Ungeheuer nonchalant paradierte eine große Anzahl von Herren, die alle aussahen wie erstklassige Ringer. Sie trugen erstklassige Smokings. Nur unter den Achseln waren sie seltsam ausgebeult. Schulterhalfter! Pistolen! durchzuckte es Jakob. Donnerwetter, und so eine Masse! Leibwächter hat Sir Alexander also für sich und seine Gäste, Gorillas! Mit denen möchte nicht mal ich mich anlegen, und ich bin doch weiß Gott kein Schwächling.

Der Kiesweg machte eine Biegung, Jakob sah plötzlich das Meer. Rund um das Cap lagen sieben Polizeiboote. Ab und zu blinkten sie einander Lichtsignale zu. Jakob erschauerte. Das alles gab es! Na ja, bei dem Schmuck, der sich hier versammelte … Und dann auch noch die Herren mit den Sprechfunkgeräten, da im Hintergrund, dezent verteilt! Ich, ich würde ja so was ablehnen. Niemals Leibwächter für mich! Aber für meine Gäste! Jakob überlegte: Sir Alexander ist gewiß auch kein Feigling, der kann sich gewiß auch selbst verteidigen. Das alles hier geschieht nur zum Heil und Segen seiner Gäste. Dann muß ich mir so was natürlich auch zulegen, so eine Gorilla-Truppe – für meine Gäste!

Wieder eine Biegung des Wegs. Und da verschlug es Jakob derart den Atem, daß er nach Luft schnappte. Da stand das Haus, Sir Alexanders Haus. Marmor, Marmor, Marmor, Säulen, Säulen, Säulen. Angestrahlt von im Gras verborgenen Scheinwerfern. Eine monströse Terrasse. Seitenflügel, niedriger, aber so lang, daß sie sich in der Dunkelheit des Parks verloren.

Auf der Woge der Großen, Schönen und Reichen, die nun auch ihn und seine Begleiterinnen trug, wurde Jakob hochgeschwemmt bis zur Terrasse. Plötzlich standen Sir Alexander und Lady Jane vor ihm, er ein braungebrannter, breitschultriger Riese mit blitzenden blauen Augen, sie eine herbe Schönheit mit silbern gefärbtem Haar.

»Mister Formann«, sprach der Gastgeber in bestem King’s English, »wie freue ich mich!«

»Sie wissen, wer ich …« Jakob stoppte gerade noch rechtzeitig. Natürlich weiß der. Er hat genug Bilder von mir gesehen. Und außerdem steht so ein Ausgebeulter halb hinter ihm und flüstert ihm dauernd was ins Ohr, wahrscheinlich die Namen der Leute, die da ankommen!

»Die Freude ist ganz auf meiner …« Jetzt kam der ganze Quatsch. Achtgeben! Wie hat die Edle mir das beigebracht? Zuerst der Lady die Hand küssen. Nicht den Rücken zu tief krümmen, sie muß mit der Hand etwas hochkommen. Sie kommt. Sie lächelt. Angedeuteter Handkuß. Kurzer, markiger Händedruck mit Sir Alexander. Darf ich bekanntmachen … Jetzt die zwei Mädchen. Ja, so ist es richtig. BAMBI benimmt sich wie eine Fürstin!

Und gar erst Claudia. Die küßt die Lady und den Sir und wird wiedergeküßt.

Alex … Jane … Claudia.

Natürlich, die kennen sich. Claudia hat das ja auch nur deshalb einfädeln können. Die hat so was schon hundertmal, tausendmal mitgemacht. Für die ist das ein Honiglecken. Ein kleines Scherzwort. Ein kleines Lachen. Und schon geht es weiter, denn neue Große, Berühmte, Gewaltige drängen nach.

Wollen wir uns das einen Moment anschauen, bevor wir uns zwanglos, ganz zwanglos über die Terrasse auf die von Flutlicht übergossenen englischen Rasenflächen begeben, wo schon viele Erlauchte herumstehen, plaudernd, rauchend, trinkend, denn Rudel von Dienern (weiße Jacke, weiße Handschuhe, alle!) eilen mit Silbertabletts voller Gläser herum und offerieren, was das Herz begehrt. Dazu – großer Gott, jetzt sehe ich es erst! – in der Ecke einer erhöhten Tanzfläche, die in wechselnden Farben angestrahlt wird, eine Kapelle – mindestens ein Dutzend Mann, mit Flügel und allem –, die leise und unaufdringlich sanfte Musik spielt.

Was ist das?

›Donau, so blau, so blau‹ ist das. Phantastisch. Und was für Namen … … Prince et Princesse di Carano … Le Grand-Duc de Cottalény … Son Excellence, le Ministre d’Etat José de Santis et Madame … Monsieur le Président Directeur Général de la … Seine Exzellenz, der Außerordentliche und Bevollmächtigte Minister … Son Altesse … La Marquise de … Le Consul Général de … Comte et Comtesse de … Seine Durchlaucht … Franzosen … Engländer … Tunesier … Scheichs aus Arabien … deutsche Edelleute, bestimmt direkt von jenem Friedrich Lobesam abstammend … Präsidenten der größten amerikanischen Banken, der größten französischen Banken … die größten Nobelpreisträger für Literatur … die größten Filmstars … die größten Maler … die größten Komponisten … die größten Dirigenten … DIE GRÖSSTEN! Ein Diener trat an Jakob und seine schönen Begleiterinnen heran, das Silbertablett voll herrlicher Gläser. Die Damen akzeptierten Champagner. Jakob brauchte etwas Kräftigeres. Whisky!

Na was denn, ich werde doch noch einen Whisky vertragen! Schließlich bin ich ja auch weltberühmt. Können wir ruhig einen Schluck trinken, einen großen, bevor das Sich-Vorstellen und das mit Recht so beliebte, ach so zwanglose Cocktail-Geplauder beginnt.

Jakob trank sein Glas aus. Vom nächsten Diener, der vorüberkam, nahm er ein zweites. Und damit – wir kennen seine dramatische Beziehung zum Alkohol! – war er bereits rettungslos verloren.

42

Natürlich nicht gleich.

Immerhin plauderte man zuerst fast eine Stunde, bevor zu Tisch gebeten wurde. Immerhin huschten eine Stunde lächelnde Kellner mit Silbertabletts vorbei. Immerhin, immerhin.

In dieser einen Stunde machte Jakob die Bekanntschaft von Politikern, Militärs, Wissenschaftlern, Künstlern, Wirtschaftlern und Mitgliedern der ganzganzganz hohen High Society. Und er machte eine Stunde lang Konversation à la Pawlow (Sabbern).

Unmöglich, alle seine Repliken, seine Axiome, seine Bedingten Reflexe wiederzugeben!

Apropos Axiom: Das ist ein unmittelbar einleuchtender, nicht mehr zu beweisender Grundsatz – haben Sie vielleicht gedacht, Jakob weiß nicht, was ein Axiom ist?

Hier eine (ganz) kurze Auswahl dessen, was er, nach Eigenerziehung, zusammensabberte:

»Atombombe? Ich bitte Sie, Exzellenz! Die Menschheit wird nicht durch die Atombombe untergehen. Nein, nein, die große Gefahr, die ich sehe, ist der Untergang der Menschheit durch die Maschine. Natürlich wäre es schwachsinnig, sich nach der Welt der Postkutschen und Petroleumlampen zurückzusehnen – aber ich behaupte: Das Bedürfnis der Massen nach Auto, Kühlschrank und Fernsehapparat ist gefährlicher als die Bedrohung durch die Kobaltbombe.«

Und: »Wissen Sie, verehrter Professor, Jaspers hat mir schon immer mehr gegeben als Jung.«

Und: »Lassen Sie mir mein ›Warten auf Godot‹! Ob das nun der Bauer im nächsten Dorf ist, auf den die beiden warten, weil er ihnen Brot und Lohn geben könnte, oder wer immer – aber nicht Gott, Teuerste, nicht Gott! Das bleibt belanglos! Das sinnentleerte Dasein wird zur Analyse der menschlichen Seele und ihrer Beziehungen zum Kosmos überhaupt – ausgehend von der Leere, vom Ende, vom Nichts und, weitergehend, in die Hoffnung, in den Glauben an nichts!« (Ausnahmefall: nicht ein Bedingter Reflex, sondern schlicht und einfach auswendig gelernt, aus einer Kritik.)

Und: »Krebsheilung? Allein eine Sache der perfekten Organisation! In zwanzig Jahren werden achtzig Prozent der Kranken geheilt werden können. Voraussetzung: Omnipotentes Spezialistentum an einem Punkt gebündelt! Ach, darf ich Ihnen die Adresse meines Großklinikums in Berlin geben, ja, ja, ich betätige mich auch auf diesem Gebiet, zufällig habe ich eine Karte bei mir …«

Und: »Gewiß, gewiß, ein Genie, dieser Picasso. Verehrungswürdig. Nur seine Rosa Periode ist mir einfach unerträglich.«

Und: »Koexistenz? Ich werde Ihnen sagen, was Koexistenz ist, Your Royal Highness: Sie geben mir Ihre Uhr, und ich sage Ihnen, wie spät es ist!« Und: »Marcel Proust, lieber Freund. Marcel Proust, ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit!‹ Ich sage nur: Die Bibel der Literatur. Die Bibel! Mehr sage ich nicht.«

Und weiter und weiter gesabbert. Alles hübsch vorher einstudiert. A, B, C, D, E, F … mir kann keiner mehr!

»Monsieur Formann … Monsieur Formann … Ich bitte vielmals um Vergebung, wenn ich zu stören wage, aber wir haben ein Ferngespräch für Sie aus Tokio, ganz dringend …«

Na, funktioniert das? Und wie das funktioniert!

Können wir ruhig noch einen Schluck …

Ein verflucht großer Mann, dieser Pawlow, Iwan Petrowitsch!

43

Er war nicht direkt besoffen, unser Jakob, als das Mahl dann endlich begann, aber beschwipst war er, reichlich beschwipst. Das, was man ›schicker‹ nennt. Und voll geschwätziger Bewunderung für all die Herrlichkeiten, die Sir Alexander vorzuweisen hatte.

Da gab es zum Beispiel – das Wetter war schön (wie auch könnte es anders sein als schön – für DIE GRÖSSTEN?) – zwei prächtigst gedeckte Tafeln im Freien! Herrlich!

Ein phantastischer Speisesaal in der Natur! Man sah den Himmel, sah die Sterne, sah den Mond (o Hase, Hase, das alles könntest du jetzt auch sehen, an meiner Seite könntest du sitzen als Julia Formann, gekleidet und geschmückt wie eine Königin aus Tausendundeiner Nacht, wie alle diese Tausendundeine-Nacht-Königinnen hier, auch die schiachen, wenn du dich bloß nicht so blödsinnig benommen hättest!), sah den Park, die weiten Rasenflächen im flutenden Licht, an ihren Rändern die Palmen, weit hinten das glitzernde Meer, das geschmückte Podium mit dem Orchester, einen gewaltigen Swimmingpool … ach! Ein Wirklichkeit gewordener Traum!

Und diese Traum-Damastdecken. Und dieses Traum-Geschirr. Und diese Traum-Champagnergläser. Und diese Traum-Kellner, die lächelnd, lautlos, überhöflich servieren, indessen ich Traum-Konversation mache (geistreiche, versteht sich, Pawlow sei Dank). Hochinteressant, was der Comte de Lestranges schräg gegenüber da von Wirtschaftshilfe erzählt. Man hilft armen Menschen und hat dabei so unglaubliche Möglichkeiten … Muß ich auch machen, unbedingt! À la vôtre, liebste Claudia, à la vôtre, liebste BAMBI. Ich sitze zwischen den beiden. Auch ein Zeichen von größter Kultur: Hier werden Leute, die zusammengehören, nicht wild auseinandergerissen wie bei diesen widerlichen Neureichen, nein, hier bleibt beieinander, was zusammengehört, damit es zu Schwierigkeiten in der Konversation mit Fremden gar nicht erst kommen kann. An jeder dieser Tafeln sitzen rund vierzig Menschen. Was für Traum-Tafeln! An der Spitze der einen Tafel sitzt der Hausherr, Sir Alexander, an der Spitze der anderen (an die sie uns hingeführt haben) sitzt Lady Jane. Uns hat man etwa in die Mitte gesetzt. Candlelight. Mensch, was für traumhaft goldene Leuchter! Und wie der Traum-Schmuck der Damen funkelt, wie die Traum-Ordensspangen all der Herren Gäste glitzern! Wie wir uns alle verstehen! Wie wir uns alle sympathisch sind! Ich bin wirklich ein Demokrat. Aber es muß einfach eine Elite geben! Die gibt es ja im Westen genauso wie im Osten, nicht wahr? Alle Menschen sind gleich. Aber manche Menschen sind eben ein bißchen gleicher als die andern. Und es gibt sie: DIE GRÖSSTEN!

Kaviar. Persischer natürlich. Die klacksen einem ja gleich ein paar Suppenlöffel auf den Teller. Na, ich weiß, was ich gelernt habe. Riskieren wir drei, vier Gabeln voll. Wo ich besonders persischen so gerne habe. Mit dem Auftauchen des Kaviars verschwinden die Musiker in der Tiefe. Und aus der Tiefe empor, an einer Hammond-Orgel sitzend, kommt eine wunderschöne Frau, eine Traum-Frau, in einem Traum-Abendkleid heraufgefahren, die ist so fein wie die Damen an den beiden Tischen, obwohl sie nur eine Künstlerin ist. Und nun beginnt sie zu spielen, ach, was für wunderbare Melodien: Traum-Melodien. Nur Evergreens. Unsterbliche Evergreens, Traum-Evergreens. ›Blue Moon‹. ›La vie en rose‹. ›Night and day …‹ Traumhafter Traum!

Grandios.

Im Augenblick, da die Dame zu spielen beginnt, schießen weit entfernt, auf dem englischen Rasen, Wasserstrahlen hoch, werden niedriger, werden höher, wiegen sich, werden angestrahlt von allen Farben, die man sich denken kann – gemalte Musik, einmalig, wirklich einmalig! So was muß ich auch haben! Wie bitte? Die Frau des südamerikanischen Rindermilliardärs gegenüber hat etwas gesagt. Ob es mir nicht schmeckt, läßt mich Lady Jane fragen.

»Wieso nicht schmeckt, liebste gnädige Frau, ich bitte recht herzlich?«

»Weil Sie nur so wenig Kaviar essen, meint Lady Jane.«

Diese Lady Jane, die sieht auch alles!

Was heißt: So wenig Kaviar? Mehr darf man doch nicht, hat mir die Edle beigebracht. Nie mehr als ein paar Bissen von einer Speise. Sonst frißt man wie ein Prolet. Hat sie gesagt. Das da, das sind keine Proleten, und jetzt sehe ich erst, wie sie alle futtern, die letzte Kaviarperle mit einem Stückchen Toast aufnehmen und in den Mund schieben!

»Ich … oh … ach … Es schmeckt mir herrlich … wunderbar … Bester Kaviar, den ich je … Ich bin nur so beeindruckt von dem Spiel der Dame an der Hammond-Orgel und den phantastischen Wasserträumereien, ma très chère Madame …«

Sie nickt mir lächelnd zu. Sie sagt es weiter die Tafel hinauf. Lady Jane nickt mir liebevoll zu. Ich nicke ihr auch liebevoll zu. Ich wußte doch: Wir werden einander auf Anhieb verstehen!

Aber diese verfluchte Edle! Was für einen Quatsch hat die mir beigebracht? Man darf nicht mehr als ein paar Bissen …? Die hat wohl nicht alle bei sich gehabt? Lange genug habe ich diese Bestie ertragen! Viel früher hätte ich sie rausschmeißen sollen.

Na, aber jetzt nichts wie ran!

Und Jakob ging ran. Er aß, was das Zeug hielt. Schlürfte eine Riesenschale Schildkrötensuppe (recht laut) leer. Fiel über die delikaten kleinen gefüllten Hühnchen mit Beilagen her wie ein reißender Wolf. Gott, schmeckt das. Wo ist der zweite Schenkel? Wieso habe ich nur einen linken Hühnerschenkel? Jakob sah die Tafel hinauf und hinab. Alle Erlauchten hatten nur linke Hühnerschenkel! Wieso? Was sollte das bedeuten? Zum Glück verfügte Jakob über ein sehr feines Gehör. Und vernahm also das Gespräch irgendeiner italienischen Prinzessin mit dem italienischen Filmregisseur in seiner Nähe:

»… wirklich aufmerksam, muß ich sagen!«

»Ja, sehen Sie, liebste Prinzessin, die Köche sind von ›Maxim’s‹ in Paris eingeflogen. Sie haben alle rechten Schenkel entfernt. Weil, wie ich schon sagte, Hühner beim Schlafen gemeinhin auf dem rechten Bein stehen und deshalb die linken Schenkel wesentlich zarter sind als die rechten …«

Donnerwetter.

Und ich, mit meiner halben Million Hühner, habe das nicht gewußt. Habe die Tiere, als ihre Lege-Hoch-Zeit vorbei war, mit beiden Schenkeln an Großabnehmer verkauft! Habe selber viele solche Hühner gegessen – mit beiden Schenkeln! Weil ich eben doch ein Prolet geblieben bin. Schande über mich. Das hier, das, ja, das ist eben jahrhundertealte Kultur, das ist eben wirkliche Größe!

Ab sofort – ich muß meine Zentrale anrufen! – wird einem Teil der Verkaufshühner das rechte Bein entfernt! Für die guten Leute. Das bin ich meinem Namen schuldig, sagte sich Jakob und ergriff sein Champagnerglas jedesmal, wenn es von einem der Sommeliers neu gefüllt wurde, und das war oft. Er trank und aß, was in ihn reinging. Diese verfluchte Edle! Schau mich bloß nicht so an, Claudia, schau all die anderen an! Wie die fressen! Mich hat die Edle versaut!

Noch bei den gefüllten einschenkeligen Hühnchen wurde Jakob dann mit allen Zeichen der Ehrerbietung von einem Maître de Maison zum zweitenmal ans Telefon gerufen. Ferngespräch. Moskau. Von allergrößter Wichtigkeit.

Jakob erhob sich kerzengerade und stocknüchtern (glaubte er), entschuldigte sich bei den Damen auf das artigste und fließendste (glaubte er auch) und schritt dann selbstbewußt, eben wie ein Herr (selbst das glaubte er, obwohl ihm sein Stolpern doch hätte auffallen müssen) in das Innere des Hauses, mit dem verglichen der Louvre eine triste Höhle war. Ich kann mich verlassen auf meine Leute rund um die Welt, dachte er. Wenn ich sage ›Anrufen!‹, dann rufen sie an. Vom Nordpol, wenn’s sein muß!

Er kam an den Tisch zurück, fröhlich lächelnd. Sprach gescheit (glaubte er) und machte sich zuerst über Käse, sodann über den Nachtisch her: drei Riesenkugeln Eis, darüber etwas gegossen, was Jakob für Erdbeersirup hielt. Hei, wie das schmeckte! Auf dem Podium war inzwischen die Hammond-Orglerin in die Tiefe und das Orchester wieder in die Höhe gefahren. Nun also Jazz. Glenn Miller. Cole Porter. Gershwin. (Geschieht dir recht, Hase, daß du das nicht miterleben kannst. Warum hast du mich auch verlassen? Jetzt sitzt du in diesem Nest Düsseldorf mit diesem Miesling, der dich doch bloß ausnimmt. Gut, dann mußt du eben auf diese Ehre, auf dieses Glück an meiner Seite verzichten!)

Sir Alexander steht jetzt oben auf der Tanzfläche im Scheinwerferkegel und sagt, er habe noch eine kleine Überraschung für seine lieben Freunde …

»… und zwar habe ich mir die Freude gemacht, Ihnen die Freude zu machen, die weltberühmten, die wunderschönen Mädchen mit den herrlichsten Beinen der Welt aus Paris einfliegen zu lassen. Meine Damen und Herren, aus dem ›Lido‹: Die ›Blue Bells‹!«

Begeisterung.

Beifall.

Trommelwirbel.

Dunkel für einen Moment.

Und dann kreisende bunte Lichter, das Orchester spielt wieder, und wie durch Zauber stehen auf der Bühne plötzlich eins, zwei, drei … kann gar nicht richtig zählen … Tänzerinnen in prächtigen Kostümen, und los geht’s!

Die ›Blue Bells‹ tanzen!

Sie schmeißen die Beine! Sie wirbeln über die Bühne in verwegenen Posen, hauteng die Kostüme, die Beine, diese Beine … wo ich doch so auf Beine stehe. Ogottogottogott, sind das Beauties! Die müßte man alle flirten können! Alle auf einmal! Ein Jammer, daß man das nicht kann. Wahrscheinlich schafft man es auch der Reihe nach nicht. Eine sexyer als die andere. Wie sie lächeln. Wie sie lüstern blicken. Wie sie … Herrlich! Herrlich! Und extra eingeflogen aus Paris – wie die Köche! – hat sie Sir Alexander! Muß ich auch haben. Muß was Besseres haben. Wenn es was Besseres gibt. Nein, also ist das toll!

Jakob Formann saß mit offenem Mund da. Viele Herren, bemerkte er, machen ernste, nachdenkliche Gesichter. Die denken an ihre Alten, überlegte Jakob. Tja, da kann man schon ins Nachdenken kommen …

Der Applaus, als die ›Blue Bells‹ endlich nach einer halben Stunde ihre Darbietung beendet hatten, dauerte viele Minuten lang. Natürlich da capo! Und noch ein da capo. Für ein drittes waren dise Göttinnen dann allerdings nicht mehr zu haben, sie blieben verschwunden.

Wieder gingen Paare zur Tanzfläche, das Orchester spielte die neuesten Rhythmen, eine hinreißende Sängerin stöhnte in ein Mikrofon, die Damen und Herren hopsten die neuesten Tänze. Jakob konnte nicht tanzen, nicht ums Verrecken …

Was war das?

Habe ich recht gehört?

Hat der Kultusminister drei Sitze weiter ›bumsen‹ gesagt?

Auf Englisch? Ja, hat er! Da berichten ein paar Herren, offenbar angeregt durch die ›Blue Bells‹, einander Ferkeleien. Und lachen sich krumm und schief – mitsamt ihren Damen. Na, wenn’s weiter nichts ist! Da kann ich mit Besserem dienen. Jakob neigte sich vor.

»Weil Sie gerade diese Geschichte erzählt haben, Exzellenz«, sagte Jakob, der Mann von Welt, der homme à femmes, »da fällt mir auch was ein. Es ist kein Geheimnis, ich kann ruhig darüber reden, Sie wissen es ohnedies alle, daß ich ein Selfmademan bin. Nach dem Krieg keinen Groschen. Dolmetscher bei den Amerikanern in Wien. Da hat eines Nachts ein junger Lieutenant einen Werwolf hereingebracht …«

Es wird sehr still an dem langen Tisch, die Musik spielt jetzt leise, so können es alle auch richtig hören, was Jakob da erzählt von dem weiblichen Werwolf, dem so schönen, ganz jungen, der doch diesem ganz jungen, unschuldigen Lieutenant, dieser Jungfrau, also, der hielt sie doch für einen Werwolf, hahaha, weil sie ihm, hahahaha, nein, also bitte nicht böse sein, daß ich das erzähle, aber es ist doch zu komisch, hahahaha, weil sie ihm im Bett den … das … in das …

Ach, Jakob, ach.

Du und Alkohol. Wir wissen es, was geschieht, wenn du zuviel davon genießt, du weißt es – und doch hast du dich wieder einmal vollaufen lassen und spürst nicht die Tritte, die dir Claudia gegen das Schienbein gibt, und bemerkst nicht, wie alles um dich vereist, wie die feinen Leute dich ansehen, als wärest du ein ekelerregendes Insekt, nein, du siehst es nicht, du merkst es nicht, du erzählst, nunmehr röhrend vor Lachen, in allen Details die Werwolf-Geschichte, obwohl sich Claudia fast den Fuß verstaucht beim Treten, du erzählst und erzählst, und dann fällt dir Brüssel ein und die ›Chatte noire‹ und der so schöne, so impotente Schieber Rouvier und die so schöne, so phantastische Stripperin, wie hieß sie doch gleich, egal, wichtig ist, was sie machte, nämlich …

»Monsieur Formann …« Stimme an Jakobs Ohr.

Dritter Anruf, höchste Dringlichkeit, Washington, Pentagon. Jakob hatte erst die Hälfte der köstlichen Eisspeise verzehrt. Doch was einer der Großen dieser Erde ist, der hat seine Verpflichtungen, der muß Tag und Nacht im Einsatz stehen, nicht wahr? Und dieser Maître de Maison hat ›Washington‹ genau so schön laut gesagt wie zuvor ›Moskau‹. Also wieder ins Haus. Wieder mit einem getreuen Freund geplaudert, der auf die Minute pünktlich war. Aufgelegt. Ein menschliches Rühren verspürt. Na, der viele Champagner muß einmal wieder raus, nicht wahr? Wo ist denn hier … Ah, da. Großer Gott, das ist ja ein Palast! Na, nun wollen wir uns mal erleichtern …

Als Jakob erleichtert an den Tisch zurückkam, sang eine Chansonnière. Wunderschön, dachte er benommen, wunderschön.

»Mm …«, machte Claudia und sah ihn mahnend an.

»Was gibt es denn, mein liebes Kind?«

»Mmmm … mmm …« Claudia sah jetzt auf Jakobs Hose. Ach so. Na, hab dich nicht so, liebes Kind. Der Reißverschluß der Hose ist offen. Hab’s vergessen, ihn zu schließen. Peinlich. Werde ich mich lieber schnell setzen … Jakob setzte sich schnell.

Es war nur kein Sessel da.

Ein überhöflicher Kellner hatte ihn zurückgezogen.

Belustigt fiel Jakob zu Boden.

Im nächsten Moment war er gar nicht mehr belustigt.

Im nächsten Moment rutschte nämlich das herrliche Damast-Tischtuch mit allem, was sich darauf befand, von der Tafel. Im Fallen hatte Jakob sich daran festgehalten und damit eine Katastrophe verursacht.

Als erschüttere ein plötzliches Erdbeben Saint-Jean-Cap-Ferrat, so schwankte plötzlich, wie es schien, die endlos lange Tafel. Und es stürzten um Gläser und Tassen und Terrinen, es krachten zu Boden Kerzenleuchter mit brennenden Kerzen, Teller, Tassen, Unterteller, Silberteller, Petitfours-Platten, Flaschen, Aschenbecher (gefüllt), Zigarren, Zigaretten, Pfeifen, Gläser, Bestecke, es ergoß sich auf die kostbaren Roben der Damen und auf die Smokings der Herren Champagner und Mokka, Sahne und Zucker, das herrliche Speiseeis mit dem herrlichen Erdbeersirup, dem roten, klebrigen, dickflüssigen, und Tabakasche.

Am ärgsten hatte es Lady Jane erwischt. Ihr war durch den von Jakob verursachten plötzlichen Ruck das meiste entgegengeflossen, entgegengeflogen, entgegengerollt. Sie sah aus wie ein Clown. Bis ins Gesicht waren ihr Mokka, Champagner, Eiscreme und Erdbeersauce gespritzt und tropften nun langsam ab oder zogen endlose Fäden.

Niemand sprach ein Wort. Das Orchester spielte weiter. Und was spielte das Orchester? Was sang die liebliche Chansonnière?

»Don’t know why, there’s no sun in the sky … Since my man and I ain’t together, it keeps raining all the time. Stormy weather …«

Nein.

Nein. Nein. Nein.

Das war gemein von dir, Hase!

Das hättest du nicht tun sollen. Das nicht. Nicht das. Jetzt ist es aus. Alles ist aus.

Nein, es war noch nicht alles aus.

Jakob verlor die Nerven. Mühsam erhob er sich, und dann trat er die Flucht an – über den englischen Rasen, an Palmen, Eukalyptus-, Orangen- und Zitronenbäumen vorbei, davon, auf den weißleuchtenden Kiesweg zu. Nach einem kurzen Blickwechsel erhoben sich auch Claudia und BAMBI. Siruptropfend eilten sie Jakob nach. Sie wollten jetzt nicht sitzenbleiben. Und außerdem lebten sie beide von Jakob. So etwas bindet.

Immer noch rührte sich niemand der verbleibenden neunundsiebzig Gäste.

Der Saxophonist der Kapelle setzte zu einem Solo an.

Die Chansonnière hielt mit.

»… Stormy weather!« hallte ihr Schrei Jakob und seinen beiden Damen nach.

