KAPITEL SIEBEN. Sandwüste

Als die silberne Sichel des abnehmenden Mondes hinter den Sturmwolken verschwand, verblaßte die Silhouette der Ayesha Maru, die gerade hinter den heimtückischen Felsen geankert hatte, die die verlassene Küste im Nordosten von Libyen kennzeichneten.

Zwei Barkassen kämpften sich vorsichtig durch die dicht stehenden Felsen. Unweit der Küste wurden die Ruder eingeholt, und die Männer im Bug sprangen ins taillenhohe Wasser, um die fragilen Holzboote ganz ans Ufer zu ziehen, bis sie am Sandstrand auf Kiel lagen.

»Gut gemacht«, lobte der angeheuerte Kapitän, Mordecai Marlow, seine Mannschaft. »Die sieben erzürnten Götter der See waren heute nacht wohlwollend und haben auf uns hinabgelächelt. Jetzt macht schnell und schafft diese Kisten an Land, bevor die Wolken sich verziehen und die stinkenden Faschisten uns sehen können.«

Indiana Jones sprang ins Wasser und half Alecia Dunstin aus dem Boot.

»Soll ich meine Schuhe ausziehen?« fragte sie ihn.

»Nein«, meinte Indy. »Dieser Strand ist mit spitzen Steinen und Geröll übersät. Du würdest dir die Füße in Windes-eile blutig laufen. Wickle deinen Rock um die Beine, dann werde ich dich rübertragen. Das heißt, falls du nichts dagegen einzuwenden hast.«

»Es geht auch ohne«, erwiderte Alecia und hüpfte mit den Schuhen in der Hand ins Wasser. Eine Welle traf sie von hinten. Auf dem Weg zum Strand bauschte sich ihr Rock zu einem Ballon auf.

»Siehst du?« Selbstgefällig stand sie abwechselnd auf einem Fuß und zog erst den einen, dann den anderen Schuh an. »Ich weiß schon, wo ich hintreten muß.«

»Ich hoffe nur, daß du immer so viel Glück haben wirst«, sagte Indy.

Die Männer der Ayesha Maru schleppten die fünf langen Kisten hoch und stellten sie nebeneinander aufgereiht am Strand ab. Indy fand, daß sie in der Dunkelheit fast an schlichte alte Särge erinnerten.

»Nun, wo sind sie?« fragte er.

»Sie sind hier«, sagte Marlow. »Sie beobachten uns, um sicherzugehen, daß es sich nicht um eine Falle handelt. Stehen Sie still und halten Sie Ihre Hände so, daß sie sie sehen können.«

»Wie oft haben Sie das hier schon gemacht?« wollte Indy erfahren.

»In diesem Geschäft«, gab Marlow Auskunft, »zählt man nicht mit.«

Ein schriller Pfiff ertönte. Am Fuß der nächsten Düne wurden vierzig Reiter sichtbar. Wie ein Wüstensturm flogen sie auf ihren Pferden zum Strand hinunter. Mit Ausnahme des gedämpften Aufsetzens der Hufe und dem Knirschen von Leder war nichts zu hören. Die Männer stie -gen ab, ließen die Zügel in den Sand fallen und machten sich eilig daran, mit Messern die Deckel der Kisten zu öff-nen. Ihr Anführer, eine hohe, weißgewandete Gestalt, mit einer unsäglich großen Muskete bewaffnet, schritt von einer Kiste zur anderen und inspizierte den Inhalt. Dann händigte er seinem Hauptmann die Waffe aus und holte aus der letzten Kiste eine in Amerika hergestellte Thompson-Maschinenpistole.

»Ihre Hoheit«, erbot Marlow sich. »Lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie sie funktioniert.«

Der Prinz tat sein Angebot mit einem Achselzucken ab und suchte in der Kiste nach einem Magazin, das er - wie ein Experte - in die Thompson schob, ehe er den Bolzen oben auf der Waffe zurückzog und den Verschluß öffnete. Eine funkelnde Patrone Kaliber .45 rutschte in Position. Er ließ den Bolzen los und feuerte.

Die Waffe spuckte Kugeln und Flammen in die dunkle Nacht.

Marlow kniff die Augen zusammen.

In einer Geste des Triumphes riß der Prinz die Thompson hoch über den Kopf, während seine Männer unter lautem Geschrei und Dankesbezeugungen an Allah ihre alten Waffen wegwarfen und gegen die modernen amerikanischen austauschten.

Der Prinz warf die Thompson über die Schulter, schnappte sein altes Steinschloßgewehr und lief zu Marlow hinüber. Die reich verzierte Muskete hielt er dem Kapitän entgegen.

»Für Sie«, sagte er. »Ist im Besitz meiner Familie seit meines Urgroßvaters Zeiten. Jetzt gehört es Ihnen. Gehen Sie sorgsam mit ihm um und machen Sie damit den römischen Schweinen das Leben schwer.«

»Danke«, sagte Marlow. »Ich werde es über meine Koje in meiner Kajüte hängen, dann ist es immer in Reichweite.

Prince Farqhuar, ich möchte Ihnen Indiana Jones vorstellen. Er ist gekommen, um gegen die Faschisten zu kämpfen.«

Erstaunt riß Indy die Augen auf.

»Ein Amerikaner?« rief der Prinz enthusiastisch aus. »Ich habe über Euch Amerikaner gelesen. Der Autor Jules Verne behauptet, daß Ihr Volk die besten Waffen auf der ganzen Welt herstellt. Er hat davon berichtet, wie Ihr eine riesige Kanone gemacht und damit drei Menschen auf den Mond geschossen habt. Verraten Sie mir, haben Sie diesen Franzosen kennengelernt, der so wundervolle Bücher schreibt?«

»Ich fürchte, nein, Eure Hoheit«, sagte Indy. »Monsieur Verne verstarb vor einigen Jahren. Und ich fürchte auch, daß er ein wenig übertrieben hat, vor allem was die Geschichte mit dem Mond anbelangt.«

Der Prinz faßte sich ans Herz.

»Was für ein Verlust!« klagte er. »Welche Freude hätte es mir bereitet, ihn meinem Volk vorzustellen. Und der große Jules Verne soll lügen? Niemals! Nein, nein. Er hat bestimmt die Wahrheit geschrieben. Wie sehr habe ich mir gewünscht, solch eine Kanone wie die, die er beschrieben hat, zu besitzen. Damit hätte ich die Römer über das Mittelmeer zurückdrängen können.«

»Das ist ein schöner Gedanke«, fand Indy.

»Und Sie, mein Kapitän«, fragte der Prinz. »Welches Land ist Ihre Heimat?«

»Ah«, begann Marlow. »Ich bin der Diener aller freien Völker und gehöre keinem an. Ich bin ein Pirat und stelle mich in den Dienst derer, die für eine gerechte Sache kämpfen und etwas Unterstützung brauchen. Aber ich fühle mich geehrt, Ihnen zu Diensten zu stehen, mein Prinz und Führer des großartigsten Volkes der Welt.«

Der Prinz grinste wissend und zog einen schweren Sack unter seinem Gewand hervor. »Solange der Preis stimmt, nicht wahr?« fragte er und warf Marlow den Sack vor die Füße.

Marlow legte die Finger an den Mund und stieß einen Pfiff aus.

»Los«, rief er. »Wir haben bekommen, was wir wollten.«

»Begleiten Sie uns und kämpfen Sie gegen die Römer«, drängte der Prinz Indy. »Das ist ein verzweifelter Kampf, aber die Vorsehung ist auf unserer Seite. Es gibt keine größere Ehre, als für den Ruhm Allahs zu sterben.«

»Ich kämpfe allein«, sagte Indy.

