KAPITEL DREI. Herrscher der Lüfte

Auf dem schmalen Bett des gemieteten Zimmers lag Indy gedankenversunken und wartete auf den Anbruch der Dämmerung. Müde wie er war, konnte er dennoch keinen Schlaf finden - immer wieder mußte er an die bewaffneten Männer in grauen Uniformen denken, an Sarducci mit seiner vernarbten Glatze und dem funkelnden Eckzahn aus Gold. Wo ist die Verbindung, fragte er sich, zwischen den Männern im Flugboot und dem Voynich-Manuskript? Indy beschlich eine Vorahnung, daß er in eine Sache hineingezogen wurde, zu der ein kühlerer oder vernünftigerer Kopf Abstand gesucht hätte. Aber wie üblich siegte die Neugier über seinen Verstand, und auf einmal drängte es ihn, die verlorene Zeit wettzumachen. Als es kaum dämmerte, war er rasiert, angekleidet und bereit aufzubrechen.

Als er die Tür zum Flur öffnete, hörte er Schritte, die sich auf der Treppe nach unten bewegten, gerade so, als ob er jemanden überrascht habe. Er lief die Stufen hinunter und schaute in beide Richtungen, aber der Bürgersteig war wie ausgestorben.

Den Zimmerschlüssel schob er unter Cadmans Ladentür hindurch. Bei Tageslicht kehrte sein Orientierungsvermö-gen zurück, welches ihn vergangene Nacht so kläglich im Stich gelassen hatte. Wenn er einen Block nach Süden und dann nach Osten abbog, mußte er seiner Einschätzung nach auf Penn Station treffen, der gleich drei Straßenblocks einnahm. Er hatte vor, sein Gepäck zu holen, die Kleider zu wechseln und sich dann auf die Suche nach den Faschisten mit dem großen Flugzeug zu machen. Er sah keinen Sinn darin, sich mit dem FBI oder dem Militärischen Abschirmdienst in Verbindung zu setzen, bevor er nicht mehr über das wußte, womit er nun zu tun hatte ...

Die massiven dorischen Säulen von Penn Station erinnerten an einen riesigen römischen Tempel, den man im Herzen von Manhattan errichtet hatte. Die zum Haupteingang führende Treppe war aus dem gleichen cremefarbenen italienischen Stein, der beim Bau des Colosseums verwendet worden war. Indy eilte die Stufen hinunter, an den langen Arkaden entlang, in denen Geschäfte und Verkaufsstände untergebracht waren, zur großen Wartehalle, die einem römischen Bad nachempfunden war. Die Schienen verliefen unter der Erde, und Indy konnte das leise Rumpeln der Lokomotiven spüren, die den Bahnhof verließen. Er kämpfte sich durch die gehetzte Menschenmenge zu den Schließfächern vor, wo sein Koffer und sein Ledersack verstaut waren.

Nachdem er in der Herrentoilette seine getragene Kleidung gegen khakifarbene Arbeitsklamotten ausgetauscht hatte, kam draußen im Wartesaal ein Zeitungsjunge mit der Morgenausgabe des New York Journal an ihm vorbei. »Balbos Luftstreitflotte zieht triumphierend ab«, rief der Junge. »Auf dem Weg nach Europa.« Eine Ausgabe hielt er hoch über den Kopf. Auf einer vier Spalten breiten Fotografie war eine Staffel großer Flugzeuge zu sehen.

»Eine Zeitung, Mister?« fragte der Junge.

Indy bezahlte die Ausgabe.

»Wann ist all das passiert?« fragte er den Zeitungsjungen. »Wie lange haben sich die italienischen Flugzeuge in Amerika aufgehalten?«

»Gütiger Gott, Mister, waren Sie im letzten Monat in einer Höhle versteckt?«

»So könnte man es auch sagen«, meinte Indy. »Aber eigentlich war es ein unterirdischer Tempel und keine Höhle, und die meiste Zeit habe ich im Dschungel zugebracht, auf dem Hin- und Rückweg zu diesem Tempel.«

»Sie sind komisch«, sagte der Junge und rannte davon.

Indy stellte das Gepäck ab, zog seine Brille aus der Brusttasche seiner Lederjacke und las, reglos in der wogenden Menge stehend, den Artikel durch.

Kaum hatte er die Meldung gelesen, griff er nach seinem Gepäck und eilte zu einer Reihe Münzfernsprecher. Glücklicherweise war eine Kabine frei. Er warf ein Zehncentstück in den Schlitz und suchte seine Taschen nach der Visitenkarte ab, die Manly auf seinen Schreibtisch gelegt hatte.

»Ja, hallo, nur einen Augenblick, bitte.« Die Karte mit der Nummer steckte in seiner Brieftasche. »Danke, ich werde warten ... Major? Hier spricht Jones. Wie schnell können sie mich auf die andere Seite des Atlantiks bringen?«

Das Luftschiff U.S.S. Macon war ein silberner Torpedo, zweieinhalbmal so lang wie ein Fußballfeld. Seitlich konnte man die vertrauten Embleme der Luftflotte, ein Stern in einem Kreis, erkennen. Die >Schwanzflossen< waren in Rot, Weiß und Blau gehalten. Die amerikanische Flagge flatterte im Wind. Das Taxi, das unter den Luftschiffrumpf auf dem U.S. Naval Flugplatz in Lakehurst, New Jersey, rollte, schien daneben so klein wie ein Kinderspielzeug.