44

Schweigen herrschte im Innern des Mercedes, während er von der Spitze der Halbinsel herabkurvte zur Anse de la Scalette, jener Straße, die den Badestrand entlanglief.

Niemand wagte zu sprechen, nicht ein Wort.

Dann, auf der Straße am Meer, wagte es Claudia.

»Das hast du ja fein gemacht«, sagte Claudia Contessa della Cattacasa.

»Halt den Mund!« sagte Jakob, mühsam beherrscht.

»Glaubst du, du wirst von diesen Leuten jemals wieder eingeladen?«

»Das ist mir völlig wurscht!«

»Ja, jetzt!« Nun wurde auch BAMBI lebhaft, die, ebenso wie Claudia, verzweifelt an sich herumwischte, um wenigstens das Ärgste zu entfernen (das Ärgste tropfte auf den Boden des Mercedes). »Vorher hast du dir sämtliche Beine ausgerissen, um eine Einladung zu bekommen!«

»Du halt auch den Mund, verflucht!«

»Ich denke nicht daran! Wer bist du denn? Der Hitler? Ich, ich habe auch einen internationalen Namen! Und Claudia erst! Was hat die für einen Namen?«

»Herrgott noch mal, warum nehmen die auch so beschissene Damast-Tischtücher?«

»Vorher haben dir die Tischtücher ungeheuer imponiert!«

»Ja, da bist du fast in die Knie gegangen! Äähh, das ist ja eklig, jetzt habe ich das klebrige Zeug auch noch an den Beinen und an der …«

»Du hast das Tischtuch runtergerissen!«

»Sehr richtig! Weil du nämlich blau warst!«

»Was war ich?«

»Blau! Und nicht warst, immer noch bist! Eine Schande!«

»Hört mal, ihr Schlampen, es ist euch doch klar, daß ihr von mir lebt und nicht ich von euch, was?«

»Du hast«, schrie Claudia Contessa della Cattacasa in maßlosem Zorn, »nach allem, was ich für dich getan habe, die Stirn, uns Schlampen zu nennen?«

»Jawohl! Und überhaupt: Jetzt reicht es mir endgültig! Otto!«

»Jakob?«

»Bleib stehen.«

Der Mercedes hielt an der Uferstraße, die Stelle war besonders idyllisch vom Mond beschienen. Über Claudia glitschend, riß Jakob einen Schlag auf. »Raus!«

»Was?«

Jakob glitschte über BAMBI und riß den zweiten Schlag auf. »Du auch! Raus!«

»Sag mal, du bist wohl wahnsinnig geworden!«

»Ich lasse mich von euch Schlampen doch nicht beschimpfen! Aussteigen habe ich gesagt!« Das brüllte Jakob mit so fürchterlicher Stimme, daß die beiden Mädchen schluchzend ins Freie stolperten. Es war fast zwei Uhr früh und kein Mensch zu sehen.

»Du bist ja irre!« schrie BAMBI. »Du ßetzt uns hier aus? Um diese Sseit?«

»Jawohl, um diese Zeit setze ich euch hier aus!«

»Und wie, stellst du dir vor, sollen wir nach Cannes kommen?«

»Das interessiert mich einen Dreck! Lauft!«

»Bis Cannes? Weißt du, wie weit das ist?«

»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch scheißegal! Ihr werdet schon heimkommen!« Jakob schlug die beiden Wagentüren zu und brüllte Otto an: »Fahr los!«

»Mit mir brauchst du nicht zu brüllen, Mensch«, sagte der Chauffeur Otto Radtke und gab Gas. Der Mercedes schoß davon. Weinend blieben die beiden Mädchen zurück. Sie stolperten auf ihren hohen Stöckelschuhen und in ihren besudelten Abendkleidern dem Wagen nach. Otto nahm eine kleine Biegung. Die Mädchen waren verschwunden.

Jakob begann zu fluchen. Er fluchte sich halbtot. Otto ließ ihn. Immer lassen, das war Otto Radtkes Devise. Endlich schwieg Jakob erschöpft. Auf der zum Festland führenden Straße sprach er dann endlich weiter.

»Bleib stehen!«

»Ist dir schlecht?«

»Nein.«

»Warum soll ich dann stehenbleiben? Willst du auf die beiden Gören warten?«

»Ich denke nicht daran!«

»Also warum dann?«

»Weil ich endlich aus diesen verdreckten Klamotten raus will, Mensch! Weil mir das große Kotzen kommt, wenn ich den Erdbeersirup noch lange überall an mir habe! Weil ich mich ausziehen will!«

»Kannst du ja auch gleich sagen.« Otto hielt. Jakob kletterte ins Freie, nahm Geld und Personaldokumente aus seiner Smokingjacke und schleuderte diese dann ins Gebüsch. Die Smokingsfliege folgte als nächstes. Jakob riß den Hemdkragen auf. Das Hemd hatte noch am wenigsten abbekommen.

»Die Hose rinnt nur so«, konstatierte Otto, der ebenfalls ausgestiegen war. »Warte, ich habe einen Monteuranzug im Kofferraum. Nicht ganz sauber, aber …«

»Hol ihn!« Jakob zog bereits die Smokinghose aus und feuerte sie in das stachelige Gebüsch. Der Monteuranzug, den Otto dem Kofferraum entnahm, war blau, ölverschmiert und ein bißchen zu klein für Jakob. Die Hosen zum Beispiel gingen ihm nur bis über die Knöchel. Das machte ihm nicht das geringste. Selig knöpfte er sich zu.

»So, jetzt fühle ich mich schon viel besser. Fahr weiter, Otto.«

»Okay, Kamerad, fahren wir weiter.«

Kurze Zeit später erreichten sie Nizza.

»In die Altstadt.«

»Was?«

»Du sollst in die Altstadt fahren!«

»Was willst du in der Altstadt?«

»Da gibt es so Kneipen, die haben noch offen! In die gehen die Musiker und die Kellner und die Huren aus anderen Lokalen, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig sind und essen noch was und trinken noch was.«

»Sag mal, hast du noch immer nicht genug gegessen und getrunken?«

»Ich will noch was! Fahr schon!«

»Mensch, mit diesem dicken Mercedes in die Altstadt, und dann in so eine Stampe, in deinem Aufzug!«

»Das ist mir alles scheißegal!« behauptete Jakob. »Ich muß mich beruhigen! Ich muß mich abreagieren! Ich muß wieder zu mir selber finden! In diesen Kneipen kriege ich sie, das weiß ich!«

»Kriegst du was?«

»Schmalzbrote!« flüsterte Jakob.

45

»Meine Herren, ich kann mich ganz kurz fassen«, sagte Jakob Formann.

»Also: Doppelt so prächtig, doppelt so teuer und in der halben Bauzeit.«

Da war es elf Uhr am Tag nach der Katastrophe von Saint-Jean-Cap-Ferrat, und Jakob saß mit neun Herren in einem der luftgekühlten Konferenzräume des schönen Hotels MAJESTIC, wie frisch aus dem Ei gepellt, in einem weißen Anzug, mit weißen Schuhen und weißen Socken, ein Bein über das andere geschlagen, lässig zurückgelehnt, die Spitzen der Finger beider Hände aneinandergepreßt.

»Aber Monsieur Formann, das ist doch Wahnsinn …«

»Aber Monsieur Formann, das geht doch nicht …«

Die neun Herren sprachen alle auf einmal. Jakob schnitt ihnen mit einer knappen Handbewegung das Wort ab.

»Ich kriege es, es muß so etwas geben, und es muß gehen, und es ist kein Wahnsinn. Es ist alles glasklar überlegt. Meine Herren, Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus.«

Unter den neun Herren befanden sich die größten Architekten, Grundstücksmakler, Chefs von Baufirmen und Innendekorateure der Côte d’Azur zwischen Marseille und Menton. Was Jakob von ihnen wünschte, das war, daß sie ihm an der schönsten Stelle der Küste ein Ding hinstellten, das doppelt so protzig und ergo doppelt so teuer werden sollte wie Sir Alexanders Traumhaus, und dies in der halben Bauzeit. Nachts, in einer verdreckten Kneipe der Altstadt von Nizza, hatte er, angetan mit einem ölverschmierten Mechanikeranzug, zu seinem Chauffeur Otto Radtke, angetan mit einer Uniform, die der eines Operettengenerals glich, vor einem sprachlosen Publikum, bestehend aus Huren, Kellnern, Taxichauffeuren und Croupiers, einen Schwur getan. Da er den Schwur deutsch tat und beim Schwören Schmalzbrote kaute, war sein Publikum nur noch um so faszinierter – es war völlig sprachlos.

Der Schwur: »Und ich sage dir, Otto, hier baue ich denen jetzt ein Ding hin, da wird ihnen das Lachen über mich vergehen! Die Augen aus dem Kopf werden ihnen fallen, den Lackaffen und ihren angemalten Weibern! Betteln, mit erhobenen Händen betteln werden sie, flehen werden sie, einmal eingeladen zu werden von mir, Otto!«

Otto, ein ruhiger und ausgeglichener Mensch, hatte schweigend genickt, denn er hatte den Mund gleichfalls voller Schmalzbrot. Mein einziger Freund, hatte Jakob erschüttert gedacht …

»Ich kenne da ein Grundstück in Cap d’Antibes …«, begann nun zögernd einer der Makler. »Aber das ist wirklich irrsinnig groß! Und ein Riesenhaus steht drauf …«

»Das können Sie abreißen. Oder umbauen. Hauptsache, es ist doppelt so prächtig.«

»Gewiß, Monsieur. Aber der Preis …« Der Makler verdrehte die Augen und nannte ihn.

»Gekauft«, sagte Jakob. »Sie nehmen sofort Verhandlungen mit den Besitzern auf. Das Ding muß so schnell wie möglich stehen. Sie kriegen Ihre übliche Provision, die anderen Herren Prämien, wenn sie ihre Termine einhalten.«

Das Telefon vor ihm klingelte. Jakob hob den Hörer ab.

»Mister Formann?« fragte eine hochmütige Männerstimme. »Ja. Wer spricht?«

»Ich bin der Butler von Lady Jane. Lady Jane möchte Sie sprechen …« Jakob schluckte schwer. Jetzt kommt’s, dachte er. Es kam. Aber ganz anders, als er gedacht hatte.

»Oh, guten Morgen, Mister Formann«, erklang die liebenswürdige Stimme der Lady Jane.

»Guten Morgen, Lady Jane …«

»Mister Formann, ich bitte tausendmal um Entschuldigung für das, was in der letzten Nacht passiert ist.«

»Sie bitten um Entschuldigung?«

»Gewiß. Ich hatte einfach keine Gelegenheit, mich von Ihnen und Ihren beiden bezaubernden Begleiterinnen zu verabschieden.«

Also, das ist doch eine Perifidie sondergleichen, dachte Jakob. (Perfidie – dieses Wort hatte er in fleißigem Wörtertraining auch bereits gelernt!) Er suchte nach einer passenden Antwort. Natürlich fand er keine. Lady Jane indessen sprach weiter, leicht, heiter, souverän: »Verzeihen Sie also bitte meinen Fauxpas, Mister Formann. Und, was ich noch sagen wollte: Ich kenne ein ganz ausgezeichnetes Sanatorium in der Schweiz, zur Durchführung von Entziehungskuren …«

»Entziehungskuren … Schweiz …«

»Ja, lieber Mister Formann. Verfallen Sie jetzt um Himmels willen nicht in Depressionen über Ihren Zustand! Die Medizin ist ja schon sooo weit fortgeschritten! Vielen Freunden von uns ist in diesem Sanatorium hundertprozentig geholfen worden. Wenn ich Ihnen die Adresse geben darf …«

Sanft legte Jakob den Hörer wieder in die Gabel. Er atmete tief. Er nahm sich mächtig zusammen. Er sprach, an die Herren vor ihm gewandt: »Wie gesagt, wenn Sie Ihre Termine einhalten. Das Geld wird hier bei einem Anwalt auf ein Sonderkonto hinterlegt. Der Anwalt bezahlt, was anfällt. Wo sind da noch Schwierigkeiten, meine Herren? Jakob Formann ist es nicht gewöhnt, sich lange mit einem Problem zu beschäftigen, das so einfach ist wie dieses!«

So einfach wie dieses …

Jakob mußte plötzlich an ein Problem denken, das zwar auch nicht schwieriger war, jedoch delikater als dieser Grund- und Bodenerwerb und der Bau eines Hauses. Das etwas delikatere Problem waren Claudia und BAMBI. Da wird sich natürlich alles wieder einrenken, dachte er, während die Experten miteinander zu streiten begannen. Aber ich muß mir jetzt etwas Mühe geben mit den beiden. War nicht sehr fein, was ich da in der letzten Nacht gemacht habe.

Claudia und BAMBI … Es war schon peinlich, was ich mir habe anhören müssen, heute um fünf Uhr früh. Da sind die beiden nämlich in mein Schlafzimmer geplatzt. Verdreckt. Mit verschmierten Gesichtern, barfuß, mit dreckigen und wundgelaufenen Füßen, die schönen Schuhe in der Hand, die schönen Haare wild im Gesicht …

46

»He … he … he …« Jakob fuhr erschrocken in seinem Bett hoch. Das elektrische Licht brannte. Die beiden Hübschen (jetzt waren sie gar nicht mehr hübsch) standen vor ihm. BAMBI heulte, daß die Reste des Make-up nur so unter dem Dreck zerflossen. Nicht so Claudia. Die Contessa della Cattacasa war es gewesen, die ihn wachgerüttelt hatte. Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt, ihr Kleid oben und unten zerrissen. »Was fällt dir … Bist du verrückt … Was wollt ihr beide hier? Warum weckst du mich, Claudia?«

»Du Hund, du elender«, sagte die Contessa.

»Was hast du gesagt?« Er war noch nicht richtig wach.

»Hund, elender, habe ich gesagt! Das wirst du mir büßen!«

»Und mir auch!« stammelte BAMBI und heulte los.

Danach verstand Jakob eine Weile kein Wort, weil beide Mädchen gleichzeitig sprachen.

»Ruhe!« donnerte er schließlich. »Hinsetzen!« Die Mädchen ließen sich in Sessel fallen, teils vor Schreck, teils vor Erschöpfung. »Hier wird nicht geschrien! Nebenan schlafen andere Gäste! Wieso bin ich ein Hund, und wie seht ihr aus? Was ist passiert?«

Claudia Contessa della Cattacasa sprach jetzt leise, ihre Augen waren zu Schlitzen verengt, die Worte kamen mit einem beständigen Zischen aus ihrem Mund: »Ein Hund bist du, weil du uns aus deinem Wagen geschmissen und gesagt hast, wir sollen sehen, wie wir nach Cannes zurückkommen – nachdem du uns vor allen lächerlich gemacht hast, du Hund, du …«

»Du wiederholst dich. Was ist passiert?« sagte Jakob, und als die Damen wieder beide gleichzeitig zu zetern begannen, fuhr er fort: »Immer der Reihe nach!«

Der Reihe nach war folgendes passiert: Die beiden unglücklichen Mädchen waren – was blieb ihnen übrig? – losgestolpert auf der Halbinsel Saint-Jean-Cap-Ferrat. In ihren hochhackigen Schuhen konnten sie kaum gehen. Darum zogen sie diese aus und liefen in Strumpfhosen. (Aus Jakobs Fabrikation. Er hatte sie überreichlich mit denselben eingedeckt.) Das Blöde ist nur: Strumpfhosen kann man nicht so einfach ausziehen wie normale Strümpfe, nicht wahr? Also stolperten die Unglücklichen in ihren an den Füßen zerfetzten Strumpfhosen weiter und erreichten unter Aufbietung letzter Kräfte die Route Nationale 7 vor Nizza.

Hier blieben sie stehen und machten Auto-Stop. Eine halbe Stunde lang erfolglos. Dann hatten sie Erfolg. Ein Zehntonner, der vermutlich nachts fuhr, weil er bei seiner Größe am Tag nicht schnell genug weiterkam, hielt mit kreischenden Bremsen. Der Mitfahrer sprang auf die Straße. Ja, sie fuhren über Cannes. Bis Saint Tropez. Aber Cannes lag am Wege. Also, meine Damen, es ist uns ein Vergnügen …

Das glaube ich gern, dachte Jakob an dieser Stelle von Claudias Bericht, daß es den beiden Kerlen ein Vergnügen gewesen ist. Ach was, den beiden Mädchen doch auch, wie ich die kenne.

Die Abendkleider der Süßen waren so eng, daß der zweite Fahrer sie in den Wagen hinaufstemmen mußte. Dabei bekam er natürlich zwei süße Popos hintereinander in die Pfoten. Na ja, und dann ging es gleich los. So ein Riesenlaster, der hat eine komfortable Schlafkoje mit Bett hinter den Vordersitzen. Der Beifahrer machte sich zuerst ans Werk.

Der Chauffeur fuhr, eine Gauloise im Mundwinkel, weiter und weiter, die leere Route Nationale 7 entlang, während sein Freund sich hinter ihm betätigte. Lange und ausgiebig. Dann fuhr der Zehntonner an den Straßenrand. Jetzt zog der erste Chauffeur die Hosen aus und kletterte seinerseits in die Kabine. Nun betätigte er sich. Dann betätigten sich beide Herren noch einmal. Für sie hatte das Entfernen der zerfetzten Strumpfhosen kein Problem bedeutet. Es waren Schränke von Chauffeuren. Anständige Kerle! Sie klauten nicht ein einziges Stück Schmuck. Vor der Einfahrt in Cannes hielt der Laster wieder. Die Mädchen, etwas durcheinander, kletterten ins Freie. Diesmal half ihnen niemand. Die Herren ließen sie springen. Kaum waren Claudia und BAMBI auf die Nationale 7 geknallt, da riefen die Herren Fahrer ein fröhliches »Au revoir!«, und der Laster fuhr auch schon weiter – ohne Licht, man konnte sein Nummernschild nicht sehen. BAMBI und Claudia mußten zu Fuß gehen, besser gesagt: wanken, denn jeder Knochen tat ihnen weh, nicht nur die Füße.

»…die ganze Croisette herauf«, sagte Claudia. Ihre Augen konnte man überhaupt nicht mehr sehen, sie bewegte kaum die Lippen. »Und barfuß. Unsere Strumpfhosen liegen im Laster.« BAMBI schluchzte wieder. »Bis hierher, ins Hotel. Der Nachtportier hat uns gesehen. Der mußte ja aufschließen. In meinem ganzen Leben habe ich mich nicht so geschämt …«

»Ich mich auch nicht …« (BAMBI)

»Ob wir überfallen worden sind, hat der Portier gefragt.«

»Und?« Jakob war jetzt sehr nervös. Und es wurde ihm sehr warm.

»Was und? Du Saustück! Natürlich sind wir überfallen worden, haben wir ihm gesagt! Und daß uns die Füße weh tun! Und daß es völlig sinnlos ist, nach den Gangstern zu suchen.«

»Auch … auch … auch … daß ihr vergewaltigt worden seid?«

Claudia lachte heiser.

»Davon natürlich kein Wort! Warum auch? Die beiden Fahrer, die haben was von Vergewaltigungen verstanden! Dafür müßten wir dir eigentlich dankbar sein!«

»Ja, eigentlich dankbar ßein …« (BAMBI)

»Aber unsere Füße! Schau dir die Sauerei mit unseren Füßen an!«

»Meine Füße haben in Rußland noch ganz anders ausgesehen! Habt euch bloß nicht so! Wenn es schon so prima Vergewaltigungen gewesen sind!«

»Das eine hat mit dem andern überhaupt nichts zu tun!« erklärte Claudia. »Deine Füße in Rußland interessieren uns einen Dreck! Unsere interessieren uns! Unsere sind wund!«

»Ich werde den Hausarzt rufen, meine Süßen. Im übrigen tut es mir leid, daß ich mich so benommen habe …«

Claudia fuhr hoch.

»Es tut dir leid, du Scheißkerl, ja? Leid tut es dir? Weißt du, was du mich kannst? Du kannst …«

»Claudia! Leise!«

»Ich habe genug von dir, du Hund«, tobte Claudia leise. »Du glaubst, damit ist alles gut, wie? Weil du uns mitschleppst und einpuppst und mit Schmuck behängst! Ich pfeife auf deinen Schmuck!« Sie zerrte an ihren Ohrclips und warf sie auf Jakobs Bett. »Da hast du den Dreck!« Sie riß sich den Ring vom Finger. »Und da!« Das Bracelet. »Und da!«

BAMBI, ein wenig schwer von Begriff, war aufgesprungen und montierte sich gleichfalls ab. Geschmeide um Geschmeide flog auf Jakobs Linnen.

»So, da hast du alles! Ich will es nicht!«

»Ich auch nicht!« (BAMBI)

»Da hast du es zurück! Gib es deinen Weibern! Mach, was du willst damit! Ich rühre kein Stück von dir mehr an, du Schuft!«

»Ich auch nicht!« (BAMBI)

Plötzlich erstarrte Claudia. Ihr Blick wurde stier.

»Wieso eigentlich nicht?« lallte sie. »Ich bin doch nicht blöd!« Und in rasender Eile sammelte sie ihren Schmuck wieder ein.

»Und ich bin auch nicht blöd!« BAMBI sammelte ebenfalls.

Danach stürzten sie aus Jakobs Schlafgemach. Türen knallten. Zehn Minuten später kam der Hotelarzt. Er untersuchte die beiden jungen Damen, versorgte ihre wunden Füße, gab ihnen Beruhigungsmittel und kehrte in Jakobs Salon zurück.

»Was ist, Doktor?« (Sobald die beiden wieder okay sind, muß ich sie halt noch einmal zu ›Cartier‹ schicken. Da kann sich jede etwas besonders Schönes und Teures aussuchen. Ich hätte sie nicht rausschmeißen dürfen aus meinem Wagen. Ich bin ein Schwein. Na ja, aber ›Cartier‹ wird alles wieder gutmachen. Heile, heile Segen. Mit so zehn bis zwanzig Karat.) »Doktor! Reden Sie doch! Etwas Ernstes?«

»Nein, ernst überhaupt nicht. Ich habe die jungen Damen gründlich untersucht …« Bum! dachte Jakob. »… das war ja ein … sehr schlimmer Marsch … hrm … Monsieur Formann!«

Hat der Kerl etwa ein Auge zugekniffen?

47

Hat der Kerl etwa ein Auge zugekniffen? überlegte Jakob nun, am Vormittag, indessen neun Herren um ihn lauter und lauter diskutierten, wie und wann und zu welchen Bedingungen man das Phantasiehaus da auf Cap d’Antibes, das Jakob Formann wünschte, erstellen konnte.

Jakob hörte schon nicht mehr aufmerksam zu. Nach einer weiteren halben Stunde der atemlos vorgebrachten Vorschläge, Kostenberechnungen, Bedenken und Versprechen sagte er: »Ich überlasse das alles absolut Ihrem Geschmack und Ihrer Initiative, meine Herren. Ich habe, das sehen Sie, die ersten Männer genommen, die ich kriegen konnte. Ich habe vollstes Vertrauen zu Ihnen. Ich bin überzeugt, daß …« Weiter kam er nicht, denn das Telefon vor ihm läutete wieder. Er hob ab und meldete sich.

»Gespräch für Sie, Monsieur Formann. Übersee. Washington ruft.«

Da hörte er schon eine bekannte Stimme: »Jake! Jake! Gott sei Dank!« Er fuhr zusammen. Das war Jill Bennett, die Sekretärin seines Freundes, des Senators Connelly.

»Was ist passiert, Jill?«

Die neun Herren schwiegen respektvoll.

»Du mußt sofort herüberkommen, Jake!« Jills Stimme klang gehetzt, es hörte sich an, als ob sie weinte. »Du hast doch dein Flugzeug in Nizza, wie?«

»Ja. Was ist los?«

»Ich habe mich seit Stunden bemüht, herauszukriegen, wo du steckst. OKAY hat’s gewußt und mir gesagt. Sofort mußt du kommen, es ist keine Minute zu verlieren …«

»Was ist los, Jill?«

»Ich verbinde mit dem Senator, Jake …«

Klick.

Da war Connellys Stimme, ebenfalls gehetzt, ebenfalls außer sich: »Jake! Kommen Sie schnellstens! Schnellstens, hören Sie!«

»Herrgott, ja, ich höre! Will mir vielleicht endlich einer sagen, was passiert ist?«

»Ihr Freund Jesus Washington Meyer.«

»Mein Freund Jesus …« Jakob fühlte glühende Hitze in sich aufsteigen. Schweiß brach ihm aus. Fast entglitt der Hörer seiner Hand. »Jesus? Ist ihm was passiert? Ist … ist er tot?«

»Noch nicht.«

»Was heißt noch nicht?«

»Schwere Rassenunruhen sind ausgebrochen, im Süden, in Birmingham. Die schwersten, die wir jemals hatten …«

»Mein Gott!«

»Wegen der Segregation … Aus Protest dagegen, daß Schwarze in Bussen für Weiße fahren dürfen … daß farbige Studenten die Universität für Weiße besuchen dürfen … Wir haben es so angeordnet, das wissen Sie doch!«

»Ja, ja, ja … Was ist mit Jesus?«

»Unter Polizeischutz haben wir die Studenten auch hin und her transportiert! Dasselbe galt für die Busse, die Straßenbahnen, die Snack-Bars …« Du bist doch ein verfluchter alter Trottel, dachte Jakob und unterbrach rüde: »Was mit Jesus ist, will ich wissen!«

»Er ist doch Ihr Generalbevollmächtigter für die Fertighäuser, nicht wahr? Er sitzt im Gefängnis. Mit ein paar hundert anderen. Doktor Martin Luther King ist auch darunter … Der Ku-Klux-Klan hat angefangen … Überfälle … Bomben … Häuser wurden angezündet … Neger umgebracht …«

»Mein Gott!«

»Daraufhin haben sich die Schwarzen gewehrt. Schlugen die Weißen zusammen … Selbst Luther King konnte sie nicht mehr beruhigen … Sie haben keine Ahnung, was da los ist in Birmingham … Der Präsident hat dreitausend Mann von der Zweiten Infanteriedivision einfliegen lassen …«

»Herrgott, und Jesus?«

»Ihr Freund Jesus hat Tuscaloosa verlassen und ist nach Birmingham gefahren, um mit seinen Freunden zu kämpfen. Er ist verhaftet worden, wie gesagt. Aber jetzt beherrscht der weiße Mob wieder die Stadt … Versucht, das große Gefängnis zu stürmen und die Neger rauszuholen.«

»Ich komme sofort!«

»Aber über Washington! Landen! Zwei Leibwächter steigen ins Flugzeug und fliegen mit Ihnen weiter!«

»Ich brauche keine Leibwächter!«

»Sie müssen welche haben! Befehl des Präsidenten! Sonst bekommen Sie nirgends Landeerlaubnis. Sie müssen die zwei Leibwächter mitnehmen, haben Sie verstanden? Das ist ein Befehl!«

48

»Kill them! Kill them!«

Der Schrei des rasenden Mobs von Birmingham drang bis in die weißgekachelte, nach Lysol stinkende Leichenhalle der Stadt.

»Schlagt sie tot! Schlagt sie tot!«

Jakob stand mit herabhängenden Armen neben einem Angestellten der Morgue. Die Narbe an seiner Schläfe zuckte ununterbrochen. Draußen krachten Bomben, heulten Sirenen vorbeirasender Polizeiwagen, ertönte das irre Gekreische einer entfesselten Menge, Pfiffe, Schreie, Flüche …

»Kill them! Kill them!«

Der Angestellte, ein kleiner Mann in weißem Mantel, mit dicker Brille, schwitzte vor Angst, obwohl es kalt war in der Leichenhalle. Unter seinen Augen lagen schwarze Ringe. Er hatte auf Jakobs Geheiß aus einer großen Wand eine Bahre herausgerollt. Die Bahre war zuvor hinter einer weißgestrichenen, versperrten Eisentür verborgen gewesen. Erst nachdem der Polizeichef von Birmingham auf Jakobs zornige Drohungen am Telefon dem kleinen Mann befohlen hatte, Mister Formann in die Leichenhalle zu führen, waren sie beide in den Keller hinuntergestiegen, in welchem Neonröhren ein scheußlich kaltes Licht verbreiteten. Dort hatte der kleine Mann, vor sich hinmurmelnd (Gebete? Flüche?) eine der Eisentüren in der großen Wand aufgesperrt und die Bahre herausgerollt.

