KAPITEL VIER. Soror Mystica

Bei Sonnenaufgang setzte eine Sparrowhead Indy auf einem Flugplatz außerhalb von London ab. Nach dem vereitelten Bombenattentat war die Atlantiküberquerung der Macon ereignislos verlaufen, und Indy hatte die übrige Flugzeit mit dem Lesen der Akten des Militärischen Geheimdienstes und Abstechern zur Funkstation verbracht, wo er sich nach dem Verbleiben von Balbos Geschwader erkundigte. Das Glück schien auf seiner Seite zu sein. Wegen des schlechten Wetters mußte Balbo gezwungenermaßen drei Tage lang in Ponta Delgada verweilen. Indy erreichte London, als Balbo und seine Leute noch mitten über dem Atlantik waren.

Den Funker der Macon hatte Indy gebeten, Manly eine verschlüsselte Nachricht zukommen zu lassen. Darin sollte er ihn über das gescheiterte Bombenattentat in Kenntnis setzen und ihn bitten, mit Marcus Brody im Museum Kontakt aufzunehmen. Brody sollte aus dem Museumsetat Geld für die Reise nach Rom und möglicherweise weitere anstehende Reisen an die Bank of England überweisen. Außerdem hatte er darum gebeten, das Budget als Finanzierung einer Expedition auf die Isle of Wight zu verbuchen, falls sich jemand nach seinen Aktivitäten in London erkundigen sollte.

»Sie haben Glück«, meinte der Sparrowhead-Pilot, als die Maschine aufgetankt wurde. »Ein paar Monate später wären wir nicht in der Lage gewesen, Sie hier abzusetzen. Die Marine plant, bei den Sparrowheads die Landemechanismen abzuschrauben und sie durch riesige Treibstofftanks zu ersetzen. Ich hatte ganz schöne Schwierigkeiten, Sie bis hierher zu transportieren.«

Die Grasrollbahn lag zwanzig Meilen östlich von London. Weit und breit war kein verfügbares Taxi in Sicht. Der Mann, der mit der Aufsicht über den kleinen Landeplatz betraut war - ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg, der auch als Mechaniker und Tankwart fungierte - schien sich für Indys Weitertransport nach London nur wenig zu interessieren. In der Nähe gab es eine Bahnstation, was Indy nicht viel nutzte, weil er keinen Penny in der Tasche hatte. Um wieder flüssig zu sein, mußte er erst mal der Bank of London einen Besuch abstatten.

Ihm blieb also nichts anderes übrig, als die Straße Richtung Osten hinunterzulaufen und von da aus zu trampen. An diesem Morgen war es ziemlich kalt. Mißmutig steckte er die Hände in die Taschen und stellte den Kragen zum Schutz gegen den eisigen Wind auf.

Nach ungefähr einer Meile hielt ein Milchwagen an. Der Fahrer gab ihm zum Frühstück eine Flasche Milch aus, und als er erfuhr, daß Indy Archäologe war, gab er sein Geschichtswissen zum besten. »Londinium«, sagte er, als sie sich der Stadt näherten. »So nannten es die Römer im ersten Jahrhundert. Früher war hier mal richtige Wildnis«, sagte der Fahrer und holte mit der einen Hand weit aus. »Das Ende der Erde - können Sie sich vorstellen, wie es für diese armen Legionäre gewesen sein muß? So weit weg von ihrer Heimat, ihren Familien, und dann mußten sie auch noch gegen eine Horde blaugesichtiger Teufel kämpfen!«

»Die Geschichte wiederholt sich«, sagte Indy. »Nur ein paar Jahrhunderte später sind es britische Soldaten, die gegen die Zulus in Afrika ins Feld ziehen.«

»Oder in Belfast«, grunzte der Fahrer. »Wissen Sie, ich muß jedes Mal lachen, wenn ich Mussolini in der Wochenschau sehe. Das ist so ein steifgliedriger Clown. Aber es drängt ihn danach, die glorreichen Tage des blühenden Roms wieder auferstehen zu lassen, und das ist leider überhaupt kein erfreulicher Gedanke.«

Die Tour des Fahrers endete in Chelsea, aber er hatte die Freundlichkeit, Indy ein paar Busmarken zu schenken und ihm Glück zu wünschen. Indy bat ihn um seine Adresse, damit er ihm Geld schicken konnte, aber der Mann lächelte nur freundlich und verabschiedete sich.

In der Tottenham Court Road in Bloomsbury sprang Indy aus dem Doppeldeckerbus und konnte schon die imposante griechische Fassade des British Museum erkennen, die wie ein Wächter über den Baumkronen aufragte, obwohl das Gebäude noch drei Straßenblocks entfernt war.

Mit großen Schritten marschierte er durch das verschlafene Wohnviertel und erklomm kurz darauf die breiten Museumsstufen.

Hinter dem Eingangsportal des weitläufigen Gebäudes lauerte ein Labyrinth aus Gebäudeflügeln und Korridoren, die im Lauf der Jahre angebaut worden waren. Vor dem stummen Portier im Eingangsbereich hielt Indy inne; die Aufzählung der zahllosen Abteilungen half ihm nicht wei-ter, denn er hatte keine Ahnung, wo sich Alistair Dunstins Büro befinden mochte.

»Entschuldigen Sie«, wandte er sich hilfesuchend an eine Frau mittleren Alters am Informationsschalter. »Könnten Sie mir verraten, wo ich Alistair Dunstin finden kann?«

»Dunstin«, wiederholte die Dame. Wie eine Eule schielte sie durch die untere Hälfte der geschliffenen Brillengläser und studierte eine Telefonliste. »Hier gibt es einen Dunstin, der im Lesesaal arbeitet. Soll ich ihn für Sie anläuten?«

»Nein, danke. Es wäre mir lieber, wenn ich einfach so bei ihm vorbeischauen dürfte.«

»Dann gehen Sie einfach geradeaus«, half ihm die Dame weiter. »Das ist der einzige Raum in diesem Gebäude, den man auf jeden Fall findet.«

Indy ging den Flur hinunter zu der höhlenartigen Bibliothek. In der Mitte des Lesesaals blieb er vor einem Schreibtisch stehen, der aussah, als hätte er schon hier gestanden, während Napoleon in der Schlacht von Waterloo geschlagen wurde.

»Ich suche Alistair Dunstin«, sagte er.

»Sie auch?« fragte die Bibliothekarin hinter dem Möbelstück.

»Wie bitte?«

Die junge Frau runzelte die Stirn.

»Auf dem Schild auf dem Schreibtisch steht A. DUNSTIN. Ich würde ihn gerne sprechen.«

»Ich bin Alecia Dunstin«, sagte die Frau und strich eine rote Haarlocke aus den Augen. Sie sprach mit deutlichem englischen Akzent, aber da lag auch etwas in ihrer Stimme, auf das Indy nicht den Finger legen konnte. Möglicherweise hatte sie einen Teil ihrer Kindheit oder Jugend in Indien oder Ostafrika verbracht. »Sie suchen meinen Bruder Ali-stair. Sein Büro liegt oben, in der Abteilung für Britisches Altertum und Mittelalter. Aber dort werden sie ihn kaum finden. Er ist vor drei Tagen verschwunden.«

»Verschwunden?«

»Senken Sie Ihre Stimme«, sagte sie. »Das hier ist eine Bibliothek.«

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. Er kam sich wie ein Schuljunge vor, wie er, den Hut in Händen haltend, vor ihrem Schreibtisch stand. Die große Kuppel des Lesesaals des British Museums spannte sich wie ein Himmelszelt über ihre Köpfe. Indy überkam das Gefühl, einem Engel einen Augenblick seiner Zeit abspenstig zu machen.

»Wohin ist er gegangen?« erkundigte er sich.

»Ich glaube wirklich nicht, daß Sie das etwas angeht«, erwiderte sie. »Ich bin sicher, in der Abteilung für Altertum und Mittelalter gibt es genug Personen, die Ihnen Auskunft geben können.«

»Nein, das können sie eben nicht.«

Alecia Dunstin entwich ein Seufzer. Bislang hatte sie es sorgsam vermieden, ihm in die Augen zu schauen, aber nun blieb ihr nichts anderes übrig, weil dieser ungehobelte Amerikaner in der abgetragenen Lederjacke sich weigerte, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.

»Soll ich einen Wachmann rufen?« fragte sie.

Auf einmal wußte Indy nicht, was er sagen sollte. Er mußte den Blick abwenden, um ihr zu antworten.

