KAPITEL SECHS. Turm der Winde

Lange nachdem die Motoren verstummt und die SM.55 fest vertäut war, entstieg ein ungleiches Mechanikerpärchen der vorderen Luke auf der Steuerbordseite des Flugschiffes und lief mit wackeligen Knien die Gehplanke zum Dock hinunter. Der größere von beiden hatte einen roten Werkzeugkasten bei sich, während der kleinere, dessen Gesicht unter der weiten Pilotenkappe kaum zu erkennen war, ein paar Schritte Abstand hielt. Am Ende der Planke wartete ein auf sein Gewehr gestützter faschistischer Soldat und rauchte eine Zigarette. Er beäugte das näher kommende Paar skeptisch.

Indy nickte, als sie an ihm vorbeikamen.

»Uno momento«, rief der Soldat, schob die Waffe in die Armbeuge und kramte in seiner Brusttasche nach einem Blatt Papier, das er gewissenhaft auffaltete und mit der Zigarette im Mundwinkel überflog.

Indy grinste.

»Mozzarella«, murmelte er.

»Che ha detto!« fragte der Soldat, ohne von der Liste aufzublicken. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, bevor er sie ins Wasser warf.

Indy zeigte mit dem Daumen auf Alecia.

»Ravioli.«

Alecia nickte, was sie besser unterlassen hätte, weil eine Strähne ihres roten Haars aus der Kappe rutschte und über ihr rechtes Auge fiel. Der Soldat war im ersten Moment verblüfft. Doch dann ließ er die Liste fallen und versuchte, das Gewehr zu ziehen.

Indy schlug ihm den roten Werkzeugkasten an die Schläfe. Das Gewehr landete klappernd auf der Planke, und der Soldat fiel rücklings über die Brüstung ins Wasser.

Mit einer Kopfdrehung vergewisserte Indy sich, ob jemand etwas gesehen hatte. Glücklicherweise waren sie allein auf dem Dock. Mit dem Rand seines Schuhs katapultierte er das Gewehr ins Wasser.

Hinter einem Lagerschuppen entledigten sie sich ihrer Overalls. Darunter trugen sie ihre eigene, inzwischen getrocknete Kleidung.

Indy öffnete den Werkzeugkasten, holte seinen Ledersack raus und machte sich schwerfällig daran, seine Lederjacke anzuziehen.

»Mozzarella und Ravioli?« fragte Alecia. Die Pilotenkappe warf sie ins Wasser. Mit den Fingern kämmte sie provisorisch ihr Haar. »Mehr ist dir für uns nicht eingefallen? Warum nicht Botticelli und Raphael, oder Polo und Colum-bus? Und was hast du gegen Marconi einzuwenden? Ich mag ihn.«

Indy setzte den verknautschten, von Wasserflecken verunstalteten Fedora auf und versuchte, den welligen Rand wieder in Form zu bringen.

»Ich bin immer noch hungrig«, lautete seine Erklärung.

Der Fahrer, der sich nur mit Höchstgeschwindigkeit fortbewegte, sprach kein Wort Englisch, setzte aber nichtsdestotrotz zu einem Monolog an, der nur durch kurzes, heftiges Hupen und lautes Schimpfen über die Dummheit der anderen Autofahrer unterbrochen wurde. Nach kurzer Fahrt erreichten Indy und Alecia Rom. Die Räder des alten gelben Fiats hielten nur ein einziges Mal - vor dem Inghilterra in der Via Bocca di Leone.

»Ich nehme mal an, daß er davon ausgeht, daß alle Englisch sprechenden Menschen auch im Hotel England übernachten«, meinte Alecia, als Indy dem Fahrer ein paar Lire in die ausgestreckte Hand drückte. »Ich habe schon so viele Geschichten über dieses Hotel gehört, aber natürlich nie gedacht, daß ich selbst einmal hier absteigen würde. Wie wunderbar wird es sein, zu baden und die Kleider zu wechseln.«

»Falsch gedacht, Prinzessin.« Indy schaute dem Fiat hinterher, der blitzschnell im Dunkel der Nacht verschwand. »Falls er davon ausgeht, daß alle Englisch sprechenden Ausländer hier übernachten, dann weiß das auch Mussolinis Geheimpolizei, und das bedeutet, daß wir nicht hier übernachten werden.«

Sie marschierten los.

Einen Tag zuvor war die glorreiche Luftstreitmacht in die Heimat zurückgekehrt, und die ewige Stadt war immer noch ganz benommen von den Feiern zu Ehren von Balbo und seinen atlantici. Mussolini hatte Balbo zum Empfang umarmt und ihm Bruderküsse auf beide Wangen gedrückt. Der Atlantik, verkündete er, war ein italienisches Meer geworden. In schneeweißen Ausgehuniformen waren die Männer der Lüfte triumphierend durch den Konstantin-Bo-gen geschritten, gerade so, als gehörten sie einer nach Rom zurückkehrenden Legion an.

Im Royal des Etrangers unweit der Piazza Colonna trat Indy an das Empfangspult des Hotels. Alecia machte es sich derweil in einem Sessel im Foyer bequem, ohne die Eingangstür auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

»Sprechen Sie Englisch?« erkundigte sich Indy.

»Aber gewiß doch!« rief der Besitzer, ein kahlköpfiger Mann mit einem dicken Seehundschnauzbart. »Ich beherrsche die Grammatik perfekt! Wie geht es Ihnen? Mein Name ist Guiseppe Rinaldi.«

»Hören Sie, Rinaldi«, sagte Indy und beugte sich über das Pult. »Dieses Hotel - ist es diskret?«

»Aber sicher«, erwiderte Rinaldi. »Der Duce und seine Geliebte sind einmal hier abgestiegen, und Rinaldi hat niemandem etwas davon erzählt. Rinaldi nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab.«

»Wunderbar«, meinte Indy.

»Sie sind Liebende, nicht wahr?« vermutete er und hielt die Faust vor den Mund. »Handelt es sich vielleicht um eine Affäre? Möglicherweise gehört sie zu einem anderen Mann - ist gar dessen Ehefrau! - und nun sind Sie in dieses Hotel gekommen, um Ihre verbotene Liebe zu genießen in der schönsten Stadt der Welt? Das bricht mir das Herz! Aber Rinaldi versteht.«

»Nein, Sie verstehen nicht«, entgegnete Indy. »Wir sind nicht ineinander verliebt.«

»Ach - selbstverständlich nicht«, ging der Hotelier geistesgegenwärtig auf seine Erklärung ein und zwinkerte verschwörerisch.

»Getrennte Zimmer«, bat Indy.

»Gewiß doch!« Rinaldi schob ein Paar Messingschlüssel über das Pult. »Sechs amerikanische Dollars.«

»Und wieviel kostet es, wenn unsere Namen nic ht im Gästebuch auftauchen und unser Geheimnis niemals über Rinaldis Lippen kommt?«

»Ach, das macht dann acht amerikanische Dollars.«

»Ich hoffe nur, daß Rinaldi auch die Wahrheit spricht«, drohte Indy sanft. »Ich werde für zwei Nächte bezahlen und zwar im voraus. Und falls uns niemand stört, wird dieser reiche Amerikaner hier Rinaldi ein üppiges Trinkgeld geben, wenn er abreist. Haben Sie verstanden?«

»Aber gewiß doch!«

Indy bezahlte in Lire. Rinaldi rechnete den Wechselkurs aus - und rundete den Betrag großzügig auf einen Tausenderbetrag auf, während er dem reichen Amerikaner ein Kompliment für die kluge Wahl des Hotels machte.

