KAPITEL ACHT. Der Stein

Hinter ihnen markierte eine aufsteigende Staubwolke die gepanzerte Kolonne der Faschisten. Sie war im Lauf des Tages immer näher gerückt und nun dicht genug, daß Indy die Reflektion des Sonnenlichts auf den Windschutzscheiben der Panzerfahrzeuge funkeln sehen konnte.

»Unsere Rösser sind ihren eisernen Biestern nicht gewachsen«, lautete Sallahs Kommentar. Er tätschelte den Hals seines Pferdes. »Wenn wir so weitermachen, schinden wir unsere Pferde in dieser wasserlosen Wildnis zu Tode.«

»Was meinen Sie, Prinz?« fragte Indy.

»Was Sallah sagt, stimmt«, antwortete er. »Aber jetzt eine Pause zu machen, bedeutete, die Schande geradezu in Kauf zu nehmen. Wir müssen weiterreiten, ohne Rücksicht, und darauf vertrauen, daß Allah uns zur Seite steht.«

»Ich glaubte, sie würden aufgeben, als wir die Nordgrenze überquerten, weil ich dachte, daß ihnen nicht an einem Krieg mit Ägypten gelegen sein kann«, sagte Indy.

»Grenzen«, sagte Farqhuar, »sind hier draußen nicht von sonderlich großer Bedeutung. Im Sand gibt es - im Gegensatz zu Ihren Karten - keine Grenzlinien. Und außerdem, wer kriegt hier draußen schon mit, wenn die uns ausradie-ren? Vielleicht ein Kameltreiber irgendwann in tausend Jahren mal.«

Sie ritten weiter, und als die Schatten länger und ihre Pferde langsamer wurden, verringerte sich die Distanz zwischen ihnen und der riesigen Staubwolke. Der Himmel, der den ganzen Tag über grau gewesen war, färbte sich zusehends dunkler, und Sandschleier wehten über die Dünenkämme.

Als sie zu den Tempelruinen eines längst vergessenen Gottes gelangten, stolperte Indys Pferd und brach fast unter der doppelten Last zusammen.

»Es ist höchste Zeit, eine Pause einzulegen«, sagte der Prinz und sprang von seinem Pferd. Aus einer Wasserflasche an einem langen Lederriemen schüttete er den letzten Rest Wasser in seine Handfläche und gab seinem Pferd zu trinken. »Nur zu, Arcturus, trink. Wir halten zusammen, nicht wahr? Das ist das erste Gebot der Wüste.«

»Ich wünschte, wir hätten mehr Wasser für die Pferde«, sagte Alecia. Wegen des wehenden Sandes mußte sie die Augen zukneifen.

»Es ist gut, daß es nicht so ist«, gab Sallah zu bedenken. »Sie würden nur gierig trinken, und dann schwellen ihre Bäuche an, bis sie straucheln und sterben.«

»Ich wünschte, wir hätten mehr Wasser für uns«, sagte Indy. »Die beiden Wasserflaschen, die Sallah mitgebracht hat, haben während der Auseinandersetzung mit den Faschisten Kugeln abgekriegt. In jeder von beiden ist noch etwas übrig, aber nicht viel.«

Der Blick des Prinzen schweifte über die Tempelruinen. Er dachte angestrengt nach. »Diese Steine werden uns ein gewisses Maß an Deckung und Schutz bieten«, sagte er nach einer Weile.

»Aber nicht viel«, wandte Alistair ein. »Und außerdem können die anderen uns ohne Schwierigkeiten einkreisen.«

»Keinen Schutz vor den römischen Schweinen«, klagte Farqhuar. »Vor dem Sturm, der aus Osten heranzieht. Haben Sie ihn nicht gesehen? Wenn die Zeit kommt - und das wird so schnell passieren, wie wenn ein Blitz einschlägt -ziehen Sie Ihre Pferde mit nach unten und halten Sie sie dort fest.«

»Sie meinen einen Sandsturm?« fragte Indy.

»Sturm ist Sturm.«

Indy stellte sich auf einen zerbrochenen Pfeiler. Der Wind zerrte an seinen Kleidern und Sand kratzte über das Leder seiner Jacke.

»Möchtest du das Fernglas?« bot Sallah an.

»Ich brauche es nicht«, sagte er. »Die sind knapp eine Meile hinter uns und kommen schnell voran. Fünf Panzerfahrzeuge und ein paar Lastwagen. Ich könnte schwören, die sind bis zum Rand vollgestopft mit Soldaten.«

Farqhuar nahm seine Thompson von der Schulter und gab dem Nomadentrio ein Zeichen, hinter den Steinen Position zu beziehen.

»In ein paar Minuten wird die Entscheidung fallen«, sagte der Prinz, »ob wir uns zuerst der Natur oder den Menschen stellen müssen. Falls wir zuerst gegen die Faschisten kämpfen, wartet ab, bis sie nah genug sind. Jeder Schuß zählt. Falls es die Natur sein sollte, konzentriert euch auf eure Gebete. Das ist das erste Gebot der Wüste.«

»Und ich dachte, das erste Gebot lautet: Haltet zusammen«, sagte Indy.

Farqhuar grinste.

Der Wind wurde immer stärker, und dann - von einer Minute auf die andere - stellte sich Windstille ein.

»Seht doch«, sagte Alecia und zeigte nach Osten.

Eine dunkle Wolke wälzte sich anscheinend im Zeitlupentempo über den Wüstenboden. Aus der anderen Richtung näherte sich die Kolonne der Faschisten. Nun konnte Indy die Nummern der Einheiten lesen, die auf die Motorhauben der Wagen gepinselt waren.

Die Kolonne hielt an. Kurz darauf drehte das erste Fahrzeug, beschrieb einen Kreis und bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung. Die anderen Fahrzeuge folgten dem Beispiel.

»Sie versuchen also, dem Sturm zu entkommen«, schloß Indy aus dem, was er sah.

»Die Pferde«, sagte Sallah. »Sorgt dafür, daß sie sich hinlegen und legt euch dann auf die Hälse.«

Farqhuar wickelte ein Tuch über Nase und Mund, griff nach Arcturus Zaumzeug und verdrehte dem Tier vorsichtig den Hals, bis es sich in den Sand legte. So verfuhren auch die anderen, und als das letzte Tier auf dem Boden lag, fiel der Sturm mit der Gewalt eines Güterzuges über sie her.

Indy steckte seinen Hut in die Lederjacke und preßte Alecia an sich. Sie hielten sich hinter ihrem Pferd versteckt. Überall war Sand. Der Wind trieb ihnen den Sand in Augen, Mund, Nase und vor allem in die Ohren.

»Ich ersticke«, jammerte Alecia.

»Denk an etwas anderes«, riet Indy ihr. »Drück den Kopf nach unten und schiebe ihn in deine Armbeuge, dann fällt dir das Atmen leichter.«

Trotz der Tempelsteine, die einen Teil des Sturmes abhielten, wuchsen die Sandmassen schnell an und drohten, sie lebendig zu begraben. Mit den Händen schaufelte Indy Sand weg, aber das war so, als schöpfe man einen Swimmingpool mit einer Teetasse aus.

Nach sieben Minuten war der Sturm vorüber.

Indy befreite sich und half dann Alecia. Er gab ihr eine Ohrfeige, und sie schnappte nach Luft.

»Seid ihr beide in Ordnung?« fragte Sallah, der den Sand von seinen Gewändern bürstete.

»Ja, ich denke schon«, antwortete Indy.

Alecias und Indys weißes Pferd stand auf. Mehrere hundert Pfund Sand rutschten vom Rücken des Tieres. Voller Mitgefühl tätschelte Indy die Flanke der Stute.

»Wo steckt Alistair?« fragte Alecia.