»Bitte, hören Sie mir zu«, begann er. »Es ist äußerst wichtig, daß ich Alistair finde, weil es durchaus möglich ist, daß er sich in Gefahr befindet, wegen seines Interesses an einem Schriftstück, das die Bezeichnung Voynich-Manuskript trägt. Vielleicht könnten Sie mir eine Adresse oder Telefonnummer geben?« »Es tut mir leid, aber das ist unmöglich.« Indys Blick kehrte zu ihr zurück. Alecia Dunstin hatte zu weinen begonnen, ihre Stimme klang aber noch so sachlich, als ginge es darum, einen Besucher darüber zu informieren, daß ein bestimmtes Buch nicht verfügbar war.

»Es tut mir leid«, meinte Indy. »Ich wollte Sie bestimmt nicht aufregen.«

»Auf Ihr Mitleid kann ich verzichten«, erwiderte sie und wischte mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Langsam zeichneten sich rote Flecken auf ihrem Gesicht ab. »Alistair ist nicht im Urlaub. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß er verschwunden ist. Warum lassen Sie mich nicht endlich in Ruhe?« »Wollen Sie damit sagen, daß er entführt wurde?« »Ich weiß es nicht. Er ist einfach spurlos verschwunden. Jedermann ist der Überzeugung, daß er sich mit diesem verdammten Manuskript auf und davon gemacht hat. Aber ich kenne Alistair zu gut, um so etwas zu glauben. Wir sind Zwillinge, müssen Sie wissen.« »Und Sie meinen nicht, daß er es gestohlen hat?« »Warum erzähle ich Ihnen das alles?« fragte sie. Diesmal war sie es, die lauter wurde. »Wer, zum Teufel nochmal, sind Sie? Ihr Amerikaner seid die unmanierlichsten Menschen, mit denen ich je zu tun hatte. Wir sind uns noch nicht mal vorgestellt worden und schon stellen Sie mir Fragen über mein Privatleben. Und das Komische daran ist, daß ich Sie Ihnen beantworte.«

Die Menschen im Saal hoben den Blick von ihren Büchern, um zu sehen, was sich am Schreibtisch abspielte. Alecia lächelte und führte achselzuckend den Zeigefinger an den Mund.

»Vielleicht brauchen Sie jemanden, mit dem Sie darüber sprechen können«, schlug Indy vor.

Ihr Blick wurde weicher.

»Ich bin Indiana Jones«, stellte er sich vor.

»Der Archäologe?« fragte sie. »Ich habe schon von Ihnen gehört.«

»Tatsächlich?« fragte er.

»Um ehrlich zu sein, ich habe Ihr berufliches Fortkommen verfolgt«, verriet sie ihm. »Ich vermute, ich bin die einzige hier, die diese langweiligen alten Archäologie-Fachzeitschriften wirklich liest, bevor sie katalogisiert werden. Sie verfügen über Elan, und das bewundere ich. Es tut mir leid, daß ich über Ihr wissenschaftliches Werk nicht das gleiche sagen kann. Verraten Sie mir, hat der Kalif von Bagdad wirklich gedroht, Sie in siedendes Öl zu werfen?«

»Das war ein Mißverständnis.«

»Wie es scheint, müssen Sie des öfteren Mißverständnisse aus dem Weg räumen«, entgegnete sie. »Von den Fachzeitschriften werden Sie nicht gerade freundlich behandelt. Ihnen eilt der Ruf voraus, so etwas wie ein -«

»Sagen Sie es nicht«, bat Indy und zuckte zusammen. »Ich weiß, man schimpft mich einen Grabräuber.«

»Nun«, hakte sie nach, »ist es etwa nicht so?«

»Nein«, verteidigte er sich.

»Dann ist also auch diese ganze Grabräuberei nichts als ein großes Mißverständnis?«

»Ja, das stimmt.«

»Klingt mir stark nach einer bequemen Ausrede«, fand sie. »Sagen Sie mir, mein mißverstandener Amerikaner, was hat das alles mit Alistair zu tun?«

»Das ist eine lange Geschichte. Es wäre mir lieber, wenn wir uns in einem privateren Rahmen unterhalten könnten.

Ist es vielleicht möglich, daß wir zusammen zu Mittag essen?«

Wieder runzelte sie die Stirn.

»Es tut mir leid, Dr. Jones«, sagte sie nach längerem Überlegen. »Ich treffe mich nicht einfach so mit Männern, und selbst wenn es so wäre, würde ich auf die Begleitung einer Anstandsdame bestehen.«

»Ich bitte Sie ja nicht um eine Verabredung«, entgegnete Indy irritiert. »Ich muß mit Ihnen über Ihren Bruder sprechen. Und das ist doch für uns beide wichtig. Ich versuche nur zu helfen, Miss Dunstin, oder scheint Ihnen das völlig abwegig zu sein?«

Diesmal schaute sie weg.

»Ja, ich fürchte, das ist es.« Ihre Stimme klang hohl.

Indy setzte seinen Fedora auf und verließ sie.

Als er schon einige Meter weit weg war, rief sie ihn zurück.

»Mr. Jones«, sagte sie und eilte ihm hinterher. »Hier ist die Schlagwortnummer des Buches, nach dem Sie sich erkundigt haben. Tut mir leid, daß ich Ihnen Umstände gemacht habe.«

Sie reichte ihm einen Notizzettel.

Darauf stand eine mit Bleistift notierte Adresse und Uhrzeit - 2 Uhr nachmittags.

Die fensterlose und einem Verlies nicht unähnliche Bank of England lag im Herzen von London. Indy wurde von einem mürrischen Bankangestellten namens Edward Trimbly in Empfang genommen, der hier seit dreißig Jahren arbeitete und stolz darauf war, daß seinem aufmerksamen Blick bislang nie etwas entgangen war.

»Nun, Dr. Jones«, sagte Trimbly. »Sie müssen sich aus-weisen, damit diese Transaktion durchgeführt werden kann. Ihr Paß dürfte in jedem Fall ausreichen.«

Indy grinste.

»Mein Paß?« fragte er. »Nun, es tut mir sehr leid, aber ich habe keinen.«

»Oh?« Der Bankangestellte hob skeptisch die Augenbrauen. »Wie - um alles auf der Welt - sind Sie in dieses Land gekommen?«

»Ich kam an Bord eines Luftschiffs der U.S. Marine«, führte Indy aus. »Der Macon.«

»Und Peter Pan war ebenfalls an Bord?« höhnte sein Gegenüber.

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Indy gelassen. »Nun, um ehrlich zu sein, nach London bin ich nicht mit der Macon gekommen, jedenfalls nicht direkt. Ein Jagdflugzeug hat mich auf diesem kleinen Flugplatz auf dem Land abgesetzt, und von dort aus hat mich ein Milchwagen mit in die Stadt genommen. Die Frage nach dem Paß ist bislang nicht aufgetaucht.«

»Ich verstehe«, meinte der Bankangestellte. »Kein Paß also. Aber vielleicht eine Geburtsurkunde?«

»Auch keine Geburtsurkunde. Ich habe alles zurückgelassen. Ich bin sehr plötzlich aufgebrochen.«

Der Bankangestellte kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.

»Na gut. Dann vielleicht einen Brief, eventuell sogar auf Museumspapier, der für die Behörden der Isle of Wight bestimmt ist, mit denen Sie ja zwangsläufig zusammenarbeiten werden?«

Indy schüttelte den Kopf.

»Ein Flugticket oder ein Gepäckschein?«

»So was gibt die Marine nicht aus.« »Eine Visitenkarte?«

»Habe ich nicht bei mir.«

»Ein Brief von Ihrer Mutter?«

»Sie ist tot«, sagte Indy. »Tut mir sehr leid. Sollte das ein Scherz sein?«

»Es tut mir leid. Dr. Jones -«

»Nennen Sie mich Indy.«

»Lieber würde ich mir die Zunge rausreißen lassen«, entgegnete Trimbly. »Hier gibt es bestimmte Vorgehensweisen, an die sich jedermann halten muß, auch wenn das nicht Ihrem amerikanischen Sinn für Ungezwungenheit entsprechen mag ... Es fällt mir schwer, das zu fragen, Dr. Jones, aber was haben Sie dabei, um sich auszuweisen?«

Indy durchsuchte seine Taschen und fand nur einen Fusel. Dann machte er seinen Ledersack auf. Der Griff seiner Webley war deutlich zu sehen.

»O Gott«, entfuhr es dem Bankangestellten. »Soweit ist es doch hoffentlich nicht gekommen.«

»Schon in Ordnung«, beruhigte Indy ihn. »Ich suche ja noch. Aha!« Er fand den Umschlag mit den Akten vom Militärischen Geheimdienst und öffnete ihn. »Nein, tut mir leid, die darf ich Ihnen nicht zeigen. Sind geheim.« Er verstaute die Akten wieder im Sack.