»Meinen Sie, daß Rinaldi ein paar Kleidungsstücke auftreiben könnte, die dem reichen Amerikaner und der Lady passen?« fragte Indy. »Und könnten Sie dafür sorgen, daß unsere Kleidung gereinigt wird, während wir das Abendessen einnehmen?«

»Aber gewiß doch! Ich werde Ihnen gleich etwas nach oben schicken.«

Indy nickte zufrieden und steckte die Schlüssel ein.

»Wir werden unsere Sachen vor die Tür legen«, sagte er zu Rinaldi,

»Das wird allerdings eine kleine Gebühr kosten«, verriet der Hotelier. »Unser Restaurant ist buono. Sehr gut! Es ist gleich nebenan und bietet einen herrlichen Ausblick auf die Piazza.«

Indy drehte sich um und war im Begriff wegzugehen.

»Chef«, rief Rinaldi. Indy blieb stehen. »Die Zimmer sind miteinander verbunden. Durch eine Tür, Sie verstehen? Viel Spaß!«

In einem Straßencafe trank Indy einen Kaffee, so dick wie Motoröl, und blätterte die New York Herald Tribüne durch, während Alecia ein Bad nahm. Über der Piazza Colonna hing ein riesiges Schild, auf dem Mussolini in der Uniform eines Fliegers und eine Karte der Flugroute abgebildet waren. Eine Reihe weißer Glühbirnen zeichnete den Flug über den Atlantik nach, rote Glühbirnen die Heimreise.

»Man könnte meinen, Mussolini hätte am Steuerhebel gesessen«, lautete Alecias Kommentar, als sie neben Indy Platz nahm. Sie trug ein bodenlanges, smaragdgrünes Abendkleid, das mehr zeigte, als Indy lieb war. Mit einem Kloß im Hals schaute er in die andere Richtung und tippte auf die Zeitung.

»Hier steht, daß Mussolini Balbo zum Hauptmann der Lüfte ernannt hat - was immer das sein mag«, erzählte er. »Beim Start in Ponta Delgada haben sie ein Flugzeug verloren. Dabei ist einer ihrer Piloten ums Leben gekommen.«

»Ich bin froh, daß ich das erst jetzt erfahre«, sagte Alecia.

»Sie hatten auf dem Flug mit einem Verlust von wenigstens vier der fünfundzwanzig Flugzeuge gerechnet. Das war bislang der Durchschnitt auf den Langstreckenflügen. Kannst du dir vorstellen, daß du losfliegst und weißt, daß die Chance sechs zu eins steht, daß du nicht wieder heimkehrst?«

»Dafür gibt es einen Namen«, meinte Alecia. »Russisch Roulette. Diese Flieger sind Wahnsinnige, die eine geladene Waffe in Händen halten. Bei solch einer Verlustrate darf man davon ausgehen, daß das Reisen mit dem Flugzeug sich niemals durchsetzen wird. Ich ziehe jedenfalls Schiffe und Züge vor, Jones.«

»Fühlst du dich besser?« fragte er. »Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.«

»Tut mir leid. Ich bin in der Badewanne eingeschlafen. Und ich hatte ganz vergessen, wie prima es sich anfühlt, sauber zu sein.«

»Du siehst toll aus«, platzte es aus Indy raus. »Rinaldi hat offenbar ein gutes Augenmaß, was Damengrößen anbelangt.«

»Um ehrlich zu sein, es ist ein bißchen eng.«

Abwesend griff Indy nach seiner Kaffeetasse und tauchte dabei den Ärmel seines schlecht sitzenden Nadelstreifenanzuges in die Butterdose.

»Gütiger Gott, wo haben sie denn diesen Anzug aufgetrieben?« fragte Alecia, während Indy den Ärmel mit einer Papierserviette abtupfte. »Du siehst gerade so aus, als ob du einem Gangsterfilm entsprungen seist.«

»Rinaldi scheint sich seinen Geschmack, was Mode betrifft, im Kino zu bilden«, vermutete Indy.

»Sei nicht zu hart mit ihm«, rügte Alecia ihn. »Ihr Amerikaner glorifiziert doch Gangster. So geheimnisvoll, wie du dich am Empfangspult gegeben hast, muß er dich ja für John Dillinger halten, der mit seiner Gangsterbraut durch die Lande zieht.«

»Ich könnte schwören, daß er diese Begebenheit im nächsten Reiseprospekt erwähnt.« Indy krempelte die Ärmel seines Anzugs hoch. »Bei diesem Anzug hat man keine Probleme, eine Knarre zu verstecken.«

»Aber aus deiner Knarre kommen nur Eiszapfen geflogen«, erinnerte sie ihn.

Indy räusperte sich verlegen.

»Tut mir leid, Jones. Ich finde einfach, daß du in diesem doofen Anzug hervorragend aussiehst, und das behagt mir nicht. Ich führe mich wie ein kleines Kind auf, und dafür möchte ich mich entschuldigen.«

»Du verstehst nicht«, sagte er.

»Der Fluch?« fragte Alecia.

»Wenn ich mich nicht so ... stark zu dir hingezogen fühlen würde, wäre das alles kein Problem. Ich weiß, daß es verrückt klingt, aber ich hatte genug mit diesen Weissagungen zu tun, um zu wissen, daß sie manchmal in Erfüllung gehen. Und ich bin einfach nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.«

»Ja?« fragte Alecia. »Warum versuchst du dann nicht, mich zu hassen? Das wäre wenigstens ein intensives Gefühl. Du hast schon gesagt, daß du mir nicht über den Weg traust. Und da dürfte es dir eigentlich nicht schwerfallen, mich richtiggehend abstoßend zu finden.«

Indy wandte den Blick ab.

Alecia beugte sich über den Tisch.

»Versuch es, Jones«, flüsterte sie. »Schau mir in die Augen und sag mir, daß du mich haßt. Sag mir, daß du bisher noch niemanden so gehaßt hast, daß du dich niemals so unbeherrscht gefühlt hast in Gegenwart eines Menschen, daß ich dich dazu bringe, laut aufzuschreien.«

Indy spürte ihren Atem im Nacken.

»Sag es«, murmelte sie und nahm sein Gesicht in die Hände. »Sag mir, daß du mich auf den Tod nicht ausstehen kannst.«

Als der Kellner nahte, berührten sich ihre Lippen.

Indy hüstelte und stellte den Jackettkragen auf. Alecia verschränkte die Arme vor der Brust und starrte an die Dek-ke. Insgeheim verfluchte sie das schlechte Timing des Obers.

»Dann laß uns mal zum geschäftlichen Teil zurückkehren«, schlug sie vor, nachdem der Kellner verschwunden war. »Bis hierher haben wir es geschafft. Jetzt ist es kurz nach zehn. Heute nacht können wir nichts mehr unternehmen, das liegt auf der Hand. Das heißt, wir können uns erst morgen früh in die Startlöcher begeben. Wie lautet dein Plan, Jones?«

»Ich habe mir vorgenommen, Sarducci aufzuspüren. Er ist quasi die Hauptperson in diesem Verwirrspiel. Er trägt die Verantwortung für den Diebstahl des Manuskripts, für das Verschwinden Alistairs, für die Anschläge auf dich.« Er wagte es nicht, den Kristallschädel anzusprechen.