»Er … er … er sieht aber furchtbar aus, Sir … Sie werden den Anblick nicht ertragen … Er ist doch … Er ist doch buchstäblich erschlagen worden!« Jakob würgte. Jakob sagte, den Blick auf das weiße Tuch gerichtet, das die Last der Bahre verdeckte: »Nehmen Sie das Tuch zurück.«

»Wirklich, Sir, ich bitte Sie …«

»Sie sollen das Tuch zurückschlagen!«

Der kleine Mann hatte murmelnd und schwitzend das Tuch angehoben. So stand er nun da, zitternd und bebend, und wartete offensichtlich darauf, daß dieser fremde Mann ihm sagte, er solle das Tuch endlich wieder senken und die Bahre zurückrollen. Doch Jakob Formann sagte das nicht. Jakob Formann stand reglos da und sah auf den blutigen Haufen Fleisch, der einmal ein Mensch, der einmal Jesus Washington Meyer, der einmal sein Freund gewesen war.

»Totschlagen! Totschlagen!« kreischten draußen Stimmen. Motoren heulten, Stiefel trampelten.

Jakob fühlte, wie ihm Tränen aus den Augen schossen, über die Wangen liefen, auf den Anzug tropften. Er fühlte sich zum Sterben elend. Er hatte Angst, umzukippen. Er hielt sich an dem Eisenrahmen der Bahre fest.

Jesus …

Mein Kamerad.

Mein Freund.

Mein alter, guter Freund.

Ich kann dich nicht mehr erkennen. Ich kann dein Gesicht nicht mehr sehen, denn du hast kein Gesicht mehr, keine Augen, keinen Mund, keine Nase. Sie haben dir den Schädel eingeschlagen, die weißen Hunde …

»Schlagt sie tot! Schlagt sie tot!«

Das Gebrüll hörte nicht auf. Eine besonders heftige Explosion erschütterte die Morgue. Der Boden schwankte leicht.

»Wie ist das passiert?« fragte Jakob. Jedes Wort bereitete ihm Qual. »Sie haben die Schwarzen aus dem Gefängnis geholt … nicht alle … nur etwa fünfzig … Dann kämpften sich die Soldaten durch und schlugen die Lumpen nieder oder nahmen sie fest …« Der kleine Mann sprach stockend und langsam. »Aber für viele von denen, die sie vorher herausgeholt hatten, war es zu spät … Sie haben sie vor dem Gefängnis niedergeschlagen … Mit Fahrradketten. Mit Eisenstangen. Mit Hämmern … Vor dem Gefängnis und anderswo … Viele Schwarze haben zu flüchten versucht … Die Weißen haben sie durch die Stadt gejagt … gesteinigt … erschlagen … erschossen …« Der kleine Mann konnte nicht mehr. Sein Blick hob sich hilflos. Er sah Jakob an. Jakob sah ihn an. Der kleine Mann bewegte den Kopf. Sie sahen beide die große weiße Wand mit ihren vielen, vielen Eisentüren. »Es ist eine solche Schande«, sagte der kleine Mann.

Jakob schwieg.

Jesus, dachte er, mein Freund Jesus. Wie lange haben wir einander gekannt. Wien. Die MP-Station. Hörsching. Der Fliegerhorst. Theresienkron. Wie oft warst du bei uns, bei mir und dem Hasen. Wie oft kamst du mit Kartons, mit Kisten, mit Lastwagen voller Geschenke. Und hast mit uns gelacht und gesungen und gegessen und getrunken. Wie alt warst du, Jesus? So alt wie ich. Sie haben dir eine Uniform angezogen und dich nach Europa geschickt. Du warst gut genug, am D-Day die steile Normandieküste hinaufzuklettern auf Seilleitern, rechts und links von dir stürzten Kameraden in die Tiefe, in den Tod, die deutsche Artillerie deckte euch ein. Du hast es überlebt. Du hast dich durch halb Europa gekämpft. Du hast es überlebt. So vieles hast du überlebt. Jetzt bist du tot. Erschlagen von Weißen.

Und deine Frau Fanny aus Linz, Austria, Jesus. Ich war in Tuscaloosa. Sie haben Feuer an viele Häuser gelegt. Auch an deines. Deine Frau ist verbrannt, man hat nur noch Knochen und etwas verbranntes Fleisch gefunden. Ich war draußen in Tuscaloosa mit den zwei Leibwächtern, die in Washington in mein Flugzeug gestiegen sind. Ich habe das Grauen in Tuscaloosa gesehen. Deine Frau war eine Weiße. Weiße haben sie ermordet. Deine Frau ist aus Linz mit dir nach Tuscaloosa gekommen, um von Weißen getötet zu werden.

Jakob schwankte.

»Was ist, Sir …«

»Nichts. Lassen Sie das Tuch fallen. Rollen Sie die Bahre zurück.«

Der kleine Mann befolgte die Worte so schnell er konnte. Dumpf fiel die Eisentür zu. Kreischend drehte sich ein Schlüssel. Als der kleine Mann sich umwandte, erschrak er. Der Fremde war nicht mehr da.

»Mister! He, Mister!«

Keine Antwort.

49

»Niggerlover! Niggerlover! Niggerlover!«

Im Eingang des Leichenschauhauses stürzten sie sich dann auf Jakob, zehn, zwölf, fünfzehn. Sie hatten ihn kommen sehen mit den beiden Leibwächtern. Sie hatten gewartet.

»Kill him! Kill him! Kill him!«

Sie fielen über ihn her. Es war ein Kräfteverhältnis, das ihnen Vertrauen verlieh. Jakob bekam eine Fahrradkette quer über das Gesicht. Dem Schlag mit einer Eisenstange auf seinen Schädel entging er durch eine blitzschnelle Bewegung. Er ließ sich über den dreckigen Boden rollen. Er erwischte eine andere Eisenstange. Er sprang hoch, den Rücken zur Wand. Und nun verlor er jede Beherrschung. Sein Haß, seine Trauer, sein Zorn brachen durch. Jakob schlug mit der Eisenstange zu – auf Schädel, Schultern, Arme. Wie ein Rasender kämpfte er.

Die Stange wirbelte durch die Luft. Blut rann über Jakobs Stirn. Blut spritzte von anderen Stirnen. Die ersten vom ›White trash‹ (›Weißen Abschaum‹) lagen bereits zu seinen Füßen. Aber er schlug weiter und weiter und weiter, wie eine Maschine, er wollte nun selber töten, töten, töten!

Er war von Sinnen. Sie versuchten zu flüchten. Er rannte ihnen nach. Er schlug sie im Laufen zusammen.

Eine Sirene erklang ganz laut.

Ein Laster mit schwerbewaffneten Soldaten hielt neben ihm. Der Mob raste davon. Soldaten sprangen vom Verdeck. Fünf Mann waren nötig, um Jakob festzuhalten, um ihm die Eisenstange zu entwinden, um ihn auf das Verdeck zu werfen. Der Schmerz, den er dabei empfand, brachte ihn wieder ein wenig zu sich. Er sah sich um. Rauch. Flammen. Die ganze Stadt schien zu brennen. Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern rasten vorbei.

»Was wollt ihr von mir?« brüllte Jakob.

»Wir bringen Sie ins Hotel! Da sind Sie sicher! Da ist ein Arzt! Der muß Sie behandeln! In das Hotel kommt keiner rein …«

»Ich will nicht ins Hotel!« schrie Jakob. »Ich will … Ich will … Laßt mich los!« Sie ließen ihn nicht los. Der Motor des Lasters heulte auf, er schoß vorwärts über die verwüstete Straße, vorbei an brennenden Häusern und geplünderten Läden.

»Wo sind die beiden Männer, die mit mir ins Leichenschauhaus fuhren?«

»Ihre Leibwächter?«

»Ja. Wo sind die?«

»Die haben wir schon vor einer Viertelstunde ins Krankenhaus gebracht.«

»Krankenhaus?«

»Sie wurden zusammengeschlagen … schwer verletzt … alle beide … Der ›White trash‹ hat sie zuerst überfallen …«

Meine Leibwächter im Krankenhaus. Ich habe doch gleich gesagt, ich brauche keine.

O Jesus, Jesus, Jesus.

Die Sirene des Armeelasters heulte.

50

»Ich weiß, wie erregt ihr seid und wie müde wir sind und wie sehr unsere Empörung brennt. Aber wir müssen den Negern von Birmingham verständlich machen, daß Gewalt nicht unser Weg ist …« Die Stimme klang aus einem Radio in Jakobs Hotelzimmer. Er lag mit einem Kopfverband auf dem Bett und starrte die Decke an. Es war dunkel geworden. Von draußen leuchtete noch das düstere Rot einzelner Brände, doch auf der Straße war es still. Armee, Nationalgarde und Polizei hatten den Terror der Weißen und den dadurch ausgelösten Aufstand der Neger gebrochen. Ruhe herrschte in Birmingham. Friedhofsruhe.

Der herrische Ton des Sprechers – es war Dr. Martin Luther King, Jakob wußte es – wich jetzt dem feierlichen Singsang des Südstaaten-Prediger-Englisch: »Ihr werdet sehen die rassisch integrierten Lokale und Imbißstuben. Ihr werdet sehen die integrierten Warteräume der Geschäfte. Ihr werdet Neger sehen, die Positionen bekleiden wie nie zuvor. Ihr werdet sehen, daß der Neger in dieser Gemeinschaft als Mensch integriert ist. In fünf Jahren wird Birmingham auf dem Gebiet der Rassenpolitik eine der schönsten Städte des Südens sein!« psalmodierte Dr. Martin Luther Kings Stimme, die Stimme dieses Negerführers und Theologen, der in fünf Jahren den Friedensnobelpreis erhalten und in acht Jahren ermordet werden sollte – von Weißen, am 4. April 1968. Dieser Mann, der für einen Sieg durch Gewaltlosigkeit kämpfte wie Gandhi, brachte die Masse der Schwarzen wieder zur Ruhe. Wie in Trance, gebannt durch die Weissagungen ihres Apostels, lauschten sie nun einer anderen Stimme – der von Ralph Abernathy, einem Mitarbeiter Kings, der die Neger von Birmingham zu Gehorsam gegenüber ihrem Apostel verpflichtete.

Aus dem Radio hörte Jakob, auf dem Bett liegend, die Decke anstarrend, Abernathys Stimme: »Nicht jeder kann Führer sein!«

Ein Chor von vielen tausend Stimmen antwortete: »Nein! Nein!«

»Doktor Martin Luther King ist unser Führer, und was fordert er von uns?«

Wieder die vielen tausend Stimmen im Chor: »Übe keine Gewaltsamkeit!«

Jemand klopfte laut gegen Jakobs Zimmertür.

»Übe keine Gewaltsamkeit!«

Das Klopfen wurde hektisch. Jemand trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür.

»Übe keine Gewaltsamkeit!«

Der Singsang aus dem Radio war so laut, daß Jakob nicht verstand, was der Mann auf dem Gang draußen schrie. Nun trat er mit den Schuhen gegen die Tür. Das war der Moment, in welchem Jakob jede Besinnung, jede Beherrschung verlor. Rasend vor Empörung sprang er auf, torkelte durch das dunkle Zimmer. Genug, genug, genug, dröhnte das Blut in seinem Schädel. Das ist zuviel, zuviel, zuviel! Jakob erreichte die Tür. Der Mann draußen brüllte wie ein Verrückter. Jakob verstand kein Wort. Er sperrte die Tür auf. Er riß sie zurück. Im Gang brannte elektrisches Licht. Ein Mann stand da, hob eine Hand …

… und Jakob schlug ihm die Faust mit solcher Gewalt ins Gesicht, daß der Mann lautlos nach hinten stürzte und sich überschlug. Jakob fiel über ihn. Der Mann lag reglos auf dem Bauch. Das Schwein, das Schwein, das gottverfluchte Schwein, hämmerte es in Jakobs Schädel. Er keuchte. Er ließ sich zur Seite rollen. Er erhob sich halb. Laß mich dein Schweinegesicht sehen, du Schwein!

Er drehte den Bewußtlosen auf den Rücken.

Er sah in das Gesicht seines Freundes George Misaras.

1957–1965 – Die Welt wandelt sich schnell – aber schöner wird sie nicht.

Einberufen vom großen Papst Johannes XXIII. († 3. Juni 1963), tagt von 1962 bis 1965 das Zweite Vatikanische Konzil. Die Kirche stellt sich der Zeit. Aber die Enzyklika Pauls VI. »Humanae vitae« von 1968, vorwiegend gegen die Geburtenkontrolle und die (in der BR seit 1962 gebrauchte Antibaby-)»Pille«, zeigt, daß das nicht so einfach ist. -1957 wird die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (AEG) gegründet. Das Saarland kommt zur BR, in der es weniger als 100 000 Arbeitslose gibt und die Frauen den Männern gleichberechtigt werden. In Berlin wird Willy Brandt Regierender Bürgermeister, und Mao läßt »tausend Blumen blühen«, während in östlichen und westlichen Tiefbunkern Interkontinentalraketen mit Mehrfach-Atom-Sprengkörpern zum »Overkilling« paratstehen. Die Menschheit setzt ihre Hoffnungen auf den »Heißen Draht« zwischen Washington und Moskau (1967). 1958 wird Heinrich Lübke Bundespräsident, und die SPD verabschiedet das »Godesberger Programm«. 1959 übernimmt Fidel Castro in Kuba die Macht; ein Jahr später wird John F. Kennedy Präsident der USA und das Idol des Westens (am 22. November 1963 ermordet). 1961 wird Eichmann in Jerusalem gehenkt. Breschnew wird Staatspräsident der Sowjetunion (bis 1964, dann löst er den entmachteten Chruschtschow ab). Alljährlich kommen 200 000 Flüchtlinge aus der DDR in den Westen. Allein im Juli 1961 sind es 30 000. Ab 13. August 1961 entstehen die Berliner Mauer und der Todeszaun.

In der BR gibt es jetzt das Farbfernsehen, aus Stalingrad wird Wolgograd, und immer mehr ehemalige Kolonien in Afrika werden selbständig.

General de Gaulle (französ. Staatspräsident 1959 bis 1969, 1970 †) fordert ein »europäisches Europa« und baut eine Atom-»Force de frappe« auf. 1962 zitterte die Welt: Sowjet-Mittelstreckenraketen auf Kuba! Kennedy und Chruschtschow bereinigen die Krise am 27. 10. In der BR gibt es die Notstandsgesetzgebung. 1963 wird Wirtschaftswunder-Erhard Bundeskanzler, was seinem Vorgänger Adenauer gar nicht sehr recht ist. In den USA ist (und bleibt durch Wahl 1965 bis 1969) Lyndon B. Johnson Präsident. 1964 wird Willy Brandt 1. Vorsitzender der SPD, Jasir Arafat Führer der anti-israelischen terroristischen Al-Fatah-Palästinenser-Organisation, später der PLO. China hat die Atombombe und (1965) die Kulturrevolution. Die BR kauft politische DDR-Häftlinge frei (so tut sie es bis heute), und in den USA toben Rassenunruhen. Der Krieg zwischen Nord- und Süd-Vietnam eskaliert, die US-Luftwaffe bombardiert seit 1965 (bis 30. April 1975) Nord-Vietnam und entlaubt die Wälder dort. In der BR fallen ständig Starfighter der Luftwaffe vom Himmel. In der DDR begeht Erich Apel, stellv. Ministerpräsident und Vorsitzender der Plankommission, Selbstmord. Bei der Bundestagswahl 1965 erhält die CDU/CSU 47,6 Prozent der Stimmen, die SPD36,2, die FDP 9,5 und die NPD 2,0.

Mit Rachel Carsons »Stummer Frühling« (dt. 1963) beginnt die Bewegung für den Umweltschutz.

»Gesellschaft im Überfluß« heißt das aufsehenerregende Buch des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers John Kenneth Galbraith (dt. 1959). 1961 haben in der BR 2532 Aktiengesellschaften ein Grundkapital von 35,5 Milliarden DM. Die BR hat Vollbeschäftigung (1960: 270 000 Gastarbeiter. 1965: 1,2 Millionen).

Von 1950 bis 1962 ist das Bruttosozialprodukt um das Dreieinhalbfache gestiegen, man ist 1961 bei der 45-Stunden-Woche angekommen und steuert auf die 40-Stunden-Woche zu. Damals beträgt das Pro-Kopf-Jahreseinkommen in den USA 11 354 DM, in der Schweiz 6775, in der BR 5746, in der UdSSR 2967, in Indien 272. Der Sektverbrauch in der BR ist gegenüber 1950 auf das Elffache gestiegen, die Heizölproduktion hat sich gegenüber 1955 versiebenfacht.

Nach der Freßwelle (von 1948 bis 1964 sinkt der Kartoffelkonsum um zwei Drittel, der von Brot um 12 Prozent), der Bauwelle (1957 Internationale Bauausstellung in Berlin: die Hochhäuser des »Hansaviertels«) und der Textilwelle folgt die Reisewelle. Groß- und Größtmärkte mit Selbstbedienung (aus Konsumreiz wird »Konsumzwang«!) verdrängen die guten alten »Tante-Emma-Läden«. Auf 1000 Einwohner gibt es 1961 in der BR 112 Pkw, in USA 344, in der DDR 9. Schon träumt man von der »autogerechten Stadt«. – 1961 erhält die BR das erste Kernkraftwerk (Kahl, 15 000 kW Leistung).

Futurologie ist »in«: Der dicke Amerikaner Herman Kahn prophezeit teils Fürchterliches, teils Tröstliches. Man erwartet für 1978 perfekte Fremdsprachenübersetzungen aus dem Computer, für 1989 künstliches Leben und für 2000 eine Welt-Einheitssprache. (Robert Jungk hat bereits 1952 festgestellt: »Die Zukunft hat schon begonnen«). Bei den Biologen wird es ernst; 1963 diskutieren sie molekularbiologische Eingriffe in die menschliche Erbsubstanz und Manipulation von Embryonen im Sinne einer an die Nazi-Theorien und -Praktiken erinnernden »Eugenik«.

Begonnen hat die Zukunft wirklich bei der Weltraumfahrt: Am 4. Oktober 1957 piept der sowjetische »Sputnik I«. Die Schockwirkung in den USA hat die Forderung zur Folge: Amerika muß eine Nation von Mathematikern, Wissenschaftlern und Technikern werden, was zur Einführung der »New Math(ematics)« und mit ihr der Mengenlehre (bis in den letzten deutschen Kindergarten) führt. Am 1. Februar 1958 haben die USA ihren »Explorer I« am Himmel, am 3. Januar 1959 umkreist der erste Satellit (UdSSR: »Luna I«) die Erde, am 3. März 1959 folgt »Pioneer IV«, USA. Den Mond trifft am 12. September 1959 »Luna II« (UdSSR). Erster bemannter Raumflug (Gagarin, UdSSR) 12. April 1961. 16. bis 21. Juli 1969 erste Mondlandung (USA, Armstrong, Aldrin, Collins). Bis 1975 gibt es rund 5000 Forschungs-, Wetter-, Nachrichten-, Spionage- und militärische Satelliten – z.T. mit Kernreaktoren und Laserstrahl-Batterien.

Technischer Fortschritt muß nicht immer ungut sein: Seit 1957 setzt sich in der BR die Tiefkühltechnik für den Haushalt durch.

Seit 1957 gibt es das »unschädliche« Schlafmittel Contergan. Ein Jahrzehnt später beginnt ein Riesenprozeß: Contergan verursacht in den ersten Schwangerschaftsmonaten schwerste Wachstumsstörungen bei Ungeborenen, und bei Erwachsenen kommt es zu Nervenschäden. – Erster Triumph der Unmenschlichkeit einer hochtechnisierten Medizin: Christiaan Barnard transplantiert am 3. Dezember 1967 ein menschliches Herz.

Über die Jugend schreibt Helmut Schelsky 1957 sein Buch »Die skeptische Generation«. Skepsis allein prägt das Bild einer Jugend nicht, die weder die Nazivergangenheit ihrer Väter noch die Hektik des Wiederaufbaus begreifen kann und will (»Trau keinem über dreißig!«).

Protesthaltung und Umweltbedingungen lassen aus »Halbstarken« und »Rabatzbanden« erst »Gammler« (1962) werden, dann »Provos« und »Rocker« (1965). Nur vorübergehend beherrschen die Hippies als »Blumenkinder« der »Flower Power« die Szene der »Wohnkommunen« und »Happenings«. Seit Elvis »the pelvis« (»das Becken«) Presley (1954) und den Beatles (1964) werden Rock- und Beat-Festivals zu Kollektiv-Ekstasen oder Kollektiv-Aggressionen mit Totalzertrümmerung des Konzertsaals. Äußerst bedenklich ist die unaufhaltsam steigende Drogensucht (Haschisch, Meskalin, LSD und Heroin). Prophet der »Bewußtseinserweiterung« durch »psychedelische« Drogen ist der 1922 geborene Harvard-Psychologe Timothy Leary (1970 in USA zweimal zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, Flucht nach Algerien).

Die Jugend steht im Vordergrund aller Reformprogramme. »Alle Macht den Kindern!«, fort mit »Pression« und »Repression«! Mit Hilfe »antiautoritärer Erziehung« (nach A. S. Neill – Summerhill 1921! – und Wilhelm Reichs orgon-trächtigem »Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse« von 1934) sollen aus Kindergärten »Kinderläden« werden. Der »Bildungsnotstand« wird ausgerufen. Die Reformprogramme für Schulen und Hochschulen aller Kategorien überschlagen sich geradezu.

Studentenproteste gegen veraltete Strukturen an den Universitäten (»Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren!«) werden zum Anstoß für die Formation einer »Neuen Linken« als Außerparlamentarischer Opposition (APO). Die »Roten Zellen« veranstalten, immer amerikanischen Mustern folgend (insbesondere University of California in Berkeley, 1964), »gewaltlose« »Sit-in’s« und »Go-in’s«. Bei den »Diskussionen« der »Teach-in’s« wird der Gegner bereits durch Drohungen »verunsichert« und niedergeschrien. Von Toleranz ist entsprechend Herbert Marcuses »Kritik der reinen Toleranz« und dem Leninschen Prinzip der »Parteilichkeit« keine Rede mehr. Bald heißt die Parole beim »Langen Marsch durch die Institutionen«: »Subversive Aktion«, eine Zeitschrift nennt sich »Anschläge«, und es ist soweit: Es gibt Gewalt auch »gegen Sachen«: In Frankfurt brennt das erste Kaufhaus. Bei Demonstrationen fliegen Molotow-Cocktails. Und zur gleichen Zeit kommt es nun zur Gewalt auch gegen Personen: Mißliebige Professoren werden verprügelt, im Ganoven-Jargon als »Bullen« diskriminierte Polizisten niedergeschlagen. Bei der Befreiung des Kaufhausbrandstifters Andreas Baader kommt es am 14. März 1970 zum ersten Mordanschlag. (Im gleichen Jahr 1970 erhalten die Achtzehnjährigen – mit den Stimmen aller Parteien – das aktive und passive Wahlrecht, 1975 die Volljährigkeit.)

Der durch die »Pille« geförderten Enttabuisierung des Sexus (deutsches Modell: Oswalt Kolle »Deine Frau – das unbekannte Wesen«, 1965 in »Quick«, dann als Buch und Film) folgen die ersten Wellen der von Schweden und Dänemark ausgehenden Pornoflut: Sex-Shops, Pornofilme und -leihfilme, Gruppensex, für feinere Leute »Schwarze Messen« (überhaupt wird Satanismus die große Mode – Ira Levin: »Rosemary’s Baby«. 1966), für Literaten feiert der Marquis de Sade, der größte Porno-Langweiler aller Zeiten, fröhliche Urständ (dt. 1962), auf der Bühne durch Peter Weiss’ »Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade« (1964).

Um 1960 verstärkt sich das Interesse für Parapsychologie (»Okkult-Welle«), in die man auch die Deutungsversuche für die seit den fünfziger Jahren immer wieder angeblich beobachteten »Fliegenden Untertassen = UFOs« einbezieht.

Die »Subkultur« der Jugend findet die ihr entsprechende Kunst: Mit Andy Warhol (1962) beginnt die »Pop-Art«.

Auf der Bühne sieht man Jean Genets »Balkon« (1957) und J. M. Simmels »Schulfreund« (1959), Max Frischs »Andorra« (1961) und das Musical »My Fair Lady« (1961). Rolf Hochhuths »Stellvertreter« (1963) und Peter Hacks’ »Polly« (1964).

Von Büchern ist zu nennen: 1957 Max Frisch: »Homo faber«; Hugo Hartung: »Wir Wunderkinder«; Arno Schmidt: »Die Gelehrtenrepublik«; (noch nicht im Faksimile des Typoskripts). – 1958: Truman Capote: »Frühstück bei Tiffany«; Leon Uris: »Exodus«; Boris Pasternak: »Dr. Schiwago«. – 1959: Pierre Theilhard de Chardin: »Der Mensch im Kosmos«; Heinrich Böll: »Billard um halb zehn«; Günter Grass: »Die Blechtrommel«. – 1960: Martin Walser: »Halbzeit«; Hans Habe: »Ilona«; Anne Golon: »Angelique«. – 1961 (C. G. Jung u. Ernest Hemingway †): Helmut Qualtinger: »Der Herr Karl«; das »Deutsche Wörterbuch« der Gebr. Grimm wird beendet; die Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter«. – 1962 (Hermann Hesse †): Joseph Breitbach: »Bericht über Bruno«; Uwe Johnson: »Das dritte Buch über Achim«; Jerome D. Salinger: »Der Fänger im Roggen«. – 1963: Aleksander Solschenizyn: »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«; Mary McCarthy: »Die Clique«; Peter Huchel: »Chausseen, Chausseen«; Katherine Anne Porter: »Das Narrenschiff«; Max von der Grün: »Irrlicht und Feuer«. – 1964: Herbert Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«; Thomas Bernhard: »Amras«. – 1965: Walter Robert Fuchs: »Knaurs Buch der modernen Physik« (neuer Typ des farbig illustrierten Sachbuchs); Wolf Biermann: »Die Drahtharfe«.

Die großen Filme: »In 80 Tagen um die Welt« (USA, Mike Todd); »Die Brücke am Kwai« (USA, Alec Guiness); »Die Zwölf Geschworenen« (USA). – 1958: »Das Mädchen Rosemarie« (nach dem Mordfall Nitribitt; Titel anfangs: »Venus vulgivaga [mot.]«); »Wenn die Kraniche ziehen« (UdSSR). – 1959: »Sonntags nie« (Frankr., Melina Mercouri); »Manche mögen’s heiß« (USA, Billy Wilder, Marilyn Monroe). – 1960: »Außer Atem« (Frankr., Jean-Luc Godard, »Neue Welle«); »Wir Kellerkinder« (BR, Wolfg. Neuss); »Psycho« (Engl., A. Hitchcock); »Frühstück bei Tiffany« (USA, Audrey Hepburn). – 1961: »Das Wunder des Malachias« (Schweiz, B. Wicki); »West Side Story« (USA); »Telefon Butterfield 8« (USA, Elizabeth Taylor). – 1962: »Die Eingeschlossenen« (Frankr.); »Das schwarz-weiß-rote Himmelbett« (BR); »Der Prozeß« (USA, Orson Welles). – 1963: »Das Schweigen« (Schweden. Ingmar Bergman); »Die Vögel« (Engl., A. Hitchcock). – 1964: »Alexis Sorbas« (Griechenl.); »Mary Poppins« (USA). -1965: »Der junge Törless« (BR); »Es« (BR); »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« (USA).

Nicht wenige Schlager sind bis heute beliebt geblieben: »True love« (1957); der »River-Kwai-Marsch« (1958); »Am Tag, als der Regen kam« (1959); »Wir wollen niemals auseinandergehn« (1960); »Pigalle« (1961); »Junge, komm bald wieder«; »Mit siebzehn hat man noch Träume« (1964) und »Yesterday« (Die Beatles, 1965).

In diesem Sinne geht’s dann weiter (mit manchen Dingen freilich abwärts).

1966: »Deutschmark, Deutschmark über alles« (The Daily Telegraph)

Seit 1959 ist Heinrich Lübke (CDU) Bundespräsident als Nachfolger von Theodor Heuss († 12. 12. 1963).

5. Januar: Altbundeskanzler Konrad Adenauer 90 Jahre alt († 19. 4. 1967).

30. November: Ludwig Erhard tritt als Bundeskanzler der CDU/CSU-FDP-Regierung zurück.

1. Dezember: Bundeskanzler der neuen CDU/CSU-SPD-Regierung: Kurt Georg Kiesinger; Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt (Entspannungspolitik). Wirtschaftsminister Karl Schiller (Antizyklische Finanzpolitik zur Konjunkturbelebung).