»Hier«, rief er und streckte die Hand hoch. »Doch mein Pferd ist leider tot.«

Prinz Farqhuar fiel auf einen Sandhaufen und hielt die Hände vors Gesicht. »Einer meiner Männer ist tot«, klagte er. »Und die Wüste hat auch das Leben meines armen Arc-turus, des Sterns des Westens, gefordert.«

»Und wie steht es mit unseren Verfolgern?« wollte Alecia erfahren.

Indy stieg wieder auf die Tempelsteine und suchte mit dem Fernglas die Wüste ab. Sallah gesellte sich zu ihm.

»Was siehst du?«

»Nichts«, sagte Indy. »Absolut gar nichts, nirgendwo eine Spur von ihnen.«

»Die Wüste«, sagte Farqhuar. Zusammen mit seinen beiden Nomaden begann er, den Leichnam des dritten auszugraben. »Sie gibt, sie nimmt. Das eine verbirgt sie, das andere legt sie frei. Und sie verändert sich fortlaufend.«

»Wenn wir nur wüßten, wo die stecken«, sagte Indy.

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann«, entschuldigte Farqhuar sich. »In diesem Teil des Landes hält sich mein Volk nur selten auf, weil diejenigen, die hierherkommen, nur selten zurückkehren.«

»Aber Indy«, meinte Sallah, »wir befinden uns etwa zehn Kilometer hinter der ägyptischen Grenze. Das müßte hinkommen, wenn man die Richtung und das Tempo, mit dem wir uns fortbewegt haben, bei der Schätzung berücksichtigt.«

»Ich muß es aber genau wissen«, sagte Indy. »Ich weiß, daß wir in einem Radius von ungefähr fünfzehn Meilen vom Standort des Grabs des Hermes sein müßten - der laut Überlieferung in der Nähe einer Oase liegt -, aber das heißt leider, daß wir - wenn es hart auf hart kommt - mehr als zweihundert Quadratmeilen Wüste durchzukämmen haben.«

»Du machst dir immer das Leben schwer, Indy«, fand Sallah. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Bevor ich Kairo verlassen habe, habe ich ein paar Sachen eingepackt, von denen ich meinte, daß wir sie vielleicht gebrauchen könnten: Karten, einen Kompaß, eine Flasche Brandy. Natürlich nur zum medizinischen Gebrauch.«

»Sallah, ich könnte dich vor Freude küssen.«

»Es wäre mir angenehmer, wenn du das unterläßt«, sagte Sallah mit todernster Miene. Er kramte den Kompaß und eine Rolle Karten aus seiner Satteltasche heraus.

Indy warf einen Blick auf die Karten, entschied sich für eine und breitete sie auf einem Steinquader aus. Auf die Ek-ken legte er kleinere Steine.

»Diese Karte ist nicht besonders genau, aber für unsere Zwecke reicht sie. Seht euch das einmal an. Das hier sind die zwei höchsten Gipfel. Und wie lauten der Längen- und Breitengrad?«

Alistair drehte sich, um sich besser zu orientieren, und zeigte dann nach Norden. »Dort liegt einer der Gipfel«, sagte er, ehe er nach Südwesten zeigte. »Und da der andere.«

»Gut«, sagte Indy. Er zog sein Feldnotizbuch aus dem Jakkenfutter und nahm einen Bleistift in die Hand. Dann öffnete er den Kompaß, richtete ihn aus und las die Richtung ab. Die Gradzahlen notierte er sich. So verfuhr er auch mit dem zweiten Gipfel. »Ich brauche den Winkelmesser und das Lineal.«

Sallah brachte ihm die geforderten Gegenstände.

Nachdem er die Abweichung vom geographischen Norden miteinbezogen hatte, errechnete Indy die Gradzahl mit dem Winkelmesser und zog mit dem Lineal eine Linie südlich vom ersten Berggipfel. Eine zweite Linie verlief nordöstlich vom zweiten Gipfel.

»Wir sind hier, wo die beiden Linien sich kreuzen«, verkündete er.

»So weit, so gut, Indy«, sagte Sallah. »Nun wissen wir mit Sicherheit, wo wir sind. Aber wie sollen wir das Grab finden, wo es doch nicht auf der Karte eingezeichnet ist? Wir müssen den exakten Standort beider Punkte kennen, bevor wir eine Wegstrecke ausarbeiten.«

Indy schaute zu Alecia hinüber.

»Wir müssen uns deinen Rücken ausborgen.«

Alecia griff nach hinten und zupfte den Knoten auf, der ihr Kleid zusammenhielt. Um sich nicht ganz zu entblö -ßen, hielt sie den Stoff auf der Vorderseite krampfhaft fest.

»Alistair«, bat Indy. »Es wäre besser, wenn Sie mir nun behilflich wären. Ich kann die Messungen vornehmen, weiß aber nicht, was ich damit anfangen soll.«

»Es dürfte eine Zeitlang dauern«, meinte Alistair, »aber ja, ich denke, ich werde ein Ergebnis finden.«

Alecia machte einen Satz, als Indy ihr den Winkelmesser und das Lineal auf den Rücken legte.

»Tut mir leid.«

Indy kritzelte die benötigte Information in das Notizbuch und händigte es Alistair aus. Der nahm Indys Bleistift, setzte sich auf einen Stein und rubbelte mit dem Ende des Radiergummis durch seinen Bart.

»Wissen Sie eigentlich, wie lange ich auf diese Information gewartet habe?« fragte er beim Arbeiten. »Und nie habe ich sie erhalten. Ich nehme mal an, der beste Ort, etwas zu verstecken, ist dort, wo jeder es sehen kann.«

»Meinen Rücken«, beschwerte Alecia sich, »darf nicht jeder sehen.«

»Entschuldige«, sagte Alistair. »Aber bedenke doch, wir sind zusammen aufgewachsen. Ab und an habe ich deinen Rücken gesehen, wahrscheinlich sogar öfter als du, denn ich kann mich nicht entsinnen, daß du deinen Rücken oft im Spiegel untersucht hast.«

Auf dem ersten, dann auf dem zweiten Blatt notierte Alistair seine Berechnungen. Hin und wieder hielt er inne, schnitt eine Grimasse und radierte ein paar Zahlenreihen aus. In regelmäßigen Abschnitten spitzte er den Bleistift mit seinem Taschenmesser. Als er fertig war und Gradzahlen, Minuten und Sekunden auf der Karte eingetragen hatte, war von dem Bleistift nur noch ein Stummel übrig.

»Fertig«, rief Alistair.

Indy betrachtete die Koordinaten und markierte eine besonders zerklüftete Gegend mit einem Kreuz, das er dann durch eine Linie mit ihrem Standort verband, ehe er Winkel und Entfernung berechnete.

»Glauben Sie, daß Ihre Berechnungen stimmen?« fragte Indy nach.

»Dürften hinkommen«, meinte Alistair. »Wenn nicht, wäre uns der Standort des Grabes nicht in den Schoß gefallen.«

»Alecia«, fragte Indy, »ich möchte ja nicht unverschämt sein, aber hat Sarducci Fotos von deinem Rücken gemacht oder Skizzen erstellt?«

»Von meinem Rücken? Nein, bestimmt nicht.«

»Gut. Dann dürften wir auch nicht verfolgt werden, selbst wenn er den Sandsturm überlebt hat.«

»Halten Sie das denn für möglich?« fragte Alistair.

Indy blickte zu ihm hinüber.

»Ja, es sei denn, jemand serviert mir einen Glatzkopf auf einem silbernen Tablett. Doch bis dahin gehe ich davon aus, daß der Mann überlebt hat.«

»Das muß man wohl«, murmelte Alistair.