»Sarducci muß wissen, wo Alistair steckt«, meinte Alecia. »Er hat bestimmt nicht nur aus Spaß versucht, uns zu töten.«

»So weit würde ich nicht gehen«, sagte Indy. »Meiner Ansicht nach ist der Mann zu fast allem fähig.«

»Ironie des Schicksals, nicht wahr?« behauptete Alecia. »Wir waren mit diesem Verrückten an Bord desselben Flugzeugs, mußten Angst haben, jeden Augenblick zu sterben, und nun werden wir uns auf die Suche nach ihm machen. Aber wie wollen wir das anstellen?«

»Das ist ganz einfach«, sagte Indy. »Er ist der Kurator irgendeines Museums für Altertum und- nicht zu vergessen - ein ziemlich wichtiges Mitglied von Mussolinis Geheimpolizei. Wir müssen ihn allerdings allein erwischen. Die eigentliche Frage lautet: Was stellen wir mit ihm an, wenn wir ihn haben?«

Die Glockenuhren der Stadt schlugen neun Uhr, als Alecia und Indy am darauffolgenden Morgen zusammen durch die bronzenen Türen des Museums für Altertum schritten. Auf jedem Türflügel prangte ein Fasces, das Symbol des alten Rom: ein Rutenbündel mit Beil als Zeichen der unbeugbaren Macht des Staates.

Alecia trug eine Sonnenbrille und hatte ein Tuch um den Kopf gewickelt. Indy hatte den Fedora tief in die Stirn gezogen.

»Du hättest nicht mitkommen sollen«, sagte Indy, als sie Seite an Seite durch die Eingangshalle gingen und - ohne sich lange aufzuhalten - einen Führer kauften. »Hier ist es viel zu gefährlich für dich.«

»Nichts tun«, höhnte Alecia. »Ich denke nicht im Traum daran, allein in einem Hotelzimmer zu sitzen und zu warten. Ich bin hier, um meinen Bruder zu suchen. Und außerdem, was können die uns schon in einem Museum anhaben?«

Indy versagte sich eine Antwort. Sie kamen an einem funktionstüchtigen Modell einer Guillotine aus der Zeit der Französischen Revolution vorbei. Das Beil war ziemlich realgetreu mit dem Blut von Intellektuellen und Aristokraten verschmiert.

»Ziemlich blutrünstig, findest du nicht?« fragte Alecia ihn.

»Faschismus beruht auf Gewalt«, dozierte Indy. »Der Staat ist erhaben, und der einzige Zweck des Staates ist die Kriegsführung. Mussolini höchstpersönlich vertritt diese These, das ist sein Beitrag zum zwanzigsten Jahrhundert. Hast du die Karte?«

Alecia schlug den Führer auf.

»Hier gibt es einen Lageplan«, sagte sie. »Ich gebe dir mein Wort, in diesem Museum ist es wie in den Katakomben. Fällt dir etwas auf, wo sich Sarduccis Büro verstecken könnte?«

»Ach hier«, fuhr sie fort. »Maestro di archeologia.«

»Das müßte es sein«, vermutete Indy. »Hier entlang.«

Sie bogen in einen langen Korridor ein, auf dessen Mar-morboden ihre Schritte widerhallten. Schließlich gelangten sie zu einer schweren Eichentür mit einem Messingschild: LEONARDO SARDUCCI.

»Vielleicht ist er nicht da«, hoffte Alecia.

»Der ist da«, sagte Indy. »Ich kann ihn riechen.«

»Und nun, klopfen wir an, oder was?«

Indy streckte die Hand nach der Türklinke aus, aber ehe er sie erwischte, ging die Tür nach innen auf. Ein dunkelhaariges italienisches Mädchen in einer weißen Bluse und einem grauen Rock lächelte sie an.

»Dottore Jones?« fragte sie. »Signorina Dunstin. Bitte, treten Sie ein. Der Maestro erwartet Sie schon.«

»Himmel«, entfuhr es Indy.

»Großartiger Plan, Jones«, merkte Alecia an.

»Es ist schon in Ordnung«, sagte die Sekretärin. »Kommen Sie herein. Dottore Sarducci wird gleich zu Ihnen stoßen. Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht einen Kaffee? Oder Tee?«

Sie traten in den Vorraum. Die Sekretärin führte sie zu einem Sofa und servierte ihnen Tee und Kaffee auf einem silbernen Tablett. Sie schenkte ein.

»Mein Name ist Caramia«, stellte sie sich höflich vor. »Gefällt Ihnen bislang Ihr Aufenthalt in Rom?«

»Sehr gut«, antwortete Indy mit einem Lächeln.

Alecia stieß ihm den Ellbogen in die Rippen.

»Tut mir leid«, sagte Indy.

»Vergiß nicht, daß es diese Leute waren, die uns zu töten versucht haben«, erinnerte sie ihn. »Und woher sollen wir wissen, daß diese Tassenränder nicht mit Zyanid bestrichen sind?«

»O nein, da brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen«, wandte die Sekretärin ein. »Das Büro eines Men-sehen ist - wie sagt man noch im Englischen - ein Refugium. Der dottore meint, daß man niemals das eigene Nest mit Blut besudeln darf. Es gibt Orte, an denen man sich wie ein wildes Tier aufführt, und Orte, wo man sich wie ein Mensch verhält, nicht wahr?«

»Ihr Doktor ist sehr klug«, bemerkte Indy. »Verrückt, aber klug.«

»Vielleicht«, sagte sie. Caramia schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und gab einen Teelöffel Zucker dazu. »Im Alter von sechzehn Jahren wurde ich von meinen Eltern in eine Irrenanstalt gesteckt, weil ich ihnen den Gehorsam verweigerte. Ich wollte nicht den Mann heiraten, den sie für mich ausgesucht hatten, weil ich ihn nicht liebte. Ich kam mir wie eine Prostituierte vor. Dabei ging es um eine geschäftliche Vereinbarung - meine Eltern hatten meine Mitgift ausgegeben. Sie behaupteten, ich würde diesen Mann noch lieben lernen, aber das war unmöglich für mich. Er schlug seine Tiere, und er schlug mich. Also lief ich weg, und sie steckten mich in die Anstalt. Damit ich wieder zur Vernunft komme, meinten sie. Nun, der dottore hat mich gerettet. Er hat mir meine Würde zurückgegeben, und dafür werde ich ihm für immer dankbar sein.«

»Er bringt Menschen um«, gab Indy zu bedenken.

Caramia zuckte mit den Achseln.

»Das ist nur ein Wort«, meinte sie. »Zum Vergnügen töten, das ist Mord. Für das eigene Land zu töten ist heldenhaft.«

»Haben Sie keine Angst vor der Polizei?« fragte Alecia das Mädchen.

»Der dottore ist die Polizei.« Und dann lächelte Caramia wie Mona Lisa über den Rand ihrer Tasse hinweg.

Eine Klingel auf ihrem Schreibtisch ertönte.