Arbeitslose in der BR: 160 000 (Jahresdurchschnitt).

Weltweite Demonstrationen gegen Eskalation des Vietnamkrieges durch die USA; dort außerdem wieder schwere Rassenunruhen (1963: Martin Luther King ermordet).

Die »Kulturrevolution« in China wird in der Sowjetunion als »Entehrung des Marxismus-Leninismus« gebrandmarkt.

DDR: Erstes Atomkraftwerk mit 70 000 kW Leistung.

Atomwissenschaftlicher Kongreß in China: »Zur Theorie der Elementarteilchen aufgrund der Erleuchtung durch den Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung«.

China hat die Atombombe seit 16. 10. 1964.

In Spanien stürzt ein US-Kampfflugzeug mit Atombomben ab, die gottlob nicht zünden.

Infolge »Bildungsnotstands« wird seit 1961 (Bochum) eine Universität nach der anderen gegründet. In diesem Jahr ist es Düsseldorf. – Es bleibt bei den Studentenkrawallen – (»Schweigende Mehrheit«: 60 bis 85 Prozent). 1968 führen Studentendemonstrationen in Paris zur »Mai-Revolte« mit Generalstreik.

Mary Quant kreiert im »Swinging London« den Minirock.

Bühne: Peter Handke: »Publikumsbeschimpfung«.

Bücher: Günter Eich: »Anlässe und Steingärten«; Lose-Blatt-Lyrik im Verlag Luchterhand; Gerhard Zwerenz: »Casanova oder der kleine Herr in Krieg und Frieden«; Jürgen Thorwald: »Die Stunde der Detektive«; Werner Keller: »Und wurden zerstreut unter alle Völker«; James A. Michener: »Die Quelle«.

Filme: »Grieche sucht Griechin« (BR, Heinz Rühmann); »Abschied von gestern« (BR, Alexander Kluge); »Blow up« (Engl., Michelangelo Antonioni); »Fahrenheit 451« (Engl., François Truffaut); »Africa addio« (Ital.); »Wenn Katelbach kommt« (Engl., Roman Polanski).

Schlager: »Stranger in the Night« (Frank Sinatra); »Natalie« (Gilbert Bécaud).

1976: Dreißig Jahre nach den Eiern von Hörsching oder: »Wohin treibt die Bundesrepublik?« (der Philosoph Karl Jaspers 1966)

1969 wird nach Heinrich Lübke († 1972) Gustav Heinemann (bis 1952 CDU, dann Gesamtdeutsche Volkspartei, seit 1957 SPD) Bundespräsident (bis 1974, † 1976). Er erfindet das Wort vom »mündigen Bürger«. Auf Heinemann folgt 1974 Walter Scheel (FDP).

Willy Brandt ist seit 1969 Bundeskanzler; 1971 erhält er den Friedens-Nobelpreis.

Bei der Bundestagswahl von 1972 bekommt die CDU/CSU 225 Sitze, die SPD 230, die FDP 41: »Sozialliberale Koalition« mit sozial-, bildungs-, rechts- und innenpolitischem Reform- und außenpolitischem Entspannungsprogramm. Im September 1973 werden BR und DDR als 133. und 134. Staat in die UN aufgenommen. Brandt tritt am 6. Mai 1974 wegen der Spionageaffäre Guillaume zurück. 1976 wird er Präsident der Sozialistischen Internationale.

Sein Nachfolger als Bundeskanzler ist Helmut Schmidt (SPD, 1969–72 Bundesverteidigungsminister, 1972 Bundeswirtschafts- und Finanzminister, 1972–74 Bundesfinanzminister). Sein Vizekanzler und Außenminister ist Hans-Dietrich Genscher (FDP). Bei der Bundestagswahl vom 3. Oktober 1976 (Wahlbeteiligung 90,7 %) wird die CDU/CSU mit 243 Sitzen stärkste Fraktion, die SPD erhält 214, die FDP 39 Sitze. Fortsetzung der »Sozialliberalen Koalition«.

In der SPD zunehmend Radikalisierung auf dem linken Flügel, insbesondere bei den Jungsozialisten (»Jusos«), ebenso bei der FDP (Jungdemokraten, »Judos«). Bei der CDU/CSU kriselt es im Verhältnis der Partner und der Vorsitzenden Helmuth Kohl (seit 1973)/Franz Josef Strauß, doch einigt man sich immer wieder bis zum nächsten »Kreuth«.

Politische Gewaltanwendung ist von der gegen Sachen zu der gegen Personen eskaliert: Auf Brandstiftung folgen Morde, Geiselnahmen und Flugzeugentführungen zu politischer Erpressung. Dazu 1972 der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer: »1968 haben Gudrun Ensslin und ihre Freunde in ihrer Verzweiflung über die moralische Dickfelligkeit der bundesrepublikanischen Bevölkerung und ihrer offiziellen Repräsentanten mit einem Kaufhausbrand als sinnlich anschauliches Zeichen die Menschen aufrütteln wollen.« Der Prozeß gegen den harten Kern der »Roten Armee Fraktion« in Stammheim wurde zur Farce und endet 1977 mit Selbstmorden. Der Terror wird international. Massive Gegenschläge führen Israel 1976 in Entebbe (Uganda) und die BR 1978 in Mogadischu (Somalia).

Mit Terror greifen Polit-Rocker auch in die Auseinandersetzungen für und gegen die Kernenergie ein. (Der Bau des Kernkraftwerks Brockdorf wird daraufhin auf Gerichtsbeschluß eingestellt.)

In den durch die Watergate-Affäre (1972–74, Sturz Nixons) erschütterten USA, die am 30. April 1975 Vietnam endgültig geräumt haben (die letzten GIs mußten auf den Flugplätzen von Saigon um ihr Leben rennen), folgt auf den Präsidenten Gerald Ford (Republikaner) der Erdnußfarmer und Demokrat Jimmy Carter. – am 9. September 1976 stirbt Mao Tse-tung.

Die am 3. Juli 1977 in Helsinki eröffnete Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, Fortsetzung 1977 in Belgrad) soll vor allem Entspannung zwischen Ost und West bringen. Doch bleibt es angesichts nur bescheidener Erfolge und nicht weniger Rückschläge beim Hoffen. Von Truppenreduzierung und Abrüstung ist entgegen feierlichen Konferenzerklärungen in Wien weit und breit nichts zu merken.

Die KSZE hat in vielen Ländern des »Sozialistischen Lagers« eine lebhafte Bürgerrechtsbewegung zur Folge (Ausbürgerungen aus der UdSSR – z.B. Aleksander Solschenizyn: »Archipel GULAG« – und der DDR – z.B. Liedermacher Wolf Biermann – oder Totalisolation – z.B. Altkommunist Professor Robert Havemann). Von einem »Prager Frühling« kann keine Rede sein – er endete im August 1968 mit dem Einmarsch der Panzer des Warschauer Pakts. Ob der »Eurokommunismus« (insbesondere Italien und Frankreich) ernstgemeint ist oder nur Taktik, bleibt abzuwarten. In der DDR gibt es keine Selbstmorde mehr. 1970 weist die Statistik auf 100 000 Einwohner noch 30,5 Selbstmorde und 0,5 Todesfälle durch »sonstige Gewalteinwirkung« aus – in der BR 19,8 bzw. 3,1. Seit 1972 (noch zu Walter Ulbrichts Zeit, er starb 1973) meldet die Statistik 0,0 Selbstmorde, in diesem Jahr dann allerdings 32,7 Todesfälle durch »sonstige Gewalteinwirkung«.

In der BR, aber auch im Ausland, wird erbittert diskutiert, ob der Ausschluß erklärter Gegner des Grundgesetzes vom öffentlichen Dienst ein »Berufsverbot« sei (DKP 42 000 Mitglieder, Kommunistischer Bund Westdeutschlands weit über 2500, KPD 7000, KPD/Marxisten-Leninisten angeblich 1000, NPD 15 000 – zum Vergleich SPD 1 000 000, CDU und CSU 850 000. FDP 78 000).

Von 1950 bis 1976 hat die BR an (staatlicher und privater) Entwicklungshilfe 107 550 000 000,– DM geleistet. Die Dritte und Vierte Welt hungert weiter. In Uganda ist seit 1971 Idi Amin Diktator. Ende 1976 wird Angola dank sowjetischer Militärberater und kubanischer Truppen Volksrepublik. Die Weißen in Südwestafrika, Rhodesien und Südafrika (wo man starr an der Politik der Apartheid festhält) bereiten sich auf den Endkampf vor. Im Nahen Osten herrscht seit dem Jom-Kippur-Krieg Oktober 1973 zwischen Israel und den arabischen Staaten »Waffenstillstand« mit Gewehr bei Fuß.

Während in Nordirland katholische und protestantische Frauen sich gegen den Wahnsinn des Bürgerkrieges wehren, erheben sich, als späte Erbinnen der Suffragetten von 1913 (man denke an die entsprechende Folge der britischen Fernsehserie »Das Haus am Eaton Place«!) und motiviert durch »Women’s Lib« in USA, die Feministinnen der BR unter Alice Schwarzer (Zeitung »Emma«).

In der BR gibt es 877 328 Studenten, »Schulreform«-, »Hochschulreform«- und »Numerus-clausus«-Chaos, 18 000 Jugendliche ohne Ausbildungsstelle, 1 060 000 Arbeitslose und 1 800 000 Gastarbeiter sowie einen Schaden von 5 000 000 000 DM durch Wirtschaftskriminalität.

Die 1957 eingeführte »Dynamische Rente« ist und bleibt gefährdet.

Bei den Olympischen Spielen in Montreal lassen die Sportler der UdSSR und der DDR alle anderen weit hinter sich.

Die amerikanische Raumsonde »Viking I« sendet präzise Fotos von der Oberfläche des Planeten Mars.

In Seveso (Italien) gibt es eine Giftkatastrophe.

Pablo Picasso starb am 8. April 1973. Jetzt, 1976, hüllt »Verpackungskünstler« Christo in Kalifornien 40 Kilometer Zaun in Plastikfolie – ein Anblick, der verzweifelt an den Gitterzaun der DDR gegen die BR erinnert: Walter de Maria sucht nach einer Borstelle für sein »Denkloch«.

Erfolgreiche Bücher sind in der BR u.a.: Carl Friedrich von Weizsäcker (Physiker, Philosoph, Friedensforscher und Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt [gegr. 1969]: »Wege in der Gefahr – Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung«; Saul Bellow: »Humboldts Vermächtnis«; Ephraim Kishon: »In Sachen Kain und Abel«; Reiner Kunze (früher DDR): »Die wunderbaren Jahre«; Hoimar von Ditfurth: »Der Geist fiel nicht vom Himmel«; Erica Jong: »Angst vorm Fliegen«; Curd Jürgens: »… und kein bißchen weise.«

Von Filmen seien genannt: »Lina Braake« (BR): »Sommergäste« (BR); »Von Angesicht zu Angesicht« (Schweden); »Einer flog über das Kuckucksnest« (USA); »Der weiße Hai« (USA); »Taxidriver« (USA).

Gesungen wurden, neben Karnevals-Schunkelweisen, des Bundespräsidenten Walter Scheel Lieblingslied »Hoch auf dem gelben Wagen«, vor allem »Theo, wir fahr’n nach Lodz«, »Mein Gott, Walter«, und »Wenn du denkst, du denkst ..«.

Was bleibt? Zwischen Nostalgie und Terror das große Unbehagen an der Leistungs-, Konsum-, Wegwerf- und Wohlfahrtsgesellschaft mit ihrer Freizeit-, Fernseh- und Fußballkultur. Blickt man allerdings in die rustikal renovierten Gaststätten und sieht den wacker Schmausenden zu, erfreut man sich am Anblick der Urlauber in Mallorca oder auf den Bahamas, staunt man über den Kraftaufwand der Politiker bei ihren Reden, dann ruft man wohl trotz aller Bedenken:

HURRA – WIR LEBEN NOCH!

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1966

Weil ein Nagel verlorenging,

ging ein Eisen verloren.

Weil ein Eisen verlorenging,

ging ein Huf verloren.

Weil ein Huf verlorenging,

ging ein Pferd verloren.

Weil ein Pferd verlorenging,

ging ein Reiter verloren.

Weil ein Reiter verlorenging,

ging eine Botschaft verloren.

Weil eine Botschaft verlorenging,

ging ein ganzes Königreich verloren.

Und alles nur, weil ein Nagel verlorenging.

ABRAHAM LINCOLN (1809–1865)

1

»I … Im … Immer wenn d … du glaubst, e … es ge … geht nicht me … mehr, k … ko … kommt ein m … mildtätiger M … Mord daher«, hatte Klaus Mario Schreiber am 6. November 1957 gesagt. Am 27. April 1961 sagte er es wieder.

Wegen der Hartnäckigkeit, mit der Schreiber an diesem seinem Diktum festhielt, hatte Jakob Formann die Grundsteinlegung eines Plastikwerkes bei Tokio vorzeitig abbrechen und nach München zurückfliegen müssen. Er flog zu dieser Zeit ununterbrochen von einem Krisenherd seines Imperiums zum andern. Diesmal gab es in München Ärger. Großen Ärger. Die gesamte Redaktionsleitung, allen voran Frau Dr. Ingeborg Malthus, hatte den Aufstand geprobt, der schon seit Jahren fällig war: den Aufstand gegen den von allen am heftigsten benötigten und am heftigsten befehdeten Klaus Mario Schreiber.

Das Jakob nach Japan übermittelte Ultimatum besagte: Entweder alle verantwortlichen Redakteure legen sofort die Arbeit nieder – oder Klaus Mario Schreiber wird sofort gefeuert. Niemand der Verantwortlichen in der Redaktion (Auflage zu dieser Zeit wöchentlich 1,7 Millionen Exemplare) war willens, sich die Eigenmächtigkeiten, die Frechheiten, den Zynismus, das Saufen und den Dünkel Schreibers noch länger gefallen zu lassen. Also entweder oder!

Direkt vom Flughafen Riem hatte Chauffeur Otto seinen Chef Jakob Formann in das imposante OKAY-Verlagshaus gefahren. Da saß er nun in dem großen Konferenzsaal mit seinen Mahagoni-Paneelen, an der Spitze eines langen Tisches, und alle Verantwortlichen saßen zu seinen Seiten, viele, die schon dabeigewesen waren, als man noch in einer halbzerstörten Wohnung an der Lindwurmstraße, die nur durch eine Leiter zu erreichen gewesen war, die erste Nummer von OKAY (in der RM-Zeit!) produziert hatte, und dazu viele später Hinzugekommene.

Am unteren Ende des Tisches hockte Klaus Mario Schreiber, eine Flasche, ein Glas und einen Becher mit Eiswürfeln vor sich. Neben ihm saß der Vertriebschef. Der Vertriebschef hatte das Recht, an jeder wichtigen Sitzung der Redaktion teilzunehmen, und er war auch stimmberechtigt. Man schrieb den 2. Mai 1961. Schwüle Hitze lastete über München. Alle waren nervös, Schreiber war voll wie eine Natter und seine Akne gerade wieder einmal im Begriff zu vernarben.

»Wir fordern, daß dieser Schmierer endlich rausgeschmissen wird!« rief, in höchster Erregung, ein nun schon reichlich betagter Herr – der Textchef Dr. Walter Drissen.

»Wenn Sie diesen Unmenschen nicht auf der Stelle entlassen, gehen alle verantwortlichen Redakteure, Herr Formann, und auch ich als Chefredakteur«, sagte Frau Dr. Ingeborg Malthus, die einst in einem Bootsschuppen am Staffelsee zu Murnau nur höchst mangelhaft behaust gewesen war.

»Sie haben den Bogen überspannt, Schreiber!« schrie Textchef Drissen und ließ seinen Armstumpf auf die Tischplatte krachen. »Mit Ihnen ist es aus!«

»Langsam«, sagte Jakob, »langsam, Drissen. Das mit Ihrem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisärmchen tun Sie nie wieder, verstanden? Ich habe einen langen Flug hinter mir. Ich bin momentan etwas geräuschempfindlich. Was fällt Ihnen überhaupt ein, mir, dem Verleger, ein solches Ultimatum zu stellen?«

»OKAY ist kein Hurenhaus …«

»Wir sind Journalisten, keine Schmierer …«

»In der ganzen Branche sind die Eskapaden dieses ewig besoffenen Lumpen das Thema Nummer eins …«

Alle redeten durcheinander.

Jakob brachte sie mit einem Tarzan-Urlaut zum Verstummen.

Dann ließ er sich die Einzelheiten berichten, die zu dem Aufstand geführt hatten.

So kurz wie möglich:

Am 1. November 1957 war die vierundzwanzigjährige, sexuell ambivalente Nutte Rosemarie Nitribitt in ihrem mit kleinbürgerlicher Prachtentfaltung (und Abhorchgeräten) aufwartenden Appartement, Frankfurt am Main, Stiftstraße 36, erwürgt aufgefunden worden. Seither – und bis zum heutigen Tag! – hatte sich die Polizei außerstande gesehen, den Mörder zu finden. Sozusagen als erste Wirtschaftswunder-Ermordete war die Dame mittlerweile zu zeitgeschichtlichen Ehren gelangt – wie man sie früher und auf höherem sozialen Niveau etwa einer Lola Montez hatte zuteil werden lassen.

Wenige Tage nach dem Mord war von Schreiber eine Serie über Rosemarie Nitribitt gefordert worden, es war gerade kein Stoff da, der die Leser vom Stuhl riß – und bei dieser Gelegenheit hatte er den eingangs erwähnten Ausspruch getan. Zum erstenmal.

Ein Verdächtiger war damals festgenommen worden. 1961 saß er noch hinter Gittern. Inzwischen ist er längst frei. Man hat ihm keinerlei Schuld nachweisen können.

Ende April 1961 gab es wieder einmal keinerlei sensationellen Vorfall, über den zu berichten sich gelohnt hätte. Also kam Schreiber prompt mit seiner fixen Idee, über die Nitribitt schreiben zu wollen, und tat den erwähnten Ausspruch zum zweitenmal.

Als dies durchsickerte, weigerten sich Regierungsmitglieder und führende Männer der deutschen Wirtschaft entschieden, OKAY Interviews zu geben, die längst zugesagt und terminiert waren, ja, einer, dem ein Titelblatt in Farben zugedacht war (OKAY brachte nun schon Bilder in Farbe!), erklärte, er werde die Erlaubnis zur Reproduktion seines Konterfeis und in einer Auflage von 1,7 Millionen Exemplaren zurückziehen, wenn er nicht bis 18 Uhr am 3. Mai 1961 die juristisch verbindliche Zusage in Händen halte, daß die von Schreiber geplante Serie nicht erscheine.

Es war jetzt 11 Uhr 37 am 2. Mai 1961, und die Chefredakteurin hatte für alle Fälle längst ein Austauschtitelblatt vorbereiten lassen, denn die Produktion eines Farbtitels dauerte seine Zeit, und die nächste Nummer erschien in sechs Tagen.

Standpunkt der Redaktion: Wenn Schreiber gestattet wird, doch über die Nitribitt zu schreiben, hat OKAY Regierung und Wirtschaft gegen sich – mit allen Konsequenzen!

Standpunkt des Vertriebschefs: Was Schreiber da vorschwebt, ist ein Bericht, in dem der Autor alles auf den Kopf stellen wird! Das habe er ja versprochen! In der Praxis wäre das dann so: Schreiber schließt einige Dinge von vornherein als absolut unsinnig und bösartige Unterstellung aus, so etwa die Möglichkeit, eine ganze Reihe von Industriebossen habe einen Killer aus Übersee angeheuert für den Mord an einer unbequemen Mitwisserin von Rüstungsgeheimnissen, die, wie man aus anderen Fällen wisse, manche Herren im Bett auszuplaudern nicht umhin könnten. Schreiber werde das als total absurd bezeichnen – aber in aller Farbenpracht ausmalen! Folge – so meine jedenfalls Schreiber: Kein Mensch könne OKAY an den Wagen fahren!

In dieser Situation des Kampfes aller gegen Schreiber also hatte die Redaktion Jakob telefonisch gebeten, schnellstens nach München zu kommen und zu entscheiden.

»Wie haben Sie sich die Serie denn vorge …«, begann Jakob, da klingelte das Telefon, das vor ihm stand.

»Ferngespräch aus Rostow, Herr Formann, dringend«, sagte ein Mädchen aus der Telefonzentrale.

Dann war Jakobs Freund Jurij Blaschenko zu hören, atemlos: »Jakob? Wieso bist du in München? Du weißt doch, daß wir hier die Einweihung des Werks haben! Du mußt sofort …«

»Ich komme ja auch sofort!«

»Sofort ist nicht schnell genug! Uns ist eine Katastrophe passiert! Wir alle sind reif für Sibirien, wenn du nicht …«

»Eines nach dem andern, Jurij. In München geht es auch drunter und drüber. Ich rufe in einer halben Stunde zurück«, sagte Jakob und legte den Hörer in die Gabel. Ein Leben führt man … ein Leben …!

Er sah Schreiber an.

»Also bitte, Ihre Vorstellung von der Serie, aber rasch, Schreiber!«

»B … Bitte, Ch … Chef!« Schreiber hielt einen Doppelbogen Layoutpapier hoch, auf dem bereits die Text- und Bildeinteilung festgelegt war und eine gezeichnete Schrift quer über beide Seiten schrie:

OKAY-LESER JAGEN DEN MÖRDER DER NITRIBITT!

»Da … Das ist die g … größte Ge … Geschichte, d … die wir je ge … gehabt haben, Ch … Chef! U … Unsere Leser als D … Detektive! Die unfähige P … Po … Polizei! Die k … korrupte Industrie! O … OKAY-Leser reißen ihnen allen die M … Maske vom Ge … Gesicht! Be … Belohnungen z … zum A … Anreiz!«

»Sie wollen damit ein Preisausschreiben verbinden?«

»Na … Natürlich. T … Tau … Tausend Preise. V … Vom Eigenheim bi … bis zu ei … ei … einem R … Roman von mir! Ch … Chef, so etwas k … kommt nie wieder! Ha … Habe ich Ihnen nicht immer g … gut geraten? De … Denken Sie an die S … Serie gegen die N … Nazis! Wie ich dagegen wa … war von A … Anfang an! Wie a … alles in E … Erfüllung gegangen ist, wa … was ich p … pro … prophezeit habe!« (Verdammt, dachte Jakob, das Belastungsmaterial gegen diesen Herresheim, das Jurij nach Bonn geschickt hat, liegt nun auch schon seine vier Jährchen dort. Sauerei. Nichts ist passiert, überhaupt nichts! Da muß ich mal ein paar SPD-Abgeordnete mit der Nase draufstoßen. Wenn man nur nicht so herumgehetzt würde …) »S … Seit Anfang an bi … bin ich hi … hier d … der F … Feu … Feuerwehrma … mann vom Dienst! Lä … Längst zusperren hätten S … Sie Ihren L … Laden sonst k … können! Mi … Mir r … reicht es jetzt! Entweder w … wi … wir b … bringen die S … Serie oder ich k … kü … kündige!«

»Wenn die Serie gebracht wird, kündigt die gesamte Redaktion«, sagte Frau Dr. Ingeborg Malthus eisig. Textchef Dr. Drissen hob seinen Arm.

»Lassen Sie den bloß unten!« sagte Jakob, gefährlich ruhig. »Unten lassen, habe ich gesagt, sonst fliegen Sie gleich!« Der Textchef senkte gehorsam sein Ärmchen.

»Na – Kornfeld?« Jakob wandte sich an den Vertriebschef, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte. Er mußte nach Rostow! Da war also etwas schiefgegangen, verflucht! »Nun machen Sie schon, Kornfeld!«

Oskar Kornfeld, ein sehr großer, sehr dicker Mann, sagte: »Also, ich bin der einzige, der hinter Herrn Schreiber steht, voll und ganz. Was er da bringen will, wird unsere Auflage nur so hinaufschnellen lassen! Dagegen ist der Kerl da aus der Industrie mit seinem Farbtitelbild ein Dreck! Lassen wir den! Der bringt uns keinen einzigen Leser mehr! Aber Schreibers Story … also, da wette ich, daß wir hundert- bis hundertfünfzigtausend Leser mehr kriegen!«

»U … U … Und die Sa … Sache ist mit der R … Rechtsabteilung lä … längst wasserdicht gemacht, Ch … Chef! Ka … Kann uns k … keiner w … wa … was anhaben!«

»Aber eine Inseratensperre wird man über uns verhängen«, schrie Dr. Drissen. (Er ließ sein Ärmchen unten.)

»Das geht nicht so leicht, Herr Doktor Drissen«, sagte der Vertriebschef. »Wer unter solchen Umständen – wenn wir doch ausdrücklich Großindustrie als Urheber des Mordes ausschließen! – jetzt Inserate zurückzieht, der steht mies da, steht obermies da! Die Leute werden sich sagen: Nanu, hat der vielleicht doch Dreck am Stecken? Außerdem haben wir schließlich die Marktwirtschaft, den freien Wettbewerb! Da ist es nicht mehr so wie seinerzeit bei der Nazi-Serie! Heute ist die Konkurrenz da! Heute muß die Industrie inserieren!«

»Was soll denn bei Ihrer Serie eigentlich herauskommen, Schreiber?«

»Na, m … mehr Le … Leser na … natürlich, h … hö … höhere A … Auflage. Sie ha … haben’s doch gehört, Ch … Chef!« Behutsam goß Schreiber sein Glas wieder voll.

»Und Sie meinen, unsere Leser finden den Mörder?«

»N … Natürlich n … n … nie! Da … Das ist do … doch auch sch … scheißegal. W … Wollen Sie den M … Mörder – oder w … wollen Sie m … mehr Auflage? Mit den The … Themen, die wir zur Z … Zeit haben, fä … fällt doch die A … Auflage, ha … habe ich recht, K … Kornfeld?«

»Herr Schreiber hat recht. Hat schon unzählige Male recht gehabt. Und immer wenn es kritisch wurde, hat er eine Serie geschrieben, die uns wieder nach oben riß. Und alle Leser sind gepackt gewesen!« assistierte Kornfeld. »Und die Auflage ist gestiegen und gestiegen, Herr Formann!«

»U … Und ich ver … verdanke die … dieser A … Arbeit hier mei … meine erste E … Ent … Entziehungskur!«

»Die hat aber nur sehr kurz vorgehalten«, bemerkte Frau Dr. Ingeborg Malthus giftig.

»Hö … Hören Sie, ich s … sage ja, ich k … kann auch g … gehen!« Schreiber wurde wütend. »D … Das ist also der D … Dank f … für mei … meine Sch … Schufterei in d … diesem I … Idi … Idiotenstall!«

»Also, das ist doch …«

»Noch ein Wort, und ich vergesse mich …«

Das Telefon läutete.

»Ruhe!« brüllte Jakob, während er den Hörer nahm.

Es war wieder Jurij Blaschenko. Diesmal weinte er: »Jakob, mein Freund, mein guter Freund, du mußt augenblicklich kommen, es ist schon wieder etwas passiert. Ich kann es am Telefon nicht sagen. Aber wenn du nicht sofort hilfst, sind wir alle verloren!«

»Nicht verzagen, Formann fragen! Ich fliege in einer halben Stunde ab.« Jakob knallte den Hörer in die Gabel. »So«, sagte er. »Und wegen einer solchen Lächerlichkeit wird Jakob Formann aus Tokio gerufen, Frau Doktor Malthus?«

»Das ist keine Lächerlichkeit, Herr Formann! Wie ich Ihnen am Telefon sagte, sind wir – der ganze Redaktionsstab – entschlossen, fristlos zu kündigen, wenn Schreibers Serie von Ihnen genehmigt wird.«

Jakob lehnte sich vor.

»Schreiber!«

»Ch … Chef?«

»Sie kennen Gott und die Welt. Wie lange dauert es, bis Sie eine neue Redaktion zusammengestellt haben – aus erstklassigen Journalisten?«

»Z … Zwei, h … höchstens d … drei T … Tage, Ch … Chef.«

»Dann tun Sie’s!« Jakob sah rund um den Tisch. »Meine Entscheidung ist gefallen. Ich lasse mich von Ihnen nicht erpressen, verstanden? Ich nehme Ihre pauschale Sofortkündigung an. Heute abend sind Ihre Schreibtische geleert. Schreibers Serie kommt in die nächste Nummer!«

»Das können Sie nicht machen!« kreischte Frau Dr. Ingeborg Malthus.