»Wir sind weniger als zwölf Kilometer weit weg«, erklärte Indy den anderen. »Sallah, ich möchte, daß du den Kompaß nimmst und uns auf dem Kurs von siebenundvierzig Grad hältst. Keine Abweichung! Das Ganze wird nicht so einfach werden, wie es sich jetzt anhört, weil das Grab in einem geschützten Tal liegt. Ist gut möglich, daß wir eine ganze Zeit lang suchen und klettern und Geröll wegschaufeln müssen. Prinz, erlauben Sie uns, Ihre Männer als Ausgräber anzuheuern?«

»Bringen Sie mich in eine Oase«, erwiderte Farqhuar vorsichtshalber auf englisch, »und dann können Sie sie zum Mittagessen grillen.«

Nach drei Stunden hatten die sieben Gefährten den Eingang zum Tal erreicht. Sie folgten einem schmalen Fußweg, der sich zwischen den Felsen durchschlängelte. Indy lief an der Spitze der Gruppe. Zu Fuß führte er das weiße Pferd in die Senke hinunter.

»Hier ist etwas«, verkündete er. »Dieser Pfad wurde von Arbeitern angelegt. Er gleicht dem im Tal der Könige. Und seht euch nur mal diese Geröllhalden an. Die sind nicht natürlich entstanden - das ist Abfall, Splitter von behauenen Steinen, die hier im Tal verstreut wurden, um von dem abzulenken, was hier vorgegangen ist.«

»Ich kann keinen Unterschied erkennen zwischen dem hier und allen anderen Gegenden, die wir durchquert haben, seit wir Libyen verlassen haben«, meinte Alecia. »Indy, du mußt gute Augen haben.«

»Meinen scharfen Blick habe ich Sallah zu verdanken«, verriet er. »Er hat mir beigebracht, die Zeichen zu deuten. So etwas erfährt man nicht aus den Büchern, mußt du wissen.«

Das weiße Pferd gebärdete sich auf einmal widerspenstig, scharrte im Erdreich und zerrte am Zaumzeug, das Indy hielt. Zur Beruhigung klopfte Indy der Stute auf den Hals, aber er rutschte vom Pfad, als das Pferd ihn weiterzog.

»Was hat sie denn?« erkundigte sich Alecia.

»Sie riecht Wasser«, sagte Sallah.

Indy ließ sich von dem Tier um die nächste Biegung führen, von wo aus man einen herrlichen Ausblick aufs Tal hatte. Dort unten lag tatsächlich eine Oase, ein funkelnder, von Palmen gesäumter Teich. Ein paar Krähen hockten krächzend auf dem Wipfel des höchsten Baumes.

»Wir haben es geschafft«, rief er.

Indy setzte sich unter eine schattenspendende Palme, lehnte sich an den rauhen Baumstamm und aß eine Dattel. Sal-lah, der neben ihm saß, verzehrte eine Feige.

»Das ist wirklich wie im Paradies«, sagte Sallah.

Indy murmelte seine Zustimmung. Er beobachtete Alecia, die sich am Ufer des Teiches hingekniet hatte und das Gesicht wusch.

»Könnte ein Bild aus der Bibel sein«, meinte Indy.

»Diese Engländerin? Bedeutet sie dir etwas?«

»Etwas«, antwortete Indy.

»Es tut mir leid, wenn ich mich dir aufdränge«, entschuldigte sich Sallah. »Du möchtest nicht darüber sprechen.«

»Du drängst dich mir nicht auf«, beruhigte Indy seinen Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin einfach nur nicht in der richtigen Stimmung. Aber da gibt es etwas, wozu ich gern deinen Rat hören würde, wenn wir sicher heimgekehrt sind. Möglicherweise muß ich dich sogar um deine Hilfe bitten.«

»Kein Problem. Du brauchst nur zu fragen.«

Alecia saß auf der obersten Stufe einer Art Treppe, die ins Wasser führte. Sie streckte ihre Beine ins kühle Naß und seufzte vor Erleichterung. Dann schaute sie sich um, zögerte einen Moment und glitt in den Teich. Als ihr das Wasser bis zu den Schultern reichte, zog sie ihr Kleid über den Kopf und warf es ans Ufer.

»Wie schätzt du diesen Ort hier ein?« fragte Indy. »Seit wir zu dieser Oase gelangt sind, mache ich mir Gedanken.«

»Sehr gut«, sagte Sallah und wählte eine Dattel aus dem Früchteberg neben ihm aus. »Hier wurde offensichtlich hart gearbeitet. Ich habe die Felswände studiert, habe aber keinen der üblichen Plätze entdeckt, wo man normalerweise ein Grab versteckt, wie zum Beispiel in einer Felsspalte.«

»Stimmt.«

»Was mir komisch vorkommt«, fuhr Sallah fort, »ist die Oase. Die stammt von Menschenhand, sie ist nicht natürlich entstanden, sondern künstlich angelegt. Hier dürfte es eigentlich keine Oase geben. Und das Wasser - es ist ungewöhnlich warm, als würde es unter der Erde in Kesseln er-hitzt. Und da sind noch diese Steinstufen, die ins Nichts führen.«

»Vielleicht auch nicht«, gab Indy zu bedenken. »Die Indianer in Amerika glaubten, daß Wasserteiche als Übergänge zur spirituellen Welt dienen. Vielleicht führt diese Treppe ja zu so einem Übergang.«

»Interessant«, sagte Sallah. »Dann schlägst du also vor, nach unten zu tauchen, um diese Tür zu suchen?«

»Ja«

Sallahs Miene verdüsterte sich.

»Nun«, gestand er, »ich kann nicht schwimmen. Ist mir nie in den Sinn gekommen, daß ich diese Fähigkeit eines Tages brauchen könnte. Ich fürchte, daß ich nicht in der Lage sein werde, dich zu begleiten, mein Freund.«

»Sallah«, sagte Indy, stand auf und klopfte seine Hose ab, »du wirst immer bei mir sein, egal, wohin ich gehe.« Dann zog er eine Decke aus Sallahs Satteltasche und trug sie zum Ufer des Teichs.

»Geht es dir gut?« fragte er Alecia.

»Ach, es ist wunderbar«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du solltest es auch probieren. Natürlich erst, wenn ich draußen bin.«

»Ich habe dir die Decke gebracht«, sagte er. »Ist zwar ein bißchen kratzig, aber ich dachte, du könntest dich in sie einwickeln, bis dein Kleid getrocknet ist. Bist du soweit?«

Indy nahm die Decke an den Ecken und hielt sie hoch. Höflich drehte er den Kopf weg, während Alecia graziös aus dem Wasser stieg und sich einwickelte. Die Enden verknotete sie über der Brust.

Indy schnürte seine Schuhe auf. Er stellte sie mitsamt den Socken auf der obersten Stufe ab, knöpfte sein Hemd auf und löste den Gürtel.

In Hosen spazierte er die Stufen hinab, bis ihm das Wasser bis zur Taille reichte. Er mußte eine Sekunde innehalten und tief durchatmen.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er, schöpfte Luft und hielt den Atem an.

»Was hast du vor? Wo willst du denn hin?« fragte sie ihn mit skeptischer Miene.

Indy tauchte unter.

Unter Wasser zog er sich an den Stufen in die Tiefe. Der Wasserdruck auf seinen Ohren nahm zu und verriet ihm, daß er zehn, zwölf Fuß tief getaucht war. Er bewegte den Unterkiefer hin und her, um den Druck in seinen Eustachischen Röhren zu mindern.

Das Wasser war klar. Die Strahlen der Nachmittagssonne ergossen sich über die Stufen. Seine Augen brannten nicht, wie das beim Tauchen im Meerwasser der Fall war, deswegen fiel es ihm leicht, der Treppe zu folgen. Der Teich war überraschenderweise sehr tief. Indy mußte noch mal kräftig schlucken, um die Ohren freizubekommen, ehe er zur Öffnung einer Unterwasserhöhle gelangte. Indy tauchte unter die Öffnung, fuhr tastend über den Stein und stieß sich mit den Füßen ab. Er ließ sich Zeit, verließ sich hier unten im Dunkeln allein auf seinen Tastsinn und paßte auf, daß er nicht gegen einen Felsvorsprung stieß.