»Selbstverständlich«, meinte Trimbly. »Zweifelsohne die Entlassungspapiere einer Irrenanstalt.«

»Es muß doch etwas zu finden sein.« Indy kramte seine Brieftasche hervor, in der er - einer Eigenart der Amerikaner entsprechend - allen möglichen Krimskrams aufbewahrte: abgerissene Kinokarten, eine Reinigungsquittung, alte Notizen, die er vor Ewigkeiten gemacht hatte und die ihm nun nichts mehr sagten. Der Schwur der Pfadfinder, den er seit seiner Kindheit aufbewahrte. Und ein Bibliotheksausweis.

»Sehen Sie nur«, sagte Indy und hielt den Ausweis hoch. »Eine Ausleihkarte der Öffentlichen Bibliothek der Universität Princeton, New Jersey. Und mein Name steht auch darauf.«

Trimbly betrachtete den Ausweis.

»Der ist abgelaufen«, merkte er trocken an.

»Ach, kommen Sie«, bettelte Indy. »Falls ich mir die Mühe gemacht hätte, einen Ausweis zu fälschen, meinen Sie dann, ich wäre ausgerechnet auf einen Bibliotheksausweis gekommen?«

Der Bankangestellte seufzte.

»Möchten Sie die Summe in Pfund oder in Dollars ausgezahlt bekommen?« gab er klein bei.

Zusammen mit den fünfhundert Dollars, die Brody telegrafisch überwiesen hatte, bekam er auch ein Telegramm ausgehändigt. INDY, HOFFE, DASS DAS AUSREICHT >STOP< MEHR KONNTE ICH SO KURZFRISTIG NICHT ANWEISEN >STOP< HALTE MICH AUF DEM LAUFENDEN >STOP< VIEL GLÜCK, BRODY.

»Ich hoffe, Sie trinken Tee, Dr. Jones.«

Alecia Dunstin drehte das Gas unter dem siedenden Wasserkessel ab und schenkte heißes Wasser in zwei Tassen. Die Dreizimmerwohnung in dem dreistöckigen Wohnhaus in der Southampton Row war einfach, aber sauber, und sie entsprach ganz und gar Indys Vorstellung.

»Warum haben Sie mich hierher gebeten?« fragte er neugierig. »Und was sollte das Gerede über ein Treffen ohne Anstandsdame? Haben Sie mich etwa für einen Mann gehalten, der Ihnen den Hof machen will?«

»Man weiß nie«, sagte sie und stellte ein Tablett auf dem Tisch ab. »Um ehrlich zu sein, ich kann mir immer noch keinen Reim auf Sie machen. Aber ich habe beschlossen, das Risiko einzugehen. Milch oder Zucker?«

»Keins von beidem, danke. Wie kam es, daß Sie Ihre Meinung geändert haben?«

»Lag wohl irgendwie an Ihrer Ausstrahlung, denke ich. Das war es und daß Sie sagten, man brauchte jemanden, mit dem man sich unterhalten kann. Seit Alistair verschwunden ist, mache ich mir große Sorgen. Und ich gehöre genau zu der Sorte Mensch, die sich im Notfall einem Gauner anvertraut.«

»Einem Gauner wie mir?«

»O ja«, stimmte sie zu. »Gauner sind in solchen Situationen am effektivsten. Sie halten mich doch hoffentlich nicht für jemanden, der sich einem Geistlichen anvertraut oder einen Leserbrief an eine Kummerkastentante bei der Zeitung schickt?«

»Auf gar keinen Fall.« Indy legte die Hände um die Teetasse und betrachtete Alecia durch den aufsteigenden Was-serdarnpf.

»Ich gehe gern auf Friedhöfe«, gestand sie ihm überraschenderweise. »Ich geh' des öfteren mitten in der Nacht nach Mortlake und statte Sir Richards Grab einen Besuch ab. Kennen Sie ihn? Er ist ein entfernter Verwandter von mir, müssen Sie wissen, und mein Lieblingsgauner. Ich wünsche mir so sehr, daß er für einen Augenblick zurückkommt - oder daß ich kurz zu ihm gehen kann.«

»Was meinen Sie mit zu ihm gehen?«

»Natürlich eine Zeitreise in seine Epoche. Was haben Sie denn gedacht?«

»Nichts, rein gar nichts«, sagte Indy. »Erzählen Sie mir von Ihrem Zwillingsbruder.«

»Alistair«, begann sie. »Wir sind immer zusammen ge-wesen. Im Alter von dreizehn Jahren haben wir unsere Eltern verloren. Mum und Dad kamen bei einem Autounfall ums Leben. Andere Verwandte gibt es nicht.»

»Wie alt sind Sie jetzt?«

»Siebenundzwanzig.«

»Wohnen Sie zusammen?« fragte Indy. In der Ecke standen Gehstöcke, und auf dem Buchregal lagen eine Reihe Pfeifen. Über dem Kamin waren Mitbringsel aller Art aufgereiht: ein kleiner Eiffelturm aus Metall, eine Spielzeugkanone aus Gettysburg, eine Schar Zinnsoldaten und ein kurioses Stück schwarzer Obsidian auf einem Holzständer. Außerdem hing dort eine Donnerbüchse aus dem 17. Jahrhundert, die im Lauf der Jahre nachgedunkelt war. »Das sind nicht gerade Dinge, die eine Frau aufbewahren würde.«

»Nein«, sagte Alecia. »Wir leben seit Jahren hier, seit Ali-stair die Anstellung im Museum bekommen hat. Er ist brillant, wissen Sie, aber auch ziemlich exzentrisch.«

»Das habe ich gehört. Hat er tatsächlich Gold aus Blei gemacht?«

Alecia trat ans Bücherregal und nahm eine Streichholzschachtel vom Pfeifenständer. Sie schob sie auf, bat Indy, die Hand zu öffnen und ließ einen kleinen Goldklumpen in seine Hand fallen.

»Eigenartig«, meinte Indy. »Sind Sie dabei gewesen, als er das vollbracht hat?«

»Ich habe ihm dabei geholfen.«

Ihr Gesicht lief rot an, ihr Blick umwölkte sich, ihre Augen wurden so dunkel wie das Metall der Donnerbüchse. Als sie sah, daß Indy ihre Melancholie auffiel, versuchte sie sich zusammenzureißen.

Indy wollte gerade fragen, wie sie ihm geholfen hatte, verlor aber plötzlich den Gedanken aus den Augen.

»Alistair hat diese alten Bücher und Manuskripte jahrelang studiert«, beeilte sie sich zu sagen. »Sein Zimmer ist vollgestopft mit diesen Dingen. Im Keller hat er sich ein Labor eingerichtet, und die Hausbesitzerin, die alte Mrs. Grundy, beklagt sich fortwährend - sie sagt, es riecht dort unten nach Schwefel.«

»Sulfur«, sagte Indy.

»Ja, es ist Schwefel, wenn ich es mir recht überlege.«

Indy gab ihr den Goldklumpen zurück.

»Alistair hält außerdem Tauben auf dem Dach.«

»Tauben?«

»Ja, Brieftauben. Er züchtet sie. Sie sind wirklich ganz niedlich. Jeder von ihnen hat er einen Namen gegeben. Er gehört einem Club an - das ist eine sehr populäre Freizeitbeschäftigung in England.«

»Tauben züchten«, sagte Indy. »Die Sorte, die früher zum Transportieren von Nachrichten verwendet wurde?«

»Ich denke schon.«

»Sagen Sie mir, was Alistair über das Voynich-Manuskript weiß«, forderte er sie auf. »Über den Hintergrund weiß ich Bescheid, wie das Manuskript gefunden wurde und so. Hat Alistair eine Theorie darüber entwickelt, worum es sich in dem Manuskript tatsächlich dreht?«

»Er meint, daß es viel älter ist, als bislang vermutet wird«, sagte Alecia. »Nicht das Papier, auf dem es geschrie -ben wurde oder der Einband, sondern das Geheimnis, das da festgehalten wurde.«

»Wie alt?« wollte Indy wissen.

»So alt wie die Zeit selbst«, antwortete Alecia kryptisch.

»Könnten Sie das näher erläutern?«

»Wir haben es hier mit uralten Themen zu tun, Dr. Jones. Welcher Periode soll man eine Idee zuordnen, die ihren Ur-sprung in der Urgeschichte hat? Wie Sie sicherlich wissen, gibt es unterschiedliche Traditionen, was die Begründung der Alchemie angeht, aber die meisten haben eines gemeinsam. Das ewige Geheimnis liegt in einer Höhle in der Wüste begraben.«

»Das Grab des Hermes«, warf Indy ein.

