit Frau Dr. Ingeborg Malthus. Erst gegen drei Uhr früh kamen die beiden in das Bootshaus. Diesmal fielen sie nicht ins Wasser. Diesmal zogen sie sich vorsichtig auf dem Steg aus, auf der richtigen Seite. Frau Dr. Malthus war zuerst im Bett. »Kommen Sie, Herr Formann«, flüsterte sie mit vor Erregung heiserer Stimme.

»Ich komme, gnädige Frau!« Jakob glitt neben sie. Während das Blut an seinen Schläfen zu hämmern begann, dachte er: Na schön, du hast einen Hieb, meine Liebe. Aber was ist eine Ausschüttung der Hypophyse?

72

x 14. maerz 1947 x 14.32 uhr x achtung x achtung x hoechste dringlichkeit x von: deutsche vopo kommissariat k 5 x an: alle volkspolizeidienststellen x fall von schwerster Wirtschaftssabotage x 1) der oesterreichische staatsbuerger jakob formann x wiederhole jakob formann x wird zur großfahndung ausgeschrieben x formann befindet sich vermutlich gegenwaertig in der bizone x er ist 27 jahre alt x ledig x 1.75 meter groß x schlank x in koerperlich guter verfassung x haare schwarz x augen schwarz x besondere kennzeichen: keine x formann ist bei betreten der sbz sofort zu verhaften und auf schnellstem weg zu ueberstellen an sowjetische militaeradministration karlshorst x ende 1 x 2) dasselbe gilt für den deutschen staatsbuerger wenzel prill x wiederhole wenzel prill, der …

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STRENG GEHEIM

VON: SOWJETISCHE MILITÄRADMINISTRATION FÜR DEUTSCHLAND AN: PARTEIVORSTAND SOZIALISTISCHE EINHEITSPARTEI DEUTSCHLANDS

BETRIFFT: WIRTSCHAFTSSABOTAGE DURCH WESTAGENTEN JAKOB FORMANN UND WENZEL PRILL SOWIE SKANDALÖSES VERSAGEN ZWEIER DEUTSCHER GENOSSEN

2. BERICHT Karlshorst, 17. März 1947

Es liegen die endgültigen Untersuchungsergebnisse zu dem im 1. Bericht geschilderten Verbrechen der US-Kreaturen Jakob Formann und Wenzel Prill vor. Fest steht nun, daß der Genosse Stephan Klahr (KP-Landesverband Hessen) auf das gröblichste fahrlässig, leichtfertig und zum Schaden der deutschen Bevölkerung gehandelt hat. Genosse Klahr gibt in beiliegender schriftlicher Selbstkritik zu, die Kisten mit den Eiern des Formann nur höchst oberflächlich geprüft und damit den Betrug überhaupt erst ermöglicht zu haben.

Der Genosse Peter Hohlweg von der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung gibt in beiliegender schriftlicher Selbstkritik zu, in einer die Arbeiter-und-Bauern-Macht schädigenden Weise heimtückisch und egoistisch gehandelt zu haben. Genosse Hohlweg gesteht, mit einer Sonderkommission seiner Verwaltung die vier im Bericht 1 erwähnten Güterwaggons nach elftägiger Suche auf dem Gleis 490 des Ostbahnhofes in Berlin aufgespürt zu haben – im Wettlauf um die Zeit mit der Erfassungsstelle für Eier und Eierprodukte, welche die Waggons ebenfalls durch eine Sonderkommission suchen ließ. Nach Öffnen der Kisten stellte sich heraus, daß diese (siehe Bericht 1) jeweils nur mit zwei Lagen Eiern (18 Stück) belegt und ansonsten mit Holzwolle und pornographischen Bildern von ekelerregender Schamlosigkeit (Ursprung USA, sogenannte ›Pin-ups‹) gefüllt waren. Die Eier waren nach Einlassung des Genossen Hohlweg fast alle nicht mehr genießbar. Deshalb hat der Genosse Hohlweg (siehe seine Selbstkritik) sie angeblich sämtlich vernichten lassen, welche Behauptung bezweifelt werden muß. Das gleiche gibt der Genosse Hohlweg an, mit den Bildern von unbeschreiblicher Obszönität getan zu haben, was ebenfalls bezweifelt wird. Dem steht nämlich die Aussage des verdienten Genossen Karl Mischewski von der Erfassungsstelle für Eier und Eierprodukte gegenüber (siehe seinen beiliegenden Bericht). Nach den Angaben des Genossen Mischewski traf seine Sonderkommission unmittelbar nach jener des Genossen Hohlweg nachts bei den Waggons ein und konnte beobachten, wie die Kisten geleert wurden. Die Eier waren mitnichten schlecht geworden, sondern alle in bestem Zustand und wurden von den Mitgliedern der Sonderkommission der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung, der auch der Genosse Hohlweg angehörte, im Dunkel dieser Nacht gestohlen. Das gleiche geschah mit den brechreizerregenden pornographischen Bildern.

Zwei Tage später kam es in mehreren Wohnungen von Angehörigen der Dienststelle des Genossen Hohlweg zu Orgien, die jeder Beschreibung spotten. Weibliche Genossen nahmen an diesen teil. (Siehe Bericht des Genossen Mischewski und beigefügte Fotografien eines eingeschleusten Genossen!) Die sexuellen Ausschreitungen waren nach Angabe des Genossen Ungern nicht zu überbieten. Die pornographischen Bilder wurden zuletzt versteigert und werden nun im gesamten Gebiet der SBZ heimlich gehandelt.

Nach unserer Meinung darf dieser Skandal keinesfalls weitere Kreise ziehen, weil das keinesfalls im Interesse des Aufbaus der Arbeiter-und-Bauern-Macht im Bereich der Sowjetischen Militäradministration liegt. Aus diesem Grunde ist im Einvernehmen mit den zuständigen Genossen der Sozialistischen Einheitspartei folgendes veranlaßt worden:

Spezialagenten kaufen zur Zeit die ›Pin-ups‹ auf, wo sie solche nur finden können.

Der Genosse Klahr ist sofort nach Berlin beordert worden. Nach Androhung schwerer Bestrafung im Falle eines weiteren Vergehens wurde er zum Leiter der Ausbildungsabteilung für Funktionäre in der westdeutschen Bi-Zone ernannt.

Der Genosse Hohlweg wird mit sofortiger Wirkung aus der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung entlassen und nach Androhung schwerer Bestrafung im Falle eines weiteren Vergehens an die Hauptstelle Fremdwährungsverwaltung für Devisengeschäfte mit dem Ausland versetzt unter gleichzeitiger Beförderung zum Hauptstellenleiter.

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Meldung in NEUES DEUTSCHLAND, dem offiziellen Organ des Parteivorstandes der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands:

GROSSHERZIGE SPENDE EINES FREUNDES UNSERER ARBEITER-UND-BAUERN-MACHT

Die Sowjetische Militäradministration Karlshorst gibt bekannt: Aus der Bundesrepublik Deutschland sind im Demokratischen Sektor von Berlin hundertfünfzig Zentner Trockenmilchpulver und hundertfünfzig Zentner Eipulver aus Beständen der amerikanischen Armee eingetroffen. Der anonyme Absender gab in einem beigefügten Schreiben seine Solidarität mit dem Aufbau der Arbeiter-und-Bauern-Macht unter der ruhmreichen Sowjetischen Militäradministration für Deutschland bekannt und bittet, das Milchpulver und das Eipulver an Kinder zu verteilen. Dies wird die Sowjetische Militäradministration selber tun. Die exemplarische Handlung des Unbekannten bestätigt wieder einmal die Worte des Genossen Walter Ulbricht, der sagte …

75

»Ach, halten Sie doch bitte einen Moment meine Tasche, lieber Herr Formann«, sagte Jan Kalder. »Da drüben ist ein Schwarzhändler mit Kirschen! Kirschen! Du lieber Gott, wann habe ich das letzte Mal Kirschen gegessen!«

Jakob nahm dem Herrn mit den glückstrahlenden Augen und heftig geröteten Backen die Tasche ab und nickte freundlich. Kalder eilte leichtfüßig über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße von Murnau. Es war 16 Uhr 37 am 13. Juni 1947. (Die genaue Zeit stellte später die Polizei fest.) Jakob war mit Kalder gerade aus München gekommen. Winter, Frühling, Frühsommer über hatte es noch gewährt, dann war Nachricht von der Amerikanischen Militärregierung gekommen: Herr Jan Kalder möge erscheinen und sich seine Lizenz für die Illustrierte abholen.

War das eine Aufregung gewesen! Endlich, endlich hatte man es geschafft! Frau Roxane Kalder und Frau Dr. Ingeborg Malthus waren allzu überwältigt, als daß sie den Wunsch des ebenfalls sehr aufgeregten Herrn Kalder hätten erfüllen können, ihn nach München zu begleiten. Sie fühlten sich der Reise einfach nicht gewachsen. Also hatte Jakob sich des älteren Herrn angenommen, war mit der Bahn nach München gefahren, hatte mit Herrn Kalder das Gebäude der Militärregierung aufgesucht, war Zeuge des historischen Augenblicks gewesen, in welchem ein deutschsprechender Presseoffizier Herrn Kalder die Lizenzurkunde überreicht und ihm die Hand geschüttelt hatte.

»Und nun Glück auf für Ihre ORCHIDEE!« hatte der junge Offizier gesagt. Kalder war selbst für eine Antwort zu aufgeregt gewesen.

»Vielen Dank«, hatte statt seiner Jakob geantwortet, während er dachte: ORCHIDEE als Titel für eine Illustrierte! Ich würde ja lieber verrecken, als eine Illustrierte ORCHIDEE nennen. Ach was, ist es meine Orchidee – äh, Illustrierte?

Auf der ganzen langen Rückfahrt in einem anderen Bummelzug hatte Jakob sich dann geduldig Herrn Kalders glückseliges Gestammel angehört und bei sich gedacht, daß auch ihm alles zum besten gedieh. Die Fertighausfabriken arbeiteten bereits auf vollen Touren, wenn die Familie Jaschke auch noch immer in dem Bootshaus schlief. Aber wie optimistisch und selig waren – alle – die Jaschkes und die Arbeiter!

Jaschke entwickelte ununterbrochen Verbesserungen, neue Modelle, größere Typen – jetzt mußte die Währungsreform doch endlich kommen, und dann begann die Neue Zeit!

Jakobs drei Hühnerfarmen arbeiteten prächtig. Überall waren die von Hölzlwimmer erfundenen Förderbänder und Sammelstellen bereits installiert worden.

Die schrecklichen Gewissensbisse und Alpträume wegen des großen Eier-Betruges, begangen an den unschuldigen Kindern in der Sowjetischen Besatzungszone, plagten ihn nicht mehr, seitdem er hundertfünfzig Zentner Trockenmilchpulver und hundertfünfzig Zentner Eipulver auf dem Schwarzen Markt erstanden und mit Hilfe von weiteren gefälschten Papieren (Mader!) auf die Bahn nach Berlin-Karlshorst gebracht hatte. Sie war mächtig ins Geld gegangen, diese gute Tat. Doch Jakob hätte sonst keine ruhige Minute mehr gehabt. Schließlich hatte es da noch die Sache mit dem Arnusch Franzl gegeben. Der war eines Tages, noch eleganter, noch fetter, in Murnau erschienen, um Jakob zu besuchen. In Erinnerung an die gemeinsam in Paris verbrachte Zeit versunken, gab der Franzl gleich zu Anfang bekannt: »Also mit dem Werwolf, mit der Laureen, da hast du dir was Feines angelacht.«

»Was habe ich mir denn angelacht?«

»Eine Todfeindin fürs Leben, Mensch! Du hast ja keine Ahnung, was die noch aufgeführt hat, bevor wir sie – in letzter Minute! – in den ›Train bleu‹ geschubst haben. Geschrien hat sie! Geflucht! Sie wird sich rächen!«

»Ach, weißt du …«

»Nein, nix ›ach, weißt du!‹ So was ist sehr ernst zu nehmen! Eine verschmähte Frau verzeiht niemals …«

»Aber ich hab’ sie doch gar nicht verschmäht! Im Gegenteil! Ich habe doch nur …«

»Du weißt es, und ich weiß es, was du nur hast. Und Laureen weiß es auch. Ich kann dir bloß raten: Sei wachsam!«

»Schön. Werd’ ich wachsam sein. Sie ist aber an die Riviera gefahren?«

»Ja.«

»Prima. Vielleicht findet sie da unten einen Kerl mit viel Geld, der sie heiratet. Und du? Was machst du?«

Der Franzl äußerte sich dahingehend, daß er nicht klagen könne. Er arbeitete noch immer als Devisenfahnder – nunmehr geehrt und im Besitz einer Dankesurkunde von den vier Alliierten – aber daneben, so sagte er, mache er in Aktien.

»Wo hinein?« fragte Jakob.

Daraufhin hielt Franzl einen halbstündigen Vortrag über Aktien. Danach forschte er: »Kapiert?«

»Kein Wort.«

»Mensch, ich könnte dich erschlagen! So blöd darf doch niemand sein!«

»Wie du siehst …«

»Also noch einmal …« Franzl stöhnte. »Ganz kurz und grob verallgemeinert: Viele große Werke sind Aktiengesellschaften. Das heißt, das Grundkapital setzt sich aus Aktien zusammen. So eine Aktie ist ein schönes Papier, das du kaufen kannst.«

»Da muß einer aber schon wirklich sehr blöd sein.«

»Wieso?«

»Weil er ein Stück Papier kauft, bloß weil es schön ist.«

»Idiot! Indem du dieses Papier kaufst, erwirbst du einen gewissen Anteil an dem Werk. Der gehört dann dir. Es kommen natürlich sehr viele Aktien zusammen. Also sehr viel Geld. Damit arbeitet das Werk. Macht Gewinn. Jetzt kannst du Dividenden fordern.«

»Was fordern?«

»Divi … Ich werde wahnsinnig! Geld, Idiot, Geld kannst du fordern!«

»Du machst dich über mich lustig. Das ist nicht nett von dir.«

»Wieso mache ich mich …«

»Zuerst soll ich so blöd sein, daß ich schöne Papiere kaufe, und dann soll ich so frech sein, von lauter Leuten, die ich nicht kenne, auch noch Geld zu verlangen! Das will ich nicht! Das kann ich nicht. Du weißt, ich bin ein anständiger, bescheidener Mensch. Und das, das wäre einfach frech und unanständig!«

Nach einer weiteren Stunde Unterrichtung Jakobs hatte dieser die Sache dann kapiert. Halbwegs.

»Ach, so ist das …«

»Liebe Himmelmutter, ich danke dir! Endlich hat der Kretin das begriffen! Du hast doch noch Dollars?«

»N … ja. Warum?«

»Gib mir, soviel du kannst, und ich kaufe dir Aktien.«

»Was für welche?«

Franzl nannte, schwitzend vor Erschöpfung, die Namen zahlreicher ehemals riesiger Unternehmen, die zur Zeit ausgebombt waren oder mangels Rohstoffen und Material brachlagen.