Dann brach er durch die Wasseroberfläche.

Er schüttelte den Kopf, wischte sich das Wasser aus den Augen und schaute sich um. Im fahlen Licht, das aus der Tiefe des Teichs hochdrang, sah er, daß er sich in einer weitläufigen unterirdischen Kammer befand. Die Stufen führten aus dem Wasser hoch zu einem Torbogen aus behauenen Steinen. Unter dem Bogen lauerte eine Gestalt, eine Statue. Genau konnte er jetzt noch nicht erkennen, was es war.

Dahinter lag undurchdringliche Dunkelheit.

Ein paar Minuten lang ruhte Indy sich auf den Stufen aus, noch halb im Wasser sitzend. In der Höhle hallten die Tropfen wider, die von seinem Körper in den Teich fielen. Ihm war so, als fixierten die Augen der Steinstatue unter dem Bogen seinen Rücken. Als seine Atmung sich normalisiert hatte, ließ er sich wieder ins Wasser gleiten und kehrte zu seinen Gefährten zurück.

»Indy«, rief Alecia, »du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt. Du warst so lange weg, daß ich schon fürchtete, du seist ertrunken.«

»Indy, was hast du gefunden?« fragte Sallah. Der Prinz war bei ihm und warf Indy einen erwartungsvollen Blick zu.

»Dort unten gibt es einen Eingang«, sagte er. »Die Höhle liegt am Boden des Teiches. Dort ist eine Treppe, die durch einen Steinbogen führt. Aber weil es so dunkel war, konnte ich nicht viel erkennen.«

»Du brauchst Fackeln«, meinte Sallah. »Wir können die Palmenrinden abzupfen und sie mit Stoffetzen zusammenbinden. Prinz, haben Ihre Männer Waffenöl dabei oder Pech, um die Wunden der Pferde zu behandeln?«

»Aber sicher«, antwortete Farqhuar.

»Damit können wir die Fackeln tränken«, schlug Sallah vor. »Werden nicht prima sein und auch ziemlich stark rauchen, aber das sollte genügen. Ich werde ein paar Streichholzköpfe in Wachs tunken, damit kannst du die Fackeln in der Höhle anzünden.«

Farqhuar sprach in Tarog zu seinen Nomaden und erteilte ihnen den Befehl, die notwendigen Materialien zusammenzutragen.

»Wo ist Alistair?« fragte Indy.

»Er studiert ein paar Vögel dort drüben in den Bäumen«, sagte Alecia.

»Vögel? Was für Vögel?« wollte Indy wissen. Er schien besorgt zu sein.

»Ich weiß nicht genau«, sagte Alecia.

»Kann er schwimmen?«

»Er schwimmt ziemlich gut.«

»Nun, dann brauche ich ihn. Ich brauche genug Fackeln für zwei Leute, Sallah. Beeil dich.«

»Wäre es nicht besser, wenn du bis morgen früh wartest?« fragte Sallah.

»Wo wir hingehen«, sagte Indy, »ist es egal, wo die Sonne steht.«

Mit an den Schnürsenkeln verknoteten und um den Hals geschlungenen Schuhen stieg Indy in die Höhle. Unter seinem Arm klemmten ein paar Fackeln. Kurz nach ihm tauchte Alistair auf, hustete und spuckte Wasser.

Indy riß eins von Sallahs präparierten Zündhölzern an und entzündete eine Fackel. Zischend und knisternd erstarb die Flamme. Beim dritten Versuch stellte sich der Erfolg ein. Mit seiner Fackel gab er Alistair Feuer.

Indy zog die Schuhe an, schnürte sie eilig zu und warf sein Hemd über. Zusammen mit seinem Notizbuch war es in ein Stück Wachstuch gewickelt gewesen, das glücklicherweise einer der Nomaden zufällig mitgenommen hatte.

Mit hocherhobenen Fackeln stiegen er und Alistair zum Steinbogen hoch. Im flackernden Lichtschein bekam man den Eindruck, als würde die Statue sich bewegen. Sie stellte einen normal großen Mann mit fließendem Bart dar. Auf seiner Robe prangten alchemistische Symbole: die Sonne und der Mond, Sterne und ein Merkur mit Schwingen. Die rechte Handfläche zeigte warnend nach vorn, während die linke zum Nähertreten einlud.

»Bemerkenswert«, raunte Alistair. »Der große Hermes.«

»Jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken«, sagte Indy.

Er rezitierte die koptische Inschrift über dem Bogen: »Erblicket die Schwelle. Der Ruf wird beantwortet. Die Reise beginnt mit Wissen und endet mit Glauben. V-I-T-R-I-O-L.< Er legte eine kurze Pause ein. »Sagen Ihnen die Buchstaben etwas?«

»Visita Interiora Terrae, Rectiflcando, Inveniens Oc-cultum, Lapidem«, übersetzte Alistair. »Besuchet das Innere der Erde, und indem ihr Abhilfe schafft, werdet ihr den verborgenen Stein finden.«

Sie gingen unter dem Bogen hindurch, hinter dem eine zwölf eckige Halle lag. Ein Ausgang schien nicht zu existieren. In einem Alkoven in jeder der zwölf Seiten war ein Relief zu erkennen, das eine alchemistische Umwandlung darstellte. Auf den Reliefs waren Brennöfen und Destilliergeräte, Flaschen und Retorten dargestellt. Der Boden bestand aus einem Mosaik von sechzehneckigen Steinen. In jedem der Steine war eines der zwölf Tierkreiszeichen eingemeißelt.

Alistair machte einen Schritt nach vorn. Der Stein unter seinem Fuß sackte weg. Indy erwischte ihn am Kragen und riß ihn zurück. Dort, wo eben noch der Stein gelegen hatte, tat sich nun ein zwölf Fuß tiefer Schacht auf.

»Vorsichtig«, sagte er. »Geben Sie acht. Diese Tierkreiszeichen auf dem Boden, können die auch anders angeordnet werden als in der monatlichen Abfolge?«

»Aber ja doch«, sagte Alistair. »In der alchemistischen Folge. Jedes Symbol steht für ein Verfahren.«

»Dann halten wir uns an die Reihenfolge«, schlug Indy vor.

»Kalzinieren zuerst«, sagte Alistair. »Das ist der Widder.«

Zusammen stellten sie sich auf den Stein mit dem entsprechenden Symbol. Der ganze Boden senkte sich, nur der Stein, auf dem sie standen, ragte ungefähr einen Fuß heraus.

»Ist das nicht gefährlich?« fragte Alistair.

»Nun, wir sind immer noch da, nicht wahr? Und welchen nehmen wir nun?«

»Koagulieren. Stier.«

Sie traten auf den Bullen. Die Steine rumpelten, sanken einen Fuß tiefer. Der Widder bildete nun die mittlere Erhebung, während der Stier auf der Höhe der Türschwelle lag.

»Durch unser Vorgehen entsteht eine Treppe«, stellte Indy fest. »Fahren Sie fort.«

Als nächstes kam der Zwilling, der für Fixierung stand, gefolgt von Krebs für Zersetzung. Und dann Löwe, Jungfrau und Waage- Verarbeitung, Destillierung und Sublimation - und Skorpion für Trennen. Der Boden war nun um acht Fuß abgefallen, und darüber wurde der obere Teil einer Tür sichtbar.

Sie traten auf Schütze, Steinbock, Wassermann und Fisch - für Paraffinierung, Fermentierung, Vervielfachung und Schleudern. Nun war die Tür in voller Größe zu sehen. Die zwölf Steine, auf die sie getreten waren, verharrten jeweils auf einer bestimmten Höhe und bildeten eine Treppe zur Türschwelle unter dem Steinbogen.