»Das ist eine Schande«, sagte der Prinz. »Ich hatte mich schon darauf gefreut, mich mit Ihnen in vielen wunderbaren Nächten über die amerikanischen Schriftsteller zu unterhalten. Über den famosen Mark Twain -« Der Prinz warf seine Hände hoch. »Ach, erzählen Sie mir nicht, daß er auch tot ist. Das könnte mein armes Herz nicht verkraften.«

Der Prinz stieg auf sein Pferd, und die Nomaden verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht waren.

Marlow warf den Goldsack über seine Schulter und wandte sich an Indy.

»Auf Wiedersehen, Dr. Jones«, sagte er. »Ich hoffe, Sie finden, was Sie suchen. Haben Sie Ihren Kompaß und die Karte? Das Lager der Faschisten liegt zehn Kilometer die Küste hinunter, in Richtung der aufgehenden Sonne. Mag der Gott, zu dem Sie beten, Gnade walten lassen.«

»Danke.« Indy schüttelte ihm die Hand, dann wandte er sich an Alecia. »Das ist deine letzte Chance. Marlow kann dich nach Kairo bringen. Dort könntest du bei meinem Freund Sallah unterkommen. Das wäre wirklich das Beste.« »Kommt nicht in Frage«, entgegnete Alecia. »Auf gar keinen Fall.«

Die Barkassen ließen die Ruder zu Wasser. Marlow machte sich auf den Weg und sprang in das erste Boot.

»Auf Wiedersehen«, rief er. »Passen Sie auf den Rotschopf auf. Und zähmen Sie sie, bevor sie Sie zähmt.«

Alecia verschränkte die Arme vor der Brust.

»Für wen hält sich dieser Pirat?« Sie rümpfte die Nase. »Mich zähmen, hah.«

Indy schulterte seinen Seesack und drückte Alecia die Wasserflasche in die Hand.

»Keine Chance«, sagte er und marschierte in Richtung Osten.

»Ich meine immer noch, daß wir auch ein paar Waffen gebraucht hätten«, sagte sie, hinter ihm herstapfend.

»Ich meinte von dir gehört zu haben, daß du Waffen nicht ausstehen kannst.«

»Tu' ich auch nicht. Nur entwickle ich langsam so etwas wie eine gesunde Ehrfurcht vor diesen Dingern, weißt du? Die Faschisten werden Waffen haben, große Waffen, und Gott weiß, was noch.«

»Vielleicht solltest du dich mit dem Prinzen zusammentun«, schlug Indy vor. »Ihr könntet Kaliber vergleichen, über all diese Dinge reden. Und von Kanonen träumen, die groß genug sind, um damit ein Loch in den Mond zu schießen.«

»Jones, du bist unerträglich«, sagte Alecia. » Ich habe ja nur darüber nachgedacht, die Chancen ein wenig zu unseren Gunsten zu verändern, das ist alles. Falls wir dort kämpfen müssen, um Alistair zu befreien, bin ich mehr als gewillt, das zu tun.«

»Wir werden ihn nicht rausholen, es sei denn, wir gehen ganz vorsichtig vor. Und das auch nur, falls er überhaupt Lust hat, mit uns zu kommen«, sagte Indy. »Mussolini hat alles in seiner Macht Stehende unternommen, um Libyen zu erobern. Falls wir unser Ziel erreichen möchten, müssen wir unsere Köpfe anstrengen und nicht den Abzugshahn drücken.«

Indy lag auf dem Bauch am Fuß einer kleinen Düne und beobachtete das Lager der Faschisten durch ein Fernglas. Sie hatten ihren Standort am Strand einer geschützten Bucht aufgeschlagen. Zwei Flugboote lagen im Wasser vor Anker.

»Genauso wie Marlow es gesagt hat.«

»Was meinst du, woher wußte er Bescheid?« fragte Alecia.

Indy grinste.

»Oh, natürlich«, sagte sie. »Er ist ein Pirat. Er verkauft an beide Seiten. Aber wozu brauchen die Italiener amerikanische Waffen? Haben die denn nicht genug eigene?«

»Das hier ist ein Elitecamp«, sagte er. »Balbo nutzt es als Trainingsstützpunkt für seine atlantici. Die Offiziere dürfen ihre Waffen selbst wählen, und ich könnte wetten, daß sie nur mit den besten Materialien ausgestattet sind.«

»Wieviel Uhr ist es?«

Indy gab Alecia das Fernglas und sah auf den Sternenhimmel.

»Drei Uhr, würde ich sagen. Vielleicht halb vier.«

»Sieht dort unten ziemlich ruhig aus«, fand Alecia.

»Eigentlich ist es zu dunkel, um etwas erkennen zu können«, wandte Indy ein. Der Mond näherte sich dem westlichen Horizont. »Aber das Lager ist durch Stacheldraht geschützt. An jeder Ecke steht ein Wachtum. Das große Zelt dient wahrscheinlich als Messe, und in dem halben

Dutzend kleineren könnten die Offiziere untergebracht sein. Die einfachen Soldaten schlafen in den kleineren Zelten im südlichen Abschnitt.«

»Und was ist mit Sarducci und Balbo?«

»Ich würde mal davon ausgehen, daß sie in den Gebäuden neben dem Fahnenmast stecken. Sieht mir ganz danach aus, als wäre das vor dem Krieg ein Fischerdorf gewesen.«

»Nun, aber es sieht nicht so aus, als ob es dort jetzt noch Fischer gibt«, sagte Alecia. Sie legte das Fernglas weg und stützte das Kinn in die gefalteten Hände.

»Wo halten sie deiner Meinung nach Alistair fest? Vielleicht in einem der Wachhäuschen? Oder in einem der Backsteinhäuser?«

»Bei einer solchen Anlage«, meinte Indy, »müssen sie ihn gar nicht einsperren, selbst wenn er gegen seinen Willen hier ist. Auch wenn ihm die Flucht gelänge, wohin sollte er denn gehen? Weit und breit nichts als das Meer, kilometerweit zerklüftete Küste und Sand, Sand und noch mal Sand im Landesinneren.«

»Und wie sollen wir dann wieder wegkommen?«

»Darauf habe ich im Moment noch keine Antwort parat«, sagte er. »Aber dieser Punkt steht auf meiner Liste. Wenn ich erst mal drinnen bin, werde ich mir sofort darüber den Kopf zerbrechen.«

»Das ist beruhigend«, spottete Alecia.

Indy drehte sich auf den Rücken und zog den Hutrand über die Augen. »In einer halben Stunde geht der Mond unter. Dann müßten wir doch eigentlich den Weg durch den Stacheldrahtzaun finden.«

»Und dann?«

»Keinen Schimmer«, murmelte Indy unter dem Hut hervor. »Eventuell ist mir bis dann was eingefallen.«

»Wann immer du anfängst, dir was einfallen zu lassen, mache ich mir Sorgen«, sagte Alecia. »Du denkst zuviel nach. Es ist in gewisser Hinsicht gerade so, als fordere man das Schicksal heraus. Genau wie beim Wünschen. Als kleines Mädchen wünschte ich mir niemals etwas zu sehr, weil ich Angst hatte, daß es dann nicht in Erfüllung geht. Solange ich nicht darüber nachdachte, konnte ich nicht allzu sehr enttäuscht werden. Mit dieser Einstellung verläuft das Leben in geordneten Bahnen. Keine Höhen und Tiefen.« Sie blickte zu Indy hinüber. »Jones?« fragte sie.