»Und dafür soll ich dir meine Dollars geben?« lärmte Jakob. »Für lauter solche Pleite-Dinger, die hin sind? Du willst mich bescheißen! Bescheißen willst du mich! Und dich habe ich für einen Freund gehalten! Dir habe ich …«

»Jakob, hör auf, oder ich schlage dich mit einem nassen Fetzen tot, so wahr mir Gott helfe! Ruhe! Hör mir zu! Jetzt liegen alle diese Werke brach! Jetzt produzieren sie nicht! Deshalb kannst du ihre Aktien auch für praktisch Nullkommajosef kaufen! Es ist klar wie nur etwas, daß diese Werke in kurzer Zeit wieder arbeiten, produzieren, zur alten Größe zurückkehren werden! Und dann werden ihre Aktien ungeheuer viel mehr wert sein! Aber du, du wirst dann alle diese Aktien schon haben – ganz billig erworben, und trotzdem wirst du massig Geld bekommen bei jeder Dividendenausschüttung!«

Jakob dachte lange nach. (Er dachte immer lange nach.) Jakob kam zu dem Schluß: »Also ich würde ja die Finger von so etwas lassen. Aber von Geld verstehst du was, das weiß ich. Darum will ich es riskieren. Ich vertraue dir, Franzl!«

»Das kannst du auch, verflucht und zugenäht!«

»Hoffentlich, Franzl. Hoffentlich«, hatte Jakob gesagt und dem andern einen Haufen Dollars gegeben. Kurze Zeit später besaß er einen Haufen Aktien aller möglichen Gesellschaften. Allein die Tatsache, daß auch Franzl sich eingedeckt hatte, beruhigte Jakob ein wenig, wenn er an die Geschichte dachte. Denn bislang waren die fast wertlosen schönen Papiere nicht um einen Pfennig wertvoller geworden. Ach was, dachte Jakob immer, trübe Gedanken verscheuchend, ich habe eben was riskiert! Ich bin schon immer ein Wagehals gewesen! Man wird denn da doch sehen …

Natürlich waren alle diese Anschaffungen und tollkühnen Zukunftskäufe mächtig ins Geld gegangen. Jakob war nicht mehr so reich wie zu der Zeit, da er aus Paris kam, längst nicht mehr! Es ging aber nicht anders! Denn auch die Fertigbauhausfabriken mußten arbeiten, und das konnten sie nur, nachdem die Gebäude instand gesetzt, Maschinen schwarz gekauft und Werkzeuge angeschafft worden waren. Es hat schon alles (hoffentlich – die Aktien!) seine Richtigkeit, dachte Jakob, während er den glücklichen Herrn Kalder mit einer Tüte voller Kirschen wieder zurückkommen sah.

»Schauen Sie sich das an«, sagte Kalder atemlos. »Wie die glänzen … dieses Rot … Niemals habe ich so schöne, glänzende rote Kirschen gesehen … Wie wird sich Roxane freuen! Das ist doch aber auch ein Festtag heute … oder?«

»Weiß Gott«, sagte Jakob. An Kalders Seite ging er durch die Stadt. Sie erreichten den Hof des Attinger-Bauern. Der saß an einem Tisch neben dem Eingang zum Haus, grüßte brummig und trank erbittert grünlichen Tee. Er war in der Zwischenzeit trotz Doktor Schlichters Tee noch fetter geworden. (So fett wie der Franzl.)

Frau Kalder mußte aus dem Fenster gesehen haben, denn sie kam ihrem Mann aus dem Haus entgegengelaufen.

»Bitte, öffnen Sie meine Aktentasche«, bat Herr Kalder. Er entnahm der Tasche die Lizenzurkunde und hielt sie in der rechten Hand. In der linken Hand hielt er die Tüte mit den Kirschen. So schritt er auf seine Frau zu.

»Oh, Jan, Jan! Du hast die …«

»Lizenz, ja! Und hier, für dich! Kirschen!« rief Herr Kalder. Es waren seine letzten Worte hienieden. Nach ihnen fiel er um und bewegte sich nicht mehr.

»Um Gottes willen, Jan!« rief die unglückliche Frau Kalder.

76

Akutes Herzversagen.

Das stellte eine eiligst herbeigerufene Ärztin fest, nachdem sie als erstes der in ihrem Schmerz hysterisch tobenden Frau Kalder eine Spritze gegeben und sie zu Bett gebracht hatte, wo sie nun schlief. Eine Menge Leute waren zusammengelaufen. Auch Frau Dr. Ingeborg Malthus war da. Bleich und erschüttert stand sie neben Jakob.

»Er hat sich eben zu sehr gefreut«, sagte Frau Dr. Malthus.

»Worüber?« fragte die Ärztin.

»Über die Lizenz … Er hat heute endlich die Lizenz für eine Illustrierte bekommen. Die Lizenzerteilung war einfach zuviel für ihn, Frau Doktor.«

»Oder die Kirschen«, sagte Jakob. Kein Mensch, der diese Zeilen heute liest, vermag sich vorzustellen, was 1947 eine Tüte Kirschen bedeutete. »Es wird wohl das Zusammentreffen von beidem gewesen sein«, sagte die Ärztin.

»Aber er war kerngesund! Hatte nicht das geringste am Herzen, das weiß ich!«

»Ach«, meinte die Ärztin, während sie schon den Totenschein ausstellte, »das bedeutet gar nichts. Was glauben Sie, wie oft das gerade jetzt vorkommt, Frau Malthus. Früher starben die Menschen an Herzversagen bei zu großem Schmerz, heute sterben sie bei zu großer Freude.« Die Ärztin verstand von derlei Dingen etwas – sie war die Tochter eines bedeutenden Münchner Psychiaters.

Jan Kalder wurde drei Tage später auf dem Friedhof an der Kirche von Murnau beigesetzt. Die Trauergemeinde war klein. Bienen summten, Blumen blühten zwischen den Gräbern, und heftiger Föhn bewegte die Äste. Die Ärztin und der Attinger-Bauer stützten Frau Kalder, die fassungslos schluchzte.

»… der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …«, sprach der evangelische Pfarrer am Grab, während der Sarg hinabgelassen wurde. Frau Kalder schwankte heftig. Der Attinger-Bauer und die Ärztin hatten alle Mühe mit der Witwe.

»… Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser …«, sprach der Geistliche.

»Und alles war umsonst«, sagte Frau Dr. Malthus, die neben Jakob stand, leise.

»… Er erquicket meine Seele; Er führet mich auf rechter Straße, um Seines Namens willen …«

»Wieso war alles umsonst?« flüsterte Jakob.

»Die Lizenz galt doch nur für Herrn Kalder!« flüsterte Frau Dr. Malthus.

»… und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück …«

»Nein«, sagte Jakob leise.

»… denn Du bist bei mir, und Dein Stab tröstet mich …«

»Was, nein?«

»Nein, es war nicht alles umsonst.«

»Was soll das heißen?«

»Ich beantrage jetzt die Lizenz.«

»… Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde …«

»Sie? Sie sind ja wahnsinnig! Niemals kriegen Sie eine Lizenz, niemals!«

»Wetten, daß? Ich muß nur schnell mal rauf nach Heidelberg«, sprach Jakob Formann.

»… Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein«, sprach der Pfarrer.

77

An einem milden Nachmittag im frühen September 1947 gab Jakob sein Fahrrad an der Garderobe eines Cafés im Münchner Dichter-und-Denker-Viertel Schwabing in Aufbewahrung.

»Ist Herr Kästner da?« fragte er die Dame, die Dienst tat.

»Der Herr Doktor Kästner ist immer da um diese Zeit«, antwortete sie. Jakob dankte, besah sich im Spiegel, strich das Haar zurecht, zupfte an seinem Krawattenknoten, räusperte sich energisch – er wurde nicht besser, sein Zustand. Jakob hatte Lampenfieber. Ach was, Schiß hatte er vor einer Begegnung mit Erich Kästner, dessentwegen er hierhergekommen war! Weil ihm das, was sein Textchef ihm für die erste Nummer seiner Illustrierten angeboten hatte, äußerst mißfiel und er auf der Suche nach einem Autor war, der seinem Geschmack und, davon war er überzeugt, dem des Publikums entsprach. Schon den Namen dieses großen Schriftstellers zu nennen, hatte ihn alle Mühe gekostet. Das Leben in jeder Façon machte Jakob nur lachen, aber die wahrhaft großen Menschen bescherten ihm weiche Knie und sollten das auch noch lange, lange tun.

Mut, Jakob, sagte er zu sich selbst und betrat das Etablissement, das wunderbarerweise den Krieg überlebt hatte. An etlichen Tischen wurden schwarze Geschäfte abgewickelt, an etlichen anderen führten slawisch aussehende Herren politische Streitgespräche. Dann – Jakobs Narbe an der Schläfe begann zu pochen – sah er bei einem Fenster Erich Kästner.

Es hieß, er schreibe immer in diesem Café. Und in einigen Nachtbars. Da saß er. Jakob starrte ihn an. Umklammerte die Hasenpfote. Sprach in Gedanken ein Stoßgebet. Doch die Wirkung von all dem war gleich Null. Nein, er hatte nicht den Mut, an den Tisch dieses Mannes zu treten, ihn zu stören, sein Anliegen vorzutragen. Es ging einfach nicht! Verflucht, dachte Jakob, dann muß eben morgen Frau Dr. Malthus her (sie waren immer noch eisern beim ›Sie‹, trotz eifrigen Bumsens), dann soll die mal zeigen, was sie für ein Kerl ist. Ich bin ein solcher Kerl nicht. Und überhaupt: Dieser Kästner – das ist doch auch ein Intelleller! Wenn ich ihn auch verehre. Egal. Frau Dr. Malthus muß her!

Als Jakob sich schon zum Gehen wandte, erblickte er im Hintergrund des Lokals einen Tisch, um den sich ein halbes Dutzend Herren scharte. Am Tisch saß ein schlechtgekleideter, magerer Mann mit Brille, wie Kästner Papier und Bleistift vor sich – und eine erstaunliche Anzahl leerer Schnapsgläser. Zur Zeit schrieb er. Sodann überreichte er das Geschriebene einem der Herren. Dieser legte ein paar Reichsmarkscheine auf die fleckige Marmorplatte des Tisches und winkte einer alten Kellnerin. Selbige schien ein derartiges Zeichen erwartet zu haben. Mit einem Tablett, auf dem ein gefülltes Schnapsglas stand, eilte sie herbei, kredenzte es dem Mageren, und dieser kippte das Glas. Ohne Pause nahm er sich des nächsten Herrn an. Jakob staunte. Wer war das?

»Wer ist das?« fragte er die Kellnerin. Man sah, daß ihr jeder Schritt weh tat. Arme, alte Frau, dachte Jakob. Wasser in den Füßen. Ein kaputtes Herz wahrscheinlich auch.

»Der?« Die Serviererin sah in die schummrige Ecke. »Das ist der Herr Schreiber.«

»Was macht er?«

»Na, schreiben tut er. Sie sehen’s ja.«

»Danke. Eine Portion Tee, bitte«, sagte Jakob und setzte sich an ein leeres Tischchen. Fasziniert starrte er den mageren jungen Mann an, der, über die Brille hinweg, schon die Verhandlungen mit seinem nächsten Kunden beendet hatte und bereits wieder schrieb. Noch bevor Jakob seinen aus undefinierbaren Kräutern aufgebrühten Tee bekam, bekam Herr Schreiber seinen nächsten Schnaps. Um seinen Tisch lichtete es sich.

Junge, Junge, dachte Jakob, schließlich muß es ja nicht immer Kästner sein. Wenn der Schreiber nur halb so gut schreibt, genügt es auch! Vor allem schreibt er schnell, dachte er in der nächsten halben Stunde, seinen dünnen Tee schlürfend. Noch nie im Leben habe ich einen Menschen gesehen, der so schnell schreiben kann! Ein letzter Kunde schüttelte dem erstaunlichen jungen Mann endlich dankbar die Hand, wartete anstandshalber, bis dieser den kredenzten Schnaps gekippt hatte, und empfahl sich mit einer Verbeugung.

Jetzt aber nix wie hin, dachte Jakob und eilte durchs Lokal. Der Magere sah ihn durch seine Brille kühl an. Fast schüchtern. Er hatte viele Pickel im Gesicht, sah Jakob jetzt. Das waren keine Pickel, das war eine blühende Akne, aber solches wußte Jakob natürlich nicht.

»Wa …was soll’s denn sein?« fragte er – mit einer verblüffend nüchternen Aussprache. Er zückte schon wieder den Bleistift.

»Ja, also …«, begann Jakob und wurde von der alten Serviererin unterbrochen, welche die Batterie leerer Schnapsgläser wegräumte.

»Einen … was trinken Sie da?«

»Immer da … dasselbe«, sagte der Magere. Stottern tut der auch! dachte Jakob.

»Dasselbe für den Herrn, und noch einen Tee für mich, bitte.«

»Is scho’ recht.« Die Kellnerin schlurfte davon.

»Ja, also …«, begann Jakob wieder. Verflucht, wie redet man mit Schriftstellern?

»Hö … Hören Sie, ich habe meine Zeit nicht gestoh … ho … hohlen. Was soll’s a … also sein?«

»Soll was also sein?«

»Ich mei … eine: Soll es etwas Kriminelles sein oder etwas Sensationelles oder etwas Tragisches oder etwas Sentimentales oder eine hei … heitere Begebenheit von heute?«

»Ich …«

»Von welcher Zeitung sind Sie überhaupt?«

»Von keiner …«

»Agentur?«

»M-m.«

»Magazin?«

»N-n.«

»Ausländisches Bla … Blatt?«

»Auch nicht, Herr Schreiber. Formann ist mein Name. Jakob Formann.«

»Klaus Mario Schreiber. Also, wa … was benötigen Sie, Herr F … Fo … Formann?«

»Ich benötige einen Schreiber«, sagte Jakob.

Klaus Mario Schreiber starrte ihn brütend an.

»Ich habe hier gesessen und Ihnen zugesehen«, sprach Jakob hastig weiter.

»Sie schreiben so schnell! Und für so viele Menschen!«

»Das sind Jour … Journalisten«, erklärte der junge Mann scheu und stotternd.

»Und was wollen die von Ihnen, Herr Schreiber?«

»Na, Geschichten na … natürlich. Entsetzliche, fröhliche, drama … matische, sensationelle, erschütternde, rührende über kl … kleine Hunde und a … alte Damen, alles, was es gibt … am meisten fröhliche, optimistische. In dieser beschissenen Zeit. Die ko … kosten natürlich am m … meisten.«

»Sie … Sie verkaufen hier Geschichten?«

»Jeden Tag von drei bis acht Uhr abends«, sagte Klaus Mario Schreiber fast demütig. »Sonntag geschlossen. Wenn da … das alles war, würde ich Sie ersuchen, mich allein zu lassen. Dann ka … kann ich, bis die nächsten Kunden kommen, an meinem Roman weiterschreiben.«

»Sie schreiben einen Roman?«

»Das ist der dritte. Zwei sind schon er … er … er … – na! – erschienen.«

»Ja und? Es tut mir leid … liegt nur daran, daß ich selber kaum lese … Ich habe Ihren Namen noch nie gehört.«

»Kein Mensch hat meinen Namen je gehört. Nur die Kritiker, weil sie über meine ersten beiden Romane Hymnen geschrieben haben, und die Buchhändler. Die vom We … Weghören.«

»Wieso?«

»Die Kri … Kritiken waren g … glänzend. Aber kein A … Aas kau … kaufte die Romane. Darum habe ich ja meine Story-Börse eingerichtet. Man muß leben. Und ich bin immer so du … durstig …«

»Das habe ich gemerkt. Was ist das eigentlich, was Sie da trinken?«

Schreiber machte eine Grimasse des Ekels. »Was wird’s schon sein? Wei … Weinbrandverschnitt be … bestenfalls! Was anderes gibt’s ja nicht. Man mu … muß bereits froh sein, wenn kein Me … Methylalkohol drin ist und man blind wird. Ist mir auch schon passiert.«

»Sagen Sie, Herr Schreiber, es geht mich ja nichts an …«

»Da ha … haben Sie recht.«

»… aber warum saufen Sie so furchtbar?«

»Ö … Ö … Ödipuskomplex. Mi … Mi … Mi … Minderwertigkeitskomplex. De … Depre … Depressionskomplex über den Zustand unserer Welt. Ir … Irgendein Kom … Komplex wird’s schon sein. Wissen Sie was, ich fürchte, ich muß meine grauenvollen Komplexe ohne Rücksicht und ohne Mitleid mit mir selbst so … sofort weiter bekämpfen. Sie kön … können mir also noch ein Gl … Gläschen …«

Jakob winkte der alten Serviererin bereits.