»Hier ist es wie in der Tiefe einer Quelle«, fand Alistair.

»Aber Quellen haben keine Stufen«, erwiderte Indy. »So weit, so gut, aber jetzt dürfte es schwierig werden. Und au-ßerdem gefällt mir die Inschrift über der Tür nicht: Der Pfad der Prüfungen.«

Sie wischten die Spinnweben aus dem Türbogen und begaben sich in einen langen, schmalen Durchgang. Nach zwanzig Metern gelangten sie zu einer Ecke. Dahinter fiel der Gang ab, bog erneut ab und führte sie weiter in die Tiefe.

»Erinnert mich an diese Tunnel, auf die man in Pyramiden trifft«, sagte Indy.

»Das hier ist eine Pyramide, nur daß sie umgekehrt funktioniert«, behauptete Alistair. »Wir müßten eigentlich in einer spitzwinkligen Kammer landen.«

»>Was oben ist, ist unten<«, erinnerte Indy sich. »Diese Höhenanzeigen an den Wänden und auf dem Boden sind aber eigenartig.«

»Vielleicht die Markierungen der Steinmetze?« vermutete Alistair.

»Nein, die sind relativ neu. Höchstens ein paar hundert Jahre alt.« Indy dachte nach. »Ich weiß nicht, warum, aber die machen mich irgendwie nervös.«

Sie bogen um eine Ecke. Der Gang endete vor einer kahlen Wand. Indy gab Alistair seine Fackel, fuhr dann mit beiden Händen über den Stein und tastete nach einer Spalte. Nichts zu finden. Er klopfte an die Wand.

»Massiv«, sagte er.

»Woraus besteht dieses weiße Material, das an der Wand klebt?« fragte Alistair und hielt die Fackeln hoch. »Hat einen seltsamen grünen Schimmer. Und da ist auch ein Häufchen davon auf dem Boden.«

Indy inspizierte seine Finger und kostete dann von dem Staub, der sich beim Berühren der Wand auf seine Fingerspitzen gelegt hatte.

»Kalzium«, sagte er. »Phosphorhaltig. Oder einfach pulverisierte Knochen.« Mit dem Schuh stieß er gegen das Häufchen auf dem Boden. Dadurch wurde das Pulver verschoben und sank in sich zusammen. Durch ein Loch im Boden fiel es wie Sand in einem Stundenglas.

»Hören Sie«, sagte Indy.

Etwas rumpelte hinter ihnen. Der Boden begann zu zittern.

»Was immer hier vorgehen mag«, meinte Indy, »gut kann das nicht sein.«

Das Geräusch schwoll an. Etwas rutschte, begleitet von lautem Kratzen, den Gang hinunter. Stein mahlte auf Stein. Es kam bedrohlich näher. Den Blick auf die letzte Ecke ge -richtet, um die sie gebogen waren, warteten sie.

»Wir müssen von hier verschwinden«, sagte Alistair. »Lassen Sie uns weglaufen.«

Indy hielt ihn zurück.

»Warten Sie«, sagte er.

Das Rumpeln war zu einem Donnern angeschwollen.

Indy trat an die Ecke und wagte einen Blick. Ein riesengroßer, sich nähernder Stein füllte den Gang aus.

»Okay«, sagte Indy und schritt mit erhobener Fackel die Wände ab. Er suchte etwas. Was, wußte er nicht zu sagen. »Wir sitzen in einem riesigen Mörser mit Stößel fest und werden jeden Moment zermahlen und verschwinden dann in diesem Loch im Boden. Nur Knochenstaub wird von uns übrigbleiben.«

»Das ist eine der Möglichkeiten, den menschlichen Körper in seine chemischen Bestandteile aufzulösen«, meinte Alistair. »Und was machen wir nun?«

»Nun, wir können auf keinen Fall vor dieser Wand stehen und darauf warten, daß uns unser Schicksal ereilt«, sagte

Indy. »Sonst enden wir so wie er. Oder sie. Wie auch immer. Lassen Sie uns diesem Ding entgegengehen und sehen, was passiert.«

»Darauf zugehen?«

»Was sollen wir denn sonst tun? Wer auch immer sich das hier ausgedacht hat, versucht, uns Todesangst einzuflößen, damit wir wie erstarrt an der Wand stehenbleiben und auf den nahenden Tod warten. Darum schlage ich vor, daß wir etwas Unerwartetes tun und den Tod mit offenen Armen empfangen.«

»Ja, selbstverständlich«, stimmte Alistair Indys Vorschlag zu. »Der weise Mann heißt den Tod willkommen, nur der Narr fürchtet ihn.«

Sie machten sich mit erhobenen Fackeln auf den Weg und bogen um die rechtwinklige Ecke. Bis zum Stößel waren es noch etwa drei Meter. Der Stein rumpelte in ihre Richtung. Indy inspizierte die Rückwand.

»Das ist die einzige Stelle in dem Gang, wo keine Rillen in den Stein gehauen wurden«, sagte er und hielt die Fackel nach unten, um den Boden zu untersuchen.

»Kein Knochenstaub. Hier werden wir stehenbleiben. Je näher das Ding kommt, desto größer wird unser Bedürfnis, zur Wand am Ende des Ganges zurückzulaufen, aber das werden wir unter gar keinen Umständen tun.«

Der Stein kam um die Ecke. Der Abstand zwischen ihnen und dem Stößel verringerte sich zusehends. Drei Fuß lagen zwischen ihnen und dem Tod. Sie warfen die Fackeln weg. Kurz darauf wurde Alistair ziemlich nervös, verlagerte hektisch das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Als der Stein nur noch dreißig Zentimeter entfernt war, machte er eine Bewegung, die Indy verriet, daß er fliehen wollte. Er hielt ihn am Arm fest.

Der Stein drückte gegen ihre Brustkörbe, zu Anfang ganz sachte, dann immer fester, bis es unerträglich wurde. Indy drehte das Gesicht weg. Die rauhe Oberfläche des Stößels schürfte über seine Wange. Ihm war so, als würde ihm alle Lebenskraft aus dem Körper gepreßt.

»Vielleicht habe ich mich geirrt«, rief Indy.

Und dann tat es plötzlich einen Schlag, und etwas hinter ihnen begann zurückzuweichen. Die Wand, an die sie gedrückt wurden, gab langsam nach. Der Druck auf ihre Brustkörbe wurde schwächer. Dunkelheit umgab sie, als der Stein das Fackelfeuer löschte. Auf einmal veränderte er seine Richtung. Anstatt weiter geradeaus zu rollen, driftete er nach links weg, auf die massive, schmucklose Wand zu.

Reglos im Dunkeln stehend, spürte Indy einen leisen Luftzug in seinem Nacken. Er zog eine neue Fackel aus dem Bündel, riß ein Streichholz an und hielt es darunter, bis die Fackel sich entzündet hatte.

Die Wand war verschwunden und hatte einen leicht abfallenden Tunnel freigegeben. Am Ende des Tunnels konnten sie das Rauschen von fließendem Wasser hören.

Sie gelangten in eine weitere Kammer, die einem griechischen Tempel, der hoch über einem Teich aufragte, glich. Das Wasser stieg in einer Ecke des Teiches auf und floß über eine Reihe Vorsprünge, um dann in der Erde zu versickern. In der Mitte des Teiches ruhte ein steinerner Löwe mit ungewöhnlich aufgeblähten Nasenlöchern auf einem Podest.

Indy tauchte die Hand ins Wasser.

»Es ist warm«, sagte er.

»Wozu sind Ihrer Meinung nach die Vorsprünge gut?« fragte Alistair ihn.