»Ja. Alexander der Große hat es entdeckt und die Welt erobert.«

»Aber wir sprechen hier über Mythen«, protestierte Indy. »Niemand nimmt die Geschichte Alexanders für bare Münze. Das war nur eine Erfindung, um seine Affinität zu den alten Göttern zu erklären, um eine Verbindung zwischen der alten und der hellenistischen Welt zu schaffen. Hermes ist in der griechischen Mythologie der Götterbote, ein Repräsentant des ägyptischen Thoth.«

»Und darüber hinaus der Gott der Diebe«, meinte Alecia und lächelte. »Hermes taucht im Lauf der Geschichte in den unterschiedlichsten Gestalten auf. In der alchemisti-schen Tradition war er ein Mann - Hermes Trismegistos, der »Dreimalgrößte« -, ein Zeitgenosse oder vielleicht sogar ein Vorläufer von Moses. Es ist noch gar nicht so lange her, daß seine Schriften als christliche angesehen wurden und als heilig wie die Bibel.«

»Ich könnte an dieser Stelle Einwände erheben, aber das werde ich unterlassen. Fahren Sie fort.«

»Zusammen mit Hermes begraben liegt der Stein der Weisen, die einzig wahre Quelle der alchemistischen Macht. Dem Stein wird nachgesagt, daß er die Elemente verwandeln - zum Beispiel Blei in Gold - und das Leben unendlich währen lassen kann.«

»Bis hierher stimme ich Ihnen zu«, sagte Indy.

»In der Höhle, bei dem Stein, war auch die Smaragdgrüne

Tafel. Darauf standen die Grundsätze der Alchemie, die nachdrücklich die nahezu grenzenlose Macht des menschlichen Verstandes betonen, wenn der gepaart mit einem reinen Herzen auftritt. Die Tafel birgt auch die Instruktionen für die Herstellung des Steins der Weisen.«

»Warum sagen Sie, die Tafel war da?«

»Weil Alexander sie mitgenommen hat«, erwiderte Ale -cia. »Als Alexander starb, wurde die Smaragdgrüne Tafel mit ihm zusammen in seinem goldenen Sarkophag in Alexandria bestattet.«

»Tja«, sagte Indy, »wenn Alexander tatsächlich das Geheimnis der Unsterblichkeit gelüftet hat, wieso ist er dann gestorben, so wie alle anderen Sterblichen auch?«

»Es geht nicht um Unsterblichkeit«, wandte Alecia ein. »Sondern um Langlebigkeit. Theoretisch ist es möglich, ewig zu leben, jedenfalls solange man nicht vor einen Bus läuft oder eine Kugel abkriegt. Alexander wurde vergiftet.«

Indy nickte.

»Alexandria war die größte Stadt der damaligen Welt, das erste echte Zentrum der Wissenschaft und der Lehre. Dort wußte man, daß die Erde rund war und zwar gut tausend Jahre, bevor Columbus das rausgekriegt hat. Diese Stadt war außerdem das Zentrum alchemistischer Studien, und dort stand die erste große Bibliothek der Welt, aber all das Wissen ging verloren, als die Stadt im 4. Jahrhundert zerstört wurde. Und damit ging auch das Wissen über den Standort von Alexanders Grab verloren.«

Indy trank den Tee aus und stellte die Tasse auf dem Tablett ab.

»Das ist eine interessante Geschichte gewesen«, sagte er, »aber was hat das mit dem Voynich-Manuskript zu tun?«

»Darauf komme ich noch. Ihr Amerikaner seid so ver-dämmt ungeduldig. Jetzt machen wir einen Zeitsprung, ein paar Jahrhunderte nach vorn, ins Jahr 1357. Ein Franzose namens Nicholas Flamel entdeckt, was er das Buch Abrahams nennt. Er geht einem Traum nach, in dem ihm ein Engel ein Buch mit einem nicht zu entziffernden Text zeigt.«

»Nicht zu entziffernder Text?«

»Ja, in einer Geheimschrift. Beschreibungen dieses Buches tauchen schon im l. Jahrhundert in Alexandria auf. Es bestand aus einundzwanzig Seiten, auf denen auch mystische Zeichnungen zu finden waren. Auf der letzten Seite war eine Quelle in einer Wüste, aus der Schlangen kriechen.«

»Schlangen?« fragte Indy.

»Ja, Schlangen. In den Anweisungen im Buch wurde erklärt, wie man den Stein der Weisen herstellt, aber ein ganz wichtiger Bestandteil konnte nicht identifiziert werden: prima materia, die erste Materie, die den eigentlichen Prozeß in Gang setzt.«

»Schlangen«, wiederholte Indy.

»1382 soll Flamel mit der Hilfe seiner Frau diese Umwandlung gelungen sein«, fuhr Alecia fort. »Die Ähnlichkeiten zwischen dem Buch Abraham und dem Voynich-Manuskript liegen auf der Hand. Und dann gibt es da natürlich noch das Buch, das Edward Kelley in Wales entdeckt hat, ebenfalls nach einem Engelstraum. Er nannte das Buch The Gospel of St. Dunstable. Wieder ein geheimnisvolles Buch mit einem nicht zu entziffernden Text. Wahrscheinlich war das das gleiche Buch, das an Rudolf von Habsburg verkauft wurde.«

»Und all diese Bücher sind trotz der unterschiedlichen Titel ein und dasselbe?«

Alecia nickte.

»Alchemie ist zur Hälfte Wissenschaft, zur Hälfte Spiritualismus«, meinte sie. »Das Buch ist so etwas wie eine Art Rorschach-Test für die Seele - wenn Sie lange genug darin herumstöbern, spiegelt es das wider, an was Sie glauben; ob es sich dabei nun um Abraham oder St. Dunstable handelt, ist nicht von Bedeutung.«

»Oder um Roger Bacon«, sinnierte Indy.

»Richtig«, stimmte Alecia ihm zu. »Falls Sie der Empirie huldigen, werden Sie Teleskope und Mikroskope sehen, die ihrer Zeit weit voraus sind. Armer Newbold.«

Indy schüttelte den Kopf.

»Warten Sie mal«, sagte er. »Diese Theorie kann man doch auf alles anwenden, oder nicht? Wenn Sie etwas lange genug anschauen, dann sehen Sie immer eher das, was in Ihnen steckt als das, wofür der Gegenstand in Wirklichkeit steht. Nehmen wir als Beispiel die Literaturkritik- ich hege den starken Verdacht, daß sie uns mehr über die Kritiker verrät als über das Werk, mit dem sie sich beschäftigen.«

»Und was ist mit Flamel?« fragte Alecia.

»Was soll schon mit ihm sein?« erwiderte Indy. »Ich möchte Sie ja nicht beleidigen, aber jeder Alchemist, der etwas auf sich hält, hat- falls das, was ich gehört habe, zutrifft - schon mal etwas Gold gemacht. Das hat zweifellos etwas mit Geschicklichkeit oder einem chemischen Trick zu tun, der das Vergolden von Gegenständen ermöglicht.«

»Flamel hat nicht etwas Gold hergestellt«, gab Alecia zu bedenken. »Er hat eine Menge Gold gemacht. Er und seine Frau Perenelle stifteten vierzehn Hospitäler, drei Kapellen und sieben Kirchen. Kein schlechtes Ergebnis für einen

Scharlatan. Und es wird behauptet, daß sie niemals starben. Im Jahre 1761 - damals wären sie etwas mehr als vierhundert Jahre alt gewesen - besuchten sie in Paris die Oper.«

»Na gut«, sagte Indy. »Mal abgesehen davon, ob es möglich ist, Blei in Gold zu verwandeln oder ewig zu leben, Sie haben mich überzeugt, daß Voynich vielleicht dasselbe Buch besaß, das jahrhundertelang in Europa herumgegeistert ist. Aber warum sollte sich nun jemand die Mühe machen, ein Buch mit uralten Formeln zu stehlen?«

»Das ist einfach zu beantworten«, sagte Alecia. »Bei dem Geheimnis handelt es sich nicht um ein obskures alchemi-stisches Rezept, sondern um den Standort des Grabes von Hermes. Und vielleicht um die Macht, die Welt zu erobern.«

Indy kratzte sich am Kinn.

»Und was will Alistair erobern?« fragte er.

»Die Newtonsche Physik«, meinte Alecia. »Das ist alles.«

»Im Museum behaupteten Sie zu wissen, daß Alistair das Voynich-Manuskript nicht gestohlen habe«, sagte Indy. »Sind Sie dieser Meinung, weil Sie sich so gut kennen?«

Alecia nickte.