»D … Danke.«

»Und obwohl Ihre beiden Romane so erfolglos waren, schreiben Sie einen dritten?«

»Ich w … werde auch noch einen vierten und sechsten und elften schreiben, Herr Formann. Einmal wird einer hi … hinhauen. Bis d … dahin muß ich allerdings mein Geschäft hier weiterführen.«

»Sie … hrm … Seien Sie nicht böse, bitte … Ich meine … Trinken Sie nicht ein bißchen viel?«

»Fi … finden Sie?«

»Nach dem, was ich so gesehen habe. Und das jeden Tag! Ich weiß nicht, ob Sie elf Romane schreiben werden, bis der große Erfolg kommt.«

»Sie meinen, weil ich mich vorher to … totgesoffen habe?«

»So, Herr Schreiber«, sagte die alte Serviererin und stellte ein neues Glas auf den Tisch.

»Ja, das meine ich«, sagte Jakob.

»Danke, Frau Anna. Ich lasse mich regelmäßig untersuchen, Herr Formann. Herz, Kreislauf, Le … Leber besonders – a … alles in bester Ordnung! Ich will Ihnen was verraten: Ich schreibe am besten, wenn ich be … besoffen bin. Das heißt also: Ich ka … kann immer schreiben! Tag und Nacht. Ich kann besoffen einschlafen im Bahnhofsbunker, und wenn einer mich weckt und braucht ganz schnell was Fro … Fro … Frommes oder eine bissige Satire – ich schreib’ sie sofort! Ohne Anmaßung, Herr Formann, ich wage zu sagen: Was ich nicht schreibe, das gi … gibt es nicht!«

»Okay! Engagiert«, sagte Jakob begeistert und drückte Klaus Mario Schreiber die Hand. Da habe ich ja pures Gold gefunden, dachte er.

»La … langsam, langsam«, sagte Schreiber, »was heißt: engagiert? Von wem? Von Ihnen? Gut. Wofür? Wie heißt Ihr Blatt? Oder Ihr Verlag? Oder soll ich für die lieben Klei … Kleinen Geschichten zur Er … Erbauung schreiben? Sie müssen schon ein wenig deutlicher werden.«

»Will ich gerne, Herr Schreiber. Sagen Sie: Was halten Sie von Whisky?«

»Whisky? Das Pa … Paradies auf Erden! Unerschwinglich teuer. Kann ich mir nicht leisten.«

»Aber ich«, sagte Jakob. »Scotch oder Bourbon?«

»Pfui Teufel, B … Bourbon! Scotch natürlich!«

»Okay. Also Sie kriegen Ihren Scotch. Ich akzeptiere jede Ihrer Forderungen, wenn ich sehe, daß Sie wirklich auch besoffen schreiben können – und schnell. Gut muß es natürlich auch sein.«

»Es ist gut«, sagte Schreiber bescheiden. »Sie fi … finden nichts Besseres.«

»Okay. Sie bekommen ein festes Gehalt, wir werden uns einigen. Nicht diese Einzelkunden, nicht diese Quälerei jeden Tag. Aber Sie müssen sofort anfangen!«

»Herrgott, wo?«

»Bei meiner Illustrierten.«

»Sie … Sie haben eine Ill … Illustrierte?«

»Sage ich doch.«

»Ja, aber er … erst jetzt. W … Wo ist sie denn, Ihre Illustrierte?«

»Die erste Nummer soll gerade rauskommen. Hier, bitte, wollen Sie meine Lizenz sehen?« Das kostbare Schriftstück, das er durch Vermittlung seines Freundes Generalmajor Hobson, Chef der Kulturabteilung bei der Amerikanischen Militärregierung im Hauptquartier Heidelberg, knappe vierzehn Tage nach dem Begräbnis des armen Jan Kalder erhalten hatte, trug Jakob stets bei sich.

Der Magere studierte es genau. Auf seiner hohen Stirn blühte die Akne besonders arg.

»Alles okay«, sagte Jakob beschwörend. »Ich hab’ da einen Freund in der Army. Wir haben einen Fernschreiber gekriegt – und den hat keiner sonst! – und die Nachrichtendienste von INS und AP und UP, und Fotos aus der ganzen Welt kriegen wir auch, und …«

»Orchidee.«

»Was?«

Der Schreiber tippte auf ein Wort der Urkunde. »Orchidee hei … heißt Ihre Illustrierte, steht da.«

»Ja«, sagte Jakob beklommen.

»Das ist kei … kein Name für eine Illustrierte, Herr Formann!«

»Vollkommen meine Meinung, Herr Schreiber!« Jakob lächelte selig. Er hatte ›Orchidee‹ nie leiden können.

»Also, ich bin geneigt, Ihr Angebot anzunehmen«, sagte der Magere, Schüchterne. »Unter den genannten Bedingungen. Aber nicht, wenn das Ding ›O … Orchidee‹ heißt. Ist das Ihr Einfall gewesen?«

»Nein, der meiner Chefredakteurin.«

»Dann lassen Sie sich zunächst einen anderen Namen einfallen, Herr Formann! Oder eine andere Ch … Chefredakteurin!«

»Ich hab’ schon einen!«

»Welchen?«

»Eh … verflucht, jetzt habe ich ihn wieder vergessen!«

»Vielleicht sollten Sie mal zum Arzt gehen.«

»Unsinn! Die ganzen letzten fünf Minuten hab’ ich mir gedacht, das ist der Name für meine Illustrierte. Ein kurzes Wort. Ich hab’s ein paarmal gebraucht im Gespräch mit Ihnen. O … o … o …«

»Okay?«

Jakob schlug auf den Tisch, daß das Geschirr klirrte und die alte Serviererin sogleich mit neuem Tee und neuem Schnaps angeschlurft kam.

»Okay! Das war es! OKAY – ist das ein Name für eine Illustrierte?«

»Da … das ist ein Name für eine Illustrierte, Herr Formann!«

»Okay!« Jakob lächelte selig. Ein solcher Trottel bin ich also auch nicht, dachte er. Frau Dr. Malthus nimmt sich ein bißchen viel heraus, diese elende Intellelle. (Komisch, im Bett ist sie prima.)

»So«, sagte Klaus Mario Schreiber, »und jetzt möchte ich gerne noch wissen, was Sie au … außer der Lizenz und dem Ti … Titel und den Na … Nachrichtendiensten noch haben, Herr Formann.«

»Wir haben alles!«

»Papier? Redakteure? Eine Druckerei? Einen Vertrieb? Journalisten? Zeichner? Fotografen? Techniker? Eine Setzerei? Eine Au … Auslieferung? Eine richtige Redaktion?«

»Hm. Richtige Redaktion … Ich habe da eine Ruine an der Lindwurmstraße gefunden. Das halbe Haus steht noch. Nur das Treppenhaus ist im Eimer. Die Redaktion liegt im dritten Stock. Drei Zimmer mit Bad. Da schlafe ich. In der Wanne. Alles da!«

»Wie ko … kommt ma … man denn in den dri … dritten Stock ohne Tre … Treppenhaus, Herr Formann?«

»Von außen! Man klettert eine Leiter hoch, wissen Sie, und kriecht durch ein Fenster. Das ist der Eingang. Großartig, wie?«

»Gro … großartig, ja. Also Sie ha … haben wi … wirklich alles?«

»Alles!« Jakob strahlte.

»Würde mich interessieren, wie Sie das alles bekommen haben!«

»Das ist eine lange Geschichte …«

»Dann ma … machen Sie sie kurz, Herr Formann.«

»Na schön. Ganz kurz: Ich habe einen Freund. Leiter der Kulturabteilung der amerikanischen Armee in Heidelberg. Der hat mir geholfen.«

»A … a … aha.«

78

»Also wo ist der Whi … Whisky?« fragte Klaus Mario Schreiber. Er saß, in seinen Stuhl zurückgelehnt, an einem langen Tisch, an dem noch etwa ein Dutzend andere Leute saßen, die ihn mit Mienen, deren Ausdrucksskala von Abscheu bis Totschlagnähe reichte, betrachteten. Schreiber nahm das geniert und schüchtern zur Kenntnis.

»Schon da, Herr Schreiber«, ertönte Jakobs Stimme. Er kam aus der Küche gelaufen mit einer Flasche ›Johnnie Walker‹, einem Krug Wasser, einem Glas und einem Krug voller Eiswürfel. »Wir haben sogar einen Kühlschrank!« Jakob trug alles Genannte auf einem abgeschlagenen Emailletablett.

»Was ist das?« fragte Klaus Mario Schreiber.

»Wasser, Herr Schreiber.«

»Wo … wollen Sie mich vergiften? Pu … Pur. Nur mit Eiswürfeln!«

Jakob machte einen ersten gewaltigen Drink. Die Würfel plumpsten ins Glas. »Von jetzt an bedienen Sie sich selbst, lieber Herr Schreiber.«

Der Angesprochene nickte scheu, trank und bekam einen entrückten Gesichtsausdruck. Er erinnerte Jakob, der ihn väterlich betrachtete, an das Bildnis dieses Kerls, der ganz still dasteht, sehr viele Vögel auf den ausgebreiteten Armen, den Schultern, den Händen und dem Kopf. Wie heißt der Kerl doch gleich? Egal!

»Ja«, ließ sich Schreiber vernehmen. »Ach Gott, ja …« Er trank wieder. Unmut unter den Versammelten.

»Ein Trunkenbold hat uns gerade noch gefehlt!« rief ein älterer Herr, der an Stelle des linken Unterarms eine Lederprothese trug. Mit dieser schlug er krachend auf den Tisch. Der Herr hieß Dr. Walter Drissen und war Textchef. Den Unterarm hatte er im Ersten Weltkrieg verloren, und wenn er auf sich aufmerksam machen wollte oder zornig war, pflegte er mit der Prothese auf die Tischplatte zu trommeln.

»Ruhe!« sagte Jakob leise und gefährlich. »Herr Schreiber hat das Wort. Wir hören, lieber Herr Schreiber.«

Dieser erleichterte sich durch zartes Rülpsen, trank noch ein Schlückchen und sprach: »Ja, also, verehrte Herrschaften, mit diesem Te … Textteil, entschuldigen Sie bi … bitte vielmals« – Schreiber tippte auf Manuskripte, die vor ihm lagen – »kö … können Sie gleich auf die Titelseite drucken: Wer dieses He … Heft anfaßt, kriegt Ty … Typhus!«

Die Prothese krachte.

»Sie unverschämter, besoffener …«, begann der Textchef Dr. Walter Drissen, aber Schreiber unterbrach ihn: »Ich bi … bin hierhergebeten worden von Ihrem Verleger, um ein Urteil abzugeben. Entschuldigt ha … habe ich mich schon für mei … meine Kri … Kri … na! … Kritik!« Er erhob sich und griff sanft nach der Whiskyflasche. »Viel Glück, a … alle miteinander!«

Jakob, der neben Schreiber saß, stieß ihn in den Sessel zurück.

»Sie bleiben hier und sagen Ihre Ansicht! Ohne Rücksicht auf irgend jemanden.«

»Ich kenne ja überhaupt niemanden hier!«

»Um so einfacher. Los! Und trinken Sie noch etwas!«

»W … Wie Sie wollen. S … Sie sind der Ve … Verleger. Tro … otzdem sehr peinlich …«

Schreiber trank noch etwas, dann war sein Glas leer (Jakob füllte eiligst nach) und sprach weiter: »Sie alle sind ho … hochgebildete, feinsinnige Menschen, hervorra … ragende Kö … Könner, jeder auf seinem Gebiet – ge … gewiß. Die Te … Texte sind ja auch nicht Dreck, das habe ich nicht ge … gesagt! Später einmal wird das alles vielleicht mal herrlich gehen! Nur jetzt und heu … heute – 1947, be … bedenken Sie! – gehen solche Themen und Texte nicht, weil sie den Leuten zum Ha … Ha … Hals raushängen! Novellen in diesem ›Du Uhr, du Bett, du Lokomotive, Bruder du!‹-Ton der ganz, ganz großen Menschlichkeit! Flüchtlingsschicksale! Heroische Landsergeschichten! Tiefsinniges über den lie … ieben G … Gott und die We … Welt! Übersetzungen von au … ausländischen Re … Reportagen! G … Glauben Sie mir doch, das ist zur Zeit nicht gefragt! Dafür sollen die Leute – wieviel ko … kostet das D … Ding?«

»Achtzig Reichspfennige.«

»Sollen sie achtzig Reichspfennige au … ausgeben? N … Niemals! L … Lieber d … drei Z … Züge Lucky-Strike als so was. U … und ich bin ein Mann, der es gut mit Ihnen meint.«

»Ein betrunkener Lümmel sind Sie!« schrie der Textchef Dr. Walter Drissen und schlug wieder auf den Tisch.

»Doktor Drissen«, sagte Jakob liebenswürdig, »wenn Sie noch ein einziges Mal mit Ihrem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Ärmchen angeben, sind Sie fristlos gekündigt. Fristlos, habe ich gesagt.« Und mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln zu Schreiber: »Bitte, fahren Sie fort.«

»Mu … Mut machen müssen Sie den Menschen. Sie zum Lachen bringen! Ihnen zeigen, daß es anderen genauso dreckig gegangen ist und dreckig ge … geht wie ihnen! Daß alles mal bergauf und mal bergab läuft auf dieser We … Welt, und da … daß es nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch noch Zwischentöne gibt!« Schreiber trank, er hatte sich heiser geredet. Jakob goß wieder nach. »Ni … Nicht soviel Eis, bi … bitte«, sagte Schreiber.

»Sie haben ausländische Nachrichtendienste. Sie haben Fotos aus der ga … ganzen Welt. So viele interessante und ergreifende und Mu … Mut machende und ko … komische Geschichten passieren jede Minute! Ich weiß, wovon ich rede, ich le … lebe seit einem Jahr davon! In dieser Illustrierten muß jetzt stehen, was die Menschen jetzt nachfühlen können und was sie aufrichtet! O … Ohne Pathos und ›Literatur‹!« (Man hörte Herrn Schreiber die Anführungszeichen deutlich an!) »Ga … Ganz einfach ge … geschrieben! Nicht so fein und schöngeistig und hochgestochen, daß es keiner versteht und keinen interessiert.«

»Und wofür interessiert sich jeder im Moment?«

»Zum Beispiel fürs Fressen«, sagte Schreiber und trank.

»Bravo!« rief Jakob, der andächtig an Schreibers Lippen hing.

»Und zwar fürs ga … ganz ordinäre F … Fressen, darum sage ich auch Fr … Fressen und nicht Essen … Sehen Sie, ich kenne viele Leute … auch einen alten Ganoven. Hat sein halbes Leben lang gesessen. Ist gerade zufällig in Freiheit. Der hat sich die tollsten Dinge erlaubt in den letzten dreißig Jahren – und er erlaubt sie sich heute! Wi … Wissen Sie, wann der jedesmal einen blendenden Einfall für eine neue Gaunerei bekommt?!«

»Wann?« fragte Jakob andächtig.