»Ich könnte mir denken, sie fungieren als eine Art Belüftung, um die Hitze zu reduzieren«, sagte Indy und spazierte um den Teich. »Anscheinend wird der Teich von einer unterirdischen heißen Quelle gespeist. Wir sind so tief unter der Erde, daß die Temperatur konstant bei neunzehn Grad liegen müßte, aber das ist nicht so. Hier drinnen ist es eindeutig wärmer.«

»Und am Grund des Teiches gibt es garantiert keine Öffnung, keinen Durchgang«, sagte Alistair. »Denn wenn es so wäre, dürfte der Wasserspiegel nicht über den Vorsprüngen liegen.«

»Schauen Sie sich um«, sagte Indy. »Es muß doch einen Weg geben, den wir einschlagen können. Ich spüre von irgendwoher einen Luftzug.«

Indy hielt die Fackel hoch. Die Flamme zitterte unruhig. Er begab sich auf die andere Seite des Teiches, trat hinter die dorischen Säulen und begutachtete die Wand. Die Fak-kelflamme loderte hellorange.

»Muß in dieser Wand sein«, murmelte er.

»Hallo«, sagte Alistair.

»Haben Sie was gefunden?«

»Einen Kameraden, der ebenfalls hier unten gelandet ist«, sagte Alistair und hielt die Fackel über ein an die Wand gelehntes Skelett. Der Unterkiefer war runtergefallen, wodurch der Eindruck eines hinterhältigen Lächelns entstand.

»Nach den Klamotten zu urteilen, muß er im 12. Jahrhundert gelebt haben.«

»Gibt es einen Hinweis, woran er gestorben ist?« wollte Indy wissen.

»Nein.« Alistair lüftete mit spitzen Fingern den mürben Stoff. »Sieht nicht so aus, als hätte ihm jemand den Kopf eingeschlagen. Wurde auch nicht mit Pfeil und Bogen getötet. Kein Anzeichen eines gewaltsamen Todes.« »Das ist schlecht«, sagte Indy. »Kommen Sie mal her und sagen Sie mir, was Sie davon halten?«

Er stand vor einer Steinkugel, die aus der Wand ragte. Darin eingemeißelt war die Abkürzung VITRIOL.

»Sollen wir sie rausziehen oder reindrücken, oder was?« fragte Alistair und kraulte seinen Bart. »Und wenn wir weiter runter wollen, müssen wir sie dann runterdrücken?« Mit beiden Händen drückte er von oben auf die Kugel, die ein paar Zentimeter nach unten rutschte.

Hinter ihnen zischte es.

Gas strömte aus den Nasenlöchern des Löwen. In der Luft breitete sich der Geruch fauler Eier aus.

»Vitriol«, sagte Indy. »Sulfursäure. Halten Sie den Atem an. Löschen Sie die Fackel. Wir müssen sofort hier raus. Bevor wir vergiftet werden oder in die Luft fliegen.«

Alistair trat die Fackel mit dem Schuh aus. Indy folgte seinem Beispiel.

»Runter auf den Boden«, rief er.

Auf allen vieren kroch er an der Wand entlang. Plötzlich fing er einen Schwall frischer Luft auf. Er hielt inne, schnüffelte wie ein Bluthund und versuchte die Richtung zu bestimmen, aus der der Luftzug kam. Seine Hände fuhren über den unteren Teil der Wand, und als sie einen bestimmten Punkt berührten, schwenkte überraschenderweise ein Teil nach innen.

»Hier«, rief er in die Dunkelheit. »Ich habe es gefunden.«

Er krabbelte in einen Schacht. Alistair folgte ihm auf den Fersen und hielt sich währenddessen an einer von Indys Gürtelschlaufen fest.

»Muß eine Art Luftschacht sein«, sagte Indy.

Auf Händen und Knien krochen sie weiter. Nach ein paar Metern fiel der Schacht gefährlich steil ab.

»Muß irgendwie in Bewegung gesetzt werden«, meinte Indy. »Vielleicht durch unser Körpergewicht. Stemmen Sie sich mit Rücken und Beinen ab.«

Der Schacht drehte sich weiter, bis er sich in der Vertikalen anstatt in der Horizontalen befand. Indy war richtiggehend eingeklemmt, doch Alistair konnte sich an den glatten Wänden nicht mehr halten und rutschte langsam weg, an Indy vorbei.

»Krabbeln Sie wieder hoch«, wies Indy ihn an. »Ich kann uns nicht beide halten.«

»Das versuche ich ja, aber es geht einfach nicht. Ich bin kein Bergsteiger. Was sollen wir machen?«

»Das hier«, sagte Indy, als Alistairs Hintern auf seinen Kopf drückte und die Sohlen seiner Schuhe an der Wand hinabglitten, »ist der Teil, wo es um den Glauben geht, denke ich.« Er ließ los, fiel nach unten und sauste - gefolgt von Alistair - durch die Dunkelheit.

Der Schacht drehte sich in die eine, dann in die andere Richtung. Wie Murmeln rutschten sie in die Tiefe. Nach einer Weile neigte sich der Schacht sanft und kehrte in die Horizontale zurück. Doch bevor sie sich festhalten konnten, fielen sie durch einen warmen Wasserfall und landeten wieder in einer unterirdischen Kammer.

Von Schwindel geplagt, lag Indy auf dem Boden.

Alistair setzte sich auf und hielt den Kopf in den Händen.

»Indy«, sagte er.

»Was?« rief Indy unwirsch zurück. »Sie hätten mich beinahe totgetreten.«

»Wir sind da«, flüsterte Alistair.

Indy schaute auf. Die Kammer schwankte nicht mehr vor seinen Augen. Nun waren sie in dem spitzwinkligen Raum gelandet, in der Spitze der auf dem Kopf stehenden Pyrami-de, die zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Sie saßen in einem Durchgang zu einem vierundzwanzigeckigen Polyeder in der Mitte des Raumes. Darüber schien ein Glassarkophag in der Dunkelheit zu schweben.

»Das Grab des Hermes«, sagte Indy, stand auf und schritt vorsichtig durch den Durchgang.

Das Polyeder war allem Anschein nach aus Bleipaneelen gefertigt, und drei dieser Paneele verfügten über vertiefte Griffe in einem goldenen Kreis, die den oberen Teil von Röhren bildeten. Diese Röhren korrespondierten mit drei Bleizylindern in einem Regal auf dem Boden. Indy berührte das Polyeder. Eine leichte Vibration breitete sich von seiner Hand über den Arm zur Schulter hin aus.

»Fühlt sich an, als ob es lebendig wäre«, sagte er.

»Schlägt im Rhythmus des Universums«? meinte Alistair und legte beide Handflächen darauf. »Das einzig wahre Lied, die Kraft, die alles zusammenhält.«

»Die Fackeln«, sagte Indy. »Wir brauchen sie nicht mehr.«

Die Kammer wurde von einem nebelartigen roten Lichtschein ausgeleuchtet.

In dem über ihren Köpfen schwebenden Sarkophag konnten sie eine mumifizierte Gestalt erkennen, die auf einem Thron saß und in der Knochenhand eine Tafel hielt. Indy war nah genug, um erkennen zu können, daß der Sarkophag auf einem dünnen Sockel aus einem blaßblauen Material ruhte.

»Kobalt?« fragte Indy.

»Beryllium, denke ich«, entgegnete Alistair und hielt sich an einem der Griffe fest. »Offensichtlich muß man daran drehen.«

»Tun Sie das nicht. Was steht in der Tabula Smaragdina

über das Öffnen der Gruft? Daß man auf der Stelle tot umfällt? Werfen Sie mal einen Blick auf den Boden.«

Da waren Fußabdrücke zu sehen, einer auf jeder Seite neben den drei Paneelen mit den Handgriffen. Vor den Paneelen waren keine.

»Man soll sich also nicht direkt da vorstellen«, sagte Indy.

Alistair nickte.

Sie bauten sich links und rechts von dem Paneel auf. Alistair streckte die Hand nach dem Griff aus.

»Meinen Sie wirklich, daß wir das Richtige tun?« fragte Indy ihn.