»Er wird Sie nun empfangen.« Sie stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab. »Bevor Sie reingehen«, sagte sie. »Ihre Pistole. Die Peitsche dürfen Sie behalten.«

Seufzend zog Indy die Webley aus dem Hosenbund.

Angewidert inspizierte Caramia die Waffe. Auf dem feinen blauen Stahl hatten sich Rostschlieren gebildet, und sie mußte der Trommel einen Schlag versetzen, um sie zu öffnen. Die Patronen fielen auf die Schreibtischplatte.

»Sie sollten Ihre Waffe wirklich besser warten«, riet Caramia ihm und gab ihm den Revolver zurück. »Eines Tages könnte Ihr Leben davon abhängen.«

»Sie haben ganz recht«, sagte Indy. »Ich habe - seit Ihr Chef und seine Schlägertypen uns auf dem Kanal mit einer Mülladung ins Wasser geworfen haben - noch keine Zeit für die Reinigung gefunden.«

Caramia schnalzte mit der Zunge.

»Sie sollten sich nun die Zeit nehmen«, riet sie ihm.

Sie trat vor eine große Flügeltür und öffnete sie für die Besucher. Nachdem Alecia und Indy eingetreten waren, schloß sie die Tür. Indy hörte das Klicken des Bolzens.

Der Raum barg ein atemberaubendes Eckbüro, und alles - angefangen von dem Teppich auf dem Boden bis zu den Büchern in den Regalen und den an der Wand hängenden Schwertern - stammte aus dem Zeitalter der Renaissance. Mit dem Rücken zum Raum saß Sarducci auf einem Drehsessel hinter einem massiven Holzschreibtisch und blickte auf die Stadt hinaus. Die Morgensonne spiegelte sich auf seiner Glatze.

Alecia und Indy bauten sich vor dem Schreibtisch auf und warteten dann in unbequemer Haltung. Indy zog ein Schwert aus einem Korb neben dem Schreibtisch und fuhr mit dem Daumen über die Klinge.

»Das ist echt«, sagte Sarducci, ohne sich umzudrehen. »Wurde vor ungefähr sechshundert Jahren in Toledo gearbeitet. Und ist immer noch so todbringend wie am ersten Tag. Spielen Sie in Gedanken mit der Idee, es mir ins Herz zustoßen?«

Indy verrieb einen Tropfen Blut mit dem Daumen und dem Zeigefinger.

»Würde ich«, erwiderte er, »wenn ich glaubte, daß Sie eins hätten.«

Sarducci lachte und drehte sich endlich zu ihnen herum.

»Ich habe Ihren Witz vermißt, Dr. Jones«, gestand er. »Und ich fürchte, ich habe Sie während unserer ersten Begegnung unterschätzt. Gott, in den Berichten kommen Sie wie ein Clown rüber, wie ein leicht wahnsinniger Pfadfinder mit einer Schaufel in der Hand. Stellen Sie sich meine Freude vor, als ich erkannte, daß Ihr Kopf zu mehr fähig ist als diesen scheußlichen Hut zu tragen.«

»Ich mag meinen Hut«, sagte Indy, setzte ihn ab und betrachtete die Wasserflecken. »Sicher, er ist ein bißchen aus der Form, aber wenn man ihn erst mal gedämpft hat, ist er wieder so gut wie neu.«

»Der ewige Optimist«, sagte Sarducci. »Es war wirklich ziemlich ausgefuchst, wie Sie sich gerettet haben. Sich einfach an Bord des Flugzeuges zu schleichen. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen, aber als wir den Soldaten fanden, den Sie bewußtlos geschlagen haben, wußte ich Bescheid.«

»Geht es ihm gut?« erkundigte sich Indy und setzte den Hut wieder auf.

»Ich fürchte nicht«, gab Sarducci Auskunft. »Nachdem wir ihn aus dem Wasser gezogen haben, war ich gezwungen, ihn zu erschießen, weil er sich wie ein Trottel verhalten hat.«

»Haben Sie keine Stühle für Ihre Besucher?« fragte Alecia.

»Es ist mir lieber, wenn Sie stehen«, gestand Sarducci. »Die Psychologie der Macht, verstehen Sie.«

»Aber gewiß doch.«

»Vergeben Sie mir, wir sind uns ja noch nicht vorgestellt worden. Sehr ungehobelt von mir, daß ich einfach so mit Dr. Jones plaudere, als ob wir alte Freunde seien. Ich bin Leonardo Sarducci und Sie, nehme ich an, sind Miss Alecia Dunstin.«

»Sie wissen verdammt gut, wer ich bin«, rief Alecia. »Wo steckt Alistair?«

»Geduld, Geduld«, bat Sarducci. »Eins nach dem anderen. Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Dunstin. Bitte, hätten Sie die Freundlichkeit, Tuch und Brille abzunehmen, damit ich Sie mir genauer ansehen kann? Bislang ist mir diese Möglichkeit verwehrt geblieben.«

»Nein«, sagte Alecia störrisch. »Warum schließen Sie die Tür nicht wieder auf?«

»Sie werden doch wohl nicht erwarten, daß ich Sie hier einfach so hinausspazieren lasse?« fragte Sarducci. »Nein, die Tür wird verschlossen bleiben, bis wir das hier ausdiskutiert haben und zu einer Art... Resolution gekommen sind. Hat Ihnen Caramia nicht die Regeln erklärt?«

»Sie sagte, Sie würden uns nichts antun«, sagte Alecia.

»Oh, das werde ich nicht - jedenfalls nicht hier.« Sarducci stand auf und kam um den Schreibtisch.

»Ich wußte, daß Sie kommen würden«, sagte er. »Sie konnten nicht wegbleiben. Die Verbindung war zu offensichtlich, da konnten Sie einfach nicht widerstehen. Ein erhabener Verstand hätte die Möglichkeit gehabt, auf jede andere Lösung zu kommen. Aber Sie nicht, mein amerikanischer Cowboy.«

»Western mochte ich schon immer«, räumte Indy ein.

»Aber ich bin froh, daß Sie hier sind. Sie haben sich als fähiger Gegner erwiesen und mir eine Herausforderung der Sorte geboten, die mir bislang fremd gewesen ist. Es wäre eine Schande, diese Gewitztheit zu verschwenden. Da Sie am Ende doch verlieren werden, wäre es da nicht sinnvoller, sich jetzt schon geschlagen zu geben und sich mir anzuschließen? «

»Sie haben zu oft Macchiavelli gelesen.«

»Ah, aber der Meister hatte recht. Man sollte seinem fähigsten Opponenten immer die Möglichkeit einräumen, sich der eigenen Sache anzuschließen. Und falls er sich weigert, vernichtet man ihn eben.«

Sarducci verharrte einen Augenblick vor Alecia. Er war im Begriff, ihr Gesicht mit seinen schwarz-behandschuhten Fingern zu berühren.

Indy packte sein Handgelenk.

»Fassen Sie sie nicht an«, quetschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Bedeutet sie Ihnen etwas?« fragte Sarducci, während Indy ihn immer noch festhielt. »Empfinden Sie etwas für diese junge Frau, Dr. Jones?«

»Nein.« Er ließ ihn los.