»Das kann ich sehr wohl machen! Jakob Formann ist Verleger und Besitzer der Mehrheit. Sie bekommen Ihre Abfindungen, die Rechtsabteilung wird das übernehmen. Frau Kalder, die Witwe des ersten Lizenzträgers, werden wir mit einer Lebensrente beglücken, mit einer sehr hohen! Das wär’s.« Alle saßen erstarrt. Niemand brachte ein einziges Wort hervor. »Noch eine Frage? Nein, wie ich sehe. Von heute an bin ich Alleinbesitzer von OKAY! Wem’s nicht paßt, der kann vor Gericht gehen. Erreichen wird er nichts. Die Lage ist eindeutig gegen Sie alle. Sie sind gefeuert, alle miteinander! Was wollen Sie denn noch, Schreiber, ich habe es eilig, ich muß nach Rußland fliegen!«

»Jaja. I … Ich wollte s … sagen: Da … Das ist ja se … sehr nett, Ch … Chef, da … daß Sie z … zu mi … mir halten, a … aber wollen Sie es sich n … nicht doch noch m … mal überlegen? Sind doch ganz ne … nette und ganz b … begabte K … Kerle – die m … meisten wenigstens!«

»Jakob Formann hat sich alles gründlich überlegt, Schreiber! Jakob Formann ist seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus! Und deshalb weiß er, daß hier jetzt frisches Blut nötig ist! Also basta. In den nächsten Tagen bin ich wieder über das Kulturhaus von Rostow am Don zu erreichen. Servus …«

2

»Die Jahre in der Sowjetunion sind entweder Rekord- oder Unkrautjahre, aber alle sind historisch«, sagte Jurij Blaschenko, nunmehr – und immer noch – einer der höchsten Beamten der höchsten Planungsstelle der UdSSR, am Abend des 4. Mai 1961. Danach umarmte er seinen Freund Jakob Formann, küßte ihn (ziemlich feucht) auf beide Wangen und murmelte erschüttert: »Neunzehnhunderteinundsechzig ist ein ganz besonders historisches Jahr für mich. Für ein paar hundert Genossen. Und für Sowjetunion.«

Es bleibt mir nichts anderes übrig, dachte Jakob und küßte zurück. (Das mit dieser Wangenküsserei unter Männern ist inzwischen überall auf der Welt Mode geworden, die Sowjets haben nur damit angefangen.)

Ausgetauscht wurden die erwähnten Zärtlichkeiten auf dem Flugplatz der Stadt Rostow am Don und daselbst am Fußende der Gangway von Jakobs ›Superconstellation‹, die ihn hierhergebracht hatte.

Das sind keine nassen Küsse, das ist etwas viel Schlimmeres, dachte unser Freund und rief erschrocken: »Du weinst ja, Jurij! Um Himmels willen, warum denn?«

»Na, weil das Jahr 1961 eben ein so besonders historisches Jahr ist für mich und ein paar hundert andere und für Sowjetunion. Ab mit uns nach Kasakstan, Wüsten bewässern«, murmelte Jurij und ließ seine Tränen fließen wie’s Bächlein auf der Wiesen.

»Reg dich nicht auf!« sagte Jakob mitfühlend und klopfte Jurij auf den breiten Rücken. »Was auch immer schon wieder passiert ist, ich bin jetzt da! Nicht verzagen, Formann fragen! Was ist also schon wieder passiert?«

»DX 330«, schluchzte Jurij.

»Was DX 330?« fragte Jakob streng. Hier mußte er streng sein zu seinem Freund, sonst heulte der immer weiter, und kostbare Zeit ging verloren.

»Haben wir nicht! Und in vier Tagen wird das Werk eröffnet, und Genosse Vorsitzender Ministerrat Chruschtschow kommt. Und da soll das Werk vollen Betrieb haben. Und ohne DX 330 können wir vollen Betrieb nicht aufnehmen, können wir gar keinen Betrieb aufnehmen und jetzt sag mir bloß noch, in Kasakstan gibt es die schönsten Mädchen der Sowjetunion!« Jurij heulte jetzt nicht mehr. Er war nur noch sehr verbittert. »Weißt du, was DX 330 ist?«

Jakob streckte sich.

»Jurij, mir tun alle Knochen weh. Das war ein verflucht weiter Flug hierher. Ich bin gekommen, so schnell es gegangen ist, um dir zu helfen. Aber jetzt mach mich nicht wahnsinnig! Ich will nicht wissen, was DX 330 ist, denn das weiß ich selber! Das ist ein Schweröl, das ihr bei der Plastikproduktion braucht. Wissen will ich, wieso ihr, Himmel, Arsch und Zwirn, das auch schon wieder nicht habt!«

Jurij Blaschenko sagte gramvoll: »Weil die Zentrale Planungsstelle in Moskau es zu einem Eisenkombinat weit hinter dem Ural geschickt hat und weil die dort schon damit arbeiten. Irgendein Idiot hat wieder einmal falsch geplant.«

»Reg dich nicht auf, Jurij, Idioten gibt’s überall.« Jakob gähnte. »Sollen die in Moskau euch doch anderes DX 330 schicken.«

»Können Sie nicht!«

»Können sie nicht?« Jakob runzelte die Augenbrauen.

»Nicht im Moment! Haben sich völlig verausgabt – und uns völlig vergessen. Für uns sind sie lieferfähig erst wieder in drei Wochen. Und in vier Tagen kommt Towaristsch Chruschtschow!«

»Ach, du liebe Scheiße!« Jakob setzte sich auf die unterste Stufe der Gangway. In der Dunkelheit sah er, auf einem Hügel der Stadt, herrlich weiß leuchtend das Riesenwerk, angestrahlt von vielen Scheinwerfern. Sein Riesenwerk! »Ausschauen tut das Ding ja wirklich schön!« meinte er.

»Nur Betrieb aufnehmen kann es nicht«, ächzte Jurij und setzte sich neben Jakob. Dann sagte er einen sehr langen und sehr komplizierten russischen Fluch auf.

»Vollkommen meiner Ansicht«, sagte Jakob. »Und wo kriegen wir jetzt das Schweröl her?«

»Die Rumänen hätten es«, antwortete Jurij mit erstickter Stimme.

»Na also, dann nix wie her damit!«

»Leicht gesagt. Gheorghiu-Dej.«

»Was heißt hier Gheorghiu-Dej?«

»Das ist Genosse Vorsitzender des Staatsrats Sozialistische Republik Rumänien.«

»Na und?«

»Na und, fragt er!« Jurij rang die Hände. »Mit dem Kerl haben wir täglich mehr Ärger.«

»Wieso?«

»Weil er eine Politik betreibt, die sein Land mehr und mehr von Moskau entfernt. Wenn wir den Gheorghiu-Dej jetzt um Schweröl bitten, kriegt der nur einen Lachanfall!«

»Das werden wir erst mal sehen«, sagte Jakob, erhob sich und stolperte die Gangway wieder hinauf.

»Wohin willst du?« erkundigte sich Jurij alarmiert.

»Wie heißt die Hauptstadt von Rumänien?« fragte Jakob neugierig. In Geographie hatte er immer nur Pintsche gehabt.

»Bukarest, Trottel!«

»Dann will ich jetzt sofort nach Bukarest«, gab Jakob freundlich winkend bekannt.

3

Der Flughafen von Bukarest heißt Bǎneasa.

Die wichtigsten staatlichen und militärischen Behörden sind in mehreren riesigen Gebäuden auf dem Platz der Republik im Innern der Hauptstadt der Republica Socialista România untergebracht. Im rechten Winkel zu ihnen steht die Halle der Republik.

Jakobs ›Superconstellation‹ landete in den ersten Morgenstunden des 5. Mai 1961 auf dem Flughafen Bǎneasa. Besatzung und Passagier schliefen sofort tief und traumlos ein. Jakob, sportgestählt und körperlich einfach nicht zu schaffen (sowie im Besitz einer Uhr mit Läutwerk), erwachte Punkt 7 Uhr 30. Er wusch und rasierte sich an Bord, zog einen anderen Anzug an, ließ die Besatzung pennen und fuhr mit einem Taxi in die Stadt.

Um 9 Uhr 05 saß Jakob Herrn Mihail Majorescu in dessen Büro gegenüber. Majorescu war einer der höchsten Beamten im Energieministerium. Die beiden Herren kannten einander – Majorescu war einmal nach Deutschland gekommen, um sich, mit einem Stab von Spezialisten, Jakobs Plastikfabriken anzusehen. Dabei hatte er einen halblauten Seufzer ausgestoßen, der dennoch sehr wohl an Jakobs Ohr gedrungen war. In Erinnerung an diesen Seufzer gedachte Jakob nun, sein Ziel zu erreichen. Dieser Mihail sieht gut aus, dachte er, den verdienten, hochdekorierten Genossen betrachtend. Der war ein schlanker, großer Mann mit oliv getönter Gesichtsfarbe, schwarzem Schnurrbart, schwarzem Haar und stahlgrauen Augen. Über dem verdienten Genossen hing eine große Fotografie des Vorsitzenden des Rumänischen Staatsrats, Gheorghiu-Dej, an der Wand. Mit der Zeit lerne ich so wirklich die Hohen Herren der ganzen Welt kennen, dachte Jakob.

»Was kann ich für Sie tun, mein Freund?« fragte Mihail Majorescu. Er sprach (zum Glück) Deutsch und hatte sich in der Bundesrepublik sehr gut mit Jakob verstanden. Jetzt vertraute Jakob sich ihm an. Er schloß mit den Worten: »Der Zug muß aber schnellstens und mit jedem Vorrang abfahren und so viel Schweröl bringen, daß das Werk da bei Rostow mindestens für drei Wochen genug hat.«

Der schöne Mihail sagte entsetzt: »Herr Formann, ich bitte Sie – sind Sie wahnsinnig geworden? Schweröl nach der Sowjetunion? Haben Sie noch nie von den ideologischen Spannungen gehört, die zwischen unseren beiden Ländern bestehen?«

»Mein Gott, natürlich«, sagte Jakob. Und traurig: »Wenn Sie wüßten, wie gerne ich Ihnen die Freude gemacht hätte, lieber Freund Majorescu!«

»Freude?« Majorescu bekam den Blick eines abgestochenen Kalbes.

»Ja.« Jakob nickte. »In Deutschland waren Sie doch so begeistert von meinem großen Mercedes! Ich erinnere mich genau an den halblauten Seufzer, den Sie ausgestoßen haben. Damals habe ich mir selbst versprochen: Mein Freund Mihail Majorescu kriegt auch so einen großen Mercedes – als Geschenk. Bei der nächsten passenden Gelegenheit. Jetzt hätten wir so eine Gelegenheit!«

Majorescu zog an seiner Krawatte und murmelte tragisch: »Sie wissen genausogut wie ich, daß unsere Gesetze es verbieten, einen Mercedes einzuführen, Herr Formann! So etwas geht einfach nicht!«

»Nicht in einem Stück, das weiß ich wohl«, sagte Jakob.

»Was soll das heißen?«

»In vielen Stücken«, erwiderte Jakob geduldig. »In vielen Ersatzteilstücken. Ersatzteile dürfen doch importiert werden, oder?«

»Ersatzteile schon, aber …«

»Nichts aber. Es werden so viele Ersatzteile kommen, daß man daraus einen ganzen großen Mercedes zusammenbauen kann. Lauter kleine Geschenksendungen. Sie haben mir doch in Deutschland erzählt, daß Sie eine so sehr große Familie haben, über das ganze Land verstreut. Es würde jedes Mitglied rechtzeitig vor Weihnachten ein Liebesgabenpaket bekommen. Zum Heiligen Abend wäre alles da, und ein paar tüchtige Mechaniker brauchten das ganze Zeug bloß wieder zusammensetzen. Sie haben Speichel im linken Mundwinkel, Freund Majorescu, verzeihen Sie.«

Majorescu wischte das Zeichen seiner Gier fort, während Jakob an die Bedingten Reflexe des Professors Iwan Petrowitsch Pawlow dachte. Majorescu sagte: »Wie soll ich aber, wenn man mich fragt, erklären, wieso ein Zug mit Schweröl in die Sowjetunion geschickt worden ist, lieber Herr Formann? Wo bekomme ich alle nötigen Papiere her?«

»Mein Gott«, sagte Jakob. »Irren ist menschlich. Natürlich sind die Papiere bei Ihnen von jemanden – man wird ihn wohl nie finden – aus Versehen ausgestellt worden, lieber Freund. Und nach drei Wochen wird die Sowjetunion den Zug auch wieder zurückschicken. Wird dann halt sowjetisches DX 330 drin sein. Kein Mensch kann das von rumänischem unterscheiden. Es dauert bloß alles so lange auf dem Behördenweg, bis es wieder in Ordnung ist. Am besten wird es sein, falls niemand etwas bemerkt – und das nehme ich an, wenn ich mir den Betrieb in euern Behörden so betrachte –, Sie schlagen selber Alarm, lieber Freund, in, sagen wir, zwei Wochen! Das bringt Ihnen bestimmt auch noch eine Beförderung ein. Und passiert ist ja überhaupt nichts. Schweröl und Zug kommen zurück. Aber Sie haben sozialistische Wachsamkeit gezeigt, beispielhaft! Und den Mercedes – wenn er im neuen Jahr zusammengebaut ist und Sie damit herumfahren, und es stellt einer blöde Fragen – den Mercedes haben Sie von mir persönlich als Geschenk erhalten, als wir den Vertrag über den Bau eines Plastikgroßwerkes in Rumänien miteinander abgeschlossen haben, das dann schon im Entstehen sein wird.«

»Moment! Nicht so schnell! Wann haben wir zwei einen solchen Vertrag abgeschlossen, lieber Herr Formann?«

»Na, soeben, Freund Majorescu! Ich prophezeie Ihnen eine glänzende Karriere.«

»Es ist Ihnen doch klar, daß ich Sie jetzt anzeigen muß, nicht wahr? So leid es mir tut. Mit Ihnen ist es aus!«

»Vollkommen klar, Freund Majorescu. Die Zeit eilt wirklich. Wenn Sie vielleicht sofort das Nötige veranlassen wollten. Und ich meine nicht nur die lange Liste mit den Adressen Ihrer lieben Angehörigen!«

Freund Majorescu sah Jakob mit flackernden Augen etwa so lange an, wie man braucht, um bis neun zu zählen. Dann nahm er einen Telefonhörer auf, wählte und verlangte nach dem Ministerium für Grundstoffindustrie. Das Gespräch, das er führte, war kurz. Ein zweites Gespräch mit dem Ministerium für Transport und Verkehr war nicht länger. Danach sagte Majorescu zu Jakob: »Also, der Tankwagenzug wird schnellstens mit dem Schweröl gefüllt und fährt unverzüglich ab. Wann kommt Chruschtschow? Am siebten? Keine Sorge, da ist das Öl längst da! Sie haben reichlich Zeit in Rostow. Jetzt wissen Sie die Adressen meiner Verwandten. Und jetzt schließen wir einen Vertrag über den Bau eines Plastikwerks. Wir brauchen dringend eines, nebenbei.«

»Die ganze Welt braucht dringend welche, lieber Freund.«

»Das kann ich Ihnen versprechen: Sie werden einen hohen Orden der Sozialistischen Republik Rumänien bekommen!«

»Na, Sie aber auch«, sagte Jakob freundlich und dachte: So ist es schön! Im Bonzenviertel eine Villa. In der Villengarage schon bald ein großer Mercedes. In dem großen Mercedes schon bald der liebe, hochdekorierte Genosse Mihail Majorescu, im Genossen Mihail Majorescu ein Herz, und im Herzen Liebe – für die Arbeiterklasse!

»Also ganz ehrlich, ich bewundere Sie, Freund Formann. Sie sind schon ein toller Kerl!«

»Überhaupt nicht, lieber Freund Majorescu. Jakob Formann ist seiner Zeit nur immer um zwei Schritte voraus.«

4

»Ihr Täubchen«, sagte der dicke, glatzköpfige und leutselige Ministerpräsident der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, glühend vor Begeisterung, »also nu, ihr seht mich, wie soll ich sagen, gerührt seht ihr mich. Zu Tränen, jawohl. Das ist wirklich der phantastischste Betrieb, den ich je betreten habe, der da bei euch, ihr Täubchen, und wenn die Zeitungen heute schreiben, hier schlägt das Herz der Revolution, nu, dann ist das aber wirklich so – dank euch!« Er klatschte laut. Seine Zuhörerschaft, die sich in einer riesigen Werkhalle versammelt hatte, klatschte zurück. So machte man sich Komplimente. Es war in der Tat imponierend, dieses Plastikwerk von Rostow am Don, so in vollem Betrieb! (Seit knapp neun Stunden.) Das zischte und brodelte, daß es eine Lust war. Dank dem guten rumänischen Schweröl DX 330 lief alles wie geschmiert. Der Ausstoß an Plastikrohren für die Überlandleitungen konnte einem den Atem nehmen.

Es waren viele hohe und höchste Funktionäre mit Chruschtschow gekommen. Sie saßen auf einer mit roten Fahnen geschmückten Tribüne. Ihnen gegenüber in der Werkhalle saßen an die fünfhundert Arbeiter, Techniker, Direktoren und Funktionäre, diese nicht ganz so hoch wie die auf der Tribüne vorn (aber was nicht ist, kann ja noch werden …). Viele saßen auf Maschinen. Auch die Halle war festlich geschmückt, rot natürlich. Unmittelbar vor der Tribüne saßen Jurij Blaschenko, ein paar Chefingenieure und Jakob Formann auf rot geschmückten Sesseln.

Jurij sah immer wieder Jakob an. Er schien alles noch nicht fassen zu können. In den Ausdruck von Bewunderung mischte sich ein Ausdruck von Schmerz, glaubte Jakob festzustellen. Wieso Schmerz? überlegte er. Was hat der arme Jurij jetzt schon wieder? Vielleicht muß er daran denken, daß ich einmal in seinem Lager eingesperrt gewesen bin als Kriegsgefangener. Ein guter Kerl, dieser Jurij. Auch dieser Nikita ist ein guter Kerl. Er hat gesagt, er will mit Papst Johannes XXIII. zusammenkommen, um über alle Weltprobleme zu sprechen. Der Johannes sieht dem Nikita ähnlich wie ein Zwillingsbruder. Beide kommen aus dem Volk. Beide sind schlau. Beide sind bestimmt nicht böse. Denn beide lachen oft und gern. Beide sind dick. Und Dicke sind niemals so gefährlich wie die Dünnen, Hageren. Mir scheint, der Johannes ist ein Papst, der etwas taugt. Wenn sich diese beiden Burschen nun zusammensetzten – dann könnten wir alle vielleicht aufatmen in dieser Welt. Wer weiß? Es könnte doch sein, der Johannes tritt der Kommunistischen Partei bei, und der Nikita läßt sich katholisch taufen, und sie sehen ein, daß wir alle nur in ›Einer Einzigen Welt‹ leben und miteinander auskommen müssen, und sie lassen sich was Gutes einfallen, und uns allen ist geholfen … Bis dahin freilich, so meditierte Jakob weiter, müssen wir uns halt selber helfen …

Solchermaßen versank er tief in Träumereien.

Nikita redete noch zehn Minuten. In diesen zehn Minuten klatschten sich alle Anwesenden in Abständen wechselseitig an. Und der Boden vibrierte, so sehr auf Hochtouren arbeitete das Werk. Dann kam der Genosse Vorsitzende des Ministerrates der glorreichen Sowjetunion von der Tribüne und ging die Reihe der Chefingenieure entlang und heftete prächtige Orden an ihre stolzgeschwellten Männerbrüste. Auch Jurij bekam einen. Nach jedem Orden gab es natürlich die übliche Küsserei.

So ist es recht, dachte Jakob. Junge, Junge, was habe ich schon für Ordenverteilereien gesehen! Ihr Hohen Herren dieser Welt, beeilt euch mit dem Verteilen eurer Orden! Die Menschen werden so schnell schlecht …

Schließlich stand Nikita vor Jakob, dankte ihm bewegt und schüttelte ihm heftig die Hand. Ein Dolmetscher übersetzte Artigkeiten hin und her.

Nikita befestigte ein Riesending von Orden in der Gegend von Jakobs Leber. Er fluchte ein wenig dabei, denn es ging schwer. Es geht schwer, dachte Jakob, weil Nikita durch den Vertrag mit der rumänischen Regierung stechen muß, betreffend den Bau eines Plastikwerks, den ich in der rechten Brusttasche habe. Ich Trottel hätte den Vertrag ja auch in die andere Tasche stecken können, also wirklich!

»Erlauben Sie, Herr Ministerpräsident …« Jakob führte Nikita die dicken Händchen mit dem Orden an dem rumänischen Vertrag vorbei. »Sehen Sie, so geht’s!« Er strahlte Chruschtschow an. Via Dolmetscher ließ der ihn wissen: »Werter Herr Formann! Im Namen der Sowjetunion verleihe ich Ihnen hiermit für Ihre hervorragenden Verdienste den Großen Stern der Völkerfreundschaft Erster Klasse in Gold!«

Danach bedankte sich Jakob. Danach küßte ihn Chruschtschow auf beide Wangen. Danach wurde Chruschtschow von Jakob auf beide Wangen geküßt. Und selbstverständlich klatschten wieder alle. Der dicke Nikita warf beide Hände in die Höhe und rief: »Um im Klassenkampf zu kämpfen, meine Täubchen, versteht ihr, haben wir jetzt andere Mittel, und in dieser Hinsicht ist unser Sieg schon sicher! Wir entwickeln unsere Wirtschaft, wir erarbeiten mehr Produktion pro Kopf, und so wird bald die Zeit kommen, nu, nu, da werden wir es mit den Amerikanern ganz leicht aufnehmen können – dank, nu, solcher Männer wie Gospodin Formann!«

Jaja, dachte dieser. Immer nach dem Gießkannenprinzip. Jetzt haben die Sowjets reichlich Wasser bekommen aus meiner Gießkanne, nun müssen die Amerikaner wieder welches kriegen. Auf diese Weise – ich tu, was ich kann – wird mir weder der Osten noch der Westen übermächtig und übermütig … nu!

5

»Ssiehst du«, schluchzte BAMBI sanft lispelnd an diesem Abend im Wohnzimmer des Hauses von Jurij Blaschenko, erschüttert über sich selbst, »da kommt für jede von uns der Tag, wo ßie ßich im Sspiegel ßieht und ßagt: Gucke, Mäuschen, ßo hübsch biste ooch nich mehr!« Das gab sie den beiden Herren bekannt, die vor ihr saßen – Jakob und seinem Freund Jurij.

»Ich verstehe«, sagte Jakob.

»Was verstehst du, Jakob, mein Freund?« fragte Jurij.

»Na das, was ihr mir in der letzten halben Stunde eröffnet habt«, sagte Jakob, der nicht wußte, ob er betroffen oder erleichtert oder beides oder gar nichts sein sollte. In der letzten halben Stunde hatten ihm BAMBI und Jurij nämlich eröffnet, daß sie einander liebten, und daß BAMBI nicht mehr in den Westen zurückfliegen, sondern bei Jurij bleiben, ihn ehelichen und ihm viele Kinder schenken wollte. Aha, hatte Jakob zu Beginn dieses herausgestammelten und gelispelten Geständnisses gedacht, darum also hat der Jurij mich im Werk mit so einem Gemisch von Bewunderung und Schmerz in den Augen angesehen. Schlechtes Gewissen! Auf der anderen Seite nu, nu, habe ich ihm vor vielen Jahren seine Jelena ausgespannt. Es scheint einen Kreislauf nicht nur in der Natur zu geben.

»Und … und du bist mir nicht todböse?« erkundigte sich BAMBI.

»Was für einen Sinn hätte es, wenn ich dir todböse wäre?« fragte Jakob.

»Jakob«, sagte BAMBI, bebend konfrontiert mit ihrem Schicksal, »du hättest mich überhaupt nie hierherbringen dürfen. Das war dein schlimmster Fehler. Ssiehst du das ein?«

»Ja«, sagte Jakob und dachte: Also, eine bin ich los. Hoffentlich wird es mit der anderen auch so glatt gehen. Ein bißchen schmerzt es ja schon, die liebe BAMBI zu verlieren. Das ist natürlich nur meine Eitelkeit. Dieser Jurij ist ein wirklich netter Kerl – aber als Mann ihn mir vorziehen? Na also, so was!

»Und dann hast du mich hier in Rostow ßo lange allein mit Jurij gelassen! Das war dein ßweitgrößter Fehler! Ssiehst du das auch ein?«

»Ich seh’ alles ein«, sagte Jakob.

»Du dauernd in der Weltgeschichte, und ich hier mit Jurij! Der hat ßich ßo um mich bemüht, Tag für Tag …«

»… und Nacht für Nacht«, sagte Jakob gedankenvoll und schrak auf. »Entschuldigt, das war taktlos von mir!«

»Aber gar nicht«, murmelte Jurij.

»Doch, das war es!« rief BAMBI lebhaft. »Du, du hast doch immer noch eine andere gehabt – widersprich nicht, war da zum Beispiel die Claudia, oder nicht? Na also! Und wenn du mich mal geküßt hast, dann habe ich immer überlegen müssen, woran du gerade denkst. An deine Fertighäuser oder deine Illustrierte oder deine Aktien oder dein Plastikßeug. Das hält eine Frau auf die Dauer nicht aus, Jakob!«

»Hm«, machte der verlegen. Jetzt auch noch mir die Schuld geben! Aber recht hat sie. Zwei Weiber mindestens habe ich immer gehabt, und, großer Gott, an was für Geschäfte ich wirklich gedacht habe, wenn ich BAMBI … geküßt habe. Nicht immer natürlich. Manchmal war ich auch ganz bei der Sache. Dieser Jurij, der scheint stets ganz bei der Sache gewesen zu sein.

»Und überhaupt der Westen«, sagte BAMBI. »Ich habe ihn kennengelernt, und er hängt mir ßum Hals raus. Hier ist wahrhaftig auch nicht alles Ssucker, aber wenn ein Mann eine Frau liebt, dann gibt es nur ßie für ihn. Du, du hast doch jedem schönen Hintern nachgeschaut, gib’s ßu!« Und erbarmungslos fuhr die schöne BAMBI fort: »Der Jüngste bist du auch nicht mehr … brauchß’ bloß an deine Haare ßu denken, wie dünn und grau die werden …!«

Jakob griff sich mechanisch ins Haar. Tatsächlich – es wurde schon schütter.

Schütter!

Aber, dachte Jakob, ich fühle mich doch noch hundertfünfzigprozentig! Ich bin doch in den allerbesten Jahren! Nein, nein, daran kann es nicht liegen. BAMBI hat schon recht: Meine Geschäfte … und so eine weite russische Seele wie Jurij habe ich eben nicht. Frauen fliegen halt auf Seele.

Jakob erschauerte. Eine gräßliche Erinnerung an ein gräßliches Gespräch mit dem Major der Roten Armee, Jelena Wanderowa, war ihm gekommen. Damals, als Jelena noch kein Major war, damals im Lager … in der sanften Kuhle … sie hatten es gerade getan, als Jelena, sich wohlig streckend, sagte: »Also wahrhaftig, Jakob, du kannst es mit dem Jurij aufnehmen! Und das ist ein Riesenkompliment, das ich dir da mache.«

»Wieso Riesenkompliment?«

»Du kannst es natürlich nicht wissen, aber wir Soldaten wissen es. Lange vor dem Krieg, da hatten sie den Jurij mal für eine Weile eingesperrt …«

»Eingesperrt? Weshalb denn?«

»Weil er in Nowosibirsk – da ist er ausgebildet worden, weißt du – eine Siebzigjährige vergewaltigt hat …«

»Na ja …«

»Warte! In der Nacht! Mitten auf der Straße! Und bei vierzig Grad unter Null! Also, ich wette, das könntest du auch!« hatte Jelena gesagt, und er war entzückt über das Kompliment gewesen. Jetzt, in der Erinnerung und so viele Jahre später, war er es überhaupt nicht mehr. Sondern sozusagen im Gegenteil.