»Mein ganzes Leben lang habe ich auf diesen Augenblick gewartet«, gestand Alistair mit funkelnden Augen. »Wir werden den Stein der Weisen entdecken. Wissen Sie denn, welche Macht und welchen Reichtum er birgt? Sie können ja machen, was Sie wollen, Jones, aber ich werde jetzt nicht den Dummkopf spielen.«

Ein vertrautes Lachen ließ Indy das Blut in den Adern gefrieren.

Mit gezogener Pistole stand Leonardo Sarducci im Durchgang. Die Uniform hing ihm in Fetzen am Leib. Die Sohlen seiner Stiefel hatten sich gelöst. Hinter ihm wartete Luigi mit Farqhuars Thompson Maschinenpistole.

»Bitte, Dr. Jones«, forderte er ihn auf. »Spielen Sie den Dummkopf. Diese Rolle paßt so gut zu Ihnen.«

»Nicht schon wieder«, erwiderte Indy.

»Doch, schon wieder«, befahl Luigi, »und zwar zum letzten Mal. Ich werde Sie ganz langsam töten, Ihnen die Haut abziehen -«

»Später«, schnauzte Sarducci.

»Wo sind die anderen?« fragte Indy.

»Mona und die anderen haben wir in meinen Wagen ge-sperrt«, antwortete Sarducci. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß mir nach dem Sandsturm nur ein Panzerfahrzeug geblieben ist. Luigi und ich hatten das Glück, ein paar Meilen hinter der Kolonne zurückgefallen zu sein, als der Sturm über uns hinwegzog. Leider brauchten wir einen ganzen Tag, bis wir uns aus dem Sand herausgeschaufelt hatten.«

Sarducci kam - gefolgt von Luigi - näher und blieb direkt vor dem Griff stehen, den Alistair eigentlich umdrehen wollte.

»Nur zu, Alistair«, forderte Sarducci ihn auf. »Sie sollen die Ehre haben, als erster die Gruft zu öffnen. Schließlich sind Sie ja der Grund, warum wir alle uns hier versammelt haben, nicht wahr?«

»Die Vögel«, sagte Indy.

»Ja, die Vögel. Kuriertauben, die darauf trainiert sind, statt eines Ortes eine Person zu finden - in diesem Fall mich. Alistair hat sie in seiner Freizeit gezüchtet. Sehr einfallsreich, finden Sie nicht?«

»Dunstin«, knurrte Indy.

Alistair kratzte sich am Bart.

»Nun ja«, sagte er schließlich. »Die Faschisten werden siegen - in Libyen, in Äthiopien, überall. Und dann wird auf der Welt eine neue Ordnung regieren. Die Macht ist absolut, Dr. Jones. Darum halte ich es für besser, daß Alecia und ich auf der Gewinnerseite stehen.«

»Selbst wenn Sie ihr das Herz brechen, um das zu gewährleisten?« erwiderte Indy.

»Ich brauche sie«, gestand Alistair.

Er legte die Hand um den Griff und drehte ihn um neunzig Grad. Der Sarkophag schwebte herab, der Berylliumsok-kel versank in dem vierundzwanzigeckigen Polyeder. Der rote Nebel verzog sich - und auf einmal erstarb alles. Der Wasserfall über dem Eingang zur Kammer schrumpfte zu einem Rinnsal zusammen, das schließlich ganz verebbte.

»Aufregend!« rief Sarducci. »Solche Macht, damit habe ich nicht gerechnet!«

»Sie wissen nicht, worauf Sie sich eingelassen haben«, warnte Indy.

»Genau das fasziniert mich ja so«, verriet Sarducci ihm.

Alistair versuchte, den Zylinder zu verrücken, aber er gab keinen Zentimeter nach. Er drehte und drehte weiter, um hundertachtzig Grad, bis er spürte, daß der Zylinder sich bewegte. Ganz langsam glitt er aus dem Polyeder. Dabei wurde das Summen leiser.

Indy betrachtete seine Füße. Seine Schuhe verdeckten die Abdrücke auf dem Boden. Er stand reglos wie ein Stein.

»Ist schwer«, sagte Alistair und tappte hin und her.

»Das muß auch so sein«, bemerkte Sarducci. »Falls ich mich nicht irre, ist er aus Gold gemacht. Luigi, hilf ihm.«

Luigi schulterte das Maschinengewehr, kam einen Schritt näher, legte Hand an den goldenen Zylinder und zog ihn an sich. Als das untere Ende rausrutschte, schoß ein purpurrotes Licht aus dem Loch im Polyeder, gerade so, als ob jemand eine Hochofentür aufgerissen hätte. Dann fiel etwas herunter und bedeckte das Loch.

Luigi legte Sarducci den goldenen Zylinder vor die Füße.

»Der Preis!« rief Sarducci. »Die goldene Schatulle! Tauschen Sie jetzt den Zylinder gegen einen aus dem Regal aus, falls es Ihnen nichts ausmacht. Wir dürfen nicht einfach so gehen.«

Alistair handelte gemäß Sarduccis Anweisung und trug einen Zylinder zum Polyeder hinüber, hielt aber kurz inne, um ein Ende abzuschrauben und hineinzugreifen. Er zog die Hand wieder heraus und ließ das Material durch die Finger gleiten. »Wie ich vermutet habe«, sagte er. »Stark uranhaltig.« Er schraubte den Deckel wieder auf und schob ihn mit Luigis Hilfe in den Polyeder, ehe er den Griff in die ursprüngliche Position brachte.

Der Sarkophag schwebte wieder nach oben, der Berylliumsockel kam zum Vorschein, und der Nebel driftete in die Kammer zurück. Das Plätschern des Wasserfalls hallte durch den Raum.

»Nun, warum begleiten Sie uns nicht nach oben?« bot Sarducci an. »Ich weiß, daß ich Sie eigentlich lieber hier unten töten sollte, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß Mona während Ihrer letzten Minuten nicht anwesend sein soll. Sie beide beschimpfen sich in solchen Situationen immer so köstlich.«

Die hintere Tür des Panzerwagens fiel auf. Wegen des intensiven Sonnenlichts mußte Alecia blinzeln. Mit gefesselten Händen wurde Indy in den Wagen geschoben und landete auf den Knien neben ihren Füßen.

»Bist du verletzt?« fragte Sallah besorgt.

»Ich werde es überleben«, sagte Indy.

»Ja, aber nicht lange«, höhnte Luigi und kroch hinter ihm in den Wagen. Die Thompson war entsichert. »Sobald der maestro sein Experiment beendet hat, gehören Sie mir. Und dann kann ich endlich meine Brüder rächen.«

»Na, das ist doch mal was, auf das man sich freuen kann«, entgegnete Indy.

»Die römischen Schweine haben meine Männer umgebracht«, beklagte sich Farqhuar und warf Luigi finstere Blicke zu. »Aber dafür werden sie teuer bezahlen. Mein Volk wird -«

Luigi verpaßte ihm mit dem Griff der Thompson einen Schlag. Der Prinz verstummte.

»Ihr Volk besteht aus vierzig abgerissenen Nomaden«, machte Luigi sich kichernd lustig. »Oh, tut mir leid. Jetzt sind es nur noch achtunddreißig. Oder siebenunddreißig?«

Luigi setzte sich ihnen gegenüber und trank Wasser aus einer Flasche. Er sah müde aus, sein Gesicht und seine Hände waren rot. Er hatte sich einen schlimmen Sonnenbrand zugezogen. Indy konnte sich nicht daran erinnern, daß die Hände und das Gesicht schon rot gewesen waren, als er mit Sarducci zu ihnen in die Kammer gestoßen war.