»Ach, Sie dürfen den Fluch nicht vergessen«, höhnte Sarducci. »Wie gut war es, daß Sie den Kristallschädel mit bloßen Fingern berührt und ihn aus der Nische herausgehoben haben. So haben Sie um meinetwillen die Last der Jahrhunderte auf Ihre Schultern geladen. Interessant, nicht wahr, wie sich alles entwickelt hat?«

»Sie glauben also immer noch an Märchen, hm?«

»Ach, kommen Sie, Dr. Jones«, entgegnete Sarducci. »Märchen, in der Tat. Die arme Miss Dunstin hat sich nicht in Gefahr befunden, bis Sie auftauchten und den Draufgänger spielten. Wie oft durften Sie sie bisher retten? Und wie lange werden Sie dazu - Ihrer Einschätzung nach - noch in der Lage sein? Sobald Sie aus dieser Tür spazieren - ich nehme mal an, daß Sie diese Wahl treffen - wird alles wieder von vorn losgehen. Sie werden andauernd einen Blick über die Schulter werfen müssen, bei jedem Geräusch in der Nacht aufschrecken, bis zu jenem unausweichlichen Moment, wo Ihre Wachsamkeit nachläßt und Sie einen kleinen Fehler machen.«

»Hören Sie auf«, mischte Alecia sich ein.

Sarducci lachte.

»Ich hoffe inständig, Sie haben nicht mit ihr geschlafen«, fuhr er fort. »Das würde ihr Schicksal besiegeln, nicht wahr? Ihre Liebe auszuleben, käme der sicheren Katastrophe gleich. Vielleicht ist es Ihnen ja nur gelungen, mit ihr bis hierherzukommen, nach Rom, weil Sie der Anziehungskraft der jungen Dame widerstanden, weil Sie gegen Ihre Gefühle angekämpft haben, weil Sie sich zusammengenommen haben. Aber wie lange noch? Früher oder später wird Ihre Achtsamkeit nachlassen, Dr. Jones, vielleicht sogar heute nacht, unter dem Einfluß unseres wunderschönen Mondes. Und Sie werden auf stimmige Erklärungen verfallen, über Mythen und Aberglaube nachdenken, und dann werden Sie das verlieren, was Sie am meisten auf der Welt lieben.«

»Gehen Sie zum Teufel«, schimpfte Indy.

»Aber sicher«, sagte Sarducci. »Nur wird das noch eine ganze Weile dauern. Wie Faust habe ich einen Handel abgeschlossen und warte nur darauf, daß der Teufel meinen Teil der Abmachung einfordert. Aber Sie, mein Freund, sind jetzt schon soweit.«

»Und dennoch gibt es eine Alternative«, schlug er vor. »Schließen Sie sich mir an, dann können Sie alle Liebe in Ihrem Herzen ausradieren. Liebe ist eine mitleidserregende menschliche Gefühlsregung. Sie ermutigt uns zur Schwäche, zu Opfern, dazu, daß man das Wohlergehen anderer höher schätzt als das eigene. Im krassen Widerspruch zu den Regeln des Überlebens. Miss Dunstins Bruder hat erkannt, daß Wahrheit in meinen Worten liegt. Zuerst verhielt er sich widerspenstig, aber jetzt wartet die Welt auf ihn. Wählen Sie den dunklen Pfad, Dr. Jones. Dann können Sie sich an ihr erfreuen und müssen nicht ein einziges Mal zurückblicken.«

»Sie sind krank«, sagte Indy. »Ich meine, wirklich krank. Sie tun mir leid, Leonardo, denn ich weiß, daß Sie frisier einmal lieben konnten. Begreifen Sie denn nicht, daß Sie krank sind, daß es an der Kopfverletzung liegt -«

»Halt«, rief Sarducci und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Er legte die Hand auf die Stirn. »Es ist überall dokumentiert, daß der Manifestation eines Genies oftmals ein gewalttätiges Trauma vorangeht.« Er holte tief Luft und lächelte. »Wenn Sie nun die Freundlichkeit hätten«, wandte er sich an Alecia.

»Sie sind geisteskrank«, behauptete sie. Alecia nahm das Kopftuch und die Sonnenbrille ab. »Hier. Sind Sie nun zufrieden? Jetzt können Sie sich vorstellen, wie ich aussehen werde, wenn ich tot, tot, tot bin! Und nun verraten Sie mir, wo mein Bruder ist!«

Sarducci stand einen Moment wie gebannt da. Schockiert versuchte er, ihren Anblick zu verkraften. Er legte die Hand auf den Mund, taumelte nach hinten und lehnte sich mit wackeligen Knien an seinen Schreibtisch.

»Mona«, keuchte er.

Alecia warf Indy einen fragenden Blick zu.

»Mona«, wiederholte Sarducci.

Indy nahm Alecia am Arm und ging mit ihr zur Tür.

»Aber wir wissen nicht, wo Alistair steckt«, protestierte sie.

»Doch, das wissen wir. Er gehört zu ihnen. Mehr brauchen wir nicht zu wissen«, sagte Indy. »Bitte ihn, die Tür auf zuschließen.«

Sarducci schien sich langsam zu erholen.

»Ich werde Sie gehen lassen«, murmelte er mit zittriger Stimme. »Um meiner Mona willen. Aber sobald Sie über die Türschwelle schreiten, beginnt das Spiel von vorn. Miss Dunstin, wir werden uns Wiedersehen. Das kann ich traurigerweise von Ihnen nicht behaupten, Dr. Jones. Wie sagte einer Ihrer Dichter: Sie sind derjenige, dessen Name auf dem Wasser geschrieben steht. Auf Wiedersehen.« Sarducci hielt inne.

»Noch eine letzte Sache«, sagte er, »damit Sie hier nicht mit leeren Händen weggehen müssen. Ich weiß, daß der kleinste Hoffnungsschimmer den Verzweifelten Mut machen kann. Und diesen Hoffnungsschimmer möchte ich Ihnen schenken, nicht aus Freundschaft, sondern in der Hoffnung, Ihr Leid zu verlängern. Alistair ist unter der roten Sonne.« Dann drückte er auf einen Knopf auf der Gegensprechanlage.

»Caramia. Schließen Sie die Tür auf.«

Indy zog Alecia durch den Vorraum auf den Flur hinaus. Der Marmor unter ihren Füßen war spiegelglatt.

»Auf Wiedersehen«, rief Caramia ihnen hinterher.

»Das war ein formidabler Plan, Jones«, schnaubte Alecia vor Wut. »Und er hat wirklich gut funktioniert. Er hatte alles, was er braucht - das Element der Überraschung, Einfallsreichtum, absolute Dummheit. Was hast du dir dabei nur gedacht?«

Sie stürmten in die Haupthalle, vorbei an der Guillotine, und hatten schon fast die Lobby erreicht, als das Telefon auf dem Empfangspult klingelte. Der Wächter nahm den Hörer ab.

»Nicht da entlang«, sagte Indy und zog sie in einen anderen Korridor. Ihre Schritte hallten auf dem Steinfußboden wider.

»Zieh deine Schuhe aus«, ordnete er an.

»Was?«

»Zieh sie aus!«

In Strumpfsocken liefen sie einen Gang hinunter, eine Treppe hoch und durch eine Ausstellung über das alte Rom. Einen römischen Legionär aus Wachs erleichterte Indy um sein Schwert.