»Natürlich glaubt mir niemand«, sagte sie. »Er hat vor drei Tagen seinen Arbeitsplatz verlassen und ist nie wieder im Museum aufgetaucht. Als er vermißt wurde und dann das Voynich-Manuskript als gestohlen gemeldet wurde, nahm einfach jeder an, daß er sich damit auf und davon gemacht hat. Wer sonst sollte sich dafür interessieren? Aber die wissen nicht, was ich weiß.«

»Sie meinen, weil Sie ihn so gut kennen.«

»Das und noch etwas anderes«, sagte Alecia. Dann zögerte sie auf einmal. »Alistair hat mir das Versprechen abge-nommen, niemandem etwas davon zu erzählen. Aber ich werde es Ihnen zeigen, damit Sie mir glauben.«

Sie ging zu der Donnerbüchse über dem Kamin. Mit spitzen Fingern zog sie eine Rolle Papier aus dem Lauf, die sie Indy reichte. »Warum«, fragte sie ihn, »sollte er das doofe Ding stehlen wollen, wenn er eine exakte Kopie besitzt?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Indy und überflog das Dokument. »Das hier ist eine fotografische Kopie. Vielleicht fehlt ihr etwas Lebenswichtiges, wie beispielsweise die Kolorierung des Originals.«

»Sie sind unmöglich«, fand sie.

Mit dem Rücken zu Indy stellte sie sich ans Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. In diesem Augenblick fiel ihm ein, daß er vorhin vergessen hatte, sie zu fragen, warum Flamel zusammen mit seiner Frau Gold gemacht hatte.

»Alecia -«

»Dr. Jones«, sagte sie. »Erwarten Sie Besucher?«

Die Wohnungstür wurde aufgebrochen, von einem gestiefelten Fuß aus den Angeln gerissen. Luigi Volatore - der letzte der Brüder - stürzte mit einer Mauser in der Hand in den Raum. Zwei atlantici begleiteten ihn.

»Durchsucht das Apartment«, rief er auf italienisch. »Findet sie.«

Die beiden Männer kämmten ein Zimmer nach dem anderen durch, schauten in Schränke und unter Betten und warfen frustriert Möbelstücke um. All das änderte nichts daran, daß die Wohnung leer war.

Luigi fluchte wild.

Er griff eine der Tassen auf dem Tischchen neben dem Sofa und trank einen Schluck. Der Tee war immer noch lau-warm. Dann ging er zum Fenster hinüber, öffnete es und schaute auf die Southampton Row. Die Straße war wie ausgestorben. Mit einem lauten Knall schloß er das Fenster wieder.

»Die können nicht weit sein«, sagte er. »Nehmt die Wohnung auseinander. Und schnappt euch alles, wofür Sarducci sich interessieren könnte.«

Die beiden machten sich sofort an die Arbeit, leerten Schubladen aus, stöberten Schriftstücke und Papiere durch. Alles, was irgendwie offiziell aussah, verstauten sie in einem Koffer aus dem Schlafzimmer.

»Wir sollten ihnen eine Überraschung bereiten, finde ich.« Luigi baute sich vor dem Schreibtisch an der Wand auf und kramte aus einer Tasse mit Bleistiften und Gummibändern eine Heftklammer raus.

Während die anderen ihrer Aufgabe nachgingen, inspizierte er die Gasleitung, die vom Herd zu einem Heizgerät im Kamin führte. Zufrieden nickend begab er sich zum Wandschalter neben der Eingangstür und knipste sie an. Erfreut stellte er fest, daß Strom zu der Lichtquelle an der Decke floß. Dann schaltete er das Licht wieder aus. Die Heftklammer schob er zwischen die Zähne, stellte sich auf einen Stuhl, trennte mit einem Metzgermesser die Fassung ab und warf sie in eine Zimmerecke, wo sie in Scherben zerbrach.

Während er arbeitete, summte er eine Arie.

Er nahm die Heftklammer aus dem Mund und zog sie auseinander, ehe er die beiden Enden um die Leitungen über der Isolierung wickelte. Dann sorgte er dafür, daß die bloßen Kupferenden der Heftklammer dicht beieinander hingen, ohne sich zu berühren.

Zufrieden mit seinem Werk stieg er vom Stuhl.

»Beeilt euch«, forderte er die beiden anderen auf.

Er ging in die Küche und schaltete alle Herdflammen an. Zischend strömte leicht entflammbares Gas in die Wohnung. Er zog eine Zigarre aus der Brusttasche und steckte sie in den Mund, lachte schallend und zog die Tür hinter sich zu, was wegen der herausgehobenen Angel nicht so einfach war.

Auf dem schmalen Sims vor dem Fenster in der dritten Etage klammerte Indy sich an der unebenen Fassade fest. Seine Finger schmerzten schon.

Alecia hatte ihre Arme um seine Taille geschlungen.

»Sind sie weg?« fragte sie.

»Ich glaube schon«, sagte Indy. »Ich hörte, wie die Tür zugeschlagen wurde. Wir müssen eine Möglichkeit finden, wieder in die Wohnung zu gelangen, bevor sie unten auf dem Gehweg auftauchen und uns hier oben entdecken. Kann man das Fenster von innen verriegeln?«

»Ja«, sagte Alecia.

»Wir haben keine Zeit, es aufzubrechen«, meinte er. »Ist das Fenster auf der anderen Seite von Ihnen offen?«

»Ja, einen Spaltbreit.«

»Dann arbeiten Sie sich langsam und vorsichtig dorthin vor.«

»Ich habe Angst, mich von der Stelle zu rühren«, gestand sie ihm.

»Aber die Waffen sollten Ihnen eigentlich noch mehr angst machen«, fand Indy.

Alecia kroch über den Sims, machte einen winzigen Schritt nach dem anderen, bis sie dicht genug am Fenster war, um reingreifen zu können. Das Fenster stand nur ein paar Zentimeter weit offen. Sie streckte die Hand aus, um es hochzuschieben. In dieser Sekunde gab der Sims unter ihr nach, und sie fiel. Glücklicherweise konnte sie sich am Fensterbrett festhalten.

Indy nahm ihre Hand und zog sie nach oben. Als sie mit beiden Beinen quasi wieder festen Boden unter den Füßen hatte, öffnete er das Fenster, damit sie hineinsteigen konnte. Als er ihr in das angrenzende Apartment folgte, fiel sein Blick auf Luigis Kopf unten auf dem Bürgersteig.

»Tut mir leid«, entschuldigte Alecia sich bei dem Ehepaar in der Wohnung, das gerade Toast verspeiste und einer BBC-Übertragung lauschte. »Wir haben die Tauben gefüttert und uns ausgeschlossen.«

»Keine Ursache«, sagte der Mann. »Ist mir auch schon passiert.«

»Ist doch nicht wahr!« wies ihn die Frau zurecht. »Warum lügst du andauernd? Hören Sie nicht auf das, was der alte Narr sagt«, bat sie und machte eine abfällige Kopfbewegung. »Möchten Sie vielleicht ein Toast mit Marmelade?«

»Sieht köstlich aus«, antwortete Alecia höflich, »aber nein, vielen Dank. Bleiben Sie nur sitzen, wir finden allein den Weg nach draußen.«

Sie liefen den Flur hinunter, und Alecia kramte nach ihren Schlüsseln.

»Die brauchen Sie nicht«, sagte Indy mit einem Blick auf den zerborstenen Türrahmen. Er schob die Tür auf. Zusammen betraten sie das dunkle Apartment. Alecia streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.

Geistesgegenwärtig packte Indy ihr Handgelenk.

»Tun Sie das nicht«, wies er sie an und deutete mit dem Kinn auf die bloßliegende Stromleitung, die von der Decke baumelte. »Hier strömt Gas aus.«

Indy atmete tief durch und ging in das Zimmer. Er schritt über den Haufen Papier, der auf dem Boden ausgebreitet lag, und begab sich zum Kamin, wo er vor dem Heizgerät niederkniete und die gekappte Leitung genauer untersuchte. Er schaltete die Gaszufuhr ab. Das Zischen verstummte. Danach trat er in die Küche und drehte alle Herdflammen aus. Als er zur Eingangstür zurückkehrte, war ihm schwindelig, und seine Lungen brannten. Er mußte dringend Luft schnappen.

»Sie haben die Wohnung auf den Kopf gestellt«, sagte er und riß den Mund auf.

Alecia nickte und preßte die Lippen zusammen. Sie schwitzte, neigte den Kopf nach vorn, packte einen Schwall roter Haare und hob sie hinten hoch. Ihr wunderschöner graziler Nacken und die zarten, beinah elfenhaften Ohren brachten Indy kurz auf andere Gedanken. In diesem Moment fiel sein Blick auf ihren Halsansatz, wo ein kleines, aber ausgefeiltes Muster aus ineinander verschlungenen roten und schwarzen Kreisen zu erkennen war. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Die Tätowierung begann direkt unter dem Haaransatz und schlängelte sich weiter nach unten, um unter dem Stoff ihrer Bluse zu verschwinden. Das Muster war keltisch, wie Indy wußte. Als sie sah, daß er sie anstarrte, ließ sie das Haar wieder fallen.