Bei vierzig Grad minus? Da kann man bloß sagen: Erstaunlich, was die Truppe leistet! Und ich habe schon die ersten grauen Haare. Und die BAMBI die ganze Zeit hier bei Jurij gelassen. Frauen fliegen auf weite russische Seele? Ich Idiot! Jetzt weiß ich, worauf Frauen fliegen! Verflucht, aber ich bin doch noch gar nicht so alt. Allerdings, bei meinem Streß. Und bei vierzig Grad minus … nein, nein, wir sind halt doch bös degeneriert, wir im Westen. Und dann das gesunde Klima hier am Don. Das hält einen Mann ewig jung, ach ja, verflucht!

»Und ich hab auch genug von diesen ewigen Partys und dem ewigen Schönsein-Müssen im Westen, weißt du, Jakob«, fuhr BAMBI schamlos fort. Wie die lügt! dachte er empört. »Hier bin ich noch in ßwanzig Jahren die Schönste, und mein Jurij wird nie eine andere Frau anschauen, denn er liebt mich von Herzen« (Der muß es ihr aber besorgt haben, mein lieber Mann!) »und ich will ihm eine gute Frau ßein, und er wird mir ein guter Gatte sein« (Eine kleine Glatze ist schon da – wann wird sie größer werden?), »und ich will einfach nicht mehr weiter ßo rumtun wie im Westen. Ich will endlich einen Mann haben, der mir allein gehört« (Ja, bei vierzig Grad unter Null!), »und ich will nicht immer Wimpern aufkleben und Perücken mit mir rumschleppen und all das Sseug und bloß dein Aushängeschild ßein« (So eine Gemeinheit, und meine Chinesischen Schlittenfahrten waren ein Dreck, was?), »und ich wünsche dir natürlich alles Glück von der Welt, lieber Jakob, für alles, was du für mich getan hast …«

Also, das halte ich nicht aus! dachte Jakob. Bevor ich mein ganzes Selbstvertrauen verliere, segne ich die beiden lieber. »Okay, okay, BAMBI, ist ja schon gut. Ich kann dich verstehen. Ich wünsche euch beiden natürlich auch alles Glück, wo gibt, und daß ihr einen Haufen Kinder bekommt und daß …«

Es klopfte. Gleich danach trat Jurijs Haushälterin ein.

»Was ist los, Jekaterina?« fragte Jurij.

»Ich bitte um Entschuldigung für die Störung, aber da haben sie vom Kulturhaus angerufen und gesagt, ich soll Gospodin Formann vom Gospodin Arnusch sagen, daß dieser Präsident aus Afrika in Bonn ist, und ob er das vergessen hat …«

»Großer Gott!« Jakob fuhr auf. »Der Neger! Tatsächlich vergessen! Hast schon recht, BAMBI, diese Herumhetzerei hält keine Frau der Welt aus. Der Schwarze! Ich muß sofort nach Bonn!«

BAMBI erhob sich feierlich, küßte Jakob auf beide Wangen (wenn diese Küsserei nicht bald aufhört, gehe ich noch schraubenförmig aus dem Anzug! dachte er), schlug ein Kreuz (wahrhaftig, schlug ein Kreuz, BAMBI!) auf Jakobs Stirn und sagte ernst und feierlich: »S’bogom.«

Das haute den Jakob nun aber wirklich fast um.

So viel Russisch konnte BAMBI bereits? Tja, dann war es wohl wirklich die ganz große Liebe, dachte unser Freund. Er wußte, was ›S’bogom‹ heißt. Es heißt: »Geh mit Gott!«

Jakob schnappte nach Luft. Dann brachte er das einzige hervor, was ihm noch einfiel: »Servus!«

6

»Die Regierung hätte mir sofort das nötige Geld gegeben, Mister Formann«, sagte der Premierminister der Republik Karania in Zentralafrika zu Jakob. Er sprach ein vorzügliches Englisch. »Mister Arnusch hat jedoch einen Vorschlag gemacht, der mir vorteilhafter erscheint.«

Der fette Arnusch Franzl, der mit Jakob und dem Premierminister der Republik Karania am Nachmittag des 10. Mai 1961 im kostbar, um nicht zu sagen luxuriös, eingerichteten Wohnzimmer seines Bonner Domizils saß, nickte und nahm die Havanna-Zigarre aus dem Mund. »Ungemein viel vorteilhafter, Exzellenz, das können Sie mir wahrhaftig glauben! Ich habe mich in Ihre Lage versetzt. Das tue ich immer. Immer so tun, als wäre man der andere mit seinen Sorgen und Nöten. Sie sind eben unabhängig geworden. Es fehlt Ihnen einfach an allem. Wir Deutsche können uns da aus eigener leidvoller Erfahrung gut hineindenken. Uns haben andere geholfen. Es ist nur Christenpflicht, daß wir jetzt anderen – Ihnen zum Beispiel! – helfen. Wo es Stärkere gibt, stehe ich immer auf seiten der Schwächeren.«

»Mister Formann, ich beglückwünsche Sie zu diesem Mitarbeiter«, sagte Seine Exzellenz Ora N’Bomba.

»Danke, Exzellenz«, antwortete Jakob artig. »Ja, Mister Arnusch ist ein wunderbarer Mensch.« Er lächelte den Franzl an. Der Franzl lächelte zurück. Seit einem Jahr führte er die Finanzverwaltung aller Unternehmen Jakobs von Bonn aus, wo Jakob ihm dieses Haus gekauft und eingerichtet hatte. Das Haus lag unmittelbar beim Diplomatenviertel. Ohne den Arnusch Franzl wäre ich verloren, dachte Jakob, noch immer ein wenig erschüttert von dem Abschiedsgespräch mit BAMBI in Rostow am Don. Er fuhr sich seither sehr oft durch die Haare. Zu seiner Erleichterung fielen selten ein paar aus, und noch seltener ein paar graue. Ich bin doch noch immer in Hochform, dachte er, jetzt ist es doch erst richtig losgegangen! Natürlich, minus vierzig Grad – das ist eben ein anderer Menschenschlag. Die Exzellenz da, die könnte auch nicht bei vierzig minus. Aber vielleicht bei vierzig plus? Diese unverbildeten, unverbrauchten Naturvölker wie die Afrikaner oder die Russen, die haben es einfach besser.

Jakob riß sich zusammen, griff nach der Hasenpfote in der Hosentasche und sprach weiter: »Gleich, als bekannt wurde, Exzellenz, daß Sie nach Bonn kommen, hat sich mein Generalbevollmächtigter mit mir unterhalten. Wenn wir beide etwas hassen, dann ist es Ungerechtigkeit!«

»Genau wie wir. Sie sprechen mir aus der Seele, Mister Formann«, sprach Seine Exzellenz Ora N’Bomba. »Wie hatten wir unter Ungerechtigkeit zu leiden, solange unser Land eine Kolonie gewesen ist! Schulen gab es nicht, Lesen und Schreiben lehrte man uns nicht! Wir sollten in Abhängigkeit und Hilflosigkeit gehalten werden, damit wir ganz leicht zu unterdrücken waren. Und unsere Bodenschätze, das gute Kupfer, nahmen die Weißen uns einfach weg!«

»Eine Schande!« rief Jakob empört.

»Eine Schande, jawohl!« sagte N’Bomba. »Unter den Weißen waren die sozialen Unterschiede gegen den Sozialismus! Jetzt, da wir frei sind, ist der Sozialismus gegen die sozialen Unterschiede!«

»Da sehen Sie es.« Jakob wiegte das Haupt. »Genau, was ich meine! Wenn Sie die Entwicklungshilfe-Millionen für die Fertighäuser von der deutschen Regierung genommen hätten, wären Sie wiederum gezwungen gewesen, die Häuser von einer deutschen Firma herstellen zu lassen, die im Kampf mit anderen Firmen auf diesem Gebiet liegt und das billigste Gebot gemacht hätte. Folge: Soziale Ungerechtigkeit in der Bundesrepublik! Wir, mein Generalbevollmächtigter und ich, haben uns sofort gesagt: Nein, Exzellenz müssen die Millionen von uns bekommen! Wir geben Exzellenz einen Experten und Facharbeiter, die werden die Fabriken zur Herstellung solcher Häuser in Karania bauen. Und das, was die Fabriken kosten, finanzieren wir vor, und Sie zahlen es uns zurück. Ganz einfach. Und wenn die Fabriken fertig sind, können Ihre Landsleute sie übernehmen und selber weiterproduzieren! Nur vierzig Prozent Kapazität der Fabriken behalten wir uns vor. Und die Fertighäuser, die ich baue, sind nun mal die anerkannt besten! Weiß Gott, was für einen Mist Sie sonst gekriegt hätten!«

»Die Dankbarkeit meines Volkes ist Ihnen für alle Zeit gewiß, meine Herren«, sprach der Premier ergriffen.

»Wir werden Ihnen also das Geld geben, und nicht die Regierung! Wieviel brauchen Sie? Erlegen Sie sich keinen Zwang auf! Achtzig Millionen? Hundert?«

Man einigte sich auf neunzig Millionen.

»Sie sprechen phantastisch Englisch, Exzellenz«, sagte Jakob schmeichlerisch, nachdem alle Verträge unterzeichnet waren.

»Ich habe in Oxford studiert, Mister Formann«, gab der Premier bekannt. »Mein Vater war Elfenbeinhändler. Sie wissen, die Stoßzähne der Elefanten …« Jakob und Franzl nickten. »Im übrigen: Ihre Spezialisten können mit einer Maschine der KARANIAN AIRLINES nach Afrika, in meine Heimat kommen!«

»Sie haben schon eine eigene Luftfahrtgesellschaft, Exzellenz? Donnerwetter!« staunte Jakob. »Wie viele Maschinen sind denn im Einsatz?«

»Eine«, erwiderte der Premier freundlich. »Meine. Ich habe sie sofort gekauft, als ich die ersten Entwicklungsmillionen von Ihrer Regierung erhielt.«

»Sehr klug und weitsichtig, Exzellenz. Mehr Maschinen werden natürlich folgen!«

»Natürlich, Mister Formann. Sobald die nächste Millionenrate der Bundesregierung fällig ist. Und vor allem dann, wenn ich Kaiser von Karania geworden bin!«

Da konnten die Herren Formann und Arnusch nur stumm schlucken.

Mit tiefen Verneigungen und innigen Händedrücken verabschiedeten die beiden den schwarzen Anwärter auf den Kaiserthron von Karania schließlich. Sie begleiteten ihn bis auf die Straße hinaus. Hier stand ein nagelneuer großer Mercedes hinter dem Bentley des Arnusch Franzl. Ein weißer Chauffeur in Livree riß mit tiefer Verneigung, die Kappe in der Hand, den Schlag für den Neger auf.

»Schicker Wagen«, sagte Jakob.

»Nicht wahr? Den habe ich von der allerersten Rate der Bundesregierung gekauft. Ich meine: Als Staatschef …«

»… müssen Sie einen solchen Wagen haben, das ist nur selbstverständlich«, beeilte sich Jakob zu sagen. Danach kam der Arnusch Franzl zu Wort: »Und ein deutscher Chauffeur ist auch unerläßlich. Guten Tag, lieber Herr …«

»Stößlgasser«, sagte der riesige Chauffeur mit rauhen Urlauten. Sie schüttelten ihm beide die Hand, der Jakob und der Franzl. Schließlich waren sie soziale Sozialisten, und alle Menschen sind gleich, wenn auch manche gleicher sind als die andern.

»Ich habe eine Reise durch das schöne Bayernland gemacht«, erklärte der Premier. »Ludwig der Zweite! Hohenschwanstein! All diese herrlichen Schlösser! Diese Kultiviertheit! Das werden wir jetzt sehr bald auch in Karania haben! Kaiserschlösser …« Exzellenz blickten träumerisch in die Ferne. »In Ruhpolding – ein märchenhafter Ort, ach ja, in Ruhpolding habe ich Mister Stößlgasser gefunden. Wir sind schon sehr gute Freunde geworden!« Der Premier schlug dem Bayern auf die Schulter. »Mister Stößlgasser kommt mit nach Karania, natürlich.«

»Natürlich«, echoten der Jakob und der Franzl.

»Wie der Mercedes! Der wird verschifft! Mister Stößlgasser fliegt mit mir. Als Premier muß ich doch einen Weißen als Chauffeur haben, nicht wahr? … Als Hofchauffeur …«

Die Herren Formann und Arnusch beeilten sich, dem Premier zu versichern, daß das sogar unerläßlich sei – ein Attribut höchster Würde und zugleich ein Zeichen absoluter Freiheit und Unabhängigkeit von fremden Ländern (insbesondere solchen mit weißer Bevölkerung).

Sie winkten dem Wagen lange nach, dann gingen sie in die Villa zurück. »Gott sei Dank«, sagte Jakob.

»Gott sei Dank, was?«

»Gott sei Dank hat Gott es uns erlaubt, diesen armen Menschen zu helfen. Ich hatte bereits eine beginnende Neurose … Das Elend in den frei und unabhängig werdenden Staaten der Dritten Welt ließ mir keine Ruhe mehr und hätte mich gar bald zum Wahnsinn getrieben.«

»Mein Armer«, sagte der Arnusch Franzl. »Jetzt aber ist alles wieder gut, ja?«

»Ja, Franzl«, sagte Jakob. »Dank dir! Du weißt nicht, was diese Transaktion, die du da zustande gebracht hast, für mich bedeutet!«

»Ach doch, ich weiß es schon.« Der Arnusch Franzl grunzte. »Das wird das größte Geschäft unseres Lebens!«

»Das allergrößte! Deine Idee war einfach genial mit den afrikanischen Fabriken für unsere Fertighäuser. Und jetzt rufst du sofort den Jaschke an und sagst ihm, er muß runterfliegen nach Karania, schnellstens, mit seinen besten Leuten.«

»Natürlich«, sagte der Franzl. »Und damit machen wir den Anfang von einem Riesenrebbach!«

»Dank deiner Genialität, Franzl! Denn, wie du gleich am Anfang gesagt hast: Wenn der Schwarze das Geld von Bonn nimmt, dann kann er die Fertighäuser auch von Jäger und Hampel kaufen, den miesen Vögeln.« Jäger & Hampel war eine Firma, die ebenfalls Fertighäuser fabrizierte und so zum natürlichen (und durchaus nicht ungefährlichen) Konkurrenten für Jakob geworden war. »Aber in den Fabriken, die der Jaschke dem Kaiserneger da hinbaut, da kann man bloß unsere Häuser herstellen! Und vierzig Prozent der Kapazität bleiben uns! Damit können wir ganz Afrika mit Fertighäusern beliefern! Mensch, Franzl, was da Geld reinkommen wird, ajajaj!«

»Natürlich werden Jäger und Hampel jetzt sagen, wir haben einen Beschiß gemacht. Aber das soll uns nicht bekümmern«, sagte der Franzl salbungsvoll. »Wir können es beruhigt überhören und diese Säue still verachten, denn wir wissen, daß wir nur Gutes für arme Menschen tun.«

»Franzl, du bist wirklich mein bester Freund!« rief Jakob bewegt aus. »Ich muß dir endlich einmal zeigen, wie dankbar ich dir bin für alles, was du für mich tust!«

»Ach, hör schon auf …« Der dicke Arnusch Franzl zierte sich. »Ist doch selbstverständlich, mein Bester!«

»Gar nicht selbstverständlich! Ich will dir auch einmal eine Freude machen. Hast du einen Wunsch? Na! Sag schon! Ist erfüllt, der Wunsch, was immer es ist!«

»Weißt du, ich hätte gern … Nein, das geht nicht …« Der Franzl machte auf verschämt.

»Bei Jakob Formann geht alles! Was hättest du also gern? Raus damit!«

»Du zwingst mich, es zu sagen …!«

»Ich zwinge dich, na klar, mein Lieber! Also, was hättest du gerne?«

»Eine Bank«, sagte der Arnusch Franzl.

»Eine was?«

»Du weißt doch, daß ich mich mein Leben lang für Geld interessiert habe. Eine ganz kleine Bank nur. Nicht hier in Deutschland. Für meine Geschäfte. In Wien am besten.«

»Und das sagst du Esel mir erst jetzt?« regte Jakob sich auf.

»Tja, siehst du, mein Guter, um so eine Bank, auch eine ganz kleine, zu eröffnen, brauche ich natürlich Geld. Und ich wollte doch nicht dich, meinen besten Freund, um Geld …«

»Halt den Mund! Wieviel Geld brauchst du für die kleine Bank in Wien?« Jakob war tief gerührt ob solcher Bescheidenheit seines großen Mentors.

»Ja, hm, also …«

»Wenn du es mir nicht sagst, feuere ich dich!«

»Um Gottes willen, das ist ja Erpressung, mein Bester! Also gut, du zwingst mich: Wenn ich so fünfzig Millionen Schilling hätte, dann könnte ich meine kleine Bank in Wien aufmachen.«

»Fünfzig Millionen Schilling?« hauchte Jakob.

»Da haben wir’s! Ich hab’ gewußt, daß ich nicht davon reden soll. Jetzt bist du erschrocken, stimmt’s?«

»Ja.«

»Siehst du!«

»Aber nur über die Höhe der Summe, Franzl! Was kannst du schon mit fünfzig Millionen Schilling anfangen! Fünfundsiebzig ist das mindeste! Halt den Mund! Kein Wort! Bist du mein bester Freund oder bist du es nicht?« Jakob hatte schon nach dem Telefonhörer gegriffen, um eine seiner Banken anzurufen und die Sache in die Wege zu leiten. Der fette Arnusch Franzl stand ganz still, die Händchen über dem mächtigen Bauch gefaltet, und betrachtete Jakob ernst.

7

»Ich darf, lieber und verehrter Herr Formann, Ihnen namens und im Auftrage des Herrn Bundespräsidenten, der, wie Sie wissen, zu seinem allergrößten Bedauern verhindert ist, für Ihre Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband verleihen«, sprach der Bundesinnenminister anläßlich eines Festaktes am Nachmittag des 21. Juni 1961. Zum erstenmal im Leben hatte Jakob einen Frack anziehen müssen, und nun kennt der geneigte Leser auch den genauen Zeitpunkt, zu dem unser Freund anfing, dieses Kleidungsstück (ein Relikt – mehr: ein Fossil aus spätfeudalistisch-frühbourgeoiser Zeit wohlgemerkt!) zu hassen.

Eine illustre Gesellschaft hatte sich aus diesem Anlaß im Festsaal des Bundesinnenministeriums zusammengefunden und wurde nun Zeuge, wie Jakob Orden und Urkunde erhielt. Ein Kammerorchester spielte Vivaldi. Jakob Formann verlor zehn Worte des Dankes für die hohe Auszeichnung und machte ein beherrscht wütendes Gesicht, was keinen der Anwesenden erstaunte, denn alle Anwesenden kannten den Grund für seine üble Laune. Etwa einen Monat zuvor nämlich hatte es einen kleinen Skandal gegeben, oder eigentlich einen gar nicht so kleinen.

Das bekannte Nachrichtenmagazin der Bundesrepublik war etwa einen Monat zuvor mit einer aufsehenerregenden Titelgeschichte erschienen. Der Titel hatte ein Foto des Herrn von Herresheim gezeigt. Darunter war zu lesen gewesen: WIE LANGE NOCH?

Die Titelgeschichte beschäftigte sich mit der Tatsache, daß an wichtigen Stellen der Bundesrepublik alte Nazis saßen, und im besonderen und ausführlich wurde dabei auf Herrn von Herresheim Bezug genommen.

Vor viereinhalb Jahren hatte Jurij Blaschenko auf Jakobs Bitte hin der Bundesregierung belastendes Material über den ehemaligen Wehrwirtschaftsführer schicken lassen, der nun Persönlicher Referent des Staatssekretärs im Außenamt Seefahrt des Bundesverkehrsministeriums war und Jakob so viele Unannehmlichkeiten bereitet hatte. Das Material war gut angekommen und bei der deutschen Bundesregierung viereinhalb Jahre lang gut liegengeblieben, ohne daß das geringste geschah. Viereinhalb Jahre sind eine lange Zeit, hatte Jakob nach seiner Rückkehr aus Rostow (und BAMBIS Verlust) gedacht, und man wird ihm da wohl zustimmen.

Infolgedessen hatte er Redakteure des erwähnten Nachrichtenmagazins auf das bei der Bundesregierung selig schlummernde Material gegen Herresheim aufmerksam gemacht und die Herren, wo nötig, mit Fotokopien versehen, die ihm sein Freund Jurij in freundschaftlichster Weise zuschickte. Gleichzeitig waren PRAWDA und ISWESTIJA so liebenswürdig gewesen, in zwei großen Artikeln bekanntzugeben, wie lange Material gegen ehemalige Nazigrößen bei der Bundesrepublik in Frieden ruht.

All dies hatte den Abgeordneten zum Deutschen Bundestag, Karl Höning (SPD), veranlaßt, in dieser Sache eine Große Anfrage an die Bundesregierung zu richten.

Die Sache erregte die Mitglieder des Deutschen Bundestages ungemein, und mit einer – immerhin! – Zweidrittelmehrheit stimmten sie dafür, daß die Angelegenheit des Persönlichen Referenten des Regierungssekretärs in der Außenstelle Seefahrt Hamburg im Bundesverkehrsministerium, Herrn von Herresheim, sofort vom zuständigen Herrn Minister zu bereinigen sei.

Etwa gleichzeitig hatte Jakob Gelegenheit erhalten, sein altes Wunschvorhaben einem Ausschuß von Parlamentariern zu erläutern. Es ging um den Bau eines großen luxuriösen Fahrgastschiffes! Wie er sich die Sache denn nun vorstelle, wurde er sehr liebenswürdig gefragt.

Nicht minder liebenswürdig erwiderte Jakob, er habe schon vor Jahren erläutert, wie er sich das vorstelle, wäre aber mitsamt seiner Vorstellung abgewiesen worden, nämlich von dem Herrn von Herresheim. Er sei aber gerne bereit, den Herren des Ausschusses (Jetzt habe ich dich, Herresschwein!) die Sache noch einmal zu erläutern. Besonders liebenswürdig sprach er sodann: »Ich bin bereit, das volle wirtschaftliche Risiko für den Betrieb des Schiffes zu übernehmen. Der Bau wird etwa einhundertfünfzig Millionen kosten. Ich hoffe, daß mir aus Mitteln der öffentlichen Hand vierzig Prozent Darlehen und vierzig Prozent Wiederaufbaumittel zur Verfügung gestellt werden. Zwanzig Prozent der Bausumme bringe ich selber ein.«

Das war nur eine reine Michael-Kohlhaas-Haltung (wenn Jakob natürlich auch keine Ahnung hatte, wer Michael Kohlhaas Kleistschen Angedenkens war). 1957 hatte er noch nicht Geld genug besessen, ein Passagierlinienschiff allein zu finanzieren. 1961 besaß er es – und viel mehr! Aber es ging dem Jakob hier nicht darum, daß er die Hilfe der Bundesregierung eigentlich gar nicht mehr nötig hatte, es ging ihm darum, daß er sie 1957 nötig gehabt – und nicht bekommen hatte! Es ging ihm (wie dem Kohlhaas) nicht um das Geld, es ging ihm um die Gerechtigkeit!

Nach halbstündiger Beratung stimmte der Ausschuß den Vorstellungen Jakobs zu. (Na also, Herresschwein!)

Der von Herresheim befand sich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in Hamburg. Nachdem Jakob die Zustimmung zum Bau des Luxusliners und noch bevor er das Große Bundesverdienstkreuz erhalten hatte, ging er am Vormittag des 21. Juni 1961 in das Riesengebäude des Verbandes der Deutschen Unternehmer und daselbst in die Abteilung VI, um verschiedene wichtige Papiere für das Entwicklungshilfeprojekt zu holen, das er mit dem Premierminister der afrikanischen Republik Karania, Ora N’Bomba, ausgehandelt hatte. Von einer rotblonden Schönheit mittlerer Güteklasse wurde er im Zimmer des Vorstands der Abteilung VI des VDU gebeten, einen Augenblick Platz zu nehmen. Der Augenblick dauerte eine Stunde.

Jakob las eine Zeitung vom Tage aus. Er hatte Muße, sogar die Kino- und die Theaterprogramme, die Todesanzeigen und den Annoncenteil zu studieren.

Im Annoncenteil fand er dies:

ÖFFENTLICHE DANKSAGUNG

Endlich, nach genau 13 Jahren seelischer und materieller Not und beruflicher Nachteile, wurde der ›Dank des Vaterlands‹ Wirklichkeit! Nach über dreijähriger russischer Kriegsgefangenschaft habe ich heute DM 540,– sog. Heimkehrerentschädigung erhalten. Das entspricht einer Entschädigung

von pro Tag = 48 Pfennig

Dafür spreche ich meinem Vaterlande und dem Ausgleichsamt für die unbürokratische Bearbeitung meinen Dank aus.

Den jetzigen Soldaten empfehle ich, beizeiten eine Kriegsgefangenen-Versicherung abzuschließen für den Fall, daß der ›Dank des Vaterlandes‹ noch schmaler wird oder ganz ausbleibt.

Nass, Bezirksförster, Fürstenau

Gerade nachdem Jakob das gelesen hatte, öffnete sich eine Tür, und heraus ins Vorzimmer trat ein Hüne von Mann, elegant, blond und blauäugig. Wohlgenährt, gesund und kräftig. Er hielt eine Mappe.

»Hallo, mein lieber Herr Formann«, sprach der Hüne fröhlich und schlug Jakob krachend auf die Schulter.

Unser Freund plumpste in einen Sessel. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe, es wurde ihm schwarz vor den Augen, dann ermannte er sich und rief: »Herresschwein, Sie Heim …, ich meine: Herresheim, Sie Schwein, was tun denn Sie hier?«

»Aber, aber, Herr Formann, um Himmels willen, wie sprechen Sie denn?« entrüstete sich die Rotblonde (mittlerer Güteklasse).

»Lassen Sie nur, Jutta«, sagte der von Herresheim milde lächelnd. »Es ist nur die Wiedersehensfreude. Wir sind alte Bekannte. Hier, lieber Freund, bringe ich Ihnen alle Papiere, die Sie für Ihr Entwicklungshilfeprojekt benötigen.« Er drückte die Mappe Jakob in die linke Hand und schüttelte dem Erschütterten, der mit total blödsinnigem Gesichtsausdruck dasaß, markig die Rechte mit der eigenen Rechten.

»Wie kommen Sie hierher?« erkundigte sich Jakob endlich, leicht lallend.

Der von Herresheim lächelte väterlich und blickte stumm die Rotblonde (mittlerer Güteklasse) namens Jutta an.

»Herr von Herresheim ist der Persönliche Referent des Herrn Vorstands der Abteilung römisch sechs«, sagte die Jutta.

»Nun, also dann: Glück auf«, sagte der von Herresheim herzlich.

Jakob erhob sich mit der festen Absicht, dem Kerl in die ölig grinsende Fresse zu schlagen. Doch er glitt dabei aus und wäre gefallen, hätte der von Herresheim ihn nicht behutsam und schnell in seinen starken Armen aufgefangen.

»Hoppla«, sagte der von Herresheim. »Ja, ja, dieser Teppich rutscht immer, ich weiß. Also dann auf Wiedersehen, mein Lieber.«

Jakob raffte sich zu einer neuen Attacke auf, da traten wie durch Zufall zwei sehr breitschultrige Herren in den Empfangsraum und musterten ihn nachdenklich.

»Servus!« sagte Jakob Formann und machte, daß er fortkam.

Am Nachmittag des gleichen Tages wurde dann im Innenministerium Vivaldi gespielt, und Jakob erhielt das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband für ›Besondere Verdienste um den Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland‹. Der Orden war, wie schon der Name besagt, zu tragen am Großen Bande, der goldene Bruststern links.

Während das Kammerorchester sich durch das Vivaldi-Konzert für Viola d’amore, Violoncello, Flöte, Oboe und Fagott arbeitete und Jakob neben Hohen Herren des Ministeriums Platz genommen hatte, sagte der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland zu ihm: »Wundervoll, dieser Vivaldi, nicht wahr?«

Jakob nickte nur. Er konnte vor Wut nicht reden.