»Immer wenn er Kuchen ißt«, sagte Schreiber. »Verstehen Sie, wa … was ich meine? Den Kerl kann ich her … herbeischaffen. S … Soll seine Geschichte auf To … Tonband erzählen. W … Wird der Liebling Ihrer Leser werden – erstens, weil er nie arme Leute geschädigt hat, zweitens wegen seiner Kuchenfresserei! Sie haben zwei Fliegen auf einen Schlag: Das Interesse des Lesers – des gegegegenwärtigen Lesers! – an Kuchen, an Süßem, an allem, was er nicht hat, und dazu noch das Interesse an witzigen Gaunereien, das d … die Leser zu a … allen Zeiten gehabt haben.«

»Da ist was dran …«, sagte der Schlußredakteur beeindruckt.

»Und o … ob da was dran ist! Das wäre eins! Das zweite wäre die Langeweile im Blatt. Es ka … kann den Menschen noch so dreckig gehen – immer werden sie sich für Menschen interessieren, denen es noch dreckiger geht! Für Verbrechen, Unglücke, Katastrophen.«

»Wir wollen kein Revolverblatt …«, begann der Textchef, aber Schreiber unterbrach ihn: »Wir wo … wollen eine große Illustrierte – oder? Wir wo … wollen Meinungen und Informationen vermitteln. Aber nicht so, wie es hier geschieht. Nicht gleich so! Wir brauchen – im Moment! – was sen … sensationell Kri … Kriminelles. Und was sensationell Me … Medizinisches – wird sich ja noch was finden bei drei Diensten!«

»Nur so weiter«, sagte der Textchef Dr. Drissen.

»Weiter … D … Der Roman! Der Ro … Roman, den Sie au … ausgewählt haben, ist literarisch ungeheuer wertvoll. Es wird ihn nur kein Mensch, der so viele Sorgen hat, wie wir alle jetzt, le … lesen. Jetzt brauchen wir etwas, das den Menschen zeigt: A … Andere saßen auch schon mal in der Schei … Verzeihung, Frau Doktor. Und sind herausgekrabbelt. Etwas Optimistisches! N … Nicht mä … märchenhaft, unglaubwürdig optimistisch! Sondern so, daß jeder es glaubt, mi … mitgeht und sagt, ja so war das, das hätte so sein können, hoffentlich kommen die armen Leute wieder raus aus dem Dreck, ver … verstehen Sie?«

»So einen Roman gibt’s nicht!«

»Und o … ob es so einen Roman gibt! Es ist überhaupt der Roman, de … der als e … erster in Ihrer Z … Zeitschrift erscheinen muß. Der Mann, der ihn geschrieben hat, der hat immer fürs Volk geschrieben. Er heißt Hans Fallada. Und der Roman, an de … den ich denke, heißt KLEINER MANN, WAS NUN?«

»Herrgott, das ist ein Titel! Für uns alle jetzt«, sagte Jakob begeistert.

»D … Das war schon da … damals, um 1930, ein Ti … Titel für alle, Herr Formann!«

»Aber Fallada ist doch vor kurzem gestorben«, sagte der Textchef. Und fügte gehässig hinzu: »In der Ost-Berliner Charité. An den Folgen von lebenslangem Alkoholmißbrauch.«

»Und die Re … Rechte an seinen B … Büchern liegen beim R … Ro … Rowohlt-Verlag«, sagte Schreiber, die Attacke ignorierend.

»Der gibt sie uns doch nie …«

»Der gi … gibt sie uns ja, wenn ich darum bitte.«

»Wieso Sie?«

»Weil mein Verleger und Ro … Rowohlt Freunde sind«, sagte Schreiber.

»Sie haben Bücher geschrieben?«

»We … Wenn Sie verzeihen, ja.«

»Noch nie was davon gehört.«

»Wenn Sie was da … davon gehört hätten, säße ich ni … nicht hier.«

»Ja, also wenn Sie glauben …«, begann Frau Dr. Malthus.

»Ich glaube ni … nicht, ich weiß«, sagte Schreiber. Und dann sagte er eine Stunde lang, was er noch zu sagen hatte. Zuletzt war die Whiskyflasche zu drei Vierteln leer, und zu drei Vierteln stimmten die Anwesenden auch Schreibers Ansichten zu.

»Aber wer soll das alles schreiben und umschreiben?«

»Ich«, sagte Schreiber schlicht.

»Sie? Mit all dem werden Sie doch nie rechtzeitig fertig! Wir müssen ganz, ganz schnell raus mit der ersten Nummer!«

»Ich we … werde noch mit v … viel mehr fertig«, sagte Schreiber. »Ich stottere so hu … hurtig, wie ich schrei … eibe. Ich wollte, ich hätte was Anständiges gelernt. Aber ich hab’ fünf Jahre lang Leute um … umbringen müssen, die ich nie ge … gesehen hatte, die ich nicht ka … kannte, bloß damit nicht sie mich um … umbringen … Gi … gibt auch noch ein paar sehr gute Romane von Erich Maria Remarque, im E … Ex … na! Exil geschrieben. Und einen H … Ho … Holländer, Jan de Hartog heißt er … Über den Textteil von OKAY ma … machen Sie sich keine Sorgen, Herr Doktor Drissen! We … wenn Sie nur ein bißchen auf mich hören, wird alles ge … gehen wie geschmiert.«

»Was haben Sie da gesagt?« fragte Frau Dr. Malthus. »ORCHIDEE heißt unsere Illustrierte!«

»Da … Das ist kein Name für eine Illustrierte! Herr F … Fo … Formann und i … ich haben uns auf OKAY geeinigt«, sagte Schreiber. Zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben sagte Frau Dr. Ingeborg Malthus ›du‹ zu ihrem Verleger, Partner und Bettgenossen.

Sie sagte: »Du verdammtes Schwein.«

Danach erlitt sie einen Schwächeanfall und glitt vom Stuhl.

79

Als sie zu sich kam, hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen. Schreiber kniete neben ihr und flößte ihr Whisky ein. Frau Dr. Malthus spie einen Mundvoll aus.

»Mein Go … Gott, die … diese Verschwendung«, sagte Schreiber erschüttert.

Anschließend gab es dann eine Abstimmung. Demokratisch, nicht geheim. Jeder sagte offen seine Meinung zu dem neuen Titel.

Die offene demokratische Abstimmung ergab achtundzwanzig Stimmen dafür und eine dagegen. Die eine Gegenstimme stammte von Frau Dr. Ingeborg Malthus.

»Bevor ich zustimme, bringe ich mich lieber um!« rief sie.

»Okay«, sagte Jakob angeregt.

Der UP-Fernschreiber begann zu rattern.

Schreiber schlenderte hin.

»Ah, was Neues von den No … No … Nonnen«, sagte er.

In der Nähe von Athen hatte die Polizei vor einer Woche ein Nonnenkloster ausgehoben und festgestellt, daß in diesem zahlreiche Kinder unter grausamen Umständen getötet worden waren. Der UP-Fernschreiber tickerte weitere Informationen.

»Da … Das ist noch etwas, das wir ei … einführen so … sollten«, sagte Schreiber. »Mi … Mit so vielen Nachrichtendiensten … Wir haben mehr Platz als die Tageszeitungen. Wir kö … könnten jede Woche so eine Se … Se … Sensationsgeschichte, egal, wo … wo in der Welt sie sich zutrug, bringen.«

»Wir brauchen fast drei Wochen zur Produktion einer Nummer! Da sind wir doch längst nicht mehr aktuell!« rief der Layouter.

»Sind wir doch. Wann ist A … Andruck?« fragte Schreiber.

»Jeden Dienstag um Mitternacht.«

»D … Dann k … können wir noch eine S … Sensationsgeschichte vom Di … Dienstag bringen!«

»Nie! Die Dienste kommen in Englisch … in riesigen Mengen … Das muß doch bebildert werden!«

»Fotos gibt’s allerdings schon früher«, sagte der Chef der Bildredaktion.

»Da hören Sie’s! Eine lange Ge … Geschichte mu … muß das immer werden. Z … Zw … Zwölf … Spa … Spa … Spalten mindestens!«

»Zwölf Spalten … Das sind sechsunddreißig Manuskriptseiten! Wer soll denn die schreiben von Dienstag früh bis Dienstag mittag – denn am Nachmittag muß das Zeug ja schon gesetzt werden, damit wir es in der Nacht imprimieren und zum Druck geben können! Einen Menschen, der so schnell und dabei auch noch gut schreibt, einen solchen Menschen gibt’s ja überhaupt nicht!«

»A … Aber ja do … doch«, sagte Schreiber.

»Wo ist er?«

»Er steht vor Ihnen«, sagte Jakob und zeigte auf Klaus Mario Schreiber.

»Vo … Vorausgesetzt, ich kriege W … W … Whisky.«

»Sie kriegen ihn.«

»Na schön«, sagte der Säufer, »da … dann also an die A … Arbeit! I … Ich schreibe zuerst das um, was blei … bleibt. Dann sind Sie so gut, Herr D … Do … Doktor Drissen, und kü … kümmern sich um ein paar Herren – ich gebe Ihnen die Adressen. Die H … Herren haben Interessantes zu berichten. I … Ich schreib’s d … dann zusammen. Ro … Rowohlt ru … rufe ich s … sofort an, damit der Fa … Fallada gesetzt werden kann. Später brauchen wir die M … Maschinen für aktuellste Beiträge – ich bin dafür, mit den No … No … Nonnen anzufangen bei diesem aktuellen Sensationsdienst – nennen wir ihn ›H … Hinter den K … Kulissen‹! Werden noch ein, zwei Tage vergehen, bis die Polizei du … durch ist und wir be … bessere Fotos haben und die ganze Geschichte kennen. ›Hi … Hinter den Kulissen‹ wäre immer die Vorschlagzeile. Da … dann käme der Haupttitel. Was halten Sie von ›Die teuflischen No … No … Nonnen‹?«

Klaus Mario Schreiber trank einen kräftigen Schluck …

80

Um 23 Uhr 59 am 23. September 1947 – es war ein Dienstag – drückte Jakob Formann auf den roten Knopf der ersten Rotationsmaschine im Keller des Gebäudes der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG in der Sendlinger Straße zu München. Er fuhr zusammen von dem tobenden Lärm, der anhub, als sich die riesige Maschine in Bewegung setzte. Man konnte kein Wort mehr verstehen. Die Arbeiter hatten eine eigene Zeichensprache. Ein Meister signalisierte Jakob mit zwei Fingern: Nun Nummer zwei!

Jakob drückte auf einen zweiten roten Knopf. Ein zweites Ungeheuer begann zu toben.

Als Jakob auf einen dritten Knopf gedrückt hatte, schwankte der Boden unter ihm. Ergriffen lehnte er sich gegen eine bebende Wand. Im Keller der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG war die MÜNCHNER ILLUSTRIERTE gedruckt worden. Als Jakob und Frau Dr. Malthus sich diesen Keller zum ersten Mal ansahen, hatten sie auf den Rotationsmaschinen noch die Zylinder der letzten Ausgabe vorgefunden. Titelblatt: eine V2-Stellung. Unterschrift: DER SIEG IST ZUM GREIFEN NAHE! Sie hatten alle Zylinder einschmelzen lassen, um Blei für die erste Nummer ihrer Illustrierten zu haben. Die Geburtsstunde der ersten deutschen Nachkriegs-Illustrierten – nun war sie gekommen! Ergriffen standen auch die Arbeiter. Und ergriffen standen alle Redakteure und Mitarbeiter. Bis auf einen.

Klaus Mario Schreiber schlief zu dieser Zeit tief und fest auf einem Schreibtisch in einem der kleinen Zimmer der Redaktion an der Lindwurmstraße. Auf seine Schreibmaschine hatte er ein kleines Kissen gelegt. Dort ruhte sein Haupt. Ein zufriedenes Lächeln verschönte sein von Akne übersätes Gesicht. Er hatte DIE TEUFLISCHEN NONNEN am Morgen um 9 Uhr, nach Lektüre des gesamten, sehr umfangreichen Materials, zu schreiben begonnen, direkt in die Maschine, und er hatte seine sechsunddreißig Seiten, auf die Zeile genau, um 14 Uhr 37 an Dr. Drissen geliefert. Es war nicht eine einzige Stelle zu verbessern gewesen.

Den Nachmittag über hatte Schreiber, stillvergnügt vor sich hin trinkend, schon an der nächsten Nummer gearbeitet, und am frühen Abend hatte er zuerst die Druckfahnen, dann den Umbruch redigiert, den Jakob, mit seinem Fahrrad hin- und hersausend zwischen Sendlinger und Lindwurmstraße, gebracht hatte. Für ›Hinter den Kulissen‹ war ein genau berechneter Platz freigelassen worden. Der Bleisatz paßte präzise. Nun konnten die Zylinderteile für die Rotation gegossen werden. Das geschah gegen 22 Uhr. Zu dieser Zeit schlief Schreiber bereits tief und friedlich, mit über der Brust gefalteten Händen, auf seinem Arbeitstisch. Er war ganz allein – alle anderen Mitarbeiter von OKAY ließen sich den feierlichen Augenblick des Andrucks nicht entgehen, selbst die alte Putzfrau nicht, die bis vor wenigen Tagen noch Serviererin in dem Café in Schwabing gewesen und auf Jakobs Betreiben angestellt worden war.

Die erste Nummer der Illustrierten trug ein Bild des amerikanischen Präsidenten Truman, der auf Bitte von Generalmajor Hobson eine Gruß- und Glückwunschbotschaft an die Leser von OKAY geschickt hatte. (Es war nötig gewesen, daß Schreiber Trumans Zeilen umschrieb – der Text, den natürlich ein Ghostwriter des Präsidenten verfaßt hatte, war nicht eben umwerfend gewesen.) Das Blatt enthielt Bildberichte über Mexiko, Hollywood, die ›Lebende Wüste‹, eine Modenschau in Rom mit vielen Mannequins und Modellen (und eingelegte Schnittbogen zum Selbstschneidern!), die erste Folge des Romans KLEINER MANN, WAS NUN? von Hans Fallada, DIE TEUFLISCHEN NONNEN, eine große internationale Klatschkolumne, Witze und Zeichnungen von deutschen Karikaturisten, aber auch aus dem PUNCH, dem NEW YORKER und dem ESQUIRE, die Niederschrift eines Telefoninterviews mit George Catlett Marshall sowie einen von einem ersten Fachmann verfaßten (und von Schreiber natürlich auf Verständlichkeit umgeschriebenen) fundierten Kommentar zum ›Marshall-Plan‹, der Europa wieder auf die Beine helfen sollte, den ersten Teil einer Serie über den ›Ameisenstaat‹ und seine verblüffenden Gesetze (nebst Parallelen zu Adolfs ›Totalem Staat‹, Text, versteht sich, von Klaus Mario Schreiber), zwei Kurzgeschichten, die eine heiter, die andere sentimental, beide ›aus unseren Tagen‹, alles geschrieben von Schreiber unter mehreren Pseudonymen. Und, mit seinem richtigen Namen gezeichnet, die große Gauner- und Abenteuergeschichte über den Mann, der die tollsten Dinger gedreht und die Ideen zu ihnen immer dann gehabt hatte, wenn er Kuchen aß.

Von Rosenheim bis Flensburg standen am Tage der Auslieferung die Menschen in langen Schlangen vor den Kiosken, um die erste Nummer von OKAY zu kaufen. Die Auflage von achtzigtausend erwies sich als zu klein. Schleunigst mußte eine zweite Auflage, ebenfalls achtzigtausend, nachgedruckt werden. Die Leute kauften auch die restlos.