Dann nahm sie das Fernglas in die Hand und beobachtete wieder das Lager. Nichts rührte sich. Selbst die Hunde, die vorhin auf der anderen Seite des Zaunes Wache gehalten hatten, schliefen mittlerweile.

»Wie kannst du in solch einem Augenblick schlafen?« fragte sie. »Du hast Nerven, mein Lieber. Ich bin ganz aufgeregt, komme mir wie eine Feder vor, die jeden Moment hochschnellt.« Sie legte das Fernglas wieder weg.

»Alistair ist genau das Gegenteil«, fuhr sie fort. »Er wünschte sich andauernd etwas. Und schrie und zog eine Schnute und hielt den Atem an, wenn er es nicht kriegte. Es war gerade so, als würde er das Wünschen für uns beide übernehmen. Manchmal funktionierte es sogar. Und nun habe ich das Gefühl, meine andere Hälfte verloren zu haben.« Alecia bettete den Kopf auf die Arme.

»Diese Stunde der Nacht, irgendwann vor dem Morgengrauen, mochte ich schon immer ganz besonders«, sprach sie weiter. »Als kleines Mädchen blieb ich die ganze Nacht lang wach, nur weil ich wußte, daß alle anderen schliefen und mich nicht stören würden. Mit Ausnahme von Alistair, natürlich. Er wachte immer so um die se Uhrzeit in der Nacht auf und stolperte auf die Toilette und ließ die blö-de Tür offen, weil er nicht wußte, daß ich wach war. Das konnte ich auf den Tod nicht ausstehen. Ich legte die Hände auf die Ohren, bis er fertig war, zählte die Sekunden, bis er das Licht ausschaltete und ins Bett zurückkehrte.«

Alecia drehte sich auf die Seite und sah Indy beim Schlafen zu.

»So gefällst du mir irgendwie«, sagte sie. »Du siehst ganz gut aus, weißt du das, Jones? Bist im Moment ein bißchen wortkarg, aber wenigstens widersprichst du mir dann nicht.«

»Was hältst du für die am wenigsten bewachte Stelle im Lager«, fragte er sie.

»Du bist wach!«

»Ist schwer zu schlafen, wenn jemand die ganze Zeit über neben dir brabbelt. Aber nun mal zur Sache: Wenn du Wache wärst, welche Stelle würdest du auslassen? Welche Stelle wäre dir unangenehm? Du weißt schon, ein Fleckchen, wo du so schnell wie möglich vorbeigehst, ein Ort, von dem du nicht glaubst, daß er den Feind interessiert. Vielleicht eine Stelle, die selbst die Hunde vernachlässigen.«

»Die Latrine«, sagte sie.

»Ja. Steht Alistair immer noch um diese Uhrzeit auf, um aufs Klo zu gehen?« wollte er von ihr erfahren.

»Gut möglich«, sagte sie. »Ich weiß es wirklich nicht. Ist lange her, seit ich die ganze Nacht aufblieb. Das habe ich nicht mehr getan, seit wir uns kennengelernt haben. Und außerdem haben wir jetzt andere Zimmer als früher, als wir Kinder waren. Ich denke nicht, daß es mir auffallen würde, falls er diese Gewohnheit beibehalten hat.«

Alecia schaute ein letztes Mal durchs Fernglas.

»Aber es ist einen Versuch wert«, fand sie. »Ich meine, wir können ja schließlich nicht mitten in der Nacht an jede Tür klopfen, bis wir ihn endlich finden. Möglicherweise wäre es tatsächlich klüger, ihn zu uns kommen zu lassen.«

»Alecia, du gehst da nicht runter.«

»Wieso nicht?«

»Das ist ein Ein-Mann-Job«, sagte er.

»Vielleicht ist es aber ein Eine-Frau-Job«, entgegnete sie.

»Ich fürchte, dort unten gibt es keine Schwerter«, sagte er. Er verstaute sein Feldnotizbuch in einer Tasche, die ins Futter seiner Lederjacke genäht war. »Es ist sinnvoller, daß ich gehe. Bitte, argumentiere jetzt nicht, sonst mache ich auf dem Absatz kehrt und haue ab.«

Alecia schwieg.

»Das werte ich als Zustimmung«, sagte er und zog den Reißverschluß der Lederjacke hoch. Mit großer Geste nahm er den Fedora ab, inspizierte den Rand und setzte ihn ihr auf.

»Paß auf ihn auf«, sagte er. »Ich werde zurückkommen, um ihn zu holen. Falls ich bei Morgengrauen nicht zurück bin - oder falls du Schüsse hörst -, verschwindest du so schnell es geht. Bleib nicht hier, denn du wirst nicht in der Lage sein, Alistair oder mir zu helfen, ohne auch gefangengenommen zu werden.«

»Du hast genug Wasser für drei Tage«, fuhr er fort. »Und ich lasse dir die Webley hier - Marlow hat sie gereinigt -und eine Schachtel Patronen. In diesem Teil der Welt behandeln sie Frauen nicht sonderlich nett, also scheu dich nicht, die Waffe auch zu benutzen. Im Notfall wäre es das beste, wenn du die Küste entlang Richtung Westen gehst. Wenn du in die Zivilisation zurückkehrst, setz dich bitte mit Marcus Brody am American Museum of Natural Histo-ry in Verbindung. Einverstanden?«

Alecia nickte.

»Morgendämmerung«, sagte er und legte eine Pause ein. »Wie sieht Alistair aus?«

»Stell dir mich als Mann vor«, sagte sie. »Mit kurzgestutztem Bart.«

Indy verstaute die Drahtschere aus dem Rucksack in seiner Hosentasche und stapfte die Düne hinunter. Alecia beobachtete ihn durch das Fernglas. Er bewegte sich mit eingezogenem Kopf fort, hielt sich hinter den Dünenerhebungen und aufragenden Felsen und arbeitete sich zur anderen Seite des Lagers vor.

Alecia verlor ihn aus dem Blickfeld.

Die letzten hundert Meter zum Stacheldrahtzaun robbte er auf Ellbogen und Knien weiter, die Wachtürme an den Ecken nicht aus den Augen lassend. Bei der ersten Drahtabzäunung vergewisserte er sich, daß die Hunde nicht in der Nähe lauerten, schnitt die unteren Drähte durch und krabbelte durch die Öffnung. Ein Drahtende fuhr ihm unterhalb des rechten Wangenknochens über das Gesicht und hinterließ einen langen, blutenden Schnitt. Innerlich aufstöhnend, tupfte er das Blut mit dem Ärmel seiner Jacke ab und krabbelte quer über den Hundepfad zum zweiten Zaun. Diesmal mußte er die Schere dreimal einsetzen, ehe er ins eigentliche Lager gelangte. Die Holzlatrine schützte ihn vor den potentiellen Blicken der Lagerbewohner.

»Stinkt mächtig«, murmelte er und hielt den Atem an. Er kroch um den Holzverschlag herum und rannte dann zur Tür. Drinnen war der Gestank noch unerträglicher und aufdringlicher als draußen. Der schwache Schein dreier, in regelmäßigen Abständen herunterbaumelnder Glühbirnen, die durch ein ausgefranstes Stromkabel miteinander verbunden waren, sorgte für Licht. Eine Holzbank nahm die ge -samte Rückwand der Latrine ein. Im Notfall bot sie zwölf Männern die Möglichkeit, sich zu erleichtern.

»Nicht gerade sehr privat«, kommentierte Indy.

Entlang der Wände waren Trichter zu erkennen, und in der Mitte stand eine Art Waschstation, die vom auf den Deckenverstrebungen ruhenden Tank mit Wasser gespeist wurde.