»Einer der großen Musiker seiner Zeit«, sagte der Minister. »Johann Sebastian Bach hat einige seiner Werke bearbeitet und ist von Vivaldi nachhaltig beeinflußt worden. Dieses Konzert haben wir eigens für Sie ausgesucht, mein lieber Herr Formann …«

8

Also ist der Hund, der Herresheim, die Treppe hinaufgeflogen, dachte Jakob. Er dachte drei Tage lang nichts anderes, dann wandte er sich in seinem maßlosen Zorn an das bekannte deutsche Nachrichtenmagazin. Von jetzt an wird es kritisch, schöne Leserin, geistreicher Leser, denn der Redakteur, den das Nachrichtenmagazin daraufhin in Bonn beim Innenministerium Auskunft heischen hieß, ist tot. Einem Ondit zufolge, und wir wiederholen ausdrücklich: einem Ondit zufolge, sagte ein Beamter des Ministeriums dem verblichenen Redakteur in schönstem Kölsch: »Isch weiß jar nich, wat dä Herr Formann will. Mehr als dat Jroße Bundesverdienstkreuz kann er nisch kriejen. Is dä Herr von Herresheim noch Persönlicher Referent im Amt für Seefahrt? Nein! Im VDU ist er, ich bitte Sie! Dä Herr Bundeskanzler hat ooch ’ne Persönliche Referenten, den Herrn Doktor Globke, ja, ja, den mit den Nürnberger Jesetzen, nicha, und dä Herr Bundeskanzler hat jesagt: ›Auf den Mann kan isch nich verzichten!‹ Bitte, is dä Herr Doktor Globke also jeblieben. Damit muß sich dä Herr Formann abfinden, dat man bei uns in der Bundesrepublik auf manche Männer eben nich verzichten kann. Wenn ihm dat nicht paßt, kann er ja in’n Osten jehn, zu dä Zoffjets! Is doch überhaupt Österreicher, nicha?«

9

»Telefon, für dich«, sagte Arnusch Franzl zu Jakob, am Abend des Tages, an dem diesem das Große Bundesverdienstkreuz verliehen worden war. Wenn er sich in Bonn befand, wohnte Jakob immer bei seinem Freund. Die beiden hatten in der prunkvollen Halle gesessen und ferngesehen – eine Unterhaltungssendung, betitelt ›Hotel Victoria‹, mit dem singenden, charmanten, schwyzerdütsch sprechenden Vico Torriani.

»Wer ist dran?«

»Düsseldorf. Ein Blumengeschäft. Was weiß ich.« Der Franzl wälzte sich. Jakob nahm den Hörer und nannte seinen Namen.

»Herr Formann, verzeihen Sie die späte Störung, aber wir haben bis jetzt Nachforschungen angestellt und glauben, daß wir Sie gleich benachrichtigen müssen.«

»Was ist los?« fragte Jakob, dieweilen der Franzl freundlicherweise den Tonregler des Fernsehers zurückdrehte.

»Sie haben am Vormittag angerufen und uns einen Auftrag gegeben. Drei Dutzend Sonja-Rosen an Frau Julia Martens, Düsseldorf, Graf-Adolf-Straße 312.«

»Ja, und?«

»Es tut uns leid, Herr Formann, eine Frau Martens wohnt dort nicht.«

Jakobs Schläfennarbe zuckte.

»Unsinn! Ich habe sie doch selber dort besucht!«

»Wann?«

»Vor …« O Gott, ist das peinlich. O Gott, ist das eine Gemeinheit von mir gegen den guten Hasen! »… vor zwölf Jahren.«

»Ja, da hat sie vielleicht dort gewohnt, aber jetzt …«

»Was sagt der Hausmeister?«

»Der weiß von nichts.«

»Wieso weiß der von nichts?«

»Weil er neu ist. Der, der früher da war, ist gestorben. In dem Haus hat sich überhaupt viel geändert. Wirklich, es tut uns leid, Herr Formann, aber wir konnten die Blumen nicht liefern.«

»Das Telefonbuch! Ist das vielleicht auch verstorben?« regte Jakob sich auf.

»Frau Martens steht auch nicht im neuen Telefonbuch, Herr Formann!«

»Haben Sie eines in der Nähe?«

»Ja.«

»Schauen Sie einmal nach unter JULIA-MODELLE, bitte …«

»Einen Moment, Herr Formann, bitte.«

»Ich warte«, sagte Jakob, schwer beunruhigt.

»Der Hase verschwunden?« erkundigte sich der Arnusch Franzl vor dem Fernsehapparat. Vico Torriani und viele hübsche Mädchen präsentierten auf dem Bildschirm soeben ein grandioses Finale.

»Ja«, antwortete Jakob nervös. »Ich meine nein … Das heißt, natürlich meine ich ja … Er ist …«

»… im Hotel Vic-to-ri-a!« dröhnten Torriani und der Mädchen-Chor. Der Arnusch Franzl hatte den Tonregler wieder aufgedreht.

»Bist du wahnsinnig geworden?« Jakob sprang vor Schreck richtig ein wenig in die Höhe.

»Entschuldige … Ich hab’ den Torriani so gerne, und da, siehst du, jetzt ist seine Show vorüber. Du kannst einem aber auch jede Freude verderben!« Wütend knipste der Fette das Gerät aus.

»Ich? Wieso ich? Was kann ich dafür, wenn mittendrin das Telefon … Ja? Ja, liebes Fräulein? Sie haben JULIA-MODELLE? – Sie haben JULIA-MODELLE nicht? … JULIA-MODELLE stehen auch nicht im Telefonbuch? Aber das ist doch … aber das gibt es doch … da muß ich selber runterkommen und nachschauen. Die Rosen behalten Sie vorläufig … Nein, haben Sie keine Angst, bezahlen tu ich sie ja auf alle Fälle! Und recht vielen Dank, Fräulein …«

Jakob ließ den Hörer in die Gabel fallen, stierte den Fernsehapparat an und sagte: »Ich muß sofort nach Düsseldorf!« Dabei zog er Jacke und Schuhe wieder an, die er des Wohlbehagens wegen beim Fernsehen abgestreift hatte, und stürmte zur Tür.

»Du willst jetzt nach Düsseldorf? Mitten in der Nacht?«

»Klar! Wo schläft Otto? Oben? Ich muß ihn wecken!«

»Mensch, Jakob, sei vernünftig, jetzt mitten in der Nacht erreichst du gar nichts! Da sind doch alle Ämter geschlossen!«

»Ämter?«

»Na, das Meldeamt zum Beispiel. Ich weiß ja nicht, warum dein Hase nicht mehr in der Graf-Adolf-Straße wohnt, wenn er jedoch woanders wohnt, dann kriegst du das nur beim Meldeamt raus!«

10

»Aber sie kann doch nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein, Theo«, sagte Jakob tags darauf. Er saß mit seinem Freund und Chauffeur Otto sowie dem ›Esquire‹-Theo an einem Tischchen des Cafés Hemesath an der Düsseldorfer Königsallee. Den Theo hatte Jakob noch nachts zuvor aus Bonn angerufen und gebeten, ihm zu helfen. Aus dem ›Esquire‹-Club, wo er Dienst tat, war sofort die Antwort gekommen: »Na klar, Herr Formann, treffen mir uns em Café Hemesath op de Kö. Dat jehört och dem Carlo. Et es wejen de Frau Martens, wat?«

»Ja. Wissen Sie, wo sie ist?«

»Nee. Awer sons en Menge.«

»Dann erzählen Sie!«

»Duert zo lange. Do es’ en Keilerei em Jang, Herr Formann, sidd net bös, ech moß do Freede stifte. Morje öm drei Uhr nommeddag? Ech moß mech doch usschlofe met min Nachtschecht.«

Jakob und Otto waren schon am Vormittag nach Düsseldorf gefahren. Da, wo einmal die Schaufenster der JULIA-MODELLE gewesen waren, fand Jakob ein Delikatessengeschäft vor. Im vierten Stock links wohnten fremde Menschen. Eine Frau Schubert öffnete. Nein, sie wisse nichts von Frau Martens, sie höre den Namen zum ersten Mal, sie sei mit ihrem Mann durch einen Wohnungsvermittler hier gelandet, früher hätten die Schuberts in Karlsruhe gelebt.

»Wann früher?«

»Na, bis vor sechs Jahren«, sagte Frau Schubert. Drei Kinder hatte sie, die eine Menge Krach machten. »1955 im September, da sind wir hier eingezogen. Seid doch mal ruhig. Kinder! Karl-Heinz, zieh der Ute nicht dauernd den Rock herunter, sonst setzt es was! Mein Mann ist bei der Steuer, wissen Sie, Herr Formann, sie haben ihn befördert und nach Düsseldorf versetzt. Tut mir wirklich leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen, Herr For … Karl-Heinz! Jetzt kriegst du es aber …«

In dem Delikatessengeschäft war Jakob auch nicht weitergekommen. Die Geschäftsführerin hatte erklärt: »Wir sind eine Ladenkette, wissen Sie? Wallner-Delikatessen. Kennen Sie sicher. Über vierhundert Filialen in ganz Westdeutschland.« Die Geschäftsführerin senkte die Stimme. »Ich will ja nichts gesagt haben, aber da hat es Stunk gegeben, als der Herr Wallner diesen Laden gekauft hat von der Dame, die Sie suchen.«

»Was für Stunk?«

»Weiß ich nicht. Wegen dem Preis vermutlich. Sie haben sich dann geeinigt, heißt es …«

Absolut unergiebig erwies sich das Meldeamt. Ein magerer Mann in grauem Kittel suchte in Regalen, fand, was er suchte, und sprach zu Jakob: »Da haben wir sie ja schon! Martens, Julia, Graf-Adolf-Straße dreihundertzwölf.«

»Ja, und?«

»Und nichts. Abgemeldet am zwölften August 1955. Verzogen.«

»Wohin?«

»Woher soll ich das wissen, Herr?«

»Na, ich denke, das steht auch da, wenn man sich dann woanders angemeldet hat.«

»Nee, das steht dann nicht da! Nur, daß die Person weg ist. Und zwar weg aus Düsseldorf. Das steht fest. In Düsseldorf ist die Dame nicht mehr! Sonst hätten wir die neue Adresse. In der gleichen Stadt geht das. Aber nicht, wenn sie in eine andere Stadt gezogen ist – oder ins Ausland.«

»Wieso ins Ausland?« fragte Jakob aufgeregt.

»Wieso nicht ins Ausland, Herr? Macht eine Mark, die Auskunft …«

»Aber sie kann doch nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein, Theo«, sagte Jakob dann um drei Uhr nachmittag im Café Hemesath.

»Esse jo ooch net, Herr Formann. Die kann öwerall lewe, wat wesse mir? Dat se hee fott es, dat hätt ech dech jliich saje könne, Herr Formann. Nur wohenn, dat nich.«

»Warum ist sie weg?« fragte Jakob und fühlte, wie ihm das Herz weh tat.

»Na, weje der Hochziet, denk ech«, sagte Theo.

»Was für eine Hochzeit?« fragte sein Kriegskamerad Otto Radtke.

»Ihr Freund, de Schauspieler, de Herr Fromm, de hat doch die Edda jeheirat, et es de Tochter vom Direktor Mühsam von de CYRIO-Film – herrje, Herr Formann, wat haste denn da jemacht?«

Jakob hatte, weiß vor Zorn, auf den Tisch schlagen wollen und dabei seine Kaffeetasse getroffen. Der Erfolg war überwältigend. Tasse zerbrochen, Kaffee überallhin verspritzt, Anzug versaut, Hand aufgeschnitten …

Eine Kellnerin verarztete den Wortlosen. Eine andere kehrte die Scherben zusammen und wischte alles trocken. Das dauerte seine Zeit. Nachdem diese Zeit um war, sagte Jakob durch die Zähne: »Der Fromm, der Sauhund, der verfluchte. Prophezeit habe ich es dem Ha … der Julia! Klar ist mir gewesen, daß er sie nur ausnützt, der Schuft. Der Drecksack. Von Julia leben und warten, bis die Edda fünfzehn ist, und sich dann ranmachen an die … Wann war die Hochzeit, Theo?«

»Dat kann ech dech janz jenau saje, Herr Formann. Die wat am veeronzwanzigste August fünfonfuffzich. Ech weiß dat so janz jenau, weil ech am fünfonzwanzigste Geburtstag hab.«

»Herzlichen Glückwunsch. Und?«

»Und, na ja, die Hochziet … Janz fierliche Anjelejenheit! Piekfien! Es jo och ene stadtbekannte Mann, de Herr Direktor Mühsam. Die janz fiene Dösseldorfer Jesellschaft wor do, e Stadtereignis! Fotos on Berechte en de ›Rheinische Post‹ on all dene andere Ziedonge.«

»Da ist die Edda neunzehn gewesen.« Jakob nickte.

»Ja, und der Fromm, der Fromm, wie he dann met de Edda zusamme wor, da es he sofort danach in die Filmfirma vom Direktor Mühsam einjetreten, und da es he immer noch. Jetzt führt er die CYRIO-Film!« Theo räusperte sich. »Na ja, und jliech no de Hochziet, do hät de Frau Martens sech dönn jemacht. Alles öwer en Ajentur afweckele lasse, Wohnungsverkauf, Geschäftsverkauf.«

»Also, dieser Fromm, das ist schon ein Riesenschuft, Jakob, das muß ich ja sagen«, versuchte Otto seinen Chef zu trösten, der völlig erstarrt dasaß. Ach, Hase, Hase, Hase, dachte Jakob. Wie ist das alles schrecklich.

11

Als Jakob dann auch noch mit Theresienkron bei Hörsching nahe Linz in Österreich telefoniert und von einer sehr einsilbigen Frau Pröschl erfahren hatte, daß der Hase nicht da war, seit Jahren nicht, wurde er gefährlich böse.

Jetzt war dieser Fromm fällig! Vergebens flehten Theo und Otto den Jakob an, sich zu beherrschen und einen klaren Kopf zu bewahren. Umsonst malten sie ihm die Folgen eines Skandals aus. Es gelang dem listigen Jakob, den beiden zu entwischen. Im Telefonbuch einer Fernsprechzelle fand er dann, was er suchte:

Fromm, Erich, Filmproduzent, Schadowstraße 241 … 435 34 56 Privat: Cecilien-Allee 432 … 765 45 34

Jakob fuhr mit einem Taxi in die Schadowstraße. Das Büro war sehr groß, sehr gediegen, erweckte einen sehr seriösen Eindruck, und Herr Erich Fromm war nicht anwesend, wie eine Sekretärin (die hat er natürlich auch längst aufs Kreuz gelegt, der liebe Fromm, dachte Jakob) bekanntgab.

Wo denn der Herr Fromm sei?

Noch zu Hause, soviel die Sekretärin wisse.

Also fuhr Jakob mit dem Taxi hinaus zur Cecilien-Allee, den Rhein entlang, vorbei an alten Parks und herrlichen Villen, eisigkalte Wut im Bauch.

Die Cecilien-Allee ist eine vornehme Straße, und je weiter Jakob kam, desto feiner wurde sie. Er ließ den Fahrer etwas zu früh halten, bezahlte und schickte das Taxi fort. (Keine unnötigen Zeugen!)

Den Kopf gesenkt, die Hände zu Fäusten geballt, so schritt Jakob fürbaß – wie die Helden in den amerikanischen Krimi-Serien, die das Deutsche Fernsehen seit geraumer Zeit importierte. Die Sonne schien, doch alles, was der sonst so heitere Jakob nunmehr finster denken konnte, war: Rache, Rache, Rache!

432!

Da war das Haus.

Haus?

Ein kleines Schlößchen war das! In einem verwunschenen Park gelegen. Der hat schon gewußt, was er macht, der Lump, dachte Jakob, der hat sich das schon alles fein ausgerechnet, der Schönling, der widerwärtige. Na, lange wird der nicht mehr schön sein, der Schönling. Wenn ich erst mit ihm fertig bin …

Das Gartentor stand halb offen. In dieser feinen Gegend hatte man offenbar keine Angst vor Übeltätern. Tags kommen sie sowieso nicht, und nachts stolpern sicherlich die armen Kerle von der Wach- und Schließgesellschaft hier ihre Runden, dachte Jakob. Er betrat den breiten Kiesweg, der durch den Park zum Haus führte. Blumenbeete, uralte Bäume, ein kleiner Teich …

Nebel bildeten sich vor Jakobs Augen, während er Schritt vor Schritt setzte. Freue dich, Fromm, jetzt ist die Sekunde der Abrechnung gekommen. Du hast den armen Hasen unglücklich gemacht, du hast ihn verlassen, du hast ihn belogen und betrogen – du hast ihm – wie hieß doch gleich dieser Film, ach ja! – die besten Jahre seines Lebens hast du ihm genommen, du Sauhund, dachte Jakob. (Daran, daß er dem armen Hasen ganz Ähnliches angetan hatte, dachte er keine Sekunde. Das kam ihm überhaupt nicht in den Sinn.)

Und links. Und rechts. Und links. Und …

Was war denn das?

Jakob blieb stehen.

Da hatte doch jemand geschrien, jämmerlich und laut! Schrie schon wieder! Noch lauter und jämmerlicher. Achgottachgott, da drüben! Da drüben auf einer sonnenbeschienenen Wiese sah Jakob ein Laufställchen, darin ein winziges Kind, das jämmerlich weinte. Es konnte nicht sprechen, das kleine Wesen, es hatte nur Jakob erblickt und zu schreien begonnen. Und zu winken. Etwas war dem Kleinen aus dem Ställchen gefallen. Ein Spielzeug. Das lag jetzt im Gras. Und das Kleine konnte es nicht greifen.

Jakobs weiches Herz pochte. Das arme Ding. So winzig und hilflos! Er verließ den Kiesweg und ging auf das Laufställchen zu. Das Kind ließ aufgeregte Töne der Freude und Hoffnung ertönen.

Da lag das Spielzeug. Es war – für Symbolträchtigkeit hatte Jakob im Moment, ach, was heißt im Moment, in seinem ganzen Leben! keinen Sinn – ein Bärchen. Mit einem Knopf im Ohr.

Jakob hob das Bärchen auf und reichte es dem Kind. Das Kind hielt das Bärchen mit zwei rosigen Händchen fest, und nun lachte es glücklich über das ganze Gesicht. Und ließ sich im Laufställchen auf eine Decke fallen und streichelte und liebkoste sein Bärchen, ganz in sein zärtliches Tun versunken.

Ach ja, und versunken stand Jakob da, drei Minuten mindestens, und sah dem spielenden Kind zu. Dann fuhr er zusammen. Es war ihm eingefallen, wo er sich befand und was er vorhatte. Nur, fand er, hatte er das jetzt gar nicht mehr vor. In keiner Weise. Das Kind hätte nicht da sein dürfen, das war sein Pech und des Herrn Filmproduzenten Direktor Erich Fromms Glück. Was können in unserer Welt die Kinder dafür?

Den Kopf gesenkt, die Hände geöffnet, die Schultern herabhängend, so schlich Jakob gleich darauf mit schlurfenden Schritten (und in keiner Weise mehr den Helden aus den amerikanischen Krimi-Fernseh-Serien ähnlich) den Kiesweg zurück zum Tor, trat auf die Cecilien-Allee hinaus und ging den Weg, den er gekommen war, mit völlig verwirrten Gefühlen, leicht schwindelig und gänzlich kraftlos, zurück.

Er mußte ein langes Stück gehen, bevor er ein Taxi anhalten konnte.

Der Fahrer betrachtete ihn neugierig.

»Wohin, Herr Formann?«

Jakob blinzelte. »Sie wissen, wer ich bin?«

»Na, sind Sie der Herr Formann?«

»Ja.«

»Na also! Hat Sie noch niemand erkannt? Dauernd sieht man Fotos von Ihnen in den Zeitungen und liest Geschichten über Sie … Ist mir eine große Ehre, Sie fahren zu dürfen, Herr Formann.«

»Hm … danke …« So etwas tut natürlich wohl.

»Wohin soll’s denn gehen?«

»Nach …« Jakob überlegte nicht lange. Der Hase war nicht mehr in Düsseldorf. Nur raus, raus, raus aus dieser Stadt! Was hatte er hier noch verloren?

»Nach Bonn, bitte.« Jakob gab die Adresse des Arnusch Franzl an.

»Okay. Bonn.« Der Fahrer war erfreut über die weite Strecke.

Geschwätzig war er auch. »Apropos okay, Herr Formann, Ihnen gehört doch OKAY. Die Illustrierte, meine ich. Nicht?«

»Ja, die gehört mir.« Wo ist der Hase? »Warum?«

»Weil … Also, meinen Glückwunsch, Herr Formann«, sagte der Chauffeur.

»Glückwunsch wozu?«

»Na, zur neuen Serie!« Der Fahrer geriet außer sich. »So was habe ich in meinem Leben noch nicht gelesen! Und alle meine Freunde und Kollegen sind genauso begeistert wie ich! Na, Sie müssen doch wissen, wie Ihre Auflage steigt!«

Verflucht, ich habe zuviel zu tun, dachte Jakob, ich habe noch keine Zeit gehabt, nach München zu fliegen und mich wieder mal im Verlag sehen zu lassen.

»Klar weiß ich es«, sagte er jovial. »Das ist eine verflucht gute Serie, ja, ja, ich weiß es.« Keine Ahnung hatte er.

»Allein der Titel!« schwärmte der Taxifahrer. »Da soll erst einmal einer draufkommen! ES MUSS NICHT IMMER HUMMER SEIN! Ist aber auch ein phantastischer Schreiber, dieser Klaus Mario Schreiber!«

»Das stimmt. Der beste, den ich habe.«

»Ich habe von Anfang an immer alles gelesen, was der geschrieben hat, und ich bin sicher, der schreibt unter mehreren Namen – Sie werden es mir nicht sagen, Herr Formann –, aber diesmal hat er sein Meisterstück geliefert! Wie das gleich angefangen hat! Und dazu noch die Idee, daß der Kerl kocht und daß die Kochrezepte mitgedruckt werden!«

12

Zwei Stunden später …

»Schreiber, hier ist Formann!«

Jakob stand in der Halle von Franz Arnuschs Haus in Bonn und hielt den Telefonhörer am Ohr.

»Ach, g … guten Tag, Ch … Chef, L … Lange nicht ge … gesehen. W … Wo ha … haben Sie denn gesteckt?« ertönte die Stimme des Starschreibers und größten Trunkenboldes von OKAY an Jakobs Ohr.

»Ich war in Rußland. Jetzt bin ich in Bonn. Sagen Sie mal, ich habe mir eben eine OKAY gekauft. Sie schreiben da eine neue Serie. ES MUSS NICHT IMMER HUMMER SEIN. Also, das ist …«

»Sch … Scheiße, ich weiß, He … Herr Formann, a … aber es l … läuft wie ver … verrückt, was s … soll ich machen?«

»Weiterschreiben, Mensch!«

»Ja, da … das sagen Sie so … so, Ch … Chef. Mi … Mir hängt das Z … Zeug schon zum Ha … Hals raus. Ich krieg’ von L … Lesern und Film … produzenten, die das D … Ding haben wollen, ob … obwohl es gerade erst angefangen hat, jeden Tag, den der l … liebe Gott werden läßt, H … Hummer! J … Jawohl, Hummer! Und na … natürlich ha … habe ich zuerst alles wie ein Irrer aufge … gefressen. Jetzt ka … kann ich keinen H … Hummer mehr s … sehen, ohne daß mir schlecht wird. Ich w … werde nie mehr H … Hummer essen können!«

»Mann, Schreiber, wo haben Sie die Story her?«

»Ach, die ha … haben mich nach Ame … Amerika geschickt, wissen Sie, Ch … Chef. Ei … Eine alte Dame hat uns ge … geschrieben, daß sie einen w … wunderbaren Stoff für u … uns hat. Wa … War auch ein w … wunderbarer Stoff. N … Nur nicht zu brau … brauchen.«

»Warum nicht?«

»Die alte D … Dame war völ … völlig unzurechnungsfähig … Ent … Entmündigt … A … Aber das habe ich erst drü … drüben rausgekriegt. Na, und wie ich mich da … dann so ein b … bißchen in den Staaten rumgetrieben h … habe, d … da ist mir die … dieser Kerl über den We … Weg gelaufen … Da … Das heißt, zuerst seine Frau … Sss … Süße Puppe … Die wollte ich natürlich sofort …«

»Verstehe.«

»A … Aber sie hat mich reingelegt! Z … Zu sich eingeladen … U … Und mir ihren Mann vorgestellt!«

»Diesen Thomas Lieven?«

»Na, in Wi … Wirklichkeit heißt er ga … ganz a … anders … Moment, der Ko … Kornfeld kommt grad rein, er hat gehört, Sie ru … rufen an, er muß Sie … La … Laß meinen ›Chivas‹ in Ruhe, Kornfeld, Mensch! … Spre … Sprechen muß er Sie, sagt er … Tschü … üß, Ch … Chef. U … Und la … lassen Sie sich mal w … wieder hier sehen! Ich ü … ü … übergebe …«

Dann vernahm Jakob die Stimme seines Vertriebschefs. (Er hatte seinerzeit den Redakteuren gekündigt, den anderen Angestellten nicht.)

»Herr Formann!« jubelte der Vertriebschef. »Haben Sie denn unsere Telegramme nicht gekriegt?«

»Kein einziges. Wo habt ihr sie hingeschickt?«

»Na, ins Kulturhaus nach Rostow!«

»Da liegen sie wohl noch. Was ist los? Geht die Serie wirklich so gut?«

»Gut? Das ist überhaupt kein Ausdruck!« Kornfeld schrie jetzt. »So was war noch nie da! Zweihunderttausend Exemplare mehr nach den ersten drei Teilen! Und wir steigen und steigen!«

»Dann muß der Schreiber weiter- und weiterschreiben!«

»Das ist ja das Kreuz! Er will nur eine kurze Serie, sagt er.«

»Quatsch! Ich kenne ihn doch, den Lumpen, den versoffenen. Mehr Geld will er! Und jetzt hat er uns in der Ecke und kann uns erpressen. Er muß einfach weiterschreiben! Und wir müssen ihm mehr Geld geben!«

»Gott sei Dank, daß Sie das bewilligen, Herr Formann. Es kommt hundert- und tausendfach wieder rein! Sie wissen ja, was ich früher immer gesagt habe: ›Text, das ist der Dreck, der zwischen den Inseraten steht!‹ Ich habe mich geirrt. Jetzt, beim HUMMER, da sind die Inserate der Dreck, der zwischen dem Schreiber seiner Serie steht!«

»›Chivas‹ muß er saufen«, brummte Jakob. »Vor ein paar Jahren hat’s noch ›Johnnie Walker‹ getan. Und ganz am Anfang Weinbrandverschnitt. Mit der Bundesrepublik geht’s bergauf!«

»Toi, toi, toi, Herr Formann. Nicht verschreien!«

»Da haben Sie recht, nicht verschreien«, sagte Jakob und klopfte auf Holz. Als er sich verabschiedet und das Gespräch beendet hatte, kam der fette Arnusch Franzl in die Halle. Er strahlte.

»Du strahlst ja so, Franzl?«

»Nachricht für dich!«

»Was für eine Nachricht?«

Der Arnusch Franzl ließ sich ächzend auf eine ächzende Couch krachen. »Na, du warst doch so außer dir wegen dem Hasen … Wo der ist … Ob der sich was angetan hat … Völlig meschugge warst du, als du angekommen bist … Da habe ich mir gedacht, ich muß mich gleich selbst darum kümmern …«

»Und? Wo ist der Hase?« flüsterte Jakob.

»Gleich. Laß mich erzählen, wie ich es angefangen habe. Ich habe alle unsere Piloten verständigt. Die haben die besten Verbindungen zur Polizei auf den Flughäfen.«

»Wieso Flughäfen?«

»Mein Bester, was tut eine Frau, die gerade ihre Wohnung und ihr Geschäft verkauft und ihren Geliebten verloren hat, in ihrer Verzweiflung?«

»Na was? Red schon. Was tut sie?«

»Sie haut ab von dort, wo es passiert ist, habe ich mir gesagt. So weit wie möglich haut sie ab. Bloß an nichts mehr erinnert werden. So denke ich. So denkt jede Frau.«

»Du bist ja gar keine.«

»Aber ich kann mich in eine hineinfühlen«, erklärte der Arnusch Franzl triumphierend. »Und ich hab’ mich richtig hineingefühlt! Die haben auf allen großen Flughäfen nachgeschaut – unseren Piloten zuliebe –, wer um diese Zeit herum – August, September fünfundfünfzig – weit weggeflogen ist …«

»Sie hätte ja auch ein Schiff nehmen können.«

»Hätte sie, ja. Aber hat sie nicht. Wie es so geht im menschlichen Leben. Geflogen ist sie!« Der fette Franzl schlug auf einen Zettel, den er in einer Hand hielt. »Und zwar mit der LUFTHANSA! Erster Klasse! Von Orly aus! Am vierzehnten August 1955 um zwanzig Uhr zehn mit Flug fünfhundertundelf über London nach Los Angeles!«

»LUFTHANSA? Nach Los Angeles?«

»Sage ich doch, mein Guter.«

»Aber warum? Was macht sie in Kalifornien?«

»Das habe ich natürlich nicht rauskriegen können, mein Bester.« Jakob krachte gleichfalls auf die Couch.