»Was nun?« fragte sie ihn.

»Sie werden mit einer Explosion rechnen. Das heißt, sie warten irgendwo in einer Straße ganz in der Nähe«, äußerte er seine Vermutung. '

»Dann werden sie zurückkehren«, stellte Alecia fest.

Indy nickte.

»Ich dachte, ich hätte noch ein paar Tage, weil das Fluggeschwader noch mitten über dem Atlantik ist. Bestimmt haben sie per Funk eine Nachricht durchgegeben.«

Sie holte tief Luft und ging in ihre Wohnung, schnappte

ihre Handtasche, die achtlos auf dem Boden lag, und trat dann an den Kamin. Den Rücken Indy zugewandt, nahm sie den Obsidian vom Kaminsims und legte ihn in die Tasche, ehe sie die Voynichkopie aus der Donnerbüchse fischte. Zu Indys Überraschung gab sie ihm das kopierte Manuskript.

Er verstaute es in seinem Sack.

»Wohin gehen wir jetzt?« wollte sie wissen.

»Wir?« fragte er. »Ich mache mich auf den Weg nach Rom. Und Sie sollten an einem sicheren Ort Unterschlupf suchen. Vielleicht bei Verwandten auf dem Land.«

»Einmal abgesehen von Alistair habe ich keine Verwandten«, sagte sie. »Wir müssen zusammen gehen.«

»Das ist zu gefährlich.«

Alecias Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Es war mein Apartment, das sie in die Luft jagen wollten«, sagte sie. »In dieser Sache sind wir Partner, ob es Ihnen nun paßt oder nicht. Ich werde Sie auf jeden Fall nach Rom begleiten.«

Indy zögerte. Sie trat dicht an ihn heran und legte die Hände auf seine Arme. Ihre Lippen streiften seine.

»Sie brauchen mich, Dr. Jones.«

»Jetzt machen Sie aber mal halblang -«

»Sie können Voynich nicht lesen«, gab sie zu bedenken. »Ich hingegen schon. Alistair hat es mich gelehrt. Es ist eigentlich ganz einfach, wenn man erst mal ein Gefühl dafür entwickelt hat. Und wenn man im Besitz von diesem hier ist.«

Sie holte den Obsidian aus ihrer Tasche.

»Der Vorhersagestein.«

Sie eilten die Treppe hinunter, verließen das Wohnhaus durch den Hintereingang und schlichen durch die kurvenreiche Gasse. Einmal glaubte Indy, daß sie verfolgt wurden, aber nachdem sie eine Viertelstunde in einer dunklen Nische ausgeharrt und nichts Auffälliges bemerkt hatten, gingen sie weiter.

»Wir sind in Sicherheit«, sagte Alecia. »Dort hinten ist niemand.«

»Vielleicht«, sagte Indy und trat ins Licht hinaus. Er rieb sich die Augen. »Hören Sie, ich habe heute noch nicht gegessen. Ich muß unbedingt was zu mir nehmen. Gibt es in der Nähe ein Restaurant?«

»Um die Ecke ist ein Pub.«

»Sie wissen, wo wir sind?« staunte er. »Das scheint mir eine ziemlich finstere Gegend zu sein.«

»Das hier ist London, Dr. Jones. An jeder Ecke gibt es einen Pub.«

Und sie hatte sich nicht geirrt. Ein paar Minuten später stießen sie auf ein Schild mit dem Namen dark horse. Sie nahmen auf einer der Holzbänke Platz, tranken lauwarmes Bier und ertrugen die unverhohlen neugierigen, manchmal feindseligen Blicke der Arbeiter, während sie auf Indys Essen warteten.

»Kommt mir vor, als seien wir Goldfische in einem Glas«, beklagte er sich.

»Wir fallen nicht auf«, entgegnete Alecia und wischte mit dem Handrücken den Bierschaum aus dem Mundwinkel. »Sondern nur Sie.«

»Sind Sie schon mal hier gewesen?«

»Nein, noch nie. Aber ich füge mich nahtlos ins Bild ein. Sie nicht. Diese Menschen haben einen ausgeprägten Sinn für ihr Revier. Und Außenseiter können sie nun mal nicht leiden.«

»Prima.«

»Sie sagten, Sie möchten essen.«

»Ich hänge aber auch sehr an meinen Zähnen, zumal ich sie zum Essen brauche«, meinte er.

»Sie benehmen sich wie ein kleines Kind«, sagte Alecia. Sie lächelte wissend den finster dreinblickenden Männern an der Bar zu, als würden sie zusammen über einen Witz lachen, dessen Pointe nur sie verstanden. Damit stellte sie so etwas wie eine unausgesprochene Vereinbarung mit den anderen Gästen her, vor allem mit einem besonders rüde aussehenden Kerl in einem ausgeleierten Wollpulli und mit grauer Kappe, der sie mißmutig beäugte.

»Da gibt es etwas, das mich neugierig macht«, verriet Indy.

»Noch mehr Fragen?«

»Ja. Warum braucht es beide, Flamel und seine Frau, um Gold zu machen ?« Indy brach ab, weil ihm von einem Barmädchen ein Teller mit dampfendem Fleisch und Kartoffeln gebracht wurde. Auch die junge Frau schien von seiner Anwesenheit nicht sehr erfreut zu sein. »War er allein nicht dazu in der Lage?«

»Das ist schwer zu beantworten«, sagte Alecia vorsichtig.

Indy stach seine Gabel in das Fleisch.

»Sie müßten mehr über Alchemie wissen, um solch eine komplexe Materie begreifen zu können«, meinte sie.

»Stellen Sie mich auf die Probe«, schlug Indy vor, obwohl er sich ganz und gar auf seine Mahlzeit konzentrierte.

»Na gut. Aber dann müssen Sie mich schon ansehen, Dr. Jones.«

Ihre Blicke trafen sich.

»Nein«, sagte er, den Blick abwendend. »Ich werde es nicht zulassen, daß Sie wieder diesen Trick mit Ihren Augen machen. Obwohl ich zu wissen vermute, wie Sie das anstellen. Die Verwandlung erfordert die Hilfe einer soror mystica, nicht wahr?«

Alecia lief rot an.

»Das dachte ich mir schon«, sagte er. »Nun, geheimnisvolle Schwester, sprechen Sie zu mir.«

Der Mann mit der grauen Kappe knallte sein Bier auf die Theke. Mit verschränkten Armen schlenderte er durch den Raum und baute sich breitbeinig vor ihnen auf. Er wog sicherlich an die zweihundertfünfzig Pfund, und wenn es auch so aussah, als wollten die Knöpfe in der Bauchregion jeden Moment von der Jacke platzen, sahen seine Arme und Schultern muskulös und durchtrainiert aus. Indy hielt ihn für einen Schmied, zumal seine Fäuste die Größe von Ambossen hatten.

»Fällt Ihnen dieser Yank auf die Nerven, Miss?« fragte der große Mann.

»Nein«, entgegnete Alecia. »Aber danke, daß Sie nachgefragt haben.«

»Ich kann Yankees nicht ausstehen«, sagte der Mann. »Und schon gar nicht solche, die ihren Hut in Gegenwart von Damen aufbehalten. Am liebsten würde ich dir die Fresse polieren.«

»Entschuldigen Sie, mein Freund«, sagte Indy. Freundlich lächelnd legte er den Fedora auf den Tisch. »Ist es so besser?«

»Entschuldige dich bei der Lady.«

»Okay. Nun, Miss Dunstin, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Sind wir nun fertig?«

»Noch nicht ganz«, erwiderte der große Mann. »Dein schiefes Grinsen gefällt mir nicht. Ich bin noch unentschlossen. Ich glaube, ich werde dir trotzdem die Fresse polieren.«

»Nun, mit einer Sache liegen Sie ganz richtig. Mehr als Unentschlossenheit ist bei Ihrem Verstand nicht drin«, sagte Indy.

Der Mann packte Indy am Kragen und zog ihn mit einer Leichtigkeit von der Holzbank, als trage er einen Sack Kartoffeln. Indy ballte die Hand zur Faust, doch bevor er zuschlagen konnte, klatschte Alecia in die Hände und begann in einer Sprache zu reden, die vage an Rumänisch erinnerte und die Indy nicht verstand.