Indy wickelte seine Peitsche ab, holte aus, so gut es ging, bis sich die Spitze um den mittleren Balken wickelte. Daran zog er sich hoch. Nachdem er die Peitsche aufgewickelt und an den Gürtel gehängt hatte, krabbelte er zu dem Stromkabel hinüber. Er hielt die erste Glühbirne hoch, befeuchtete die Fingerspitzen mit Speichel gegen die Hitze und drehte die heiße Birne aus der Fassung. Ein Stück weiter vorn drehte er die zweite Glühbirne heraus. Diesmal verspürte er einen leichten Stromschlag, weil die schützende Kabelummantelung aufgebrochen war.

Nun brannte nur noch das letzte Licht im hinteren Latrinenwinkel.

Indy machte es sich auf dem Balken bequem, lehnte sich an einen aufstrebenden Pfosten und wartete. Zwanzig Minuten später schwang die Tür auf, was ihn in Alarmbereitschaft versetzte. Im fahlen Licht begab sich der Mann unter ihm zum Waschstand in der Mitte der Latrine, schlug mit dem Schienbein dagegen und begann, auf italienisch zu fluchen.

Indy entspannte sich.

In den nächsten dreißig Minuten wurde die Latrine von zwei weiteren Männern aufgesucht, von denen leider keiner rotes Haar hatte. Schließlich, als der durch die Ritzen sichtbare Himmel sich langsam heller färbte und Indy sich innerlich schon auf sein Verschwinden eingestellt hatte, ging die Tür noch mal auf.

Ein bärtiger rothaariger Mann in weißem Unterhemd und Khakishorts kam herein und blieb, durch die schlechte Beleuchtung irritiert, stehen. Indy wußte auf der Stelle, daß das Alistair war.

»Man möchte meinen, daß Mussolini, bei dem die Züge den Fahrplan auf die Minute einhalten«, begann er mit englischem Akzent, »seine Leute so weit auf Vordermann gebracht hätte, daß sie kaputte Birnen auswechseln. Was für eine Schande. Hier ist es noch schlimmer als in einem Ferienlager.«

Er ging zu einem der Trichter, auf den noch etwas Licht fiel, zog den Reißverschluß seiner Hose runter und stierte beim Pinkeln mit leerem Blick auf die Wand. Indy kroch über den Balken Richtung Wand, kletterte vorsichtig hinunter, baumelte an beiden Händen und ließ sich zu Boden fallen.

Verunsichert drehte der Rothaarige sich um, um zu sehen, was sich hinter seinem Rücken abspielte.

»Himmel noch mal«, sagte er. »Sehen Sie, wozu Sie mich gebracht haben.«

»Sie pflegen alte Gewohnheiten«, sagte Indy, »aber wenigstens schließen Sie mittlerweile die Tür hinter sich.«

»Wer sind Sie?« fragte Alistair. »Mein Gott, Sie sind Amerikaner. Was haben Sie hier zu suchen?«

Indy forderte ihn auf, leiser zu sprechen.

»Ihre Schwester wartet außerhalb des Zaunes auf Sie«, erklärte er. »Und es wäre besser, wenn Sie freiwillig mitkommen, denn wenn nicht, so müßte ich Sie gegen Ihren Willen mitschleppen.«

»Alecia ist hier?«

»Kommen Sie, oder nicht?«

»Natürlich komme ich«, sagte er. »Warum sollte ich denn nicht kommen wollen? Seit Tagen warte ich darauf, daß jemand auftaucht und mich hier rausholt. Aber wer sind Sie und wie sind Sie hier reingekommen?«

»Wir haben keine Zeit für ausschweifende Erklärungen«, meinte Indy.

Alistair ging zur Waschstation und wusch sich die Hände.

»Lassen Sie das«, rügte Indy ihn. Draußen erwachte das Lager zum Leben, die Männer stellten sich auf den neuen Tag ein: Maschinen liefen an, Unterhaltungen setzten ein, die Hunde jaulten in ihren Gehegen und warteten ungeduldig darauf, gefüttert zu werden. »Lassen Sie uns verschwinden. Uns bleiben nur noch ein paar Minuten, bis es hell wird.«

Alistair trocknete die Hände an einem Handtuch ab. Indy f aßte ihn von hinten am Unterhemd und zerrte ihn zur Tür.

»Wir werden hier rausmarschieren, als wüßten wir ganz genau, was wir tun«, sagte Indy. »Wir werden uns ganz lässig zur Rückseite der Latrine begeben. Und dann werden wir uns mit den Bäuchen in den Staub werfen und - vorausgesetzt, die Hunde lassen uns in Ruhe - durch eine Öffnung im Zaun kriechen und zwar so schnell wie möglich. Falls Sie nur ein Wort verlieren oder wegzurennen versuchen, werde ich Ihnen das Genick brechen, bevor die Faschisten mich kriegen. Ist das klar?«

»Seien Sie nicht dumm«, sagte Alistair.

Indy studierte seinen Nacken.

»Was suchen Sie?«

»Nichts«, antwortete Indy. »Los.«

Gerade als ein Soldat die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, machte Alistair die Latrinentür auf. Geistesgegenwärtig zog Indy sich in eine dunkle Ecke zurück.

»Grazie«, bedankte der Soldat sich abwesend. Als er sich über das Waschbecken beugte, schlichen Alistair und Indy nach draußen. Die Sonne war noch nicht am Horizont aufgestiegen, aber es war schon so hell, daß sich die Umrisse der Gebäude deutlich abzeichneten.

»So werden wir niemals rauskommen«, flüsterte Alistair. »Ist schon zu hell. Die Wachposten in den Türmen werden uns bemerken und uns erschießen.«

»Gehen Sie weiter«, sagte Indy und lächelte, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Vielleicht haben sie bis in die Nacht rein gefeiert und müssen nun ihren Kater ausschlafen.«

»Die atlanticil« staunte Alistair.

Sie kamen zur Rückseite der Latrine. Indy drängte Alistair durch den Zaundraht. Erst dann legte Indy sich auf den Bauch und folgte ihm.

Auf dem Hundepfad, vor dem zweiten Zaun, machte Alistair eine Pause.

»Sie gehen lieber voran«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben eine Art Pfad durch die Minen ausgeheckt.«

»Minen?«

»Der ganze Bereich zwischen den beiden Zäunen ist ein Minenfeld«, verriet Alistair. »Wußten Sie das denn nicht?«

Indy zuckte mit den Achseln.

»Nun denn ... können Sie die Strecke erkennen, die Sie auf dem Weg nach drinnen genommen haben - vielleicht Vertiefungen im Sand, wo Ihre Knie und Ellbogen Mulden hinterlassen haben?«

»Nein«, sagte Indy. »Sieht für mich alles gleich aus.«

»Prima, wirklich prima«, meinte Alistair. »Haben Sie ein Messer bei sich?«

Indy nahm das Messer vom Gürtel und reichte es, mit dem Griff nach vorn, weiter.

»Na, dann müssen wir eben das Beste aus der Situation machen. Ich wußte immer, daß ich irgendwann in die Luft fliege, aber ich dachte eigentlich, daß sich das in meinem Labor ereignen würde.«

»Ihr Hemd«, sagte Indy. »Ziehen Sie es aus und stecken Sie es in Ihre Hosentasche. Es ist zu weiß.«

Alistair bewegte sich vorsichtig, bohrte alle paar Zentimeter die Klinge in den Sand. Mit an den Körper gepreßten Armen und kleinen Schritten folgte Indy seiner Spur.

Nach fünf Metern traf die Messerspitze auf etwas Hartes. Alistair malte mit dem Messer einen weiten Kreis, gab Indy ein Zeichen und ging weiter.

»Minen«, murrte Indy.