»Ich werde verrückt. Nach Kalifornien«, murmelte er …

13

JUNGE NEGER!

Seid ihr das Opfer rassisch bedingter Vorurteile? Weigern sich weiße Mädchen, sich von euch nach Hause begleiten zu lassen? Als Soldaten der USA könnt ihr ins Ausland reisen! Die weißen Mädchen in Deutschland, England und Frankreich warten nur darauf, euer gesundes Lachen zu sehen! Meldet euch noch heute zur Armee!

»Sauerei so was«, sagte Jakob wütend und schlug mit der flachen Hand auf die große Annonce im Inseratenteil der Zeitung. »Den armen Jesus haben sie zuerst ins Ausland geschickt und dann daheim umgebracht, verflucht, verflucht, verflucht!«

»Hör schon auf«, sagte sein alter Freund George Misaras. »Steht also wieder nichts drin, was?«

»Nicht die Spur.«

»Hätte ich dir sagen können. Der Hase will nicht. Oder er ist schon längst woanders.«

»Fünf Detektive habe ich engagiert hier in Kalifornien!« erregte sich Jakob. »Glaubst du, ein einziger hat auch nur die Spur von einer Spur gefunden?«

»Das glaube ich dir aufs Wort, daß keiner eine Spur gefunden hat. Man wird auch keine finden. Wenn dein Hase nicht direkt in einen von deinen Detektiven reinläuft. Ich habe dir doch gesagt, in den Staaten gibt es keine Meldepflicht!«

»Scheiße, verfluchte«, schimpfte Jakob Formann und knallte die große, dicke Zeitung, ein Exemplar des LOS ANGELES INQUIRER vom Tage, dem 28. Juni 1961, auf den Frühstückstisch. Der Tisch stand in der großen Wohnhalle von George Misaras’ Haus an der Rossmoyne Street im nördlichen Stadtteil und Nobelvorort Glendale von Los Angeles. Es gab auch eine junge, sehr hübsche Mrs. Misaras. Kinder gab es nicht. Aber einen großen Park, einen Swimmingpool, wunderschöne Möbel und viele Bilder. Die Bilder kamen Jakob alle ein wenig kindisch vor, er hatte das auch gleich nach der ersten Betrachtung gesagt.

»Ich sammle Bilder der Naiven Malerei, besonders aus Jugoslawien«, hatte Misaras ihm milde lächelnd erklärt.

»Ja, dann!« hatte unser Freund erwidert und dabei verwundert gedacht: Wenn eine Malerei schon naiv ist, warum sammelt man sie dann auch noch?

Nach dem Tode von Jesus Washington Meyer und dessen Familie bei den schweren Rassenunruhen hatte Jakob seinen MP-Freund George Misaras als Leiter der Fertighausabteilung USA eingesetzt. Das heißt: Zuerst hatte er ihn, wie erinnerlich, in einem Hotel in Birmingham zusammengeschlagen, weil er glaubte, es mit einem Mitglied des ›White trash‹, des ›Weißen Abschaums‹, zu tun zu haben. Als Misaras wieder bei Sinnen war und sprechen konnte (mit schmerzendem Kiefer), hatte er Jakob erzählt, daß er gleich nach den ersten Nachrichten von den Zusammenstößen nach Alabama geeilt war, um Jesus beizustehen. (Er lebte in Chicago.) Dann hatte er gehört, daß sich auch Jakob in Birmingham befand, in einem Hotel, und war dorthin gerast, mit dem im wahrsten Sinne des Wortes niederschmetternden Erfolg, daß ihn Jakob k.o. schlug. Nein, nicht nur mit diesem Erfolg.

Nachdem die Trauerfeierlichkeiten vorüber, ihr alter Freund Jesus und dessen weiße Frau Fanny (aus Linz, Österreich) begraben und – bis auf weiteres – wieder Ruhe in Birmingham und Tuscaloosa eingekehrt waren, hatte Misaras erzählt, daß er in Chicago – seine Eltern waren bei einem Autounfall tödlich verunglückt – allein hause und eine Stelle bei einer großen Kartonagen-Firma habe, die ihn gräßlich langweile.

»Dann übernimm doch den Job von Jesus, dem armen Hund«, hatte Jakob gesagt. »Aber nicht hier! Nur weg von hier! Wir müssen alles verlagern, sämtliche Produktionsstätten.«

»South Gate«, hatte George gesagt.

»Was, South Gate?«

»South Gate, Vorort von Los Angeles. Da hat ein Onkel von mir ein großes Industriegelände gehabt. Onkel auch tot. Das Gelände gehört mir. Ich habe bis jetzt keinen gefunden, der es kaufen wollte. Dorthin könnten wir die Fabriken verlagern. South Gate liegt im südlichen Halbkreis von Los Angeles, weißt du, da, wo die Industrie sitzt. Sie sitzt auch in Compton, Inglewood und Huntington Park. Gleich anschließend kommt die Kette der Ölfelder. Die größte Raffinerie – Standard Oil Company of California – steht in El Segundo. Wenn ich gewußt hätte, wo Jesus steckt, längst hätte ich ihn dahin geholt. Aber ich habe ja keine Ahnung gehabt! Erst als die Unruhen losgingen, hat es einmal im Radio geheißen, daß Jesus da in Tuscaloosa und Birmingham arbeitet – als dein Vertreter. Aber da war es schon zu spät.«

»Das also ist die Patentdemokratie!«

»Das ist überhaupt keine Demokratie.«

»Was denn?«

»Hast du den neuen Film von Paddy Chayefsky denn nicht gesehen? Das ganze Land redet davon. Du hast ihn nicht gesehen?«

»Nein. Doch! Natürlich! Nur nicht persönlich«, erwiderte Jakob. »Wer ist Paddy Chayefsky?«

Misaras seufzte.

»Immer noch der alte Jake. Scheiß auf Film, Theater, Literatur, Musik und so weiter, wie? Das ist kein Vorwurf, mein Junge. So ist eben dein Standpunkt. Nur, in diesem neuen Film, da hört man ein paar Sachen, die gehen allen Menschen an die Nieren.«

»Was denn, zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, weil du gesagt hast: Das ist also die Patentdemokratie! Chayefsky sagt – natürlich läßt er es im Film einen Darsteller sagen – ungefähr: Ein Trottel, der noch in Begriffen von Nationen und Völkern denkt! Es gibt keine Nationen mehr und keine Völker! Nicht die Russen oder die Araber oder die Dritte Welt! Es gibt auch den Westen und den Osten nicht! Business gibt es noch. Mit Petrodollars, Elektrodollars, Multidollars, Deutschmark, Rubel, Rin, Pfund und Schekel. Das internationale Währungssystem ist es, das das Leben auf diesem Planeten bestimmt! Bejammere nicht Amerika! Bejammere nicht die Demokratie! Es gibt kein Amerika mehr. Und keine Demokratie! Es gibt nur noch IBM und ITT und AT & T und DuPont, Dow, Union Carbide und Texaco. ›Was glaubst du wohl, worüber die Russen bei ihren Ministerratssitzungen reden?‹ läßt Chayefsky diesen Schauspieler sagen. Über Karl Marx? Daß ich nicht lache! Die ziehen ihre Linearprogramme hervor, ihre Statistiken, ihre Mini- und Maximierungsvorschläge – als die guten kleinen Systemanalytiker, die sie sind! Dann werden die Preis-Kosten-Effekte ihrer Transaktionen und Investitionen per Computer eruiert, ganz genauso, wie das bei uns geschieht! Die Welt ist ein Unternehmenskollegium geworden, Jake, so ähnlich sagt das der Paddy Chayefsky, gnadenlos unterworfen den unverrückbaren Gesetzen des Business. Business! Business beherrscht unsere Erde, sonst nichts, Jake, sonst überhaupt nichts!«

14

George Misaras hatte das Fertighaus-Zentrum also nach South Gate verlagert und erweitert. Es war inzwischen ein riesiges Unternehmen geworden, viele Male größer als Jakobs Werke in der Bundesrepublik, die nach wie vor Karl Jaschke leitete. Der war gerade nach Karania geflogen, um dort für die Obdachlosen der eben in die Freiheit entlassenen Republik Fertighaus-Fabriken zu bauen im ersten Entwicklungshilfe-Projekt unseres Freundes Jakob.

Jakob hatte Fertighaus-Unternehmen in sieben Ländern der Erde errichtet – das in Los Angeles war das größte. Ununterbrochen unterwegs, kam er auch immer wieder zu George Misaras – diesmal war er auf dessen telefonischen Notruf aus Düsseldorf gekommen mit seiner ›Superconstellation‹. Misaras hatte ihn im Hause des Arnusch Franzl erreicht …

»Jake, hier brennt’s!«

»Was soll das heißen?«

»Wir werden bestreikt. Die Gewerkschaft hat geradezu unverschämte Lohnerhöhungen gefordert.«

»Was heißt ›unverschämte‹? Alles wird teurer, George! Leben und leben lassen! Die armen Schweine, deine Arbeiter, kommen einfach mit ihrem Geld nicht mehr aus!«

»Ich habe ihnen ja auch mehr geboten! Ich schwöre dir, Jake – wir waren doch beide einmal arme Hunde –, ich bin doch kein Scheißkapitalist, ich fühle doch mit den Arbeitern! Alle ihre Forderungen habe ich erfüllt!«

»Na und?«

»Die Gewerkschaft hat die Forderungen noch höher geschraubt! So hoch, daß sie irrsinnig sind! Darauf kann ich nicht mehr eingehen, sonst machen wir Pleite! Wir stehen seit drei Wochen still! Die ganze Produktion bleibt liegen! Wir haben terminierte Lieferungen! Wenn wir die Termine nicht einhalten, setzt es Konventionalstrafen, die sind nicht von schlechten Eltern! Und wir kommen als unzuverlässiger Betrieb auf die Schwarze Liste und kriegen überhaupt keine Aufträge mehr!«

Jakob begriff schnell.

»Corbett!«

»Klar, Corbett. Nur beweisen kann ich es nicht.«

Corbett Inc. war gleichfalls ein Werk für Fertighäuser in Los Angeles. Bislang hatte es im Wettbewerb mit Jakobs Unternehmen hoffnungslos zurückstecken müssen – genauso wie Jäger & Hampel in Deutschland! Jakobs Fertighäuser (also eigentlich die von Christoph & Unmack in Niesky) waren eben die besten! Deshalb vergab das Pentagon schon seit geraumer Zeit auch wieder an Jakobs deutsche Werke Riesenaufträge. In Vietnam wurde es heißer und heißer. Dort stand ein großer Krieg unmittelbar bevor. Noch blieb es bei amerikanischer Militärhilfe und amerikanischen Militärberatern da unten. Noch! Bald würde Jakob nicht mehr aus den Augen schauen können, wenn die Amis in Vietnam aktiv eingriffen, und das stand fest zu erwarten. Dann würden seine deutschen Werke (wie schon anläßlich des Korea-Krieges) Tag und Nacht arbeiten müssen.

Corbett Inc. bekamen keine Pentagon-Aufträge. Und auch sonst konnten sie Jakobs Konkurrenz wenig entgegensetzen. Alle großen zivilen Aufträge erhielt sein Stellvertreter George Misaras.

Und jetzt streikten bei dem die Arbeiter, obwohl er ihre Forderungen erfüllt hatte? Jetzt schraubte die Gewerkschaft diese Forderungen in unsinnige Höhen? Ausgerechnet jetzt? Jetzt, wo man bei Corbett Inc. rasend sein mußte darüber, daß man keine Pentagon-Aufträge bekam?

Dieser Streik war von Corbett inszeniert worden, das stand für Jakob sogleich fest. Corbett wollte ihn ruinieren, ein für alle Mal. Inzwischen kannte Jakob sich ein wenig in internationalen Geschäftsmethoden aus … »Wenn wir noch zwei weitere Wochen verlieren, kriegen wir solche Konventionalstrafen, daß wir k.o. sind!« klang George Misaras’ Stimme über einen Kontinent und ein Weltmeer hinweg an Jakobs Ohr. »Corbett kann dann sofort liefern. Der hat massig vorfabriziert, habe ich rausgekriegt. Und wir stehen auf der Schwarzen Liste!«

»Dafür geht mir der Corbett jetzt in’n Knast!« sagte Jakob, gefährlich leise.

»Einen Dreck geht er! Denn wir können nicht beweisen, daß er hinter dem Streik steckt, daß er ihn angezettelt hat! Was glaubst du, was ich schon alles versucht habe, um es zu beweisen? No can do. Die haben das wasserdicht gemacht. Wie gesagt: Noch zwei Wochen, und sie haben uns in die Pfanne gehauen!«

»Das glaube ich nicht«, hatte Jakob in Düsseldorf gesagt. »Ich komme sofort, George.« Bevor er losflog, telefonierte er noch mit seinem alten Freund, dem Senator Connelly im Weißen Haus in Washington. Er telefonierte eine halbe Stunde. Connelly versprach, in Kürze zurückzurufen. Er rief in Kürze zurück. Was er sagte, stimmte Jakob frohgemut. Und frohgemut flog er dann vom Flughafen Köln-Wahn aus nach Los Angeles. Jetzt kann ich auch den Hasen suchen, hatte er gedacht. Er war ein Mann, der stets so viele Fliegen wie möglich auf einen Schlag erledigte. Nur klappte es diesmal nicht. Die Suche nach dem Hasen blieb erfolglos. Und die Arbeiter in den Fabriken streikten weiter. Die Zeit, die Jakob verblieb, um wenigstens ein Geschäft zu retten, wurde kürzer und kürzer. Am Morgen des 28. Juni 1961 trank er gerade im Haus seines Freundes George Misaras an der Rossmoyne Street in dem Nobelvorort Glendale von Los Angeles seine Kaffeetasse leer, als das Telefon läutete.

Misaras nahm den Hörer ab. Er lauschte kurz, dann sagte er: »Okay, Chief. Tausend Dank. Wir kommen sofort.«

Jakob war aufgesprungen, noch bevor Misaras den Hörer wieder in die Gabel gelegt hatte.

»Ist es soweit?«

»Ja«, sagte Misaras. »Es geht los!«

15

Sie hatten drei Wagen – einen Lincoln Continental und zwei Chevrolets –, und sie fuhren auf der verkehrsreichen Straße einmal vor und einmal hinter dem schwarzen Chrysler. Der Mann am Steuer des schwarzen Chrysler war hager, hatte weiße Haare, schwarze Augenbrauen und ein hartes Gesicht …

In seinem Telefonat mit dem Senator Connelly, das Jakob am 22. Juni noch von Bonn aus geführt hatte, war lange die Rede davon gewesen, daß die Polizei normalerweise in den mit größter Wahrscheinlichkeit von Corbett inszenierten Streik nicht eingreifen konnte, ebensowenig wie sie Telefonleitungen anzapfen, einzelne Menschen, von denen nichts Nachteiliges bekannt war, überwachen oder gar gegen ganze Gruppen Fahndungsmaßnahmen einleiten konnte in der Hoffnung, irgendwelche Verdächtige werde man schon zu fassen kriegen. Als der Senator dann Jakob in Bonn zurückrief, war das anders …

»Ich habe mit dem Polizeipräsidenten von Los Angeles gesprochen, Jake. Der ist ein College-Freund von mir. Ich habe ihm die Sachlage geschildert und erreicht, daß Sie ab sofort Hilfe bekommen.«

»Danke, Senator, danke!«

»Schon gut. Sie haben Glück. Der Polizeipräsident will ein Exempel statuieren! Solche Sachen nehmen überhand, sagt er. Von dieser Minute an arbeiten Detektive einer Sonderkommission für Sie, Jake …«

Nun, die Sonderkommission hatte nach kurzer Zeit bereits herausgebracht, daß Jakobs Konkurrent John A. Corbett eine gewisse Kanzlei Dickins, Stark, Holloway, Holloway & Crown (ohne Wissen seiner hausinternen Rechtsabteilung!) beschäftigte, und die Detektive der Sonderkommission waren daraufhin dazu übergegangen, alle Anwälte der erwähnten Kanzlei, die Fabrik im Stadtteil Compton und Corbetts Haus in Beverly Hills rund um die Uhr zu überwachen. Dann, am 28. Juni 1961, morgens, hatten die Beamten im Präsidium diesen Anruf bekommen: »Jerry Stark wird in einer Stunde seine Kanzlei verlassen – nach einem Telefongespräch mit Corbett!« (Corbetts Telefonanschluß war schon seit Tagen angezapft.)

Daraufhin hatte der Chef der Sonderkommission bei George Misaras angerufen, und der und Jakob waren losgesaust.

Der Mann in dem schwarzen Chrysler mit dem harten Gesicht, den weißen Haaren und den schwarzen Augenbrauen war also der Anwalt Jerry Stark. Sie verfolgten ihn praktisch von dem Augenblick an, in dem er seine Kanzlei in dem Wolkenkratzer am Pico-Boulevard verlassen hatte.

Jakob saß mit Misaras und drei Detektiven in dem Lincoln Continental, in den beiden anderen Wagen fuhren jeweils drei weitere Kriminalbeamte. Die Einsatzwagen hatten untereinander direkten Sprechfunk-Kontakt; elektronische Zerhacker machten die Gespräche aber für jeden Fremden unverständlich.

Der Anwalt Jerry Stark fuhr zunächst ostwärts aus der Stadt hinaus. Im Valley war es grausig heiß, später in San Bernardino wurde es noch heißer, und auch in eintausendzweihundert Meter Höhe, hinauf nach Puma Point, war es nicht kühler auf der Straße, die sich nun in Kurven wand. Erträgliche Temperatur kam erst auf, als sie den Damm erreichten und am Südufer des Puma-Sees die großen Campingplätze passierten. Corbett hatte den Anwalt beauftragt, ein Zimmer im INDIAN HEAD HOTEL zu nehmen. Das hatte die Zentrale abgehört; also blieben die Detektive ein wenig zurück und ließen Stark vor dem braunen Eckhaus vorfahren und in das Hotel hineingehen, dem ein Tanzlokal gegenüberlag. Sie warteten eine ganze Weile, bis er im Hotel verschwunden war. Sie wußten, daß sie noch den ganzen Tag warten mußten, denn Corbett hatte seinen Anruf erst für zwanzig Uhr annonciert.

Jakob, Misaras und ihre Begleiter stiegen schließlich aus, die Detektive des ersten Chevrolets ebenfalls. Die im zweiten blieben neben der Auffahrt zum Hotel. Jakob, Misaras und die Kriminalbeamten gingen in das INDIAN HEAD HOTEL hinein. Hier herrschte großer Wirbel. Sehr viele Männer und Frauen in Sport- und Freizeitkleidung, nicht wenige bereits jetzt ziemlich angetrunken, drängten sich in der Halle. Vom See her ertönte das Donnern vorbeirasender Motorboote, und dazu spielte im Hintergrund der Halle eine Hillbilly-Band. Hier bereitete man sich anscheinend jetzt schon, am Freitagvormittag, auf ein fröhliches Wochenende vor.

Von den drei Detektiven, die Jakob begleiteten, waren zwei Techniker, Jakob erklärte das dem verstörten Hotelmanager.

»Aber was wollen Sie hier tun?«

»Uns in Ihre Telefonzentrale setzen und warten, und wenn wir Glück haben, ein Gespräch mitschneiden.«

»Von wem mit wem?«

»Es genügt schon, wenn wir das wissen.«

»Sie wissen, daß das verboten ist.«

»Schauen Sie sich mal das an«, schlug Jakob vor und zeigte dem Manager, der sie in sein Büro gebeten hatte (um Himmels willen kein Aufsehen!), verschiedene Papiere. Sie stammten alle von der Staatsanwaltschaft in Los Angeles. Nachdem er die Papiere gelesen hatte, sagte der Manager: »Aber wen wollen Sie denn abhören?«

»Das haben Sie schon einmal gefragt«, sagte einer der Detektive unfreundlich. »Jetzt ist es genug. Wo liegt die Telefonzentrale?«

Der nervöse Manager erklärte es.

Die beiden Techniker gingen daraufhin mit ihren Koffern fort. Die Kriminaler aus dem zweiten Chevy saßen in der Halle und an der Bar und bewachten die Lifts. Es gab drei. Die Detektive sahen alle drei.

Jakob, Misaras und ein Kriminalbeamter blieben im Büro.

»Was soll das heißen?« fragte der Manager.

»Wir leisten Ihnen Gesellschaft«, sagte Misaras.

»Aber ich habe zu tun! …

»N-n.«

»Was n-n?«

»Sie bleiben bei uns, bis alles vorüber ist«, erklärte der Detektiv geduldig. »Und wenn ich mich weigere? Von meinem Hausrecht Gebrauch mache?« Der Detektiv zog geduldig seine schwerkalibrige Pistole aus dem Halfter, legte sie auf den Schreibtisch und lächelte.

»Ich glaube nicht, daß Sie sich weigern werden«, sagte Jakob.

Der Manager schwieg verbissen.

»Sehen Sie. Um neun Uhr abends spätestens ist ohnedies alles vorbei«, sagte Jakob gütig, und dachte: Mit Gott! »Sie können sich den ganzen Tag Ihre Pornohefte anschauen. Und auch mit sich spielen, wenn wir Sie nicht stören«, fügte er hinzu.

»Sie werden gleich ein paar in die Fresse … Wo sind hier Pornohefte?« fauchte der Manager, ein kleiner Mann mit einem Frettchengesicht.

»Sie haben sie alle schnell in die mittlere Schreibtischlade geschubst, als wir hereinkamen«, sagte Jakob und trat vor. »Erlauben Sie …« Und blitzschnell öffnete er die Lade und zog das Gesprächsthema hervor. »Quillt ja schon über, Mann. Sie sollten sich ein Mädchen leisten. Oder einen von diesen Analytikern.«

»Sie dreckiger …«, begann der Manager, da läutete das Telefon. Jakob hob ab.

»Wir sind dran«, erklang die Stimme eines der beiden Techniker. »Mitschneidegerät, Zimmer angezapft, alles. Zwei süße Puppen hier, eine Blonde und eine Schwarze.«

Jakob vernahm Gekicher.

»Viel Vergnügen«, sagte er. »Habt ihr so geschaltet, daß auch wir mithören können?«

»Glauben Sie, wir sind Idioten? Natürlich. Ich sage Ihnen, die Mädchen haben vielleicht was in den Blusen …«

Jakob hängte ein.

»Solche Telefonistinnen im Haus und dann so was hier«, sagte er zu dem erschütterten Manager. »Schämen Sie sich nicht? Oder riechen Sie aus dem Mund?«

»Ich bin schüchtern.«

Der Detektiv, der zurückgeblieben war, pfiff durch die Zähne. Er blätterte bereits in einem der Pornohefte.

»Meine Mutter hat mich nämlich noch als Sechsjährigen in Mädchenkleidern herumlaufen lassen …«, begann der Manager, Tränen in den Augenwinkeln, da bemerkte er, daß alle drei Herren ihm nicht zuhörten. Auch Jakob und Misaras blätterten bereits interessiert. Der Manager mit der traurigen Jugend seufzte und griff gleichfalls zu. Von draußen drang der Lärm in der Halle herein. Die Herren sahen sich geduldig Bildchen um Bildchen an. Zu Mittag wurden Sandwiches und Bier in das Büro gebracht, am Nachmittag Kaffee und Kuchen. Danach spielten die Herren bis zum Abend Karten. Punkt acht Uhr läutete das Telefon. Der Detektiv legte seufzend seine Spielkarten hin und hob ab.

Einer der Techniker sagte atemlos: »Jetzt ruft ein Kerl gerade Stark an. Achtung, ich schalte ein …«

Ein leises Summen, dann wurden der Detektiv und Jakob, der den zweiten Hörer des Telefons ans Ohr hielt, Zeugen des folgenden Dialogs: »Ja, Boß, ich bin es, Stark.«

»Okay, wenigstens sind Sie da!« Die andere Stimme klang tiefer, man hörte, daß der Sprechende wütend war. »Was ist das für eine Sauerei, von der Sie mir heute früh Nachricht gegeben haben?«

»Ich kann nichts dafür, Boß! Ich mußte Sie doch benachrichtigen! Dieser Formann ist vor ein paar Tagen hier gelandet, und er scheint was vorzuhaben.« Jakob lächelte milde. »Unsere Leute von der Gewerkschaft haben mir gemeldet, daß dreißig Arbeiter plötzlich erklären, nicht länger streiken zu wollen, weil sie den dringenden Verdacht haben, daß da ein krummes Ding gedreht wird.« Der Detektiv warf Jakob einen herzinnigen Blick zu. »Wir haben sie uns sofort vorgenommen und jedem von ihnen fünftausend zusätzlich versprochen, wenn sie das Maul halten und mit der Rederei aufhören.«

»Sie haben aber nicht aufgehört, sondern im Gegenteil den Kollegen Andeutungen gemacht, daß wer anderer ihnen was geboten hat. Sagen mir meine Leute.«

»Wenn das Ihre Leute sagen, wird’s schon stimmen, Boß.« Jetzt klang die Stimme des Anwalts Jerry Stark beleidigt. »Ich tue, was ich kann.«

»Das ist mir aber nicht genug.«

»Dann nehmen Sie sich einen anderen Anwalt, Mister Corbett!«

Na endlich hat er auch noch den Namen gesagt, dachte Jakob selig, während die tiefe Stimme tobte: »Sind Sie wahnsinnig geworden? Wie können Sie meinen Namen …«

»Tut mir leid, Boß. Aber wenn Sie mich so beleidigen …«

»Ich beleidige Sie nicht, ich stelle nur fest, daß ihr alle zusammen nicht mehr ausreicht, jetzt, wo Formann da ist …«

Die Stimme blendete aus, und die Stimme des Technikers erklang: »Wir wissen, von wo aus Corbett spricht! Die Fangschaltung in dem Sektor hat endlich funktioniert.«

»Wo ist der Mistkerl?« fragte Jakob.

»In ›Harry’s Bar‹! Santa Monica, zwanzig-vierzig Ashland Avenue«, sagte der Techniker. »Sind schon drei Streifenwagen von dem Revier dort unterwegs, um ihn hoppzunehmen. Hoffentlich redet er noch ein Weilchen.«

»Tja«, sagte Jakob.

Die Hoffnung wurde erfüllt.

Corbett redete noch zwei Weilchen. Er sagte dem Anwalt, daß man jetzt eben mit kräftigeren Mitteln vorgehen müsse.

»Heute nacht brennt die erste Fabrik von Formann ab. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie haben damit nichts zu tun. Das habe ich schon alles vorbereitet für den Fall der Fälle. Und diesen Streikbrechern wird die Fresse poliert.«

»Hören Sie, Boß, ich muß Sie warnen. Wenn das auch noch geschieht und wenn auch nur das geringste herauskommt, sind wir wirklich im Eimer.« Jakob nickte bedächtig.

»Es kommt nie heraus! Sie sind doch überhaupt am Puma Lake und haben ein herrliches Alibi. Reißen Sie sich ein Mädchen auf heute nacht, machen Sie Tamtam, aber richtig, vielleicht einen kleinen Skandal, so etwas kann nie schaden, und bleiben Sie ein paar Tage oben. Mit diesem Formann werde ich noch Schlitten fahren.« Ach ja, dachte der belustigt, das wäre was. Vielleicht chinesisch? »Morgen nacht brennt die zweite Fabrik runter. Ist alles geplant. Wir müssen nur noch die paar Tage haben, damit Formann nicht liefern kann …«

»Und wenn er uns reinlegt?« Guter Anwalt, dachte Jakob.

»Der und uns reinlegen! Der hat doch keine Ahnung, was los ist! Der hat doch heute den ganzen Tag das Haus von seinem Freund Misaras nicht verlassen. Meine Leute passen da auf, Jerry.« Aber nicht auf den Hintereingang, die Idioten, dachte Jakob. So sind wir nämlich rausgekommen. Er hörte anschwellendes Sirenengeheul.

»Was ist denn das, Boß?«

»Ach, Scheiße, Verkehrsun …« Den Satz sprach John Albert Corbett nicht mehr zu Ende. Jakob vernahm das Fallen des Hörers, undeutliche Geräusche, dann wurde der Hörer in ›Harry’s Bar‹ wieder in die Gabel gelegt – von zarter Hand.

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