Der große Mann schaute auf einmal völlig verdutzt. Er ließ Indy los, so daß er hinfiel. Dann setzte er seine Kappe ab und sprach mit Alecia kurz in dieser fremden Sprache.

»Tut mir leid«, wandte er sich an Indy, bevor er zur Theke zurückkehrte.

»Was haben Sie denn gesagt, Himmel noch mal?« Indy stand auf und klopfte den Staub aus seinen Kleidern. »Und was für eine Sprache war das? Ich habe das noch nie zuvor gehört.«

»Das ist Shelta Thari. Die Sprache der Kesselflicker. Es ist die alte Sprache der Kelten und wird immer noch von denen gesprochen, die die Geheimnisse des Metalls kennen.«

»Und das hat auch etwas mit dieser Tätowierung auf Ihrem Hals zu tun, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete sie knapp.

»Sie haben mir noch nicht alles gesagt, meine Liebe.«

Alecia wandte den Blick ab.

»Sie sind noch etwas anderes als nur Alistairs Schwester, vermute ich«, sagte Indy und beugte sich über den Tisch. »Sie sind seine soror mystica, seine geheimnisvolle Schwester. Alistair braucht Sie - allein kann er kein Gold machen. Was natürlich nicht heißen soll, daß ich Ihnen etwas von diesem Geschwafel abkaufe. Ich weiß nur, daß Sie bis zu Ihrem hübschen, tätowierten Hals in dieser Sache drin-stecken. Vielleicht hatten Sarduccis Schläger gar nicht vor, uns beide zu töten - möglicherweise waren sie wirklich nur hinter mir her. Weil sie Sie brauchen.«

Alecia schüttelte energisch den Kopf und schaute ihm tief in die Augen.

»Dr. Jones, Sie müssen mir glauben.«

Indy schaute weg.

»Nein«, sagte er, »das muß ich nicht. Aber die eigentliche Frage lautet: An was glauben Sie, Miss Dunstin?«

»Meine Loyalität gilt ausschließlich Alistair.«

»Und wie steht es mit seiner Loyalität?« fragte er nach.

Alecia kaute nervös auf ihrer Unterlippe.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Und ich kann es Ihnen nicht übelnehmen, daß Sie mir nicht vertrauen. Sie haben ganz recht, ich habe Ihnen nicht alles erzählt. Aber nicht aus dem Grund, weil ich Sie hintergehen wollte. Ich ... nun, ich hatte Angst, daß Sie mich dann weniger achten würden. Ich habe ein paar Dinge in meinem Leben gemacht, auf die ich nicht sonderlich stolz bin. Alistair und ich sind nicht wie normale Menschen, müssen Sie wissen. Seit unserer Kindheit lastet ein schwerer Fluch auf unseren Schultern.«

Indy spießte ein Kartoffelstück auf und schob es in den Mund. Es schmeckte köstlich. Dann kostete er von dem Fleisch. Hervorragend. Wärme breitete sich in seinem Magen aus, und er spürte ganz deutlich, wie er langsam wieder zu Kräften kam.

»Ist nicht einfach, das zu erklären«, fand Alecia.

»Ich bin ein guter Zuhörer«, behauptete Indy.

»Die Tätowierung«, begann sie. »Die habe ich, seit ich sieben war. Sie beginnt hinten im Nacken, breitet sich über die Schulterblätter und das Rückgrat aus und endet oberhalb des Gesäßes.«

»Und weiter?« drängte Indy.

»Das ist das Zeichen der Thari, der alten Druidenkaste der Metallarbeiter. Es stammt aus einer Zeit, als das Wissen über die Metallverarbeitung, das Schmieden von Schwertern, mehr Respekt einflößte als andere Wissenschaften. Shelta Thari ist die Geheimsprache der Barden, Priester und Zauberer. Es ist eine sehr alte Sprache - möglicherweise prähistorisch. Vielleicht geht sie sogar bis ins Bronzealter zurück. Alistair und ich sind die Überlebenden einer aussterbenden Rasse.«

»Und der Mann, der mir die Fresse polieren wollte«, meinte Indy. »Ist er Schmied?«

»Ja. Die Sprache hat überlebt. Vor allem Schmiede und Bettler und Zigeuner kennen noch ein paar wichtige Sätze. Nus a dhabjan dhuilsa zum Beispiel. »Der Segen Gottes über dich.« Einige Gelehrte haben den Versuch unternommen, die Sprache zu transkribieren, aber das ist keinem gelungen. Die Thari haben die Angewohnheit, die Existenz dieser Sprache entweder zu verleugnen oder dem Fragenden irgendeinen Unsinn vorzutragen.«

»Das darf ich nicht vergessen.«

»Als unsere Eltern starben, haben die Thari für Alistair und mich gesorgt. Und sie haben uns weisgemacht, daß wir von königlichem Blut sind, daß ich die letzte, nun ... Priesterin bin.«

»Und Alistair?« fragte Indy. »Ist er auch ein Priester? Hat auch er eine Tätowierung im Nacken?«

»Nein. Thari ist eine ... matriarchalische Gesellschaft. Meine Mutter war -« Unvermittelt brach sie ab und blickte über Indys Schulter.

»Stimmt was nicht?«

»Drehen Sie sich nicht um«, flüsterte sie. »Da sind wieder diese Männer. Drei Männer. Der mit der Zigarre scheint der Boss zu sein.«

»Und was tun sie?«

»Sie stehen einfach nur im Türrahmen. Ihre Augen haben sich noch nicht an die Dunkelheit hier drinnen gewöhnt. Nun werfen sie einen Blick in den Pub. Wir müssen verschwinden.«

»Die Hintertür«, schlug Indy vor.

Er stand auf und zog eine Geldscheinrolle aus der Tasche, zupfte ein paar Pfundnoten heraus, wußte aber nicht, wieviel er zurücklassen sollte. Alecia nahm ihm die Entscheidung ab und legte eine Fünfpfundnote auf den Tisch.

»Sehr großzügig, ich weiß. Aber damit bezahlen wir den Schaden.«

»Was für einen Schaden?« staunte Indy.

Alecia begab sich an die Theke und unterhielt sich in Shelta mit dem Schmied. Er nickte. Dann nahm sie Indy an der Hand und zog ihn ins Hinterzimmer.

Einer der atlantici entdeckte sie.

»Halt!« rief er und rannte ihnen hinterher.

Als er an der Theke vorbeikam, drehte der Schmied sich um und schlug dem Mann die Faust ins Gesicht. Er fiel rücklings auf einen Tisch und schüttete das Bier über die Gäste, die dort Platz genommen hatten. Einer der Gäste hob ihn auf und schlug mit der Hand zu, so daß er gegen die Theke polterte.

Indy hörte, wie Gläser umfielen und zerbrachen, hörte das wohlvertraute Geräusch von Fäusten, die auf Fleisch trafen, während er und Alecia durch die Küche liefen. Die Hintertür war abgeschlossen. Indy nahm Anlauf und warf sich mit der Schulter gegen die Holztür, die keinen Millimeter nachgab.

»Amerikaner«, höhnte Alecia. »Los, lassen Sie mich mal ran.«

»Bitte sehr«, sagte Indy und massierte seine Schulter.

Die junge Frau fuhr mit der Hand über den Türrahmen und fand den Schlüssel, der dort versteckt war. Sie schob ihn ins Schloß, drehte ihn mit Leichtigkeit um und stieß die Tür auf.

»Jesus«, entführ es Indy.

Sie traten in die schmale Gasse.

Das helle Sonnenlicht ließ ihn blinzeln.

Sie folgten der Gasse auf die Straße, hatten aber erst ein paar Schritte zurückgelegt, als die drei Männer in den dunklen Uniformen an der Straßenecke auftauchten. Hinter ihnen endete die Sackgasse vor einer rußgeschwärzten Backsteinmauer.

Äußerst zielgerichtet und betont langsam kamen die drei Italiener auf sie zu. Luigi zog an seiner Zigarre. Die beiden anderen fischten Waffen aus ihren Mänteln.

»Das ging aber schnell«, meinte Indy.

»Und was nun?« fragte Alecia ihn.

Indy zerrte sie zu dem Holzzaun, der die Privatgrundstücke von der Gasse trennte, stapelte ein paar Mülltonnen auf und balancierte - vorsichtig wie eine Katze, die die Zähne fletscht und schreit, ehe sie sich davonmacht - auf der wackeligen Konstruktion. Alecia schlang den Riemen ihrer Handtasche über den Kopf, damit sie sie nicht verlor. Indy zog sie zu sich hoch, bat dann um Entschuldigung, als er ihr die Hand auf das Gesäß legte und sie zuerst über den Zaun hievte.