Auf den nächsten zwanzig Metern wiederholte sich dieser Prozeß mehrmals. Alistair schien völlig ruhig. Er arbeitete sich methodisch voran und ließ sich dabei Zeit. Schweiß tropfte von Indys Gesicht auf den Sand, und als er es nicht mehr aushaken konnte, sagte er: »Ich werde Sie ablösen.«

»Nein«, erwiderte Alistair. »Wir haben nicht mehr weit zugehen.«

Die scharlachrote Sonne kroch über den Dünenkamm, hinter dem Indy Alecia zurückgelassen hatte. Er hoffte inständig, daß sie mittlerweile längst fort war. Das Schicksal würde ihnen ziemlich hart mitspielen, wenn es zuließe, daß sie so weit kamen, nur um dann noch auf den letzten paar Metern erwischt zu werden. Er mußte daran denken, wie Alecia über Dinge, die man sich zu fest wünschte, gesprochen hatte.

»Wir müssen jetzt losrennen«, sagte Indy. »Uns bleibt keine Zeit mehr. Wir haben nur eine Chance, wenn wir das Risiko der Minen auf uns nehmen. Ist immer noch besser, als von einem Scharfschützen niedergestreckt zu werden.«

»Haben Sie mal gesehen, was von einem Mann übrigbleibt, der auf eine Mine getreten ist?« fragte Alistair ihn. »Dann werde ich lieber erschossen. Außerdem ... es sind nur noch ein paar Meter -«

Sand spritzte in Indys Gesicht. Einen Sekunde^r-uchteH später hörten sie deutlich den Schuß in der stillen Morgenluft, dessen Echo von den umliegenden Dünenkämmen widerhallte.

Hinter ihnen ertönte ein Horn.

Indy riß Alistair hoch und trieb ihn vor sich her. Sie rannten auf die nächste Düne zu.

In diesem Moment flog das Haupttor des Lagers auf. Schlingernd setzte ein großes Panzerfahrzeug zu einer Drehung an und nahm ihre Verfolgung auf. Ein Soldat bediente ein Gewehr Kaliber .30, das oben auf dem gepanzerten Fahrzeug installiert war.

Indy und Alistair steigerten ihr Tempo.

Sie hatten fast die schützenden Felsen erreicht, als das Panzerfahrzeug ihnen den Weg abschnitt. Der Lärm von drei Motorrädern verriet ihnen, daß die Flucht nach hinten unmöglich war. Die Soldaten in den Beiwagen zielten mit ihren auf Drehgelenken montierten Gewehren auf Indys Rücken.

Indy fiel auf die Knie. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schnellen Abständen. Um nicht umzufallen, stützte Alistair sich auf seine Schulter. »Tut mir leid, alter Mann«, brachte Alistair zwischen zwei Atemzügen heraus. »Aber wir haben uns nicht schlecht gehalten.«

Die Soldaten schrien Befehle auf italienisch.

»Ich vermute, sie möchten, daß wir die Hände hochnehmen«, sagte Alistair.

Er hob vorsichtig die rechte Hand, während er die linke ausstreckte, um Indy beim Aufstehen zu helfen. Mit einem Grinsen auf den Lippen hielt Indy ihm ebenfalls die linke Hand hin und schlug ihm, als er stand, mit voller Wucht die rechte Faust aufs Kinn.

Wie ein nasser Sack ging Alistair zu Boden.

»Da war kein Minenfeld«, sagte Indy, der sich mit gegrätschten Beinen über Alistair aufbaute. »Der Panzerwagen fuhr unbehelligt durch. Während wir die letzten dreißig Minuten damit vergeudet haben, uns auf Händen und Knien fortzubewegen. Kein Wunder, daß Sie mich nicht vorgehen lassen wollten. Sie haben nur im Sand liegende Steine markiert.«

Der Schütze an der Kaliber .30-Waffe feuerte eine Salve ab, die dicht neben Indys Füßen landete.

»Ist mir doch egal, nur zu, erschießen Sie mich«, sagte Indy und zeigte mit dem Daumen auf sich. »Ich verdiene diese Strafe. Obwohl ich ihm nicht über den Weg getraut habe, habe ich ihm die Geschichte mit dem Minenfeld abgekauft.«

Alistair setzte sich auf und lachte. Blut rann aus seinem Mund.

Ein Wagen mit italienischen Flaggen auf den Kotflügeln näherte sich. Balbo und Sarducci saßen auf der Rückbank. Sarducci stand auf, als der Wagen hielt.

»Bravo«, rief der Italiener begeistert und klatschte in die behandschuhten Hände. »Eine herausragende Vorstellung haben Sie gegeben.«

»Die Latrine«, platzte Alistair kichernd heraus. »Dort hat er sich versteckt.« »Das war wirklich ziemlich gut«, lobte Sarducci. »Der un-überhörbare Ruf der Natur und all das. Einfach, aber wirkungsvoll. Ich hätte allerdings eine etwas ... elegantere Strategie gewählt.«

Balbos Kinn ruhte in gefalteten Händen. Er sprach kein Wort und wirkte gereizt und leicht beschämt.

»Hat mich fast rausgebracht«, sagte Alistair. »Der Yankee kann ziemlich überzeugend sein. Hat gedroht, mir das Genick zu brechen, falls ich ihn verrate. Und das habe ich ihm auch abgenommen. Darum mußte ich mir was einfallen lassen, bis die Sonne aufging.«

»Sagt man Ihnen nicht nach, daß Sie bei Sonnenlicht zu Staub zerfallen?« fragte Indy ihn.

Balbo verkniff sich ein Lächeln.

»Fesselt ihn an den Handgelenken«, ordnete Sarducci an.

Einer der Motorradschützen kam mit einem Stück Seil angelaufen und band Indy die Hände auf den Rücken.

Sarducci stieg vom Wagen.

»Na, dann wollen wir mal nachsehen, wo sich Miss Dunstin versteckt hält.«

Indy lachte.

»Ach, kommen Sie, ich könnte schwören, daß sie darauf bestanden hat, sich diesem kleinen Abenteuer anzuschließen. Die Aufregung hat von ihr Besitz ergriffen wie eine Droge, und sie konnte garantiert nicht von der Vorstellung ablassen, ihren Bruder zu retten. Wo ist sie?«

»Sie ist schon lange weg, Sardi«, sagte Indy.

Sarducci senkte die Lider.

»Nennen Sie mich nicht so«, warnte er Indy. »Falls er mich noch mal so nennt, geben Sie ihm eins drauf. Ich frage Sie noch mal, Dr. Jones. Wo ist Miss Dunstin?«

»Gehen Sie fischen.«

Der Motorradschütze schlug ihm den Handrücken ins Gesicht.

Indy hustete und spuckte Blut.

»Die Wahrheit, Indy«, forderte Sarducci.

»Sie ist tot«, sagte er.

Alistair bekam es mit der Angst zu tun.

»Und wie ist sie gestorben?« wollte Sarducci erfahren.

»Es war ein Unfall«, sagte Indy. »Sie rutschte aus und fiel auf einen Stein, als wir von Bord des Schiffes gingen. Ich konnte nichts mehr tun. Sie hatte schwere Kopfverletzungen. Sie starb in meinen Armen.«'

»Er lügt«, meinte Sarducci. »Wenn sie tot wäre, wäre er niemals hier. Schlagen Sie ihn noch mal.«

Diesmal bekam er einen Schlag in den Magen verpaßt. Indy sank auf die Knie und erbrach sich im Sand.