»Weißt du, wie man damit umgeht?«

»Theoretisch ja«, antwortete Indy.

»Wie gut tanzt du?« wollte Alecia wissen.

»Was hat das damit zu tun?«

»In einem alten keltischen Sprichwort heißt es: Gib niemals einem Mann ein Schwert, der nicht tanzen kann«, sagte sie. »Nun, kannst du tanzen?«

»Du kannst nicht schwimmen«, verteidigte er sich. »Jeder hat etwas, das er nicht kann.«

»Gib mir das Schwert«, forderte sie.

Am Ende des Flurs tauchte ein Wächter auf und versperrte ihnen den Weg. Wegen des rutschigen Marmorbodens dauerte es eine Weile, bis sie kehrtmachen konnten.

»Fermata!« rief der Wächter. In Händen hielt er ein kurzläufiges Maschinengewehr mit großem Munitionsclip.

»Die haben hier aber wirklich einen Narren an Maschinengewehren gefressen«, fand Indy, während sie im Laufschritt um die Ecke bogen. Alecia packte ihn beim Kragen und drückte ihn gegen die Wand.

Sie legte einen Finger auf den Mund.

Das Absatzklacken des Wächters kam auf sie zu. Alecia hielt das Schwert über der rechten Schulter. Als der Gewehrlauf um die Ecke kam, führte Alecia das Schwert nach unten. Funken stoben, als die schwere Klinge dem Mann die Waffe aus der Hand riß.

Verblüfft blieb der Wächter vor ihr stehen. Alecia schlug zum zweiten Mal zu und haute ihm die flache Seite der Klinge auf die Stirn. Bewußtlos ging er zu Boden.

Indy nahm das Gewehr.

»Ich nehme an, das willst du auch für dich haben?« fragte

er.

»Schußwaffen kann ich nicht leiden«, entgegnete sie.

Mit einem großen Schritt stiegen sie über die bewußtlose Wache und begaben sich in eine andere Halle. Der große Raum war den Kulturen Zentral- und Südamerikas gewidmet. Alecia zupfte an Indys Ärmel und zeigte auf eine Reihe Fenster auf der gegenüberliegenden Seite. Jenseits der Glasscheiben konnte Indy die Steinbalustrade eines Balkons ausmachen, der auf die Straße hinausging.

Aus dem Stockwerk unter ihnen drang Geschrei hoch. Sie rannten an Glasvitrinen mit Kunstgegenständen der Inkas, Mayas und Azteken vorbei. »Nicht schlecht«, rief Indy, als sie unter einem rekonstruierten, in Tulum ausgegrabenen Steinbogen durchrannten.

Und dann blieb Indy ganz unvermittelt stehen.

»Was ist denn?« rief Alecia. »Laß uns weitergehen.«

Auf einem Steinsockel - umschlossen von einem Würfel aus dickem Glas - lag der Kristallschädel. Durch eine von unten angebrachte Lampe leuchteten die Augenhöhlen in einem unirdischen Licht.

Alecia stellte sich neben ihn.

»Das ist er, nicht wahr?« fragte sie.

Indy machte sich an dem Glaswürfel zu schaffen, versuchte, den Sockel umzustoßen, aber er gab keinen Millimeter nach. Nun hieb er mit dem Gewehrgriff auf das Glas ein, dem er trotz aller Anstrengung nicht einmal einen Riß zufügte.

»Jones, sie kommen«, warnte Alecia ihn.

»Aber ich muß ihn haben. Das ist unsere einzige Chance.«

»Wir haben keine Zeit.«

Indy trat ein paar Schritte zurück, entsicherte das Maschinengewehr und zielte auf das obere Drittel des Würfels. Insgeheim hoffte er, Glück zu haben und nicht aus Versehen auch noch den Kristallschädel zum Bersten zu bringen.

»Geh zurück«, rief er Alecia zu.

Sie suchte hinter einer Säule Deckung. Indy drückte ab. Das Stakkato des Maschinengewehrfeuers war ohrenbetäubend. Jammernd und pfeifend prallten die Kugeln vom Glas ab.

Der Schädel wackelte leicht auf dem Sockel, wodurch der fein herausgearbeitete Unterkiefer in Bewegung gesetzt wurde und auf und zu und auf und zu klappte, als würde er über Indy lachen.

»Das Glas ist kugelsicher!« schrie Indy.

»Jetzt wissen die anderen garantiert, wo wir sind«, beschwerte Alecia sich.

»Das hat Sarducci absichtlich gemacht«, kochte Indy vor Wut. »Er wußte, daß das passieren würde. Er zieht mich auf. Ich hasse Sie! Hören Sie mich, Sarducci, Sie glatzköpfiges Unge -«

Berstendes Glas erstickte seine Worte. Alecia hatte das Schwert durch eine der Fensterscheiben geworfen, ehe sie Indy am Ärmel packte und vom Kristallschädel wegzog. Im Vorbeigehen gelang es ihm noch, das Schild abzureißen und in seine Tasche zu stopfen.

Zwei Wachen stürmten auf der anderen Seite des Raumes durch die Tür. Indy zielte auf die Decke über ihren Köpfen und feuerte eine Salve ab. Im Holzsplitter- und Putzregen zogen die Männer sich in den Flur zurück.

»Komm schon«, sagte Alecia und stieg durch den Fensterrahmen auf den Balkon hinaus. Zusammen traten sie an die Steinbrüstung und warfen einen Blick auf die Straße.

Bis unten auf den Gehweg waren es gute zehn Meter. Unter ihnen lag das zum Museum gehörige Straßencafe, und an der Ecke parkte ein Lieferwagen mit frischem Obst und Gemüse vom Land.

»Wir müssen springen«, meinte Indy.

»Spinnst du?«

Eine Kugel prallte auf die Steinbrüstung.

»Vergiß es«, sagte Alecia. »Natürlich springen wir.«

Indy warf die Waffe weg. Hand in Hand sprangen sie in die Tiefe und landeten auf den Gemüsekartons auf der Ladefläche des Lieferwagens.

»In der italienischen Küche verwendet man eine Menge Tomaten«, sagte Indy mit einem Blick auf die roten Spritzer auf seiner Hose. Schnell kletterten sie von der Ladefläche und versteckten sich hinter dem Laster. Hoch über ihren Köpfen schauten die Wachen über die Brüstung. Die Män-ner, die den Laster abluden, riefen auf einmal laut und zeigten auf die andere Seite des Wagens.

»Prima. Jetzt sind die in einer Minute bei uns hier unten. Und ich habe die einzige Waffe weggeworfen, die funktionierte. Und du hast dein Schwert auch nicht mehr.«

Eine alte schwarze Limousine rollte langsam neben den Lieferwagen und blieb stehen. Der Fahrer stieg aus, öffnete die hintere Tür und gab ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie einsteigen sollten.

»Was soll das?« rief Indy erstaunt.

»Wir sind nicht in der Position, Fragen zu stellen«, fand Alecia und zog ihn zur offenstehenden Wagentür. »Wann wirst du endlich aufhören, einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen?«

So stiegen sie ein. Der Fahrer machte die Tür zu, kehrte hinters Steuer zurück, setzte den Blinker und rollte vorsichtig auf die Straße.