»Ihr da!« rief eine englische Stimme. »Halt!«

Indy und Alecia blieben einen Augenblick lang stehen. Ein Polizist hatte sich am Anfang der Gasse aufgebaut und blies energisch in seine Trillerpfeife.

»Gut«, meinte Indy.

Alecia schüttelte den Kopf.

»Er hat keine Waffe. Bobbies sind nur mit Schlagstöcken ausgestattet«, klärte sie ihn auf.

Die drei dunkelgekle ideten Männer drehten sich langsam um. Die Mündungen ihrer Waffen zeigten nach oben. Angewidert betrachteten sie ihren Widersacher. Dem Bob-by fiel die Trillerpfeife aus dem Mund, um dann lose an der Silberkette zu baumeln.

Zuerst zögerte er noch. Und dann ergriff er die Flucht.

Indy und Alecia landeten auf der anderen Seite des Zauns in aufgeweichter Erde. Das Grundstück gehörte einem Schrotthändler. Überall lagen Metallplatten, Motorenteile und anderer Schrottabfall herum. Neben dem Zaun war eine Pyramide aus leeren Öldosen und Benzinkanistern aufgetürmt.

»Falls wir das hier überstehen sollten«, sagte Indy, »werden wir getrennte Wege gehen. Einverstanden?«

»Einverstanden. Aber was machen wir nun?«

Das blecherne Klappern der Mülltonnen verriet ihnen, daß die dunklen Männer im Begriff waren, ebenfalls über den Zaun zu steigen.

»Dorthin«, sagte Indy und zeigte auf den rostenden Korpus eines Baggers mitten auf dem Schrottplatz. Die Schaufel war auf den Zaun ausgerichtet. Alecia ging in Deckung, während Indy seinen Revolver aus dem Sack holte, vom Zaun zurückwich und auf den ersten Kopf feuerte, der sich über den verwitterten Holzplanken abzeichnete. Die Kugel prallte von der Backsteinwand des Pubs ab. Vom Knall auf-geschreckt, stimmten alle Hunde in der Nachbarschaft in aufgeregtes Gebell ein.

Grinsend spazierte Indy zum Bagger.

»Indy!« kreischte Alecia. »Sind Sie verrückt? Sie können doch nicht mitten in London eine Schießerei anzetteln!«

Indy zuckte mit den Achseln.

»Die haben doch Waffen«, sagte er. »Und außerdem würden sie es nicht wa -«

Maschinenpistolenfeuer unterbrach ihn. Mit einem Satz ging er hinter dem Bagger in Deckung. Während die großen Kugeln gegen die Schaufel prasselten, knieten er und Alecia mit eingezogenen Köpfen auf dem Boden.

Indy schüttelte den Kopf und legte schützend die Hände auf die Ohren. Der Lärm war kaum zu ertragen.

»Würden es nicht wagen, hm?« spottete Alecia erzürnt.

»Was?« fragte er.

»Ich sagte, ich halte Sie für einen dickköpfigen verblendeten amerikanischen Dummkopf!«

»Was?« fragte er.

Wieder donnerte eine Salve gegen die Schaufel.

»Es dauert nicht mehr lange, bis die uns fertigmachen. Und zwar bevor uns jemand zu Hilfe eilt«, schätzte Indy ihre Situation ein.

Alecias Augen funkelten wütend.

»Wer kann sie aufhalten?« fragte Indy. »Ich habe noch fünf Schuß Munition übrig und die haben - wieviel? - vielleicht ein paar hundert.«

»Das nenne ich hohl«, beschwerte sie sich lautstark. »Sie sind dumm. Kapiert? Hohl!«

»Hohl? Was ist hohl? Fässer?« fragte er. Seine Augen leuchteten auf. »Glauben Sie, daß in denen noch was drin ist?«

Indy kroch um die Schaufel herum und gab zwei Schüsse auf den Haufen entsorgter Fässer ab. Als die anderen zurückschössen, kehrte er schnell zu Alecia zurück.

»Nichts«, murmelte er. »Die können doch nicht alle leer sein, oder?«

»Was?« fragte Alecia.

Indy wartete, bis sich das Maschinenpistolenfeuer legte und holte dann tief Luft.

Er hob den Kopf und gab einen Schuß ab.

Nichts passierte.

»Tut mir leid. Jetzt haben sie uns. Und ich habe nur noch zwei Kugeln übrig. Wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe, rennen Sie weg und zwar schnell. Ich kann sie nur für ein paar Sekunden in Schach halten.«

Alecia packte ihn am Kragen seiner Lederjacke, zog ihn ganz dicht heran und küßte ihn heftig auf den Mund. Ihre Lippen waren warm und feucht, und er konnte ihr Parfüm riechen - es erinnerte ihn an Honigblüten - und ihren Schweiß und ihre Angst. Indy wäre beinah die Waffe aus der Hand gefallen.

Doch dann ließ sie ihn los.

»Ich werde bei Ihnen bleiben.«

Der Mann mit der Zigarre kletterte über den Zaun. Seine Begleiter mit den Maschinenpistolen warteten schon auf der anderen Seite. Mit einem Zeichen gab er ihnen zu verstehen, daß sie vorrücken und der Sache ein Ende bereiten sollten, ehe Hilfe von außen kam.

Luigi nahm einen letzten Zug von seiner Zigarre, bevor er sie gedankenverloren wegwarf. Als er seinen Fehler erkannte, blieb er abrupt stehen und beobachtete gebannt, wie die glühende Zigarre wie im Zeitlupentempo in eine Pfütze neben einem lecken Benzinkanister fiel.

Luigi rannte los und sprang über den Zaun.

Unter lautem Getöse explodierten die anderen Fässer und tauchten die Männer mit den Maschinenpistolen in die schwarzgeäderte Blüte einer orangenen Stichflamme. Geistesgegenwärtig zog Indy den Kopf ein. Er spürte, wie die Hitze der Explosion über die Baggerschaufel wogte.

Alecia riß vor Angst die Augen weit auf.

»Kopf runter«, ermahnte Indy sie. »Und nun losschnell!«

Mit gesenktem Blick hetzten sie durch den Schutt auf dem Schrottplatz, quer über den Hof in Richtung Eingang. Mit einem kurzen Metallrohr brach Indy die Eisenkette auf, die das Tor zusammenhielt. Hinter ihnen loderte das Feuer, doch von den Mauern begrenzt, konnte es sich nicht weiter ausbreiten. In der Ferne hörte man Sirenen.

Bevor er das Tor öffnete, hielt Indy kurz inne.

»Ich denke, jetzt heißt es Abschied nehmen. Sie müssen gehen«, sagte er.

»Ich denke auch«, meinte sie.

»Es sei denn ...«, begann er.

»Nein. So ist es vernünftiger. Was dort hinten geschehen ist -«

»Der Kuß -«

»Richtig«, sagte sie und strich sich das Haar aus den Augen. Das Gewicht des Vorhersagesteins in ihrer Handtasche spürte sie ganz deutlich. »Hören Sie, das hat nichts bedeutet. Das war impulsiv, dumm. Vergessen Sie's.«

»Ja.«

Er öffnete den Sack. »Sie möchten bestimmt Ihre Voy-nich-Kopie zurückhaben.«

»Nein. Behalten Sie sie. Sie werden sie noch brauchen.«

Er machte das Tor auf.

Zusammen schlichen sie unter dem handgemalten Schild durch, dem keiner der beiden Beachtung schenkte. Darauf stand die Warnung: JONES' SCHROTTPLATZDURCHGANG VERBOTEN - BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR.

Indy wandte sich nach Osten. Alecia zögerte einen Augenblick und starrte verloren auf seinen Rücken. Ihr Gesicht war leicht gerötet, was nicht allein der Hitze der Explosion zuzuschreiben war. Indy marschierte davon, ohne einen Blick nach hinten zu werfen. Alecia hängte ihre Handtasche um, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung Westen.

Ein Feuerwehrauto jagte die Straße hinunter.

»Verfluchter Yankee«, flüsterte sie mit sanfter Stimme.

An der nächsten Ecke blieb sie unentschlossen stehen. In welche Richtung sollte sie gehen? In ihre Wohnung zurückzukehren, stand außer Frage. Wieder ihre Arbeit im British Museum zu verrichten, kam ihr absurd vor, zumal die Faschisten sie dort zuerst suchen würden. Nach kurzer Überlegung kam sie zu dem Ergebnis, daß sie sie doch finden würden, egal, wohin sie ging. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Flucht nach vorn anzutreten und dorthin zu gehen, wo man sie am wenigsten vermutete: nach Rom. Dort konnte sie sich wenigstens auf die Suche nach Alistair machen.

Und dann ging sie zur Themse.

Загрузка...