»Heben Sie ihn auf«, befahl Sarducci. »Wischen Sie ihm den Mund ab. Ja, so ist es besser. Noch mal von vorn, Dr. Jones. Wo ist Alecia Dunstin? Falls Sie lügen - nun, vielleicht haben Sie inzwischen begriffen, welche Konsequenzen das nach sich zieht.«

»Ja, sie war hier«, sagte Indy. »Aber sie ist vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Sie werden sie niemals finden. Sie hat genug Vorräte für eine Woche und einen Beduinen als Führer, der das Land wie seine Westentasche kennt. Sardi, das Glück verläßt Sie.«

Sarducci nickte.

Wieder ein Faustschlag ins Gesicht.

Indy warf dem Schützen einen finsteren Blick zu. Blut lief ihm aus Mund und Nase. Nun mußten ihn zwei Soldaten auf den Beinen halten.

»Das würden Sie nicht tun, wenn mir nicht die Hände gebunden wären«, murmelte Indy undeutlich.

»Stimmt«, sagte Sarducci, »und Sie würden nicht so hartnäckig lügen, wenn Miss Dunstin nicht ganz in der Nähe wäre. Ich rate Ihnen, Dr. Jones, nicht länger den Mutigen zu spielen, solange Sie noch sprechen können.«

Balbo rief etwas aus dem Wagen.

»Ja, Italo«, sagte Sarducci. »Einen Augenblick noch.«

»Nein, jetzt gleich«, rief Balbo auf italienisch.

Sarducci runzelte die Stirn.

»Luftmarschall Balbo, der Gouverneur von Libyen ersucht um eine Unterredung mit mir«, richtete Sarducci sich an den Schützen. »Halten Sie ihn am Leben, bis ich zurück bin. Und sorgen Sie dafür, daß er nicht so rumhängt. Wie bei der Kreuzigung hat diese Haltung Einfluß auf das Zwerchfell und schneidet nach einem gewissen Zeitraum die Luftzufuhr ab.«

Sarducci trat an den Wagen und hörte sich Balbos Einwände bezüglich Indys Behandlung an. Schließlich stieg Balbo aus dem Wagen und kam zu Indy hinüber.

»Dr. Jones, es tut mir leid«, entschuldigte er sich. Er sprach Englisch mit starkem Akzent. Dann zog er ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und wischte Indy Blut und Speichel vom Kinn. »Ich akzeptiere es nicht, wie man Sie behandelt, aber Minister Sarducci handelt im Auftrag vom Chef höchstpersönlich. Die Politik schafft eigenartige Bettgenossen, nicht wahr? Sarducci steht über den Gesetzen der Menschlichkeit oder möglicherweise darunter.«

Indy kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

»Sie sind kleiner, als ich erwartet hatte«, sagte er.

Balbo lächelte.

»Ich hatte es mit dem Chef zu tun auf dem Flug von Rom. Er tat so, als ob er das Sagen hätte. Und Sarducci hat die

Kontrolle über eines meiner Flugzeuge verloren«, beklagte er sich. »Das war unerträglich. Und was erhalte ich als Gegenleistung für meine unabdingbare Loyalität? Man verleiht mir einen bedeutungslosen Titel und schickt mich in diesen gottverlassenen Landstrich, wo es nur Sand und Felsen gibt.«

Balbo seufzte.

»Sarducci wird Sie bestimmt töten«, sagte er und faltete sein Taschentuch ordentlich zusammen. »Ich kann Sie nicht retten. Aber ich kann verhindern, daß er Sie auch weiterhin so schlecht behandelt. Ich möchte Ihnen gestehen, sozusagen von einem Soldaten zum anderen, daß ich Ihnen das höchste Maß an Respekt entgegenbringe. Sie sind für mich eine Inspiration gewesen. Und weil Sie über den Wolken gewesen sind mit der Armada, jedenfalls für kurze Zeit, würde ich Ihnen gern eine kleine Annehmlichkeit gewähren, falls Sie es gestatten.«

»Darauf können Sie wetten«, sagte Indy. Er versuchte nicht länger, etwas erkennen zu können.

Balbo nahm eine Nadel mit silbernen Adlerschwingen von seinem Uniformrevers.

»Sie sind ein atlantici«, verkündete er und befestigte die Nadel an Indys Hemdtasche. Dann trat er einen Schritt zurück, schlug die Hacken zusammen und salutierte vor Indy.

Balbo spazierte zum Wagen, Sarducci kehrte wieder zurück.

»Sardi«, sagte Indy. Mit der Zunge fuhr er über einen losen Schneidezahn. »Jetzt bin ich gerade mal seit zehn Sekunden ein Faschist und verspüre schon das Verlangen, jemanden zu töten.«

»Werft ihn auf das Panzerfahrzeug, dann kann sie ihn sehen«, ordnete Sarducci an. Die Motorradsoldaten zerrten

Indy auf das Fahrzeug. »Und gebt mir ein Megaphon. Ja, danke.«

Sarducci stieg auf die Motorhaube.

»Miss Dunstin«, brüllte er durch das Megaphon und drehte sich dabei im Kreis. Seine Stimme hallte von den Felsen wider. »Ich weiß, daß Sie mich hören können. Wir haben Ihren Bruder und Dr. Jones. Bitte, schauen Sie selbst.«

Sarducci zog die Pistole aus dem Gürtelholster und feuerte einen Schuß in die Luft, um dann die Mündung an Indys Schläfe zu halten.

»Falls Sie sich nicht innerhalb der nächsten Minute zu erkennen geben, wird Dr. Jones sterben«, rief er. »Aber falls Sie aus Ihrem Versteck kommen, verspreche ich Ihnen, daß ihm kein Haar gekrümmt wird. Sie haben die Wahl... Und Sie haben jetzt noch fünfundvierzig Sekunden.«

»Alecia«, rief Indy. »Tu das -«

Der Motorradsoldat stopfte Indy ein Taschentuch in den Mund. Indy biß ihm auf die Finger. Sarducci wartete geduldig. Der Lauf seiner Waffe verrutschte nicht um einen Millimeter.

»Dreißig Sekunden.«

Die Mündung drückte fester auf Indys Schläfe.

»Zehn Sekunden.«

Indy versuchte an etwas Angenehmes zu denken.

»Töten Sie ihn nicht!« rief eine Stimme hinter den Steinen. »Sie gewinnen. Ich gebe auf. Aber schießen Sie nicht.« Mit erhobenen Händen stand Alecia auf.

Sarducci verstaute seine Pistole und sprang von der Motorhaube des Panzerfahrzeugs. Mit einem Zeichen gab er den Soldaten zu verstehen, daß sie die Frau zu ihm bringen sollten.

»Sie waren ja noch näher, als ich annahm», sagte Sarducci. »Wie nett von Ihnen, daß Sie sich uns anschließen.«

»Ich schließe mich nichts und niemandem an«, stellte Alecia klar. Sie kämpfte mit den Soldaten, die sie an den Armen festhielten. »Und ich weiß nicht, was dich dazu veranlaßt hat, Alistair Dunstin. Jones hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um dich zu retten, und so sieht deine Vergeltung aus? Ich kann nicht glauben, daß ich aus dem gleichen Bauch wie du stamme.«

»Es geht um eine große Sache«, verteidigte sich Alistair.

»Schaffen Sie Dr. Jones runter ins Lager«, ordnete Sarducci an. »Ketten Sie ihn am Bett fest und kümmern Sie sich um seine Verletzungen. Falls er in der Lage ist zu essen, geben Sie ihm, was immer er haben möchte. Und waschen Sie seine Kleider, ja? Pinnen Sie ihm die Nadel mit den Adlerschwingen an die Brust. Morgen früh, bei seiner Exekution, muß er was hermachen.«

»Exekution?« schrie Alecia entsetzt.