81

Mit OKAY ging es aufwärts. Im Juni 1948 hatte die Illustrierte eine Auflage von fünfhunderttausend Exemplaren erreicht.

Die Fertighausfabriken in und bei Murnau liefen auf Hochtouren. Hunderte von Häusern für Flüchtlinge, Ausgebombte und Vertriebene waren bereits gebaut worden – mit tatkräftiger Unterstützung des Gouverneurs van Wagoner. US-Laster transportierten Einzelteile und Montagetrupps.

Jakobs drei Eier-Farmen wurden nun Tag und Nacht mit Sinatra-Musik berieselt; denn wieder waren aus Küken Hennen geworden, und die Hennen legten wie verrückt. Jakob lieferte seine Quote an die Amerikaner, die Hälfte des Restes an die Lebensmittelämter und ließ sich in Altersheimen, Kindergärten und Krankenhäusern sehen, als freudebringender Eier-Weihnachtsmann mit vollen Körben. Die Zeitungen brachten tränentreibende Geschichten und Bilder von diesem wahrhaft guten Menschen. Ein herzzerreißender Artikel erschien in OKAY. Den wahrhaft erschütternden Bericht zu den rührenden Bildern, die Jakob mit Waisenkindern, Lungenkranken oder vor Seligkeit weinenden alten Menschen zeigten, hatte natürlich Klaus Mario Schreiber geschrieben.

Die zweite Hälfte des Ertrags an Eiern kam nach einem wohlausgebauten, ja perfekt funktionierenden System anstandslos auf die Schwarzmärkte der Großstädte. Wieselflink sausten uralte Autos, mit Holzvergasern ausgestattet, durch die Lande und transportierten das zerbrechliche Gut. Wahrlich, es gab genug zu tun. Auf Jakob Formanns drei Höfen in der Bi-Zone legten sechsundsechzigtausend Hennen …

Viele Könige des Schwarzen Marktes wurden ärgerlicher und ärgerlicher. Niemals hielt die Polizei einen einzigen Eiertransport an! Niemals ging ein einziges Formann-Ei bei der Razzia verloren! Die Herren Schwarzhändler konnten sich einfach nicht erklären, wie die Verteiler – offenbar hellseherisch begabt – exakt wußten, wann eine Razzia stattfand, also niemals zu solchen Zeiten auftauchten. Die Polizei, unser aller Freund und Helfer, unterstützte Jakobs Unternehmungen vorbildlich. Es gab nichts Zuverlässigeres als die bestochenen Beamten in den einzelnen Präsidien, und es gab keine einzige Razzia, über die Jakob nicht unterrichtet gewesen wäre – Tage, bevor sie stattfand. Die einzige Ausnahme bildete Nürnberg. Dort saß ein Regierungsrat, seinerzeit in Berlin tätig, vor dem hatten sogar Jakobs ›Funktionäre‹ Angst. Der Mann kam aus Preußen und war die Ehrbarkeit selber. An den wagte sich niemand heran, um ihn zu bestechen. Also mußte Jakob es selber tun. Mit der Bahn fuhr er gen Norden. Nürnberg war zu groß und zu wichtig, als daß man einen Formann-Eier-Markt hätte entbehren können.

Im stinkenden Abteil eines stinkenden Eisenbahnwagens zwischen stinkende Hamsterer gepreßt, überlegte sich Jakob am Vormittag des 17. Juni 1948 all das, was wir eben aufgeschrieben haben. Das Geld floß nur so herein. Und wenn es noch ein paar Monate so hereinfließt und alles so weitergeht, dann habe ich mich sehr schnell zu Tode gesiegt, dachte Jakob, zum erstenmal im Leben Opfer einer depressiven Phase. Er hielt die Hasenpfote umklammert, auf seinen Knien lag der Diplomatenkoffer. Der wurde von Jakob besonders behütet, denn er enthielt zerbrechliche Ware – in Watte gebettet, drei Probeeier, die er aus München mitgenommen und dazu ausersehen hatte, die Schwarzhändler in Nürnberg, nach Umstimmung des gefürchteten Regierungsrats, alle begeistern zu können.

Düster war Jakobs Gemütszustand in diesem Moment, sehr düster. Normalerweise wäre ich längst Millionär, dachte er. Normalerweise! Verflucht, er schwamm in Geld – aber leider eben in wertlosem Reichsmark-Geld, das ihm zudem zwischen den Fingern zerrann, kaum daß er es eingenommen hatte.

Wenn jetzt – aber schnell! – nicht ein Wunder geschieht, dachte Jakob in dem überfüllten Abteil, trauervoll einen mageren Mann ansehend, der seiner Ansicht nach dafür verantwortlich war, daß die bestialische Luft im Abteil von Zeit zu Zeit immer noch ein bißchen bestialischer wurde, wenn das nur eine kleine Weile so weitergeht, dann kann ich zumachen mit meinen Hühnerfarmen, mit OKAY, mit der Fertighausfabrik. Denn dann bin ich pleite.

Schiere Verzweiflung bemächtigte sich des sonst so munteren Jakob. (Übrigens auch aller anderen Menschen in Deutschland, aber das war natürlich kein Trost.) Der Verzweiflung folgte Zorn. War das eine Gerechtigkeit?

Die wirklich großen Schieber wurden fetter und fetter, und ein Mann wie er, der sich halb zu Tode arbeitete (Gott ja, natürlich schob auch er – aber doch nur mit Eiern!), ein solcher Mann stand vor dem Ruin.

Erschütternd! Jakob zerfloß in Selbstmitleid. Drei Minuten lang.

Dann fühlte er, von der Hand ausgehend, welche die Hasenpfote umklammerte, die ihm schon so bekannte wohlige Wärme seinen Körper durchfluten. Der Augenblick der Depression war vorbei. Der bleiche Mann gegenüber hatte es wieder getan (verflucht und zugenäht – offenbar Erbsen!), aber Jakob sah ihn nicht, wie alle anderen im Abteil, empört, böse und strafend an. Nein, er nickte dem Furzer milde zu! Und dachte genau das, was einige Jahre zuvor Zarah Leander gesungen hatte: ›Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen!‹

In dieser Hochstimmung machte er zwei Stunden später dem Herrn Regierungsrat Bernt Schneidewind im Polizeipräsidium Nürnberg, gewinnend lächelnd, einen kleinen Vorschlag …

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»Mann!« schnarrte der Regierungsrat Bernt Schneidewind, schneidend wie sein Zuname, und schlug mit einer preußischen Faust auf einen mittelfränkischen Schreibtisch. »Mann! Von Kindesbeinen auf wurden wir erzogen zu Redlichkeit, Treue, Pflichterfüllung und Disziplin!« (Eijeijeijeijei, dachte Jakob und wäre vor Schreck über den plötzlichen Ausbruch fast von dem wackligen Stuhl gefallen, auf dem er saß. Du bist vielleicht erzogen worden zu all dem, ich nicht – jetzt verstehe ich, warum sich keiner meiner Funktionäre an dich rangetraut hat!) »Mann!« wiederholte Schneidewind ganz leise zum drittenmal, »sind Sie denn vollkommen wahnsinnig geworden, einem deutschen Beamten einen solchen Vorschlag zu machen?« Und wieder mit der Faust auf den Tisch. So haben wir’s gerne, dachte Jakob.

»Mann, Sie haben den Mut … Sie können kein Deutscher sein! Was sind Sie?«

»Österreicher.«

»Das erklärt alles! Schlappschwänze! Degeneriert! Kamerad Schnürschuh! Unfähig! Balkanesen! Lumpen und Verbrecher!«

»Wie Hitler.«

»Was?«

»Ich habe gesagt, wie Hitler. Der war auch Österreicher!«

»Der Füh … äh … der Hit … Was unterstehen Sie sich, Mann? Ich lasse Sie auf der Stelle verhaf … Natürlich, Sie haben recht …« Regierungsrat Schneidewind hatte die Kurve wieder gefunden, nachdem er eben beinahe entgleist war. Darum tobte er noch lauter: »Absolut recht haben Sie! Dieser größte Verbrecher aller Zeiten konnte nur aus Österreich kommen! Aber Sie … Sie … Sie …« Schneidewind rang nach Atem. Und wieder mit der Faust auf den Tisch! »…aber Sie wagen es, auch noch diese zynische Bemerkung zu machen! Ungeheuerlich! Kommt hier herein und will mich mit zweitausend Dollar bestechen, mich dazu bringen, meine Pflicht zu verletzen, ihn bei seinen Untaten zu unterstützen! Hat wahrhaftig die Unverschämtheit, mir zweitausend Dollar anzubieten! Natürlich lasse ich Sie auf der Stelle verhaften, Mann!«

1948 – Währungsreform und Luftbrücke

4. Januar: Dr. Johannes Semler, Direktor der Verwaltung für Wirtschaft beim Wirtschaftsrat: »Man hat uns Mais geschickt und Hühnerfutter, und wir zahlen es teuer. Geschenkt wird es uns nicht … Es wird Zeit, daß deutsche Politiker darauf verzichten, sich für diese ›Ernährungszuschüsse‹ zu bedanken.«

24. Januar: Dr. Semler durch die Militärgouverneure Clay (USA) und Robertson (GB) seines Amtes enthoben.

17. Februar: Die »Bank deutscher Länder« in Frankfurt/M. errichtet.

März: Die Papierzuteilung in der US-Zone ist so gering, daß jeder Bewohner im Durchschnitt nur alle 20 Jahre ein Buch kaufen könnte.

Mai: Die Münchner Kammerspiele müssen schließen, da acht Schauspieler infolge Unterernährung zusammengebrochen sind. Die Besatzungsmacht hat zwar Lebensmittelkartenzulagen für Künstler (»For Artists«) genehmigt – die Ämter haben aber daraufhin nur den Artisten (!) Zulagen gewährt.

14. Mai: David Ben Gurion proklamiert die Gründung des Staates Israel.

20. Juni: Währungsreform für die drei Westzonen. DM 40,- als erster »Kopfbetrag«.

23. Juni: Währungsreform für die Sowjetische Besatzungszone. Altes Bargeld wird gegen Reichs-und Rentenmark-Scheine mit aufgeklebten Spezialkupons umgetauscht (»Tapetenmark«). Kopfbetrag 70 Ostmark.

24. Juni: Sowjets beginnen die Blockade West-Berlins. Amerikanische und englische »Rosinenbomber« bilden Luftbrücke.

August: Rente eines zu 70 Prozent Kriegsbeschädigten mit Frau und vier Kindern – pro Tag und Kopf 65 Deutsche Pfennige.

1. September: Der Parlamentarische Rat als verfassunggebende Versammlung tritt in Bonn (ab 1949 »vorläufige Hauptstadt«) zusammen. Vorsitzender: Konrad Adenauer.

September: Erste Anwendung von Cortison, Mayo-Klinik, USA.

20. Oktober: Sowjetzone: HO (staatl. Handels-Organisation) als Träger des Einzelhandels.

2. Dezember: Spaltung von Groß-Berlin in Ost (SED)- und West-Berlin.

4. Dezember: In West-Berlin eröffnet Oberbürgermeister Ernst Reuter die »Freie Universität«.

9. und 10. Dezember: Vereinte Nationen (UN): Entschließung gegen Gruppen- und Massenmord (Genocid) sowie Allgemeine Deklaration der Menschenrechte.

Norbert Wiener: »Cybernetics« – Beginn der Kybernetik.

Erfindung des Transistors.

Bühne: »Kiss me Kate« (US-Musical, Cole Porter).

Schlager: »Der Theodor, der Theodor …«; »I hab’ rote Haar …«.

Wieder dieses wohlige Wärmegefühl …

Hm, dachte Jakob, indessen Schneidewind wie von Sinnen weitertobte, hm. Einen letzten Notgroschen von achttausend Dollar habe ich noch. Zweitausend habe ich diesem teutsch-preußischen Ekel angeboten. Das ist seine Reaktion. Nicht zu fassen. Ich verstehe das nicht, beim Barras habe ich doch haufenweise die nettesten und vernünftigsten Kumpels aus Preußen zu Freunden gehabt.

Schneidewind hatte den Hörer des Telefons hochgerissen und bereits eine Zahl gewählt, als Jakob werbend lächelnd sagte: »Zuwenig, ich sehe es ein, Herr Regierungsrat.« (Ich muß also mein Letztes riskieren.) »Verzeihen Sie, ein Mann wie Sie … Ich wollte Sie nicht beleidigen … Sie sind natürlich andere Summen gewöhnt … Also gut, sagen wir sechstausend.«

Herrn Schneidewind traten die Augen aus dem Kopf. Der Hörer fiel in die Gabel. Herrn Schneidewinds Mund stand offen. So stierte er Jakob eine Minute lang an. Dann krächzte er: »Bar?«

»Auf den Tisch des Hauses, Herr Regierungsrat«, sagte Jakob. Verflucht, jetzt habe ich noch ganze zweitausend Dollar. Aber ich weiß, es wird nun bald ein Wunder geschehen …

Schneidewind erhob sich schwankend, ging schwankend zur Tür und sperrte ab. Schwankend kam er zurück und ließ sich in den Sessel fallen.

»Ha … ha … ha …«

»Herr Regierungsrat?«

»Ha … haben Sie die Dollars bei sich?«

»Selbstredend, Herr Regierungsrat.«

»Also worauf warten Sie dann noch, Mann?« schrie Schneidewind, wiederum schneidend. »Die besten Abnehmer finden Sie in der Winterstraße. Jede Razzia wird Ihnen oder einem Mann, den Sie mir nennen, vierundzwanzig Stunden vorher bekanntgegeben. Los, los, los, Mann, wollen Sie gefälligst die sechstausend Dollar auf den Tisch blättern!«

»Aber bittschön, freilich«, sagte Jakob und begann zu blättern.

83

Eine halbe Stunde später bereits fand er sich in der Winterstraße, die Regierungsrat Schneidewind ihm als Schwarzmarkt-Umschlagplatz so sehr empfohlen hatte, in Verhandlungen mit drei ›Verteilern‹ und einem ›Grossisten‹. Die drei Probe-Eier wurden angekratzt, leicht beklopft, zwei roh ausgetrunken von Spezialisten, auf deren Urteil sich der dritte Schwarzhändler (der ›Grossist‹) blind verließ. Die Spezialisten waren begeistert.

»Erste Wahl«, sagte der eine. Da heulten schon Sirenen. Sehr laut. Sehr nahe. Die MPs auf ihren Jeeps und Trucks hatten die Sirenen erst sehr spät eingeschaltet. Praktisch erst, als die Winterstraße vorne und hinten abgeriegelt war und kein Mensch mehr entweichen konnte. (Nebengassen gibt es hier nicht, ausnahmsweise auch keine Ruinengrundstücke, die verfluchten Häuser sind alle stehengeblieben, dachte Jakob erbittert.) Und deutsche Polizei war auf einmal auch da.

Panik kam auf, Geschrei, Gejammer, Fluchen in einem Dutzend Sprachen. Ein kurzer (von vornherein sinnloser, weshalb Jakob auch nicht an ihm teilnahm) Kampf folgte. Die MPs brüllten ununterbrochen, die deutschen Polizisten droschen wacker drein. Jakob setzte sich still auf den Bordstein, legte das eine ihm verbliebene Ei sorgsam zurück in die Watte des Diplomatenkoffers und wirkte klein wie ein Yorkshire-Hündchen. (Die haben sehr oft auch nur eines.) Er dachte: Der Schneidewind hat mich schön hereingelegt! Ein bulliger MP riß ihn hoch. Das letzte, was Jakob sah, waren seine Gesprächspartner, die eben von MPs festgenommen wurden.