Hinter ihnen stürmten die Wachen aus dem Museum auf den Bürgersteig.

»Ich hätte beinah den Schädel gekriegt«, sagte Indy. »War ganz dicht davor. So dicht.« Er hielt Daumen und Zeigefinger einen Zentimeter auseinander. »Wenn du mir etwas mehr Zeit gelassen hättest, wäre mir was eingefallen, wie ich ihn kriege.«

»Jones«, sagte Alecia. »Willst du dich nicht bei unseren Rettern bedanken?«

Mit einem »Dankeschön« wandte Indy sich an das alte Ehepaar, das ihnen gegenübersaß. »Aber ich war dicht dran«, wiederholte er. »Wieso haben Sie eigentlich unseret-wegen angehalten?«

»Wir helfen denen, die sich in Not befinden, immer gern«, sagte der alte Mann mit französischem Akzent und zuckte mit den Achseln, als ob das keine große Sache sei. »Und Sie beide sahen aus, als ob Sie in Not wären.«

Der Mann und die Frau hatten schlohweiße Haare und hellblaue Augen. Sie trugen Kleider, die ungefähr vor einem Jahrzehnt modisch gewesen waren. Der alte Mann hielt mit den Knien einen Gehstock, auf dem er sich abstützte, während die Frau die Hände im Schoß gefaltet hatte.

»Das mit Ihren Sitzen tut mir leid«, entschuldigte Indy sich für die abfärbenden Tomatenflecken.

»Keine Sorge«, meinte die Frau. »Sebastian kriegt sie wieder sauber, da bin ich mir sicher. Er wurde in der Vergangenheit schon mit viel schwierigeren Dingen fertig.«

»Sebastian?« fragte Indy. »Ist das Ihr Mann?«

»O nein, unser Fahrer«, antwortete ihm der Mann. »Obwohl er für uns mehr ein Sohn als ein Dienstbote ist. Ich bin Nicholas, und das hier ist Perenelle. Oh, es ist nicht nötig, daß Sie sich uns vorstellen. Wir wissen, wer Sie sind.«

Indys Miene hellte sich auf.

»Dann haben Sie von mir gehört?«

»Um ehrlich zu sein, wir haben Ihre Karriere genauestens verfolgt«, gestand er mit einem Augenzwinkern. »Und da mußten wir einfach anhalten, als wir Sie auf der Straße entdeckten. Und diese charmante junge Dame, Dr. Jones. Sie muß Ihre Verlobte sein, denn ich kann mich nicht erinnern, etwas über eine Hochzeit gelesen zu haben.«

Alecia stellte sich ihnen vor.

»Wir sind nicht verlobt«, erzählte sie. »Wir kennen uns erst seit ein paar Tagen. Mir kommt es allerdings wie mehrere Jahre vor. Ich denke, man könnte uns als Freunde bezeichnen.«

»Das ist gut«, fand die alte Frau. »Die Welt braucht mehr Freunde, meinen Sie nicht? Bleiben Sie Freunde, und der Rest wird sich wie von selbst ergeben.«

»Ja«, sagte Alecia. »Das denke ich auch.«

»Ihre Arbeit interessiert mich sehr, müssen Sie wissen», wandte sich der alte Mann an Indy. »Je mehr wir über unsere Vergangenheit erfahren, desto mehr lernen wir über uns selbst. In Wirklichkeit gibt es nichts Neues. Alles ist schon mal dagewesen, zu der einen oder anderen Zeit. Stimmen Sie mir zu?«

»Bis zu einem gewissen Grad«, sagte Indy vorsichtig.

»Nein, nicht nur bis zu einem bestimmten Grad«, entgegnete der Mann hartnäckig. »Imperien stürzen, Städte gehen unter. Die Jugend ist vergänglich und verblaßt schnell. Aber die menschliche Seele ist immer die gleiche. Das Wichtige ist nicht das Ziel, sondern die Reise. Reichtum ist nur dann von Wert, wenn man ihn einsetzt, um anderen Gutes zu tun. Wie es schon in der Bibel steht, welchen Sinn macht es, wenn ein Mann die ganze Welt erobert, nur um die eigene Seele zu verlieren?«

Indy warf Alecia einen Blick von der Seite zu.

»Die Welt sieht sich mit einer schrecklichen Macht konfrontiert, die sie nicht versteht«, sagte der alte Herr, während seine blauen Augen plötzlich leuchteten. Je länger er sprach, desto jünger schien er zu werden. »Gott hat uns erschaffen. Wir sind keine Engel, aber in jedem von uns steckt ein Funken Göttliches. Doch mit der Macht kommt die Verantwortung. Wir haben die freie Wahl. Wir können aus dieser Welt ein Paradies machen oder sie in eine Hölle auf Erden verwandeln.«

»Sir«, fragte Indy, »wovon genau sprechen Sie eigentlich?«

»Von nichts«, erwiderte der alte Mann. »Von allem. Mit jeder Entscheidung, die wir fällen, neigt sich die Waagschale ein wenig in die eine oder in die andere Richtung.«

»Nicholas«, ermahnte die Frau ihren Gatten.

»Verzeihung«, sagte er und wirkte auf einen Schlag wieder uralt. »Ich hatte nicht vor, Sie mit dem Geschwätz eines närrischen alten Mannes zu behelligen.«

»Sie behelligen mich nicht«, sagte Indy.

Da streckte der alte Herr unvermittelt seine Hand aus und klopfte Indy väterlich aufs Knie. »Ich weiß, Sie tun Ihr Bestes«, sagte er. »Bleiben Sie nur mit beiden Beinen auf dem Boden, dann wird es Ihnen immer gutgehen. Und das wertvollste Gut auf dieser Welt ist nicht Gold, auch nicht Macht oder Ruhm, sondern die Liebe. Ist es nicht so?«

Die Limousine hielt an.

»Wir sind da«, rief die Frau.

»Wo denn?« fragte Alecia.

»Was ... im Vatikan natürlich«, verriet ihr die Frau. »Sie sagten doch, Sie möchten Ihren Freund aus Amerika besuchen, nicht wahr? Nun, er verbringt hier einen Großteil seiner Zeit damit, über verstaubten Akten zu brüten. Richten Sie ihm bitte von uns aus, daß er öfter mal nach draußen gehen sollte, ja?«

»Aber sicher«, versprach Indy.

Sebastian öffnete den Wagenschlag.

»Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich der alte Mann. »Und gehen Sie mit Gott.«

»An Ihrer Stelle würde ich mir ein Paar Schuhe zulegen«, riet ihm die alte Frau. »Sie werden sich noch erkälten, wenn Sie in dieser Kälte nur in Strümpfen herumlaufen.«

Und schon war die Limousine verschwunden.

Indy und Alecia betraten Vatikan-Stadt durch das Tor der Heiligen Anna und gingen die kurvige Straße zum Belvedere-Hof hinunter. Am Fuß der Treppe, die zur Bibliothek des Vatikans hochführte, neben der Statue des Gegenpapstes Hippolytus aus dem 3. Jahrhundert, erkundigte sich ein Mitglied der Schweizer Garde in blaugelber Uniform nach dem Grund ihres Kommens.