Die Macon war aus dem riesigen, kokonartigen Hangar gezogen worden und begann langsam gen Himmel aufzusteigen, für ihren Jungfernflug über den Atlantik. Die Marine erlaubte nicht, daß die Abflugzeit wegen eines zivilen Passagiers verschoben wurde, obwohl sie widerwillig zugestimmt hatte, ihn mit an Bord zu nehmen - »falls der Mann rechtzeitig eintreffen würde«.

Indy war aus dem Bahnhof gestürzt und hatte sich in einen großen Plymouth gesetzt, dem seiner Meinung nach schnellsten Fahrzeug in der Reihe der Taxis, die in der Kurve warteten. Dem Taxifahrer hatte er eine Handvoll Geldscheine in die Hand gedrückt - alle Banknoten, über die er noch verfügte - und hatte ihm befohlen, Gas zu geben. In weniger als einer Stunde und fünfzehn Minuten legte der Taxifahrer die Strecke nach Lakehurst zurück, was angesichts des morgendlichen Verkehrs eine Meisterleistung war. Noch bevor der Wagen mit quietschenden Reifen auf dem dunklen Asphalt stehenblieb, griff Indy nach seinem Gepäck und sprang zur Tür hinaus.

»Was, kein Tip?« rief ihm der Fahrer mürrisch hinterher.

»Immer blinken, bevor Sie abbiegen«, rief Indy ihm zu.

Ein Armeefahrzeug parkte unter dem Luftschiff, und ein fröhlich dreinblickender Lieutenant kam um den Wagen herumgelaufen, um Indy in Empfang zu nehmen. In Händen hielt er einen dicken braunen Umschlag.

»Dr. Jones«, sagte er. »Der Major hat mir aufgetragen, Ihnen das hier auszuhändigen.«

»Danke.« Indy stopfte den Umschlag in seine Jacke.

Gruppen von Matrosen, die Vertäuungsseile festhielten, führten einen eigenwillig anmutenden Walzer quer über das Rollfeld auf, als die Macon auf den Windböen schwebte. Dann wurden die acht in Deutschland hergestellten Maybach-Motoren eingeschaltet. Dunkle Rauchwolken quollen aus den Außenbordabgasrohren. Das Luftschiff war noch keine hundert Meter aufgestiegen, aber die Luftströmung von den großen Propellern riß Indy beinahe den Hut vom Kopf. Von nun an hielt er den Fedora fest.

»Es tut mir leid, daß Sie es nicht rechtzeitig geschafft haben«, meinte der Lieutenant. Indy blickte zum Himmel hoch. Das Luftschiff blendete die Sonne aus und tauchte den Flughafen in ein unnatürliches Zwielicht, was durch den feinen Sprühnebel, der schon den ganzen Morgen fiel, verstärkt wurde. Unter der Macon war es allerdings staubtrocken. Das Luftschiff, dessen Motoren nun arbeiteten, stieg langsam auf. Auf Befehl ließen die Matrosen die Vertäuungsseile los. Das Brummen der Motoren schwoll ein wenig an, als die außen angebrachten Propeller, die sich um neunzig Grad drehen konnten, sich für den vertikalen Abflug nach oben richteten.

»Weg ist das Luftschiff aber noch nicht«, sagte Indy.

Er zögerte einen Moment. Ein Dreigespann kräftiger Matrosen kämpfte mit der Vertäuung, die von der Nase des Luftschiffes herunterbaumelte, und wartete auf das Kommando, loszulassen.

»Ich weiß jetzt schon, daß ich das noch bereuen werde«, sagte Indy.

Seinen Koffer umklammernd, sprintete er über den Flughafen, während der Lieutenant sein Treiben mit offenem Mund beobachtete. Nun wurde über Megaphon der Befehl gegeben, die vorderen Seile loszulassen, und die drei Matro-sen folgten der Aufforderung, den Giganten in die Freiheit zu entlassen. Das Seil schleifte ein paar Meter über den Rasen, ehe das verknotete Ende ein paar Fuß über dem Erdboden hing.

Indy rannte schneller.

Er zog den Hut tief in die Stirn und griff mit der rechten Hand nach dem Seil.

Doch das Seil schien ein Eigenleben zu führen.

Indy wurde hochgerissen. Die Spitzen seiner Schuhe schliffen Furchen in die Erde, während ihn das Gefühl beschlich, ihm wolle jemand den Arm aus dem Schultergelenk reißen. Dann baumelten seine Füße in der Luft. Er warf den Koffer weg und klammerte sich rasch auch noch mit der linken Hand an das Seil.