»Ich muß schon sehr bitten«, sagte Jakob indigniert.

Der MP schrie ihn an: »Mak snell in truck, you no-good blackmarketeering-bastard, you!«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich einer weniger schmutzigen Ausdrucksweise bedienten«, sagte Jakob dem fassungslosen Militärpolizisten in bestem King’s English. Dann schritt er zu einem der Laster, mit denen die Schieber und Schwarzhändler abtransportiert wurden, und zwei Minuten später raste sein Truck los. Eine Viertelstunde später erreichten sie das Gefängnis im Gebäude des Provost Marshal. Es war ein großes Gefängnis, aber zu klein für die vielen Festgenommenen. Sie saßen, bei offenen Zellentüren, dicht gedrängt überall auf dem Boden, auch auf den Gängen, und Jakob bekam die gleichen pestilenzartigen Gerüche in die Nase wie in dem Zug, der ihn nach Nürnberg gebracht hatte. Erbsen, dachte er, nix zu fressen gibt’s – offenbar nur noch Erbsen! Samt Würmern!

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Der amerikanische Offizier, der Jakob vernahm, war ein Brüller. Die Füße, in braunen Combat-Schuhen, hatte er auf seinen Schreibtisch gelegt. Vor den Schuhen sah Jakob den geöffneten Diplomatenkoffer. Darin, in Watte gebettet, das Probe-Ei. Bitternis überkam ihn. Es gab keine zweite Sitzgelegenheit im Büro. Lieutenant John Crawford verhörte seine Häftlinge immer so – er ließ sie stehen. (Psychologische Kriegführung, er hatte eine Menge Bücher darüber gelesen. Man könnte sagen: zu viele.)

»Sie sind also geständig?« brüllte Crawford.

»Zu was?« fragte Jakob, englisch.

»Schwarzmarkthandel mit einem Ei! Schwerer Verstoß gegen Gesetz Nummer 432 der Militärregierung, Absatz k.«

»Dürfte ich das Gesetz vielleicht einmal lesen?«

»Kerl, wenn Sie mir frech kommen, lasse ich Sie sofort …«

»Nicht frech. Ich möchte nur wissen, ob das Gesetz auf mich zutrifft. Sonst gebe ich Ihnen am Ende die falsche Antwort, Lieutenant. Und dann komme ich auch noch wegen Meineid dran. Oder ich belaste mich sinnlos.«

»Sie sind auf jeden Fall belastet!«

»Das ist noch lange nicht heraus. Ei ist nämlich durchaus nicht Ei.«

»Was soll die Frechheit? Wollen Sie mir jetzt einen Vortrag über die verschiedenen Sorten von Eiern …«

»Nur über die verschiedene Herkunft, Lieutenant. Sehen Sie, es gibt deutsche Eier von deutschen Hennen. Dann gibt es amerikanische Eier von amerikanischen Hennen, die aus amerikanischen Eiern geschlüpft sind, jedoch von den Amerikanern an Deutsche übergeben wurden. Diese würde ich als deutsche Eier bezeichnen. In meinem Falle wäre das so. Und ich denke doch, daß es einem Bewohner Deutschlands freisteht, sein eigenes deutsches Ei … auch wenn es sich um eine Schenkung handelt und insbesondere, wenn er im Besitz der entsprechenden Unterlagen ist …«

»Shut up!«

»Wenn ich um den Paragraphen bitten dürfte, Lieutenant.«

Lange Pause.

Dann fragte Crawford lauernd: »Sie haben amerikanische Schenkungspapiere?«

»Nein.«

»Aha!«

»Ich trage sie doch nicht immer mit mir herum. Was stellen Sie sich vor?«

»Wo sind die Papiere dann, verflucht?«

»In Waldtrudering. Auf dem Hof von Heinrich Himmler.«

»Um Gottes willen.« Die langen Beine mit den Combat-Schuhen verschwanden vom Schreibtisch. Crawford sprang auf. Zu Tode erschrocken wich er gegen die Tür zurück. »Ein Wahnsinniger! Ich muß sofort den Arzt …«

»Nein, Crawford«, sagte Jakob freundlich. »Müssen Sie nicht. Ich würde sagen, Sie müssen jetzt überhaupt nichts. Jedenfalls nichts, was Sie wollen. Sondern was ich will.«

»You goddamned Kraut …«

»Das ist keine Art, sich auszudrücken. Sie haben ja keine Ahnung, wer ich bin! Wenn Sie eine Ahnung hätten, fielen Sie auf der Stelle um, Mann! Ich habe früher beim Hörsching Airfield, Austria, gearbeitet. Es gab da eine beklagenswerte Affäre, über die ich mich zu schweigen verpflichtet habe, weil der Vertreter des Provost Marshal in Linz mich flehentlich darum ersucht und mir amerikanische Eier zum Geschenk gemacht hat.«

»Wie viele?«

»Vierzigtausend …«

»Vierviervier …«

»Das war erst der Anfang. Governor van Wagoner in München hat dann im Auftrag der Generale Clay und Clark weitere sechsundsechzigtausend Eier über den Atlantik für mich einfliegen lassen …«

»Sechsundsechs …« Crawford schwankte zu seinem Sessel zurück und fiel schwer hinein. »Aus einer Irrenanstalt entsprungen, Formann?«

»Nein, Crawford.«

»Simulant, was?«

»Auch nicht, Crawford. Bevor Sie einen Herzklaps kriegen, würde ich empfehlen, sofort meinen lieben Freund Murray van Wagoner, den amerikanischen Militärgouverneur für Bayern, anzurufen.«

»Der ist Ihr lie … lie … lieber Freund?«

»Ja. Er wird Ihnen die ganze Geschichte erklären. Beeilen Sie sich. Ich muß heute noch nach München zurück, und es geht nur noch ein Zug um neunzehn Uhr. Wenn ich den versäume, wenn sich bis dahin nicht alles aufgeklärt hat, und das sagen Sie bitte meinem Freund Murray, wenn ich also bis neunzehn Uhr nicht völlig rehabilitiert und auf freiem Fuß bin, dann werde ich auspacken, verlassen Sie sich drauf. Was ich zu sagen habe, ist top secret. Ich habe versprochen, es für mich zu behalten. Falls man mich allerdings weiter derart behandelt, sehe ich mich an mein Wort nicht länger gebunden und werde reden. Ich habe eine Illustrierte. Die heißt OKAY. Kein Begriff? Ah, ja, doch? Sehen Sie! Ich habe den besten Schreiber. Wenn der meine Geschichte schreibt und die nächste OKAY rauskommt, Crawford, dann wird die ganze Welt über Amerika lachen, dann haben Sie Ihr Gesicht für alle Zeiten verloren, dann sitzt in vierzehn Tagen ein Russe auf Ihrem Platz, weil man Sie aus Europa hinausgelacht hat – oder, was wahrscheinlicher ist, weil Sie sich selber zu einer zweiten Invasion entschlossen haben: zur Invasion Amerikas! Ich sehe direkt schon die Schlagzeilen vor mit: Amerikaner in Amerika gelandet!«

Der Lieutenant schlug auf die Gabel seines Telefons.

Der Lieutenant schrie:

»Vermittlung … Herrgott, was ist los mit Ihnen, Vermittlung? Geben Sie mir das Büro von Governor van Wagoner, Munich! Blitz! Mit jedem Vorrang! …« Pause. »Leitung gestört? Mann Gottes! … Was? Hm … Ja … Gut … Ich komme in die Zentrale!« Crawford schlug den Hörer auf die Gabel. »Leitung gestört, Sie haben es ja gehört. Ich muß ein Fernschreiben absetzen in der Zentrale. Sie bleiben hier. Jeder Fluchtversuch ist zwecklos. Vor der Tür stehen zwei Posten.«

»Hab’s gesehen, Crawford«, sagte Jakob.

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x dringend x dringend x dringend x

juni 17 1948 x 06 01 pm x von governor van wagoner munich an provost marshal nuremberg x fs erhalten x nach telefonaten mit general lucius d clay berlin und general mark clark vienna und lieutenant john albert wohlsein linz teile ich ihnen namens oberbefehlshaber usareur* folgendes mit x der von ihnen verhaftete mr jakob formann ist amerikanischer geheimnistraeger x seine eier erhielt er von usareur x vertraglich festgelegt wurde lediglich ablieferungsquote an us army die formann stets eingehalten hat x uebrige eier sein privateigentum x formann ist mit entsprechenden entschuldigungen augenblicklich aus der haft zu entlassen x us command car und fahrer sind fuer rueckweg zur verfuegung zu stellen x usareur hat mr formann reise in die usa angeboten x mr formann darf nie wieder von uns oder deutschen dienststellen in seiner taetigkeit behindert werden x entsprechende fs gehen an alle zustaendigen dienststellen x mr formann ist vip** x governor van wagoner x 06 04 pm x ende x

* Das rätselhafte Wort USAREUR bedeutet, wie der Autor nach langem Bemühen festgestellt hat, United States Army in Europe.

** VIP (sprich: ›Wip‹ oder ›Wi Ei Pi‹): Very Important Person = Person von besonderer Bedeutung, mit bevorzugter Abfertigung bei Verkehrsmitteln (insbesondere Flugzeugen) und Behörden.

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»… zuletzt noch die Vorhersage des Osborne-Instituts für das lange Wochenende um den vierten Juli, den amerikanischen Unabhängigkeitstag: In den Staaten der Union wird es nach der Statistik siebenhundertundzweikommasieben Verkehrstote und -schwerverletzte geben. Das war’s, Leute! Hier ist euer Lieblingssender KLMC, hier ist Ronnie Baldwin, und weiter geht’s mit ›Music in the Miller Mood‹! Zuerst hört ihr ›Moonlight Serenade‹ …«

›Moonlight Serenade‹ …

Zärtliche Musik ertönte. Jakob Formann saß wie erstarrt. Die siebenhundertzweikommasieben Verkehrstoten und -schwerverletzten des kommenden Wochenendes hatten ihm den Rest gegeben. Man muß diese armen Menschen doch warnen, dachte er verworren. Ich glaube, ich werde verrückt! Da, auf dem Tisch vor mir, liegen zwei Bücher. Die Bestseller des Jahres, hat die blonde Schönheit mit den phantastischen Beinen gesagt, bevor sie mich allein ließ. Das eine ist von einem Herrn Alfred Ch. Kinsey und heißt ›Das sexuelle Verhalten des Mannes‹. Ich habe darin geblättert. Herr Kinsey ist eigentlich Zoologe. Das hat ihn aber nicht gehindert, zwanzigtausend weiße amerikanische Männer und Frauen zu befragen und diese Befragungen über die Gewohnheiten ihres Geschlechtslebens auszuwerten in Kurven und Statistiken, Zahlen und Diagrammen und einer völlig unverständlichen Sprache. Mir dreht sich der Kopf. Sechsundachtzig Prozent der Herrschaften haben vorehelichen Geschlechtsverkehr zugegeben, zweiundneunzig Prozent, daß sie onanieren, neunzig Prozent, daß sie fest daran glauben, New York werde im Jahre 1950 – also in zwei Jährchen! – von russischen Atombomben zerstört und nicht mehr zu finden sein, andererseits aber natürlich auch Moskau von amerikanischen Atombomben – nein, das ist aus dem anderen Bestseller! ›Welt in Flammen‹ heißt der, von Charles van Dong, und da wird ein Krieg zwischen Rußland und Amerika im Jahre 1950 mit allen Details beschrieben … Die neunzig Prozent gehören zu Kinsey und haben Petting zugegeben, also miteinander aneinander rumfummeln, aber ordentlich, eigentlich fast richtig vö …

»And now ›Pennsylvania Six-Five Thousand‹ …«

AMERICAN OVERSEAS AIRLINE hat die Gesellschaft geheißen. In einer viermotorigen ›Constellation‹ bin ich herübergekommen. Zuerst nach New York. Nur anderthalb Prozent treiben es mit Tieren. Und das will eine Kulturnation sein? Abflug Frankfurt am Main 17 Uhr 30, Ankunft am ›La Guardia‹-Flughafen New York 1 Uhr 30 local time. Sechsmal haben wir die Uhren um eine Stunde zurückgestellt. Einen Orgasmus erreichen fast alle Männer, aber sehr wenige Frauen bei normalem Verkehr. Ein Verkehr ist das! Sechstausendsechshundert Kilometer lang war die Flugstrecke. Darum ist auch der Prozentsatz von Lesbierinnen so hoch. Fünf Stunden nach dem Start waren wir in Shannon, Irland. Nächste Zwischenlandung dann Gander, das liegt in Neufundland. Aber es gibt unheimlich viele Homosexuelle! Neun Mann Besatzung, vierzig Passagiere. Junge Männer bis fünfundzwanzig leiden enorm unter Ejaculatio praecox, was immer das ist, hätte der Kinsey auch englisch schreiben können, ich hab’ in Latein immer einen Pintsch gehabt. In der Kabine war ein Schild: ›Dies ist der 16 972. amerikanische Transatlantikflug.‹ Was macht eine Phimose? Unheimlich viel zu essen hat’s gegeben. Und zu saufen. Sehr beliebt sind technische Hilfsmittel beziehungsweise Prothesen. Kaugummis beim Starten und Landen. Und Gliedverlängerer.

»Now let’s listen to ›The American Patrol‹ …«

Ach, das habe ich schon 1945 gehört, in Wien, in der MP-Station, den ganzen Glenn Miller! Ich habe ja gewußt, es wird einmal ein Wunder geschehen. Am 20. Juni ist es geschehen. Unmittelbar nach meiner versehentlichen Verhaftung und sofortigen ehrenvollen Wiederfreilassung in Nürnberg. Da war ich am Ende. Ja, aber dann kam eben Sonntag, der 20. Juni 1948.

»Die Militärregierung gibt bekannt …«

Na, die Währungsreform, auf die wir alle schon so gewartet hatten! Am 21. Juni 1948 hat’s dann die verfluchte Drecks-Reichsmark nicht mehr gegeben. Sondern die D-Mark, die Deutsche Mark! Vierundzwanzig Stunden nur – unfaßbar, Triumph der Technik! – vierundzwanzig Stunden nur sind wir geflogen von Frankfurt am Main bis New York. Zehntausend Meter hoch geflogen sind wir. Auf einmal spüre ich, wie ich naß werde. Nicht da. Auf der Brust. Ich schaue meine Jacke an. Alles mit Tinte versaut. Mein Füllfederhalter! Ausgelaufen. Die ganze Tinte auf dem guten Anzug. Da habe ich vielleicht eine Wut gehabt! Eine süße Stewardeß hat mich gereinigt. Hat mir erklärt, daß Füllfederhalter immer wieder auslaufen. Wegen der Höhe. Und sie hat mir zum Trost was geschenkt. Wenn man oben auf einen Knopf drückt, kommt unten eine Mine raus. Mit Tinte! Und die kann nie ausrinnen! ›Kugelschreiber‹ heißt das, hat die Stewardeß gesagt. Große Mode in den Staaten im Moment. Der ›Kugelschreiber‹ ist aus einer glatten Masse, ähnlich wie Zelluloid, aber besser. Plastic ist das, hat mir die Stewardeß erzählt. Was ist Plastic? Ach, hat sie gesagt, da kann man Teller daraus machen, Schüsseln, Räder, Karosserien, Möbel, Flaschen – einfach alles! Toll. PLASTIC. Muß ich mich auch drum kümmern. Ich hab’ so ein Gefühl, diesem Plastic-Zeug gehört die Zukunft. Und die hat schon begonnen.