»Aber sicher«, sagte Sarducci. »Bei Sonnenaufgang, denke ich. Diese Tageszeit hat - was das betrifft - Tradition.«

»Aber Sie haben ein Versprechen gegeben«, weinte sie.

»Meine Liebe«, erwiderte er gutgelaunt. »Wann werden Sie endlich lernen und aufhören, den Menschen zu vertrauen!«

Unter einem blutroten Himmelszelt mit stahlgrauen Wolken stand Indy mit auf den Rücken gefesselten Händen vor einer Backsteinmauer in einer Ecke des Lagers. Seine Kleider waren ordentlich gebügelt, seine Lederjacke eingeölt, und man hatte sogar seinen Fedora gereinigt und mit Dampf wieder in die alte Form gebracht. Die Schnitte auf seinem Gesicht waren genäht und mit Jod behandelt wor-den. Zwanzig Meter weiter hatten acht mit Gewehren bewaffnete Soldaten Position bezogen und warteten.

»Sie sollten die Schönheit der Prozedur schätzen«, wandte Sarducci sich an Indy. »Ich habe an die Soldaten acht Patronen ausgeteilt, die alle die gleiche Größe und das gleiche Aussehen haben. Sie werden gleichzeitig feuern und auf Ihr Herz zielen. Aber nur vier der Patronen sind echt, die anderen sind harmlose Krachmacher. Ich hoffe, daß es mir auf diese Weise gelingt, den Männern ihre Aufgabe zu erleichtern, ihnen die kleine, mitleidserregende Hoffnung zu geben, daß sie vielleicht nicht einen der tödlichen Schüsse abgegeben haben, der das Leben von einem ihrer hochdekorierten Kameraden beendet hat. Sehr menschenfreundlich, finden Sie nicht?«

»Lassen Sie Alecia gehen«, sagte Indy.

»Nicht um alles auf der Welt, wie Ihr Amerikaner zu sagen pflegt«, sagte Sarducci. »Sie ist für mich eine wertvolle Annehmlichkeit geworden, Dr. Jones. Sicherlich dürfte Ihnen die verblüffende Ähnlichkeit mit meiner verstorbenen Mona aufgefallen sein. Ich muß gestehen, daß mir das eine Zeitlang Sorgen gemacht hat, mich dazu verleitet hat, mir über die Möglichkeit der Reinkarnation und Seelenwanderung Gedanken zu machen. Aber wie immer gibt es keine einfachen Antworten auf die Fragen des Lebens, und ich denke, daß wir das Problem nur zusammen lösen können. Ach, da kommt sie ja.«

Alecia stolperte, als Luigi sie in die Mauerecke schubste. Man hatte ihr die Hände gefesselt, und sie trug ein weißes Kleid aus fließendem Tuch, das von einem goldenen Gürtel zusammengehalten wurde. Um ihren Hals war eine Lapis-lazuli-Kette drapiert.

Alistair war bei ihr. Auch seine Hände lagen in Fesseln.

»Wunderschön ist sie, nicht wahr?« fragte Sarducci. »Ich hielt es für eine nette Geste, wenn sie sich zu diesem Anlaß herausputzt.«

»Ja«, sagte Indy.

»Sie werden mich niemals bekommen, Sie Wahnsinniger«, kreischte Alecia und versuchte, Luigis eisernen Griff abzuschütteln. Ihr Kleid bauschte sich im Wind. »Egal, was Sie mit mir anstellen werden, ich werde immer weit weg sein, außerhalb Ihrer Reichweite. Und in dem Augenblick, in dem Ihre Vorsicht schwindet, werde ich Sie töten.«

»Ich nehme an, daß ein Sturm aufzieht«, sagte Sarducci und blickte zum Himmel hoch. »Aber das muß nicht mehr Ihre Sorge sein. Oh, da ist noch eine letzte Sache. Es wäre mir mehr als unangenehm, wenn Sie Ihre letzte Reise anträten, ohne hinter das Geheimnis von Voynich gekommen zu sein.«

Sarducci schnippte mit den Fingern. Ein tenente brachte ihm eine Dokumententasche, aus der er das Manuskript nahm. Jahrhundertealte Seiten flatterten im Wind.

»Die Farben des Manuskriptes«, begann Sarducci, »liefern den Hinweis auf das eigentliche Geheimnis und verraten den Standort des Grabes von Hermes. Aber das wissen Sie bestimmt. Was Sie jedoch nicht wissen, ist, daß die Lösung des Rätsels die ganze Zeit in unmittelbarer Reichweite gewesen ist.«

Sarducci ging zu Alecia hinüber, und als Luigi sie an den Schultern packte und umdrehte, griff er nach dem Stoff ihres Kleides, zerriß ihn mit beiden Händen und entblößte ihren Rücken. Die Tätowierung war noch viel schöner, als Indy sie sich vorgestellt hatte. Schwarz, Rot, dann Grün und Gold, Kreise und Schnörkel. Die Schnörkel innerhalb der Kreise liefen in Punkten aus.

»Der Schlüssel, von einer Generation Alchemisten an die nächste weitergereicht«, sagte Sarducci und zeigte auf Ale-cias tätowierten Rücken. Er entledigte sich des rechten Handschuhs. »Betrachten Sie die verschlungenen Kreise und die Farbschattierungen. Wirklich atemberaubend. Sieht gar nicht wie eine Karte aus und ist es doch. Hier, in der Mitte. Der rote Kreis mit dem schwarzen Punkt im Zentrum. Das ist Alexandria, um Punkt zwölf Uhr der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche im ersten Jahr des 2. Jahrhunderts. Ein Stock, in die Erde gerammt, warf keine Schatten. Und das hier ist der Hinweis auf alle anderen Punkte.«

Mit dem Mittelfinger fuhr Sarducci über ihren Rücken. Sein Nagel hinterließ eine rote Linie auf ihrer Haut. Alecia erschauderte.

»Sie können jeden Punkt auf der Erde finden, wenn Ihnen dieser festgelegte Hinweis zur Verfügung steht«, sprach Sarducci weiter. »Hängt alles von der Länge der Skala ab und von Ihrer Position innerhalb des Kreises. Der hier ist zum Beispiel grün.« Er deutete auf einen Kreis mit einem kurzen, skalenförmigen Schnörkel, der auf achtundzwanzig Grad stand. »Kairo. Oder eher die präzise Darstellung eines Stocks, der um zwölf Uhr mittags desselben Tages aufrecht aus der Erde ragte. Die frühchristlichen Gnostiker wußten, daß die Welt rund war, und das viele Jahrhunderte vor dem berühmten Kolumbus.«

Sarduccis Finger fuhr über Alecias Rückgrat.

»Da gibt es natürlich noch andere Orte. Hier ist Rom. Und die Kesselflicker haben selbstverständlich ein paar neue Städte auf der Karte eingezeichnet - London und Moskau. Dabei ist es nicht von Bedeutung, in welcher Verbindung die Kreise zueinander stehen, nur die darin enthaltene Information ist von Belang.«

Sein Finger hielt auf einem goldenen Kreis oberhalb Ale -cias Taille inne. »Und hier ist der Hauptpreis, das Grab des Hermes. Ungefähr an der Grenze zwischen Libyen und Ägypten, wo Alexander es während seiner Pilgerfahrt nach Siwa entdeckt hat. Das Manuskript verrät uns die Zeit und das Datum des Referenzpunktes, und zusammen mit Alecias >Topographie< werde ich in Kürze den exakten Längen-und Breitengrad ermittelt haben. Die Mathematik ist ein anstrengendes, aber nicht besonders kniffliges Feld. Ele gant, nicht wahr?«

Sarducci grinste.