Der Koffer schlug auf den Boden und platzte auf. Durch den Luftstrom aus den Propellern tanzten seine Kleider über den Flughafen. Der Boden fiel unter ihm weg, und sein Herz machte einen Sprung, als er feststellte, daß er nun schon zu weit oben war, um noch loszulassen. Das Seil war vom Regen naß, und er rutschte ein paar Zentimeter nach unten, bevor er fester zupackte. Die Erinnerung an ein grobkörniges Foto zweier junger Seemänner, die den Tod gefunden hatten, nachdem sie sich in San Diego an den Vertäuungsseilen eines Luftschiffs festgeklammert hatten, heizte seinen Überlebenstrieb an. Eine Handbreit um die andere zog er sich nach oben, bis er das Seil um die Knöchel winden konnte. Sein linker Schuh löste sich und fiel nach unten. Es kostete Indy einige Mühe, nicht nach unten zu schauen.

Erstaunte Gesichter verfolgten durch die vorderen Fenster der Passagiergondel sein waghalsiges Manöver. Als der Flugingenieur und der Navigator sich kurz darüber stritten, ob das Luftschiff auf die Erde zurückkehren sollte, war die Konfusion perfekt.

»Nein», sagte Kommandant Alger Dresel und beharrte darauf, den Kurs beizubehalten. »Der Wind ist zu stark für dieses Terrain. Wir würden ihn durch die Baumkronen ziehen oder die Schuld daran tragen, wenn er gegen eine Hausmauer knallt. Dieser Narr hat eine größere Chance, wenn wir ihn sich selbst überlassen.«

Der Pilot nickte zustimmend.

»Schaffen Sie ein paar Männer nach vorn. Sie sollen ihn hochziehen«, ordnete Dresel an.

Indy arbeitete sich am Seil hoch.

Zweihundert Fuß trennten ihn vom Schiffskörper der Macon. Seine Arme schmerzten höllisch, aber ihm blieb keine andere Wahl als weiterzumachen. Die Matrosen, die ihn von der Kurbelplattform aus im Auge behielten, konnten ihm nicht helfen, weil die Vertäuungsseile außerhalb ihrer Reichweite lagen.

Auf halber Strecke legte Indy eine kurze Verschnaufpause ein. Sein Gewicht verlagerte er allein auf die Beine, um die Arme und Schultern kurz zu entlasten. Dann zwang er sich, weiterzumachen. Schließlich gelangte er auf gleiche Höhe mit dem Boden des Schiffsrumpfs, doch wegen der Zigarrenform der Macon lagen immer noch ein paar Meter zwischen ihm und der Steuerbordseite. Mittlerweile regnete es richtig. Er schüttelte den Kopf, als ihm die Regentropfen in die Augen liefen. Auf der Suche nach einer Einstiegsluke oder einem Fenster ließ er den Blick über den Körper des Luftschiffs schweifen, doch die silberne Außenhülle der Macon war wie aus einem Guß.

Er kletterte weiter.

Nun hatte er wirklich nur noch ein paar Meter zu über-winden. Unerwarteterweise neigte sich der Gigant leicht nach Backbord. Der Pilot arbeitete ganz sanft am Steuermechanismus. Indy wurde gegen den Rumpf gedrückt.

Mit einer Hand griff er nach der gewachsten Stoffhaut des Riesen. Er suchte nach einer Möglichkeit, sich festzuhalten, aber die Oberfläche war zu glatt und schlüpfrig. Voller Verzweiflung zog er das Taschenmesser hervor, klappte es mit den Zähnen auf und hieb die Klinge, so fest er konnte, in die Schiffsseite. Die Spitze durchbohrte den Stoff. Instinktiv zuckte er zusammen, weil er erwartete, daß nun Gas aus der Öffnung drang, aber nichts passierte. Mit aller Kraft schob er das Messer tiefer hinein und machte einen drei Fuß langen Schlitz.

»Da ist er!« rief jemand im Innern.

Eine Hand griff durch den Schlitz, packte die Vorderseite seiner Lederjacke und zog ihn hinein. Erst dann ließ Indy das Seil los. Am Schlitz hatte der Stoff eine Struktur wie Schleifpapier. Beim Durchrutschen schürfte er sich die linke Wange auf.

Nun befand er sich im Aluminiumträger-Labyrinth der Steuerbordrampe, die an der Seite durch den ganzen Schiffsrumpf lief. Über seinem Kopf hingen die großen Heliumzellen.

Eine Gruppe Männer stand über ihm.

»Na, nicht schlecht die Nummer«, rief der breitschultrige Matrose, der ihn reingezogen hatte. »Das hat bisher noch niemand geschafft. Mister, Sie müssen aber echt scharf darauf gewesen sein, mit einem Zeppelin zu fliegen.«

Indy wollte eigentlich sagen, daß es für alles immer ein erstes Mal gab, war aber nicht in der Lage, die Worte über die Lippen zu bringen. Er bebte am ganzen Körper und spürte seine Hände nicht mehr. Schwerfällig berührte er mit dem Handrücken sein Gesicht und inspizierte die Blutstropfen, die von den Schürfwunden stammten. Dann betrachtete er seine Handflächen. Sie bluteten und waren wund.