In West-Deutschland mit vierzig D-Mark auf den Kopf der Bevölkerung. Aber diese D-Mark hat es in sich! Jetzt kann ich ganz groß loslegen. Denn ich habe ja nicht nur DM 40,00 gekriegt. Ich habe meine Höfe, meine Fertighaus-Fabriken, meine Illustrierte! Die kostet jetzt DM 0,20. Einen Moment haben wir alle gedacht, es ist aus mit OKAY. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich hatte Durchfall. Stand vor dem Nervenzusammenbruch. Aber es gab noch ein Wunder: OKAY hat sich auch mit dem guten neuen Geld weiter verkauft wie verrückt! Warum? Weil wir eben schon bekannt waren aus der Reichsmark-Zeit. Weil wir eben schon einen so guten Ruf gehabt, weil die Menschen uns so gerne gelesen haben. Diesen Mario Schreiber, diesen stotternden Säufer, den adoptiere ich noch mal!

Da strömt jetzt die D-Mark herein! Mit den Eiern, den Häusern, mit OKAY. Weiß Gott, ich bin ein großer Mann. Die werden sich wundern, was für ein großer Mann ich noch werden werde! Die haben ja keine Ahnung. Das war doch nur der erste Sieg in meinem Krieg! Nie hätte ich gedacht, daß es so viele verdammte Kerle in den USA gibt, die mit toten Weibern schlafen wollen …

»… well, folks, here comes ›String of Pearls‹ …«

Die Tür des pompösen Wartezimmers mit den goldfarbenen Seidentapeten, in dem Jakob gewartet hatte, öffnete sich. Die ernste Sekretärin erschien.

»Bitte, kommen Sie, Mister Formann! Senator Connelly ist jetzt für Sie zu sprechen!«

Jakob erhob sich. Ihm war schwindlig. Er lächelte die Schöne an. Doch die blieb ernst. Er schwankte leicht beim Gehen. Das ist alles ein bißchen zuviel auf einmal, dachte er. Verflucht, wie Marlene Dietrich – solche Beine können nicht echt sein, also das gibt es einfach nicht!

87

»Willkommen, Mister Formann!«

»Guten Tag, Senator«, sagte Jakob, während er auf den älteren Herrn hinter dem riesenhaften Schreibtisch zuschritt. Der ältere Herr war ein wenig weißhaarig (das heißt: Er hatte nur noch wenige Haare, und die waren weiß), groß, knochig, mit einem an altes Leder gemahnenden verschrumpelten Gesicht. Er trug einen goldgefaßten Zwicker und hatte zu große Ohren und zu kleine Hände.

Die Herren standen nun voreinander. Es folgte eine lange Stille. Senator Connelly musterte Jakob. Jakob musterte des Senators Riesenbüro. Eiweih, dachte er dabei, ich bin bei einem Irren gelandet!

Der Raum glich einem Museum. An den Wänden hingen Fahnen und Standarten der Deutschen Wehrmacht sel. und der SS, Gewehre, Pistolen, Hundepeitschen, Bilder von deutschen Kampf-und Jagdflugzeugen, von Reichsparteitagen und von Adolf Hitler. Auf Tischen sah Jakob flache Vitrinen mit Parteiabzeichen und Koppelschlössern und sämtlichen Orden der Nazis vom Mutterkreuz bis zum Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten. Ein langes Regal zeigte weitere deutsche Waffen, von der Eierhandgranate bis zum Sturmgewehr 44. Überall standen kleine Modelle von Flugzeugen der Luftwaffe, von schweren MGs, von allen möglichen Panzern, von der V 2 und anderen Raketen. Auf Bildern (oder in Miniatur) waren zahlreiche Schiffseinheiten der Deutschen Kriegsmarine, vom Einmann-U-Boot bis zur ›Bismarck‹, vertreten. Gasmasken hingen an den Wänden.

Hilf, Himmel!

»Setzen Sie sich«, sagte der Senator. Jakob plumpste in einen Sessel. Der Senator zog sich hinter den Schreibtisch zurück und betrachtete Jakob interessiert, während er geistesabwesend eine schwarze Mütze mit kleinem silbernem Totenkopf, die wohl einem hohen SS-Führer gehört hatte, streichelte.

»Phan … phan … phan …«

»Wie bitte?«

»Phantastisch!«

»Sie sind überwältigt, Mister Formann, geben Sie’s zu!«

»Ich geb’s zu, Senator, ich bin überwältigt.«

»Ja, das kann man schon sein …« Connelly nickte. Man sah ihm an, wie sehr er in seine Sammlung verliebt war. Er nickte vierzehn Sekunden lang. Jakob zählte mit. Nach vierzehn Sekunden räusperte sich Jakob heftig. So geht das nicht weiter, dachte er, time is money, und wenn ich ihn nicht sofort zur Sache bringe, reißt der alte Trottel noch den Arm hoch und singt das Horst-Wessel-Lied. Das heftige Räuspern wirkte. Connellys Blick kehrte aus weiten Fernen zurück und konzentrierte sich auf Jakob.

»Ah, hm, ja, also … Sie haben da ein Empfehlungsschreiben von Governor van Wagoner mitgebracht. Alter Freund von mir. Großartiger Bursche, wie?«

»Das kann man wohl sagen, Senator!«

»Ich soll Ihnen nach besten Kräften helfen und Sie unterstützen bei Ihren Untenehmungen, schreibt Murray. Was sind das für Unternehmungen, Mister Formann? Worum geht es denn?«

»Um Truppenunterkünfte, Senator.« (Donnerwetter, jetzt flutscht es nur so. Ich bin eben ein Masselmolch.) »Es sind die besten Truppenunterkünfte der Welt! Die Deutsche Wehrmacht hatte sie in Narvik ebenso wie in Libyen! Ich stelle sie in Deutschland her. Governor van Wagoner sagte mir, Sie seien der Mann mit den besten Beziehungen zum Pentagon, zu den Herren im Verteidigungsministerium. Traurig, traurig, das aussprechen zu müssen, Senator: Aber jetzt … die Blockade Berlins, der kalte Krieg … jetzt ist sie schon wieder vorbei, Ihre Waffenbrüderschaft mit den Russen. Wenn das so weitergeht …«

»… und es wird so weitergehen!«

»Ganz meine Meinung, Senator … dann werden Sie wohl sehr schnell sehr viele Truppenunterkünfte brauchen …«

»Es ist eine Tragödie. Da haben wir Schulter an Schulter mit den Russen Hitlerdeutschland besiegt, in einem beispiellosen Ringen – und jetzt sieht die Welt so aus! Mein Sohn ist noch drüben.«

»Wo drüben, Senator?«

»In Europe. Vienna. Bin stolz auf ihn. Braver Junge. Tapferer Junge. Er hat unter Einsatz seines Lebens einen Werwolf gestellt …«

Auch der cleverste Mann, den es gibt, hat manchmal einen totalen Blackout. Rennt blindlings in sein Verderben. Und mit Elan!

»Einen Werwolf!« jubelte Jakob auf. »In eine MP-Station hat er ihn gebracht, ja?«

»Ja. Woher wissen …«

»Moment! Und der Werwolf wurde von der MP verhaftet …«

»Stimmt, aber …«

»… und ins Gefängnis gebracht, richtig?«

»Richtig. Hören Sie, Mister Formann …«

»Aber dann kenne ich ihn doch!« Jakob strahlte. (Totaler Black-out eben. Selbst Einstein hatte so was manchmal.) »Mein Gott, ist die Welt klein! So ein hübscher Junge! Blond! Blaue Augen! Nein, so etwas! Also, wenn ich das lesen würde, ich könnte und könnte es nicht glauben! Da heißt es immer, solche Zufälle gibt es nicht! Und ob es sie gibt! Connelly … warten Sie, Senator … Lieutenant ist Ihr Sohn, stimmt’s?«

»Stimmt …«

Es entging dem Begeisterten, daß sich des Senators Augen zu Schlitzen verengten. Er jubelte weiter: »… und mit Vornamen heißt er … heißt er … Nicht verraten, ich komme sofort drauf … jetzt habe ich es schon! Robert Jackson heißt er mit Vornamen! Robert Jackson! Genau wie Sie! Genau wie Sie!«

»Genau wie ich, Mister Formann«, sagte der Senator dumpf. »Ich bin Robert Jackson Connelly senior.«

»Also nein, das ist doch wirklich …« Jakob fand keine Worte mehr vor Begeisterung.

Gräßlich langsam fragte der Senator: »Und woher wissen Sie das alles? Woher kennen Sie meinen Sohn?«

»Na, ich war doch dabei, Senator!«

»Sie … waren … dabei …?«

»Ja doch! In der MP-Station! Als Dolmetscher! Ich habe die Meldung getippt! Ich bin mit zum Landesgericht gefahren! Ihr Herr Sohn auch! Wir haben ihn noch nach Hause gebracht und …«

Eiweeh!

Jakob saß da, das Kinn war herabgefallen, so sieht ein Kretin aus.

O Gott. O lieber Himmelvater. Mir wird plötzlich heiß. So heiß wie schon lange nicht. Unangenehm heiß. Und da bin ich immer so stolz auf mein Gedächtnis … ein Gedächtnis wie ein Elefant! Von wegen! Als ich den Namen Connelly hörte – kein Funken Erinnerung. Als der alte Trottel von seinem Sohn erzählte – alles vergessen. Freudestrahlend gerühmt habe ich mich noch damit, daß ich diese männliche Jungfrau kenne.

»Nämlich … ich … das war so, Senator, wissen Sie …«, stammelte Jakob los.

Robert Jackson Connelly senior ließ eine Faust auf den Monsterschreibtisch knallen, daß zwei ›Panther‹-Panzer-Modelle (für bundesdeutsche ›Leoparden‹ war die Zeit noch nicht reif) hoch in die Luft sprangen, und ein dritter, ein ›Tiger‹, der als Briefbeschwerer diente, zu Boden krachte.

Jakob erhob sich halb.

»Liegen lassen!« schrie Senator Connelly. »Hinsetzen! Keine Bewegung, Mann! Sie waren der Dolmetscher? Antwort!«

»Ja.. ha, Senator, ich war der Dolmetscher. Aber lassen Sie mich erklären …«

»Ruhe! Es ist … es ist …« Der Senator rang nach Atem und griff sich ans Herz. (Vielleicht fällt er tot um, dachte Jakob hoffnungsvoll.) »Es ist ja einfach nicht zu fassen!« tobte der Senator weiter. (Unsereins hat eben doch kein Glück, dachte Jakob.) »Sie waren damals dabei als Dolmetscher, und jetzt haben Sie den traurigen Mut, ach was, die Tollkühnheit, den Irrwitz, die wahnsinnige Unverschämtheit, hierherzukommen, um mit meiner Hilfe Geschäfte zu machen, Sie … Sie … Sie …«

»Beruhigen Sie sich, Senator! Sie müssen sich beruhigen!«

»Ich muß mich beruhigen? Aufregen muß ich mich! Das schreit ja zum Himmel! Das hat es ja noch nicht gegeben! Sie elender Lump! Sie dreckiger …«

»Senator, ich muß doch schon sehr bitten.«

»… Faschist! Na, Ihnen werde ich es jetzt aber besorgen, Sie Nazi! Ich rufe Murray an! Den haben Sie hineingelegt! Ich rufe Harry an! Ihnen wird der Prozeß gemacht! Sie kommen vor Gericht! Und hinter Gitter!«

»Aber … aber … aber warum denn, Senator?«

»Warum? Das wagen Sie auch noch zu fragen?«

»Da … da … das wage ich au … auch noch zu fra … fragen«, stotterte Jakob und dachte benebelt: Schlimmer geht’s dem armen versoffenen Schreiber auch nicht, wenn er spricht!

»Dann will ich Ihnen auch antworten. Ich – keine Bewegung oder ich schieße! –, ich bin damals sofort nach Wien geflogen, zu Mark Clark! Und was mußte ich da erfahren?«

»Wa … was mu … mußten Sie erfah …haren, Sena … nator?« Lieber Gott, Standarten! Stahlhelme! Brotbeutel! Meldetaschen!

»Ich mußte erfahren, daß der Werwolf, der meinem tapferen Sohn fast einen qualvollen Tod bereitet hätte …« Connelly senior schloß die Augen, er rang schwer um Atem. (Na, vielleicht jetzt? Scheiße, wieder nicht!)

»… daß diese Bestie in Weibesgestalt nach Deutschland abgeschoben worden war! Und nicht genug damit! Daß alle Männer der Station, in die mein heldenhafter Sohn den Werwolf geschleppt hatte, versetzt, und daß vor allem Sie, Sie … Sie Kreatur, verschwunden waren! Fein haben Sie das gemacht! Abgehauen sind Sie! Im Bunde mit dem Werwolf! Alles Faschisten, selbst meine eigenen Leute! Haben den Werwolf in Freiheit gesetzt! Und sich vermutlich totgelacht darüber!«

»Mitnichten, Senator. Wir …«

»Schweigen Sie!« Schlag auf den Tisch. Ballett kleiner LKWs und Motorräder. »Sie Bandit! Sie brauner Mörder! Sie …«

Telefon.

Der rasende Senator knipste einen kleinen Lautsprecher auf dem Schreibtisch an und bellte: »Jill, ich habe doch gesagt, ich bin nicht zu …«

Also Jill heißt die Süße mit den unglaublichen Beinen, dachte Jakob. Er hielt eisern die Hasenpfote in der Hosentasche umklammert.

»Es ist Ihre Frau, Senator. Sie besteht darauf, mit Ihnen verbunden zu werden, ich bitte um Verzeihung«, kam Jills traurige Stimme.

»Gottverflucht, meine … Stellen Sie durch!«

Im nächsten Moment keifte eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher: »Also, wie ist das, Bob? Wann kommst du raus? Ich bin schon seit vorgestern hier und warte auf dich! Und jedesmal, wenn ich anrufe, sagst du, du weißt noch nicht, wann du kommst!«

»Ich komme überhaupt nicht!« brüllte Senator Connelly. (Adolf Bohrer, ob du noch immer Elektroschocks kriegst? Der da könnte auch ein paar brauchen!) In seiner Erregung hatte Connelly vergessen, den Lautsprecher auszuschalten. »Ich bleibe in der Hauptstadt!«

»Aber das lange Wochenende! Der vierte Juli! Der Unabhängigkeitstag!«

»Eben deshalb!« Die Augen des Senators waren jetzt blutunterlaufen. »Bis zum Hals stecke ich in Arbeit! Ich ersticke …!« (Das sagst du so, aber tun tust du’s leider doch nicht, dachte Jakob.) »Muß alles aufarbeiten bis nächste Woche!« (Und wirst also nicht einer von den vorhergesagten siebenhundertzweikommasieben Verkehrstoten und -schwerverletzten sein.)

»Ich verbitte mir dieses ständige Nachschnüffeln, dieses Mißtrauen, dieses …«

»Robert Jackson!« knallte es aus dem Lautsprecher. Jakob fuhr so sehr zusammen, daß er ein großkalibriges Flakgeschoß umwarf, welches neben seinem Fauteuil stand. Die Stimme der Alten ist ja fürchterlich! Vor der würde sogar der Schinder Bohrer zittern und beben. Der Senator bebt auch. Ganz weiß ist er plötzlich geworden. »Jetzt hör mal zu! Daß du mit deiner Sekretärin, dieser Schlampe, ein Verhältnis hast und mich seit Jahren betrügst nach Strich und Faden …«

»Cindy, ich bitte dich, Cindy …«, flehte der Senator wundermild.