»Dieses Experiment?« fragte Alecia. »Umwandlung?«

»Ja«, antwortete Luigi langsam. »Der Chef wird so viel Gold haben, wie es ihm gefällt. Wir Faschisten, wissen Sie, haben glänzende Ambitionen, aber uns fehlt es an Geld.«

Er schien die für ihn so typische Großspurigkeit abzulegen. Einen Moment lang schloß er die Augen, als ob er zu erschöpft wäre, um weiterzureden.

»Bald«, sagte er mit schläfriger Stimme, »werden wir unaufhaltbar sein.«

»Sie sterben«, sagte Indy. »Sie sind sich dessen bewußt, nicht wahr? Sie standen direkt vor diesem grellen Licht, und das hätten Sie nicht tun dürfen.«

»Alles Lügen«, rief Luigi. Doch dann wurde er auf einmal ganz nachdenklich. »Ich werde den maestro fragen gehen.«

Ungelenk stieg er aus dem Panzerwagen. Nach einigem Zögern schnappte er sich eine Abschleppstange und zwängte sie unter den Türgriff, damit die anderen nicht zudrücken konnten.

Draußen vor dem Fahrzeug hatte Sarducci den goldenen Zylinder auf den Boden gestellt, sich davorgekniet und kämpfte mit dem Deckel. Das Aufschrauben stellte ihn vor Probleme. Offenbar hatte er keine Kraft mehr.

»Ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, gab Alistair zu bedenken und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab. »Vielleicht sollten wir lieber warten, bis wir im Labor sind. Dort können wir die Sache besser kontrollieren -«

»Halten Sie die Klappe!« schnauzte Sarducci ihn an. »Ich muß es wissen und zwar jetzt. Helfen Sie mir.«

»Nein.« Besorgt setzte er sich ein paar Meter weiter in den Sand.

»Hilf mir«, raunzte Sarducci den näher tretenden Luigi an.

Der legte die Waffe weg, und zusammen machten sie sich am Zylinderdeckel zu schaffen. Zuerst langsam und dann ganz unvermittelt begann der Deckel sich zu drehen. Mit einem Mal rutschte der Deckel herunter und landete im Sand.

»Der Stein der Weisen«, verkündete Luigi andächtig und zog einen funkelnden, roten Stab heraus. Das Ding pulsierte, als Sarducci es an seinen Bauch drückte. Er spürte die Wärme, und als der Stein die Silberknöpfe seiner Jacke berührte, veränderten sie ihre Farbe und schimmerten golden. »Seht doch nur«, keuchte er atemlos.

Er reichte Luigi den Stein, entledigte sich seines rechten Handschuhs und suchte seine Uniform nach einem anderen Metall ab, um es zu testen. Schließlich fiel ihm die Pistole in seinem Holster ein, die er ganz vorsichtig an den Stein hielt. Eine goldene Welle lief über den blauen Stahl, von der Mündung bis zum Griff. Nur das Holz des Griffes veränderte seine Farbe nicht.

Sarducci lachte wie ein kleines Kind.

»Maestro«, fragte Luigi. »Was ist denn mit meinen Händen?«

Seine Finger begannen zu rauchen. Die Haut löste sich, Fleisch schmolz, bis die Knochen freilagen und der Stein aus Luigis nutzlosen Fingern glitt. Doch der Prozeß endete hier nicht. Seine Handflächen verwandelten sich in tropfendes Gelee. Der Verfall breitete sich über die Handgelenke aus.

Luigi schrie.

»Helfen Sie mir«, rief er entsetzt, als die Reste dessen, was eben noch seine Hände gewesen waren, abfielen. Unerträglich langsam schritt der Verfall fort, bis zu den Ellbogen, zu den Schultern hoch.

Sarducci preßte die goldene Mündung an Luigis Schläfe und drückte ab. Die goldene Kugel drang in sein Gehirn. Der Lauf der Waffe, der nun aus dem weichsten aller Metalle bestand, riß wie eine Bananenschale auf. Der armlose Körper stürzte in den Sand und verfiel weiter. Luigis Kleider gingen in Flammen auf. Sarducci warf die Waffe weg und inspizierte die Finger seiner rechten Hand. Auch sie begannen zu rauchen. Das Fleisch auf den Fingerkuppen war schon abgefallen, strahlendweiße Knochen kamen zum Vorschein.

Er stolperte zum Panzerwagen hinüber und riß mit der gesunden Hand eine seitlich am Wagen befestigte Axt herunter. Dann ließ er sich zu Boden fallen und hackte seinen Unterarm ab.

Alistair sprang auf und rannte zur Wagentür.

»Alecia«, rief er. »Ich werde für euch die Tür aufmachen. Aber du mußt mir versprechen, daß du fürs erste nicht rauskommst. Warte zuerst, bis wieder Ruhe eingekehrt ist.«

»Dunstin««, wollte Indy wissen. »Was tut sich da draußen?«

Alistair schluckte. Das Sprechen fiel ihm schwer.

»Ich möchte es Ihnen nicht erklären«, sagte er. »Und es ist besser, wenn Sie es nicht wissen. Versprechen Sie nur, daß Sie warten werden. Alecia, es tut mir leid. Ich hoffe inständig, daß du mir eines Tages verzeihen kannst.«

»Alistair«, rief sie. »Was hast du vor?«

»Eine letzte Umwandlung«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab. »Richtigstellung.«

Er riß die Abschleppstange weg.

Dann zog er unter Schmerzen das Hemd aus und wickelte den Stoff um die rechte Hand, kniete sich hin, hob den Stein auf und legte ihn in den goldenen Zylinder zurück. Es schien Stunden zu dauern, bis er den Deckel aufgeschraubt hatte.

Nun hob er den Zylinder hoch, schleppte ihn zur Treppe, die in den Teich führte, seufzte und schaute sich um. Luigis Körper hatte sich aufgelöst, von Sarducci war nichts zu sehen. Ein paar Krähen saßen im Wipfel der höchsten Palme und schrien laut.

Alistair legte beide Hände auf den Zylinder und taumelte die Treppe hinunter ins Wasser.

Als sie die Nachmittagshitze im Fahrzeug nicht länger ertragen konnten, machte Indy die Tür auf und stieg aus dem Panzerwagen.

»Wo sind sie?« fragte Alecia besorgt.

Als Indys Blick auf die Spuren im Sand fiel, die zur Teichtreppe führten, kannte er plötzlich einen Teil der Antwort. Die goldenen Knöpfe und der Gürtel von Sarduccis Uniform glitzerten im Sand.

Sallah streckte die Hand nach dem Gürtel aus, aber Indy hielt ihn zurück.

»Das würde ich lieber nicht tun«, riet er seinem Freund.

»Das ist alles?« fragte Alecia. Tränen schössen aus ihren blauen Augen. »Sie sind einfach verschwunden? Nicht mal ein Leichnam bleibt zurück, den man begraben kann?«

Indy schloß sie in die Arme und drückte sie an sich. Sie weinte sich an seiner Schulter aus. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, gestand sie es sich zu, die Beherrschung zu verlieren.

»Alistair hat etwas viel Wichtigeres zurückgelassen«, sagte er, ohne den Blick von den Sandspuren abzuwenden. »Er hat dafür gesorgt, daß wir ihn in guter Erinnerung behalten, indem er einmal das Richtige getan hat.«

»Allah wird zufrieden sein«, sagte der Prinz.

»Durchkämmt den Panzerwagen nach Sprengstoff«, sagte Indy. »So wie ich Sarducci kenne, glaube ich, daß er welchen mitgebracht hat. Laßt uns dieses Paradies ein für allemal schließen.«

Sallah nickte nachdenklich.

»Indy«, sagte er. »Hier haben sich viele Dinge ereignet, die ich nicht verstanden habe, aber die Frage, die mich am meisten beschäftigt, lautet: Was ist die erste Materie? Was war in dem Bleizylinder?«

Indy nahm eine Handvoll Sand und streute sie in den Wind.

»Sand«, sagte er.

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