»O'Toole, lassen Sie das Gequatsche«, fauchte der Mannschaftsleiter. »Und unterlassen Sie es in Zukunft, mein wunderschönes Luftschiff mit einem stinkenden, brennenden, hydrogen-gefüllten Zeppelin zu vergleichen.«

»Tut mir leid, Chef.«

»Schaffen Sie ihn in eins der Quartiere hinunter und sorgen Sie dafür, daß er sich waschen kann«, ordnete der Mannschaftsleiter an. »Der Kommandant möchte ihn zu Gesicht kriegen. Und Sie beide, fangen Sie an, das Loch zuzunähen. Man stelle sich nur vor, ein Zivilist schneidet die Hülle meines nagelneuen Luftschiffs auf.«

O'Toole half Indy auf die Beine und führte ihn die Gangway zu den Mannschaftsquartieren hinunter. Er sorgte dafür, daß er sich in eine Koje legte und schenkte ihm eine Tasse starken heißen Kaffee ein, während Indy sich aus seinen nassen Klamotten schälte. Der Matrose brachte ihm Handtücher und eine saubere Latzhose und machte sich dann auf die Suche nach dem Erste-Hilfe-Kasten.

»Tut es weh?« fragte O'Toole, als er Indys Handflächen mit Jod behandelte.

»Ich kann sie nicht spüren«, antwortete Indy.

»Das kommt schon noch.« O'Toole legte Indy Verbände an und schüttete ein paar Tabletten aus einem Medizinfläschchen. »Hier, nehmen Sie ein paar Aspirin.«

Die Tabletten waren kalkig und blieben in Indys Hals stecken, und er mußte gleich zweimal einen großen Schluck Kaffee nachtrinken, um sie runterzuspülen. Sofort begann der Kaffee ein Feuer in seinem Magen zu entfachen.

»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.«

»Nicht der Rede wert«, entgegnete O'Toole. »Ich weiß, wie es ist, wenn man an einem Seil unter dem Zeppelin -Luftschiff meine ich natürlich - hängt und ums Überleben kämpft. Vor ein paar Monaten war ich an Bord der Akron. Zerschellte auf dem Wasser und sank innerhalb von drei Minuten.«

»Ich habe darüber gelesen«, sagte Indy.

»Es war nachts, während eines Gewitters, und die See war kalt«, fuhr O'Toole fort. »Siebenundsechzig Männer sind an Bord gewesen. Und nur drei haben überlebt.«

»Was ist passiert?« fragte Indy. »Ich meine, wieso sind Sie abgestürzt?«

»Unsere Höhenruderkabel haben sich gelöst. Und dann stimmte auf einmal mit dem Höhenmesser was nicht - wir glaubten auf achthundert Fuß zu sein, während unser Heck aufs Wasser prallte. Die Untersuchungskommission der Marine kam zu dem Ergebnis, daß ein eigenwilliges Tiefdruckgebiet die Instrumente durcheinandergebracht hat, aber davon bin ich nicht überzeugt, denn achthundert Fuß ... das ist ja ein beträchtlicher Irrtum.«

Indy nickte.

Neugierig blickte er sich in der Kabine um. In O'Tooles Koje lag ein Fanghandschuh, und unter der Matratze schaute der weiße Piniengriff eines Baseballschlägers hervor.

»Sind Sie Baseball-Fan?« fragte Indy.

»Aber sicher!« rief O'Toole und zog den Schläger, einen echten Louisville Slugger, heraus. »Ich spiele, wann immer sich mir die Möglichkeit bietet. Auf dem Hangardeck ist genug Platz, aber die Bälle verschwinden manchmal auf Nimmerwiedersehen. Das hier ist mein Liebling, Thunder Stick. Hat mich noch nie im Stich gelassen.«

Es klopfte an der Kabinentür.

O'Toole küßte den Schläger und schob ihn wieder unter die Matratze.

Kommandant Dresel kam herein. O'Toole nahm die Grundstellung ein und salutierte. Dresel erwiderte den Salut.

»Wieder an die Arbeit, Matrose.«

»Aye, Sir«, sagte O'Toole. Bevor er die Kabine verließ, zwinkerte er Indy noch zu.

»Dr. Jones«, begann Dresel und setzte sich auf das Bett ihm gegenüber. »Falls Sie vorhaben sollten, noch so etwas in der Art wie heute morgen durchzuziehen, werde ich mich gezwungen sehen, Sie von Bord zu schmeißen - und wenn das in einem kleinen Schlauchboot mitten auf dem Atlantik sein muß. An Bord meines Schiffes hat großspuriges Verhalten keinen Platz.«

»Kommandant«, sagte Indy, »ich möchte mich für meinen unorthodoxen Zustieg entschuldigen, aber es war von größter Wichtigkeit, daß ich an Bord dieses Schiffes gelange. Ich arbeite mit dem Militärischen Geheimdienst zusammen, und Major Manly hat mir Ihre Kooperation zugesichert.«

»Die Armee«, meinte Dresel mit säuerlicher Miene.

»Ja, Sir.«

»Wieso diese Eile, Jones? Sie hätten sicherlich eine andere Passage über den Atlantik buchen können. Soweit ich weiß, sind Passagierschiffe sehr gut darin, wenn es darum geht, Fahrpläne einzuhalten.«

»Es gibt aber kein Schiff, das mich innerhalb von achtundvierzig Stunden über den Atlantik bringen könnte«, erwiderte Indy. »Sie möchten wissen, warum ich es so eilig habe? Nun, es geht um eine internationale An-gelegenheit - die in Europa schon seit einiger Zeit schwelt.«

Dresel grunzte.