»Wie kann ich Ihnen beiden jemals danken, daß Sie sie mir gebracht haben?« fragte er.

Alistair senkte den Blick.

»Lassen Sie sie gehen«, forderte er.

»Nun, dann wollen wir mal fortfahren, nicht wahr?« sagte Sarducci. »Luigi, drehen Sie Miss Dunstin um, damit sie die Vorstellung bewundern kann.«

Tränenspuren hatten Alecias starkes Make-up zum Zerlaufen gebracht.

Sarducci zog ein Päckchen Lucky Strikes aus seiner Tasche.

»Zigarette?« fragte er Indy.

»Ich rauche nicht.«

»Ah«, sagte Sarducci. »Sehr gesund. Möchten Sie, daß man Ihnen die Augen verbindet?«

»Ich fürchte mich nicht«, sagte Indy.

»Das sollten Sie aber.« Sarducci entfernte sich. Nun stand Indy allein vor der von Einschußlöchern verunstalteten Backsteinmauer. Sarducci gesellte sich zum Exekutionskommando und zog seinen Handschuh wieder an.

»Fertig«, sagte Sarducci.

Das Exekutionskommando nahm die Waffen hoch und richtete sie aus.

Alecia schaute Indy an. Ihre Augen flehten um Vergebung.

Indy lächelte.

»Ich hasse dich, Prinzessin.«

»Oh, Indy«, rief Alecia. »Ich hasse dich auch.«

»Zielen«, befahl Sarducci.

Indy schluckte schwer und richtete den Blick nach vorn. Die Soldaten schulterten ihre Gewehre, legten die Finger auf die Abzugshähne. Die Mündungen waren auf Indys Brustkorb gerichtet.

Sarducci ließ einen Augenblick verstreichen, um die Spannung auszukosten. Dann hob er die Hand in einer ausladenden Geste. Jetzt mußte er jede Sekunde den endgültigen Befehl geben.

Luigi fuhr mit der Zunge über die Lippen.

Indy schloß die Augen.

Sarducci erteilte den Befehl zu feuern, aber das Exekutionskommando konnte ihn wegen der Explosion nicht hören, bei der einer der Wachtürme zum Einstürzen gebracht wurde. Schüsse krachten hinter dem Zaun durch die Luft. Man hörte die lang anhaltenden Salven von automatischen Waffen. Drei Soldaten wurden die Beine unter dem Körper weggerissen. Berittene Beduinen überwanden die Abzäunung. Die anderen Mitglieder des Exekutionskommandos rannten davon und warfen ihre Waffen weg.

Luigi lief ihnen hinterher.

»Nein!« kreischte Sarducci. »Kommt zurück!« Er schnappte sich eins der Gewehre, kam etwas näher, zielte auf Indys Brust und feuerte. Indy stockte der Atem, als die Wachskugel von seinem Brustbein abprallte.

»Das hat weh getan«, keuchte Indy und stieß Sarducci die Stiefelspitze zwischen die Beine. Sein Gegenüber klappte zusammen, ließ das Gewehr los und fiel auf die Knie.

»Und das hier ist für Alecia«, sagte Indy und schlug ihm das Knie ins Gesicht. Sarducci fiel rücklings in den Sand. Er war nicht mehr bei Bewußtsein.

»Ich grüße Sie«, rief Prinz Farqhuar, als er abstieg und Indys Fesseln mit einem Messer durchtrennte. »Ich nehme an, Sie freuen sich, mich zu sehen?«

»Da liegen Sie ganz richtig mit Ihrer Annahme«, sagte In-

dy.

Hinter Farqhuar tauchte Sallah auf. Er hielt die Zügel zweier Pferde fest.

»Indy, mein Freund«, rief Sallah erfreut und rutschte vom Sattel. »Als Kapitän Marlow mir sagte, daß er dich hier in der Nähe abgesetzt hat, machte ich mich sogleich auf den Weg, weil ich mir schon dachte, daß du Hilfe gebrauchen kannst.«

Sallah umarmte Indy und drückte ihn an seine Brust, bis dessen Füße in der Luft baumelten. Vor Freude und wegen der sich einstellenden Atemnot schlug Indy ihm auf die Schulter.

»Du kennst den Prinzen?« fragte er ungläubig.

»Aber ja doch«, entgegnete Sallah. »Er ist einer meiner Schwäger.« Dann beugte er sich zu Indy hinüber. »Aber das sage ich dir im Vertrauen, das ist eine ziemlich schwierige Angelegenheit. Du weißt schon, eine Mischehe.«

»Wie lange seid ihr schon da?« wollte Indy wissen.

»Erst seit ein paar Stunden«, antwortete Farqhuar.

»Stunden?« hakte Alecia nach. Mit den Händen auf dem Rücken bemühte sie sich, ihr Kleid zusammenzuhalten. »Sie sind seit Stunden dort draußen? Dann haben Sie sich aber, verflucht noch mal, Zeit gelassen. Ich bin vor Angst fast gestorben.«

»Ich habe Dr. Jones einen großen Dienst erwiesen, indem ich gewartet habe«, wehrte Farqhuar sich, während er Alecias Fesseln durchtrennte. »Wie oft fragen wir uns, wie wir uns wohl angesichts des Todes verhalten werden. Werden wir Schande über uns und unsere Familien bringen? Oder werden wir, wenn die Zeit kommt, uns so verhalten, daß Allah uns mit offenen Armen empfängt? Dr. Jones weiß nun Bescheid.«

»Darauf war ich gar nicht so scharf«, sagte Indy und massierte seine Handgelenke. »Allah kann gern warten.«

Farqhuar lachte.

»Allah wartet auf niemanden«, meinte er.

Alistair streckte seine gefesselten Hände aus.

Farqhuar zögerte.

Indy nahm die rasiermesserscharfe Klinge und ging zu Alistair hinüber, der blinzelte und blitzschnell die Hände vors Gesicht führte, in der Annahme, daß Indy ihm das Messer ins Herz rammen wollte.

Indy schnitt die Fessel durch.

»Sie sind frei«, sagte Indy. »Entscheiden Sie sich, auf welche Seite Sie sich schlagen möchten.«

Die Faschisten hatten sich von dem Überraschungsangriff erholt und begannen nun, sich gegen die Nomaden zur Wehr zu setzen. Kugeln pfiffen über ihre Köpfe hinweg.

»Wir müssen fliehen«, meinte Sallah.

»Es gibt nicht genug Pferde«, warnte Alecia. Panik lag in ihrem Blick.

Indy nahm Sarducci die Dokumententasche ab und zog Alecia hinter sich auf den Rücken des weißesten Pferdes.

Sallah zuckte mit den Achseln und warf Alistair die Zügel des anderen Tieres zu.

Hinter Farqhuar, der voranritt, hielten sie auf die zerstörte Umzäunung zu. Die Pferde sprangen über die Balken weg, die früher einmal ein Wachtum gewesen waren. Sallah folgte Farqhuar Richtung Westen, doch ein Ruf von Indy veranlaßte ihn, stehenzubleiben.

»Nein«, sagte er.

»Aber Indy«, protestierte Sallah.

»Wir nehmen einen anderen Weg«, sagte Indy und riß am Zügel. Das Pferd galoppierte nach Osten, in Richtung Kairo.

»Warten Sie«, rief Prinz Farqhuar ihm hinterher. Er gab drei Nomaden das Zeichen, ihm zu folgen, und schlug dann Indys Richtung ein. »Wir haben uns ja noch gar nicht über die wunderbare Autobiographie von Huckleberry Finn unterhalten! «

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