»Nichts Cindy! Nimm meinen guten Namen nicht in deinen schmutzigen Mund! Ich hätte mich längst scheiden lassen … es ist nur der Kinder wegen …« Kurzes Schluchzen aus dem Lautsprecher. Der Senator zog sein Taschentuch. Cindy tobte weiter: »Aber jetzt hast du das Faß zum Überlaufen gebracht! Jetzt ist Schluß! Du kommst raus zu mir. Wenn du bis heute abend acht Uhr nicht da bist, rede ich mit Harry persönlich! Erzähle ich ihm alles! Alles, habe ich gesagt!«

»Jetzt, mitten im Wahlkampf! Ich bin in Harrys Partei. Weißt du, was du ihm damit antust?«

»Und ob ich das weiß! Auf diesen Wahlkampf habe ich nur gewartet! Und deine Hure ertragen. Aber jetzt ist Schluß! Schluß! Schluß!« Die Membran des Lautsprechers klapperte. Grauenvoll, dachte Jakob. Wieso grauenvoll? Wundervoll! »Ich sage es nicht nur Harry! Ich sage es auch den Leuten um Dewey! Das wird ein Skandal! Wir werden ja sehen, wer im Herbst der neue Präsident wird!«

»Cindy … Cindylein … Nimm doch Vernunft an!«

»Ich bin ganz vernünftig, Robert Jackson! So vernünftig wie noch nie! Heute abend! Vor acht Uhr abends. Und das Wochenende über bleibst du bei mir – oder es gibt einen Skandal …!« Ein ferner Hörer krachte in eine ferne Gabel.

Der Senator wischte sich die Augen, sah dann, als sähe er ihn zum erstenmal, Jakob an.

Na, aber jetzt nichts wie drauf! dachte der.

»Sehr schön! Ich werde daheim zu berichten wissen, wie ich hier behandelt worden bin!« (Mit seiner Cindy und mit mir sitzt der nicht mehr lange in diesem Museum des Dritten Reichs!)

»Seien Sie ja nicht auch noch frech!« brüllte Connelly. (Tcktcktck, so leicht ist der also nicht auf den Rücken zu legen.) »Nur weil Sie ein Gespräch mit meiner Frau – ich liebe sie über alles, sie ist nur sehr nervös, bei drei Psychiatern – angehört haben … Glauben Sie bloß nicht, daß ich mir von Ihnen das geringste …« Weiter kam der Senator nicht, denn nun brüllte Jakob auf wie ein wirklich Irrer. Er schlug auf den Tisch, daß ein zweiter ›Tiger‹-Panzer-Briefbeschwerer nur so schaukelte.

»Da kommt man rübergeflogen, obwohl man weiß Gott was anderes zu tun hätte, bloß, um der Freien Welt beizustehen in ihrem Schicksalskampf, und dann muß man sich behandeln lassen wie ein Hund! Warten Sie mal ab, was ich Harry Truman erzählen werde!«

»Was Sie Harry …«

»Ich gedenke auch Präsident Truman einen Besuch abzustatten!«

Dieser Kerl war viel zäher, als Jakob gedacht hatte. Verflucht, dachte er, als nun dieser Kerl brüllte: »Jetzt habe ich aber die Schnauze voll! Her mit Ihrem Paß!«

»Was?«

»Sie sollen mir Ihren Paß geben!«

»Aber warum?«

»Weil ich Sie am Dienstag früh hier wiederzusehen wünsche! Bis dahin werde ich alles Nötige veranlaßt haben, damit Sie endlich bekommen, was Sie verdienen, Sie … Sie … Sie Kraut!«

»Was ich verdiene?« Lieber Gott, wie komme ich jetzt bloß wieder aus dieser Scheiße raus?

»Den Paß!« tobte Connelly.

Jakob legte ihn zwischen ein Eisernes Kreuz und ein Deutsches Kreuz in Gold vor den Senator. Der drückte auf einen Knopf der Sprechanlage.

Jills triste Stimme erklang: »Senator, Sir?«

»Kommen Sie! Mister Formann will gehen!«

Jakob erhob sich. Im Moment hat das mit dem Irren keinen Sinn, dachte er. Mir ist was Besseres eingefallen.

Die Tür öffnete sich. Jill erschien. Ihr Gesicht war unbewegt, als sie sagte: »Mister Formann?«

Er schritt auf sie zu, an ihr vorbei, sie schloß die Tür. Sie standen in ihrem Büro. Jakob zögerte nicht eine Sekunde. Er legte beide Arme um die Dame, preßte ihren Leib an sich (lange halte ich das nicht aus) und seine Lippen auf die ihren. Sie schlug mit kleinen Fäusten auf ihn ein. Wand sich und stöhnte. Er hielt sie eisern fest. Plötzlich wurde ihr Mund weich, die Lippen öffneten sich, und sie küßte auch ihn. Aber wie. Teufel, Teufel, dachte Jakob, bemüht, dafür zu sorgen, daß er mit Jill nicht gleich auf den Teppich kippte. Und da schreibt dieser Kinsey, viele amerikanische Frauen seien frigide …

Er löste sich und sagte zu der sonst so Tristen, nunmehr Bebenden: »Heute um fünf machst du hier Schluß. Dann fängt das lange Wochenende an. Wir werden es zusammen verbringen. Ich warte im East Potomac Park. Vor dem Jefferson Memorial. Um sechs.«

»Sie haben ja den Verstand verloren!«

»O nein, Darling. Der alte Sack muß zu seiner Cindy! Sonst läßt sie ihn hochgehen! Ich weiß, du bist seine Freundin. Aber die nächsten drei Tage und vier Nächte bist du frei. Und an die wirst du denken – dein Leben lang!«

»Wenn Sie nicht sofort verschwinden, schreie ich um Hilfe!«

»Ich verschwinde schon. Also dann bis sechs!«

»Niemals, Mister Formann«, sagte die platinblonde Jill erbittert, »werde ich um sechs Uhr da sein! Niemals!«

88

Sie war schon um Viertel vor sechs da.

Um Viertel vor sieben war sie mit Jakob in ihrer Wohnung.

Um Viertel vor acht stöhnte sie: »Mein Gott, vorhin wäre ich fast gestorben!« Sie lag nackt auf ihrem breiten Bett. Er kauerte nackt vor ihr. Sie hatten eine ›Chinesische Schlittenfahrt‹ hinter sich. (Ich muß ihr gleich einen guten Eindruck von mir vermitteln, hatte Jakob gedacht.) Nun rauchten beide eine Abregungszigarette. Brüste hat diese Jill, dachte Jakob. Und einen Popo! Und Marlene-Beine. Diese unwahrscheinlichen Marlene-Beine! Wenn ich die Dame noch lange anschaue …

Er drückte seine Zigarette aus, sie die ihre.

»Oh, Jake«, stöhnte Jill, als sie ihn wiederum entgegennahm.

»Oh, Darling«, sagte er, sie zärtlich dabei küssend. (Ich weiß immer noch nicht, wie sie mit dem Nachnamen heißt. Zustände sind das!)

Zwei Stunden später wußte er es dann. Sie saßen, beide äußerst spärlich bekleidet, bei Tisch und stärkten sich. Jill Bennett besaß ein Apartment in einer Wohnwabe der ›Down-town‹, 126, Huston Street, Apt. 1546. Die Down-town von Washington war das typische Geschäftsviertel aller amerikanischen Städte – mit einem Unterschied: Die Hochhäuser durften nicht mehr als dreizehn Stockwerke haben. Jills Apartment lag im dreizehnten. Von der kleinen Terrasse sah man über die Stadt und den Potomac-Fluß. Unten im Hause war ein Drugstore. Jakob hatte eine Riesenbestellung aufgegeben, und die war geliefert worden. Jill und er waren entschlossen, das Apartment in den nächsten drei Tagen nicht zu verlassen. Aber schließlich mußten sie auch bei Kräften bleiben. Also hatte Jakob Kräftigendes en masse bestellt. Dazu Champagner. Champagner, hatte Jakob gefunden, hilft immer. Er lockert die Zunge. Nicht seine eigene. Die seiner Partner, meistens seiner Partnerinnen. Er selbst trank eisern Coca-Cola.

So lebten sie denn selig und in Freuden im Apt. 1546. Am Abend des Nationalfeiertages, nach bereits längerer inniger Bekanntschaft mit Jakob und zwei weiteren Schlittenfahrten, äußerte Jill, sie sei so glücklich wie noch nie im Leben, aber sie könne kein Glied mehr regen. Jede Bewegung schmerze sie. Nicht so Jakob. Der wäre gerne mit einem Rad durch Washington gesaust, um fit zu bleiben. Das ging nicht. Er sah es ein. Statt dessen bewunderte er das Riesenfeuerwerk anläßlich des 4. Juli. Danach wurde ganz Washington mit Musik aus Lautsprecherwagen berieselt. Danach küßte Jakob Jills Hand. Innen. Danach begann Jill bitterlich zu weinen.

Er streichelte sie zart. Es half nichts. Er streichelte geduldig weiter und forschte dezent: »Warum weinst du, Liebling?«

»Wei … wei … weil du doch gleich wieder wegfliegst, Jake …«

Er preßte sie an sich und bedeckte ihr tränennasses Gesicht mit Küssen.

»Hier in Washington hatte ich das größte Erlebnis meines Lebens.«

»Wa … as für ein Erlebnis?«

»Dich.«

»Ach, Ja … ake, Ja … ake, Ja … ake! Du bist doch auch meines! Nimm mich mit! Ich gehe mit dir nach Deutschland. Ich gehe überallhin, wo du hingehst! Ich schwöre, ich werde dir eine gute Frau sein …« Er zuckte zusammen. »… keine Angst … du mußt mich nicht heiraten … Nur bei dir sein will ich, bei dir sein …«

»Jill, sei vernünftig, bitte. Es reißt mir ja selbst das Herz aus dem Leibe, daß ich dich verlassen muß. Aber meine Fabriken, meine Illustrierte, die vielen Menschen, für die ich zu sorgen habe …« (Und jetzt, pathetisch:) »Ich werde wohl immer alleinbleiben müssen …«

»O … oooh!« Neues Aufschluchzen. (Hoffentlich protestieren die Nachbarn nicht wieder, dachte Jakob nervös. Bei der zweiten Schlittenfahrt hat so ein Sauhund an die Wand neben Jills Bett geklopft. Zugegeben, sie lärmte ein wenig sehr … Ich muß zur Sache kommen.)

Er kam. »Senator Connelly hat mich – mich, der ich nur das Beste für ihn und dieses Land will! – zutiefst beleidigt. Das kann ein Mann wie ich sich nicht bieten lassen!«

»Mein Gott, Jake, sprich nicht so! Bob hat es gewiß nicht so gemeint …«

»Wer?«

»Bob … Robert … der Senator …« Das Schluchzen wurde sehr laut. »O Gott, was wirst du jetzt bloß von mir denken?«

Das pflegen die Mädchen in Deutschland nachher auch immer zu sagen, dachte Jakob und sagte, wobei er Jills Haar und darunterliegende Körperpartien streichelte: »Denken? Was für ein Unsinn! Es war mir vom ersten Moment an klar, daß du seine Geliebte bist!«

»Sprich nicht so!« (Sehr schrill! Die Nachbarn!)

»Leise, Jill, leise! Ich meine … daß euch eine innige Beziehung verbindet. Oder stimmt das nicht?«

»Wenn du wüßtest, wie schwer das oft für mich ist!«

»Nicht doch. Warum denn?«

»Jake! Er ist dreiundsechzig! Ich bin achtundzwanzig!«

»Das ist allerdings schlimm, mein Kind. Aber wenn es so schwer für dich ist, warum um alles in der Welt verläßt du ihn dann nicht?«

»Ver … lassen?«

»Ein Mädchen mit deinem Aussehen! Ein Mädchen mit deiner Intelligenz!«

Sie sah ihn aus riesengroßen blauen Augen an. Die Unterlippe bebte. »Ja, hast du es denn noch nicht bemerkt, Liebster?«

»Was, Schatz?«

»Daß ich doof bin!«

»Daß du was bist?« Er sah sie entgeistert an. Rot und blau und grün wurde ihr Gesicht. (Ein neues Feuerwerk war losgegangen. Die folgende Konversation wurde unter dauernden Blitzen, Farbenspielen und krachenden Detonationen geführt.)

»Doof! Doof! Doof wie ein Ei! Ich bin das, was man hier die ›doofe Blonde‹ nennt! Und das hast du nicht gemerkt?«

»Nein!«

»Du willst mir nur etwas Liebes sagen!« Immer reden lassen jetzt, dachte Jakob, dem eine Idee gekommen war. Nicht widersprechen oder unterbrechen. Immer lassen. Aus der armen Jill brach es heraus: »Deshalb bleibe ich ja bei Bob … entschuldige, bei dem Senator … Weißt du, wie schwer es ist, einen gutbezahlten Job zu bekommen in dieser Stadt, wenn man doof ist? Überall hatte ich es schon versucht, sogar im Pentagon, im Verteidigungsministerium. Da wird es nicht so auffallen, habe ich gedacht … Hast du ein Taschentuch?« Er reichte es ihr. Sie blies hinein, daß es donnerte. »Es ist aufgefallen! Sogar im Pentagon! Dann … dann lief mir Bob über den Weg … Verknallte sich in mich … Ich wurde seine Chefsekretärin …

Natürlich habe ich mir dann auch seine Liebe gefallen lassen müssen! Kannst du dir das denn nicht vorstellen? Du … du darfst Bob nicht böse sein! Er ist es auch nicht!«

»Nein. Er hat mich aus lauter Jux und Tollerei angebrüllt und hinausgeworfen, wie?«

»Er – mein Gott –, er ist eben auch kein Geistesriese! Das liegt in der Familie …« Weiß der Himmel, dachte Jakob, indem er sich an den Sohn in Wien erinnerte. »… und dazu jähzornig! Sonst ist er der gütigste Mensch von der Welt. Nur eben ein wenig tralala und jähzornig. Furchtbar manchmal! Aber … aber daran ist nicht er schuld …«

»Sondern wer?«

»Cindy, seine Frau. Die ist wie direkt der Hölle entsprungen! Du machst dir keine Vorstellung, was Bob zu leiden hat! Diese dauernden Drohungen! Immer droht sie ihm! Jetzt mit Truman und Dewey. Hat sie ihm nicht mit Dewey und Truman gedroht?«

»Ja. Wer ist Dewey?«

»Der republikanische Kandidat. Governor des Staats New York. Mein Gott, weißt du denn nicht, daß am zweiten November gewählt wird?«

»Man kann nicht alles wissen, mein Süßes. Hier, noch ein Schlückchen Champagner.« Sie trank brav. Er goß nach. Er fragte, um die Konversation wieder in Schwung zu bringen: »Und?«

»Und da bedroht sie ihn jetzt eben mit der Wahl! Jake, Bob ist kein schlechter Mensch! Er ist herzensgut! Du hast ihn nur in einem unglücklichen Augenblick getroffen.«

»Was heißt das?«

»Als Cindy anrief, da brachen alle seine Dämme unter dem Aggressionsstau …«

»Unter dem was?«

»Er wird von Cindy dauernd gedemütigt und getreten! Also entwickeln sich Aggressionen … die muß er abreagieren … sonst wird er krank! Und ausgerechnet dich hat der Stau treffen müssen …«

Er nickte ernst, dachte: Stau? Aggress … was soll das? und sagte todernst:

»Ja, wenn es so um ihn steht …«

»Viel schlimmer. Fünfmal in der Woche geht’s auf die Couch!«

»Mit dir? Mein Armes …«

»Auf die Couch von seinem Analytiker!«

»Er – hrm – geht fünfmal in der Woche zum … Nervenarzt?«

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