»Während Sie an Bord meines Schiffes sind«, sagte der Körnmandant, »stehen Sie unter meinem Kommando. Unter gar keinen Umständen dürfen Sie das Schiff oder die Mannschaft unautorisiert durch Aktivitäten Ihrerseits in Gefahr bringen. Sie werden sich der Mannschaft anschließen und in dieser Kabine schlafen, aber Sie werden sich zusammenreißen. Haben Sie das verstanden?«

»So ziemlich.«

»Sind Sie bewaffnet?«

»Wie bitte?«

»Sie haben schon verstanden. Tragen Sie eine Waffe?«

»Nun, ja, Sir«, antwortete Indy. Sein neuer Webley Revolver lag in seinem Ledersack.

»Händigen Sie sie mir aus«, ordnete Dresel an. »Ich werde sie in den Safe in meiner Kabine legen, bis Sie von Bord gehen. Dann kriegen Sie die Waffe zurück.«

Indy kramte den Revolver hervor und entnahm ihm die Patronen. Er hielt es für besser, die Peitsche nicht zu erwähnen. Waffe und Munition reichte er Dresel.

»Der Kontrollraum und der Luftschiffhangar dürfen nicht betreten werden. Ansonsten können Sie sich überall auf dem Schiff aufhalten«, sagte Dresel. »Manly hat mir erzählt, daß Sie auf dem Weg nach London sind. Planmäßig landen wir dort nicht, aber ganz in der Nähe. Den Rest der Reise werden Sie in einer Sparrowhawk zurücklegen, die Sie unten absetzt und später zum Schiff zurückbringt.«

»Weiter an Rom ranbringen können Sie mich nicht?« fragte Indy.

»Die letzten tausend Meilen dürften kein Problem sein«, erwiderte Dresel, »für jemanden, der so einfallsreich wie Sie vorgeht. «

»Sagen Sie mir, Kommandant«, meinte Indy, »die Akron - war sie der gleiche Bautyp wie die Macon?«

»Ja. Die Akron ist früher gebaut worden und ist achtzehn Monate geflogen«, sagte Dresel. »Es ist der gleiche Typus, aber die Gaszellen der Macon sind neu und aus GelatineLatexstoff. Sie sind, wie Sie sicherlich wissen, mit Helium gefüllt - die USA haben sich daran ein Marktsegment gesichert -, und die Macon kann nicht explodieren, wie das bei Hydrogen der Fall ist, das die Deutschen für ihre Luftschiffe verwenden müssen. Machen Sie sich etwa wegen der Lufttauglichkeit der Macon Sorgen?«

»Nein, Sir. Ich war nur neugierig.«

»Die Macon ist das neueste und beste Luftschiff der Marine und zufälligerweise auch das größte der Welt«, betonte Dresel »Wir können eine Höchstgeschwindigkeit von fünfundachtzig Meilen pro Stunde erreichen und eine Strecke von zehntausend Meilen zurücklegen. Im Hangar unter uns steht eine Schwadron von Curtiss Sparrowhawk Kampfflugzeugen, die extra dafür umgerüstet worden sind, daß sie während des Fluges starten und landen können. Das funktioniert mit einem Trapez-Mechanismus. Und es gibt sogar eine Art Warteplatz für Flugzeuge, die nacheinander starten. Wir fungieren für die Marine sozusagen als >Augen am Himmel<, und mit unserem verbesserten Design können wir auf gar keinen Fall untergehen.«

»Auf gar keinen Fall untergehen?« wiederholte Indy.

»Nein.«

»Das hat man über die Titanic auch gesagt.«

Dresel lächelte.

»Hier oben gibt es keine Eisberge.«

Mit einer zweiten Tasse Kaffee aus der Messe kehrte Indy in die Kabine zurück und nahm den Brief, den Manly ihm zugesandt hatte, aus seiner Mappe. Seine Hände schmerzten nun, deshalb fiel es ihm schwer, den versiegelten Umschlag zu öffnen. Die innenliegenden Dokumente trugen rote Stempelaufdrucke: GEHEIM. Obenauf lag eine glänzende Schwarzweiß-Fotografie von Sarducci und Benito Mussolini. Die Hand des Duce lag steif auf Sarduccis Schulter. Angeheftet an die Fotografie war eine handgeschriebene Notiz von Manly.

Hier ist Ihr Mann. Es ist ein brillanter, aber wahnsinniger Renaissance-Gelehrter, der nun für die OVRA, Mussolinis Geheimpolizei, arbeitet. Sarducci ist ein Ultra -Faschist, der nach dem Motto >Gewalt ist die beste Ausdrucksform von Kreativität handelt. Viel Glück - und seien Sie vorsichtig.

Indy blätterte das restliche Informationsmaterial durch und studierte ein Dossier über Sarducci aufmerksam.