»Wir möchten Professor Morey sehen«, sagte Indy. »Ich bin ein Kollege von der Princeton University.«

»Er befindet sich in den Geheimarchiven«, erwiderte der Guard in makellosem Englisch. »Sie sind im Turm der Winde untergebracht. Aber dafür brauchen Sie eine Erlaubnis vom Präfekten.«

»Nein«, sagte Alecia. Sie strich eine Haarlocke aus den Augen und fixierte ihn mit ihrem Blick. »Wir haben keinen Ausweis. Aber falls Dr. Morey eine Erlaubnis erhalten hat, ist es uns doch sicherlich gestattet, ihn dort zu besuchen.«

Der Guard blinzelte, als hätte er gerade etwas Wichtiges vergessen.

»Der Turm der Winde«, wiederholte er.

»Ja, danke«, sagte Alecia.

Zusammen mit Indy stieg sie die Stufen hoch. Der Wachposten regte sich nicht von der Stelle.

»Wie hast du das angestellt?« wollte Indy wissen.

»Was angestellt?« fragte sie unschuldig. »Warum nennt man es Geheimarchiv, wenn man Besuchern Ausweise gibt und die Erlaubnis erteilt, darin herumzustöbern?«

»Das Archiv war jahrhundertelang geheim«, führte Indy aus. »Darin untergebracht sind die persönlichen Archive der Päpste, die erst im Jahre 1881 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Journalisten und Fotografen dürfen immer noch nicht hinein.«

»Wieviel Material liegt da?«

»Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Das Archiv hat kein vernünftiges Schlagwortregister. Ich weiß nur, daß es dort siebeneinhalb Meilen Regal mit Tonnen von Material gibt. Morey ist seit Jahren damit beschäftigt, die Sammlung früher Christenkunst für den Vatikan aufzubereiten.«

Nachdem sie an einem zweiten Wächter der Schweizer Garde vorbeikamen, der momentan etwas verwirrt war, was seine Pflicht betraf, fanden sie Charles Rufus Morey im Meridian-Raum unter einem riesigen Gemälde, auf dem ein Sturm über dem Galiläischen Meer dargestellt war. Mit hochgeschobener Brille versuchte er gerade, einen schweren Lederband vom obersten Regalbrett zu ziehen.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen«, schlug Indy vor, nahm ihm das Buch ab und packte es auf den Tisch.

»Danke, Jones. Jones!« rief Morey. Die Brille rutschte auf die Nase zurück, und er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Was machen Sie denn hier? Sie müssen in einer Stunde zum Unterricht, falls Sie es vergessen haben. Sie werden es niemals schaffen, rechtzeitig zurück zu sein.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sir«, sagte Indy. »Das ist eine lange Geschichte, aber man kümmert sich um meine Studenten. Das hier ist Alecia Dunstin. Wir sind gerade mit einer ziemlich wichtigen - nun, Recherche - beschäftigt und sind gekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten.«

»Hilfe? Was für Hilfe brauchen Sie?«

Indy zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Morey.

»Was sagt Ihnen der Name Voynich?« fragte er.

Zwei Stunden später zog Charles Rufus Morey ein Taschentuch heraus und putzte seine Brille. »In der Tat ein besonders kniffliges Problem«, sagte er. »Und das wird nicht nur in der akademischen Welt Konsequenzen nach sich ziehen. Sagen Sie mir, Jones, ist immer auf Sie geschossen worden, während Sie in Princeton gewesen sind?«

»Nein, Sir.«

»Das will ich hoffen. Nun, lassen Sie mich sehen, ob ich Ihnen behilflich sein kann. Es wird nichts bringen, der Villa Mondragone in Frascati einen Besuch abzustatten, wo das Manuskript gefunden wurde, denn die Archive dort sind verlegt worden. Außerdem habe ich den Eindruck, daß es eh nur aus Zufall dorthin gelangt ist. Ich mag falsch liegen, da mein Steckenpferd die Kunstgeschichte ist, aber ich halte es durchaus für möglich, daß die Farben im Manuskript der Schlüssel sind. Suchen Sie nach der Antwort nicht in einem Buch, suchen Sie sie in der Kunst.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»In früheren Jahrhunderten war es nichts Ungewöhnliches, geheime Informationen beispielsweise in einem Gemälde oder in einer Buchillustration oder gar in den Buntglasfenstern von Kathedralen unterzubringen. Versteckt und doch ohne Schwierigkeiten zu sehen. Schauen Sie sich das einmal an.« Morey suchte eines der Bücher auf dem Schreibtisch heraus und schlug die erste Seite auf, wo ein illustriertes Manuskript aus dem 12. Jahrhundert abgebildet war.

»Sehen Sie diese hübschen Umrandungen?« fragte er. »Die sind nicht nur schön, sondern bieten dem geübten Auge auch eine Fülle an Informationen. Ich bin gerade dabei, sie zu verstehen.«

»Und wonach soll ich dann suchen?«

»Wie soll ich das wissen?« fragte Morey. »Aber die Farben, die Sie in Zusammenhang mit dem Manuskript erwähnten - schwarz, rot, grün und gold - sind auch die

Farben der alchemistischen Progression. Suchen Sie nach etwas, in dem diese Farben dominieren.«

Indy legte den Zeigefinger auf die Lippen, als versuche er, sich an etwas überaus Wichtiges zu erinnern. Es lag ihm auf der Zunge, als Alecia ihn aus seinen Überlegungen riß.

»Was ist das?« wollte sie wissen.

Sie zeigte nach oben. An der Decke war ein Pfeil, der einer Kompaßnadel ähnlich sah.

»Das, meine Liebe, ist ein Anemoskop«, sagte Morey. »Darum nennt man diesen Ort hier Turm der Winde. Die Meßnadel ist mit einem Windrad draußen verbunden, und so wie der Wind sich verhält, bewegt sich auch diese Nadel. Wurde im 16. Jahrhundert von Papst Gregorus XIII. erbaut, als Teil eines astrologischen Observatoriums. Es sollte helfen, die Daten für einen neuen Kalender zu erstellen. Das Konzil von Trent, wissen Sie, hatte entschieden, daß mit dem alten Kalender etwas nicht stimmte, weil die Frühlings-Tagundnachtgleiche Jahr um Jahr früher stattfand.«

Morey trat vor das Gemälde, auf dem der Sturm abgebildet war.

»Sehen Sie hier«, sagte er. »Hier gibt es eine Mundöffnung bei der Figur, die für den Südwind steht. Dadurch fiel Sonnenlicht ein, und zu den verschiedenen Jahreszeiten markierte ein Jesuitenpriester die Stelle am Boden, auf die der Sonnenstrahl fiel. Auf diese Weise bestimmten sie die wahre Länge eines Jahres mit der minimalen Abweichung von einem Tag alle dreitausend Jahre. Auf diesen Berechnungen basiert der Kalender, den wir heute benutzen. Der gregorianische Kalender.«

Während Indy das Gemälde mit dem Sturm über dem Meer betrachtete und die Öffnung, durch die die Sonnen-strahlen eingefallen waren, ergab auf einmal alles einen Sinn.

» Professor«, fragte er. »Wo scheint die rote Sonne?« »Über dem Roten Meer.«

»Richtig«, sagte Indy. »Und wo an der Küste des Roten Meeres findet man italienische Erde?« »In Libyen«, sagte Alecia.

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