Sarducci, Leonardo. Italienischer Minister für das Altertum unter Benito Mussolini. Am 31. Oktober 1892 als Sohn einer Bauernfamilie in Fascati, Italien, geboren. Hat die staatliche Schule besucht und an der Sorbonne stu -diert, ist aber beim mündlichen Examen über die Literatur der Renaissance durchgefallen, weil er sich geweigert hat, sich der Autorität seines französischen Professors unterzuordnen. Hat später den Doktortitel von der Universität von Rom erhalten. Heiratete 1913 Mona Grimaldi. Hat in Rom an der Universität bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges unterrichtet. Dann schloß er sich der italieni-sehen Armee als Hauptmann an. Hat im Schützengraben eine beinah tödliche Kopfverletzung erlitten. Kehrte nach seiner Entlassung nach Rom zurück. Unterdessen war seine Frau Mona während der Geburt an Blutvergiftung gestorben. Dieses Trauma, in Verbindung mit den mentalen Problemen, die von der Kopfverletzung herrührten, _ führte zu einer schweren Persönlichkeitskrise. Er begann öffentlich die Wissenschaft und Medizin zu kritisieren, was in einen brutalen Angriff auf den Mediziner mündete, der während der Entbindung sein er Frau zugegen gewesen war. Nachdem er den Arzt unter Drogen gesetzt hatte, hackte er ihm die Hände mit einem Fleischerbeil ab und behauptete, daß er sie offensichtlich nicht brauchte, da er sie zwischen den Untersuchungen zweier Patienten ohnehin nie wusch. Sarducci brachte die Jahre 1918 bis 1921 in einem Gefängnis ^ für kriminelle Geisteskranke zu, wo er seine Zeit damit verbrachte, eine Abhandlung über das Wissen des Altertums und eine Verunglimpfung des modernen Intellekts zu verfassen, der er den schlagkräftigen Titel >Der Irrtum der Empirie< verlieh. In der anti-intellektuellen Bewegung der Faschisten war dieses Buch ein Bestseller. Mussolini lobte das Werk über alle Maßen und machte aus Sarducci eine Art Volksheld, weil er an dem Doktor, der seiner Meinung nach die Schuld am Tod seiner Frau trug, Rache genommen hatte. Sarducci wurde nach Mussolinis Machtergreifung im Jahre 1922 aus dem Gefängnis entlassen und entwickelte sich zu einer Kultfigur mit außerordentlicher Macht innerhalb der ^ faschistischen Bewegung. 1927 wurde er zum Minister für Altertum ernannt und war ab dann so etwas wie der geistige Führer der_ faschistischen Agitation gegen die Sozialisten, Kommunisten, Katholiken, Liberalen und Intellektuellen.

Indy stieß einen Pfiff aus.

Es gab noch eine andere, kurze Akte über Italo Balbo, den geistigen Übervater der italienischen Flugzeugarmada, die den Atlantik überquert und Chicago und New York einen Besuch abgestattet hatte. Balbo war 1929 von Mussolini zum Luftfahrtsminister ernannt worden. Er hatte 1923 die italienische Luftwaffe ins Leben gerufen und 1930 Demonstrationsflüge nach Brasilien und kürzlich ähnliche Flüge in die Vereinigten Staaten organisiert. Balbo nannte seine Eliteeinheit atlantici. Diesen Männern eilte der Ruf voraus, die am besten trainierten Flieger Europas zu sein. Bal-bos Armada, bestehend aus vierundzwanzig SIAI-Marchetti SM.55A Flugzeugen (und Balbos persönlicher Maschine, einer SM.55X Experimental mit der Bezeichnung I-Balb), hatte eine transatlantische Tour durchgeführt, auf deren Route auch Chicago und New York lagen. An diesem Morgen um 5 Uhr 25 war die Flugzeugstaffel von Coney Island aus in Richtung Italien gestartet.

Balbo war bei jedem Streckenabschnitt mit Preisen und Ehrungen überhäuft worden. Auf dem Broadway war extra für ihn eine Parade inszeniert worden. Bei dieser Gelegenheit hatte er sich mit einer Rede im Madison Square Garden an sechzigtausend Zuschauer gewandt. »Italiener in New York«, hatte er ausgerufen, »Mussolini hat der Ära der Beleidigungen ein Ende gesetzt. Nun ist es wieder eine Ehre, Italiener zu sein. Respektiert unsere Flagge und das Sternenbanner. Unsere beiden Nationen, die in der Vergangenheit nie getrennt gewesen waren, haben nie enger zusammengestanden, und sie werden auch in der Zukunft nicht getrennt werden.« Balbo hatte mit Präsident Franklin Roosevelt im Weißen Haus zu Mittag gegessen. Seine Popularität daheim und in Übersee hatte Mussolinis Eifersucht geschürt - zumal man eine der großen Straßen in Chicago nach ihm zu benennen gedachte -, und es gab Gerüchte, daß der Duce mit dem Gedanken spielte, ihn bald ins Exil zu schicken, als Gouverneur von Libyen oder einer anderen italienischen Kolonie in Nordafrika.

Auf einer Fotografie war die I-Balb mit folgender Information abgelichtet: SM.55X. Langstreckenflugzeug. Antrieb: zwei 12-Zylinder Motoren, wassergekühlt, mit achthundert PS. Flügelspannweite: 78 Fuß, 9 Inch. Länge: 54 Fuß. Gewicht: 22 000 Pfund. Besatzung: vier. Reichweite: 2400 Meilen. Die Zahlen schienen vor Indys Augen zu verschwimmen, als er den letzten Satz las: Fluggeschwindigkeit: 149 Meilen pro Stunde. Indy fluchte laut vor sich hin.

Er sah die Unterlagen durch, bis er eine Karte fand, auf der die Flugroute der Armada eingezeichnet war. Anstatt direkt von New York nach Rom zu fliegen, was außerhalb der Reichweite der SM.55-Maschinen lag, hielten sie sich an den Küstenverlauf Nordamerikas, um in Neuschottland aufzutanken. Von dort aus traten die Italiener einen gefährlichen, 1700 Meilen langen Flug zum Auftanken nach Pon-ta Delgada an, einer Insel im Nordatlantik. Und von dort aus ging es 1000 Meilen weiter nach Lissabon. Auf dem letzten Streckenabschnitt quer über das Mittelmeer in Richtung Rom waren weitere 1400 Meilen zurückzulegen.

»Die sind schneller als wir«, sagte er laut. »Aber dafür müssen sie zweimal zum Auftanken landen, während wir in einem Rutsch durchfliegen.«

Indy machte es sich in der Koje bequem und begann nachzudenken. Das leise Brummen der Motoren war ihm angenehm. Daß sie sich fortbewegten, spürte er nicht. In dieser Kabine war es genauso ruhig wie in seinem Bett in dem kleinen Mietshaus in der Chestnut Street in Princeton ...

Irgend etwas riß Indy aus schweren Träumen. Vielleicht das Absinken in ein Luftloch oder ein gedämpftes Quietschen. Blitzschnell setzte er sich auf, hielt in der Dunkelheit die Hände hoch und berührte sein Gesicht, als müsse er sich versichern, daß sie immer noch da waren. Wie erschlagen stolperte er zum Kabinenfenster. Der Mond schimmerte am dunklen Nachthimmel. Unter ihm lag die glitzernde See. Ein phosphoreszierendes V, das auf geheimnisvolle Weise von einem Schiff hervorgerufen wurde, zeichnete sich auf der Wasseroberfläche ab. Es konnte sich dabei nur um aufgeschäumtes Kielwasser handeln. Im Osten lauerte eine Sturmfront. Neonpinkfarbene Blitze leuchteten für Sekundenbruchteile zwischen den dunklen Wolken auf.

»Sind Sie in Ordnung, Professor?« erkundigte sich O'Toole und steckte den Kopf durch die Kabinentür.

»Ich glaubte, etwas gehört zu haben«, sagte Indy. »Irgendwo hat es geklopft.«

»War bestimmt nur ein Luftstoß«, beruhigte O'Toole ihn. »Wir halten auf einen Sturm zu.«

Indy nickte.

»Hungrig?« fragte O'Toole. »Sie haben das Abendessen verschlafen.«

»Ich könnte ein Pferd verschlingen«, erwiderte Indy. Er sammelte die Berichte des Militärischen Geheimdienstes zusammen, verstaute sie in seinem Sack und warf ihn über die Schulter. Dann folgte er O'Toole in die Messe.

»Wo sind wir?« Er fiel über einen Teller mit Speck und Bohnen her.

»Mitten über dem Atlantik. Noch nicht ganz die Hälfte haben wir hinter uns. Das Wetter wird sich verschlechtern und somit verlängert sich auch unsere Flugzeit.«

»Sagen Sie mir, besteht momentan die Möglichkeit, die

Macon zu verlassen oder an Bord zu gehen?« fragte er zwischen zwei Bissen. »Ich meine, kann einer der Sparrow-heads landen oder starten?«

»Spielen Sie mit dem Gedanken, von Bord zu gehen?« wollte O'Toole wissen.

»Nein«, antwortete Indy. »Ich habe mir Gedanken über eine mögliche Sabotage gemacht. Die Macon scheint mir ein gut sichtbares Ziel zu sein, das nicht gerade schwer zu finden sein dürfte.«

»Nun, wir sind nicht in Reichweite eines Landfalls. Das würde kein Sparrowhead schaffen«, meinte O'Toole. »Mal angenommen, es befände sich ein Saboteur an Bord und er wollte mit einer der Sparrowhead-Maschinen türmen, dann müßte er dem Festland viel näher sein, als wir es im Augenblick sind. Anderenfalls müßte man sein Manöver mit einem Selbstmordversuch gleichsetzen.«

»Wie steht es mit anderen Flugzeugen?« fragte Indy. »Ich meine jetzt nicht die Sparrowheads, sondern eine andere Gattung. Könnte es der gelingen, zu uns vorzustoßen?«

»Unwahrscheinlich«, meinte O'Toole. »Da brauchte es schon einen erfahrenen Piloten, der in der Lage ist, auf dem Trapezmechanismus anzudocken. Und wir sind einfach zu weit vom Festland entfernt. Bislang gibt es noch kein kleines Flugzeug, das eine entsprechende Reichweite vorzuweisen hat.«

»Dann wäre also auch keins von Balbos Flugbooten dazu in der Lage?«

»Bestimmt nicht. Für so ein Unternehmen braucht man eine kleine Maschine, ein Kampfflugzeug.«

»Vielleicht einen Aufklärer.«

»Nun ... ja.«

»Manche Luftschiffe verfügen über Aufklärer, nicht wahr?«

»Nicht manche, sondern viele.«

Indy verließ den Tisch und trat an die Fenster längs der Bordküche. Die Macon durchflog eine Wolkenwand. Wann immer die Wolkenwand Lücken aufwies, konnte man noch das Kielwasser des Schiffes sehen.

»Können Sie mir sagen, was für ein Schiff das ist?« fragte

er.

O'Toole nahm ein Fernglas vom Fensterbrett und hielt es an die Augen. Ein paar Sekunden lang studierte er das Schiff, dann reichte er Indy das Fernglas.

»Ein mittelgroßes Kriegsschiff«, sagte er. »Um welchen Typ es sich handelt, kann ich nicht genau sagen.« Er ging zu einem Telefon am Schott.

»Hallo?« sagte er. »Sind Sie über den Verkehr zur See informiert? Wissen Sie, was für ein Kriegsschiff da unter uns liegt?« O'Toole legte die Hand über die Sprechmuschel. »Er fragt auf der Brücke nach ... Ja, ich bin dran. Ein italienischer Unterseeboot-Jäger? Richtig. Danke, Sir.«

»Unterseebootjäger verfügen über Aufklärer«, ließ Indy wissen. »Der Hangar liegt direkt unter der Bordküche und den Mannschaftsquartieren. Gibt es da eine Luke oder etwas in der Art?«

»Nein, nur ein großes Loch in Form eines Flugzeuges.«

»Wird der Hangar bewacht?«

»Wir hatten nie den Eindruck, daß das notwendig sei«, sagte O'Toole. »Das Hangardeck wird bei solcher Witterung gesichert. Menschen halten sich dann dort nicht mehr auf, weil das Risiko zu groß ist, daß jemand über Bord geht. Professor, meinen Sie, daß das Klopfen was zu bedeuten hat?«

»Ich habe keine Ahnung. Würde das jemand anderem als mir auffallen?«

»Vermutlich nicht«, meinte O'Toole. »Als das Heck der Akron auf dem Wasser aufschlug, haben wir das kaum gespürt. Das Luftschiff absorbiert Vibrationen bis zu einem bestimmten Punkt, es sei denn, man befindet sich direkt darauf.«

»Sie sollten das Hangardeck durchsuchen lassen«, schlug Indy vor.

»Der Kommandant wird sich nicht darauf einlassen, jedenfalls nicht bei solchem Wetter«, meinte O'Toole. »Er hält diese Idee garantiert für idiotisch. Und auch ich halte Ihren Vorschlag nicht gerade für einleuchtend.«

Indy grunzte.

»Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, was mir schon alles widerfahren ist«, sagte er. »Ich kann Sie nicht darum bitten, Ihren Befehlen zuwider zu handeln, aber ich kann ja nachsehen.«

»Aber, Professor, es wurde Ihnen doch gesagt, daß Sie da nichts zu suchen haben.«

»Ich habe einfach ein ungutes Gefühl«, entgegnete Indy. »Setzen Sie sich mit der Brücke in Verbindung und sagen Sie ihnen, daß ich Hilfe auf dem Hangardeck brauche.«

»Nein, das tue ich nicht«, sagte O'Toole. »Die häuten mich bei lebendigem Leib, wenn sie erfahren, daß ich Sie dort hingehen lasse.«

Indy verließ die Messe und stürmte die Treppen zum Hangardeck hinunter. Dort war es kalt. Er konnte niemanden sehen. Die fünf Sparrowheads waren in einem Halbkreis festgezurrt. Die Nasen waren zum Lagerraum des Luftschiffs ausgerichtet. Den Trapezhaken hatte man an einem Schienensystem unter der Decke festgemacht, mit dem die Flugzeuge in und aus dem Luftschiff geschwenkt wurden. Es sah nicht so aus, als ob ein Flugzeug unbeobachtet an der Macon andocken konnte.

Vorsichtig schritt Indy den Rand der Flugzeugöflnung ab. Er war sich nicht darüber im klaren, was er eigentlich suchte, hatte aber deutlich das Gefühl, daß er von jemandem beobachtet wurde. Er kniete sich vor den Lukenrand und spähte nach draußen, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen.

Plötzlich zerriß ein Blitz den Himmel und leuchtete wie ein riesiger Scheinwerfer den Bauch der Macon aus. Die Silhouette eines kleinen Flugzeuges, das achtern im Hangar auf einer Luftschiffwarteposition hing, brannte sich in Indys Netzhäute.

Grelle Tupfen tanzten vor seinen Augen.

Indy kroch nach hinten. Zur Sicherheit tastete er den Fußboden ab. Sehen konnte er nichts. Er schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen. Trotzdem war alles um ihn herum verschwommen.

Hinter seinem Rücken waren Schritte zu hören.

»O'Toole?« fragte Indy hoffnungsvoll.

Die Schritte kamen näher.

»Wer ist da?« fragte er.

»Eccomi, Dottore Jones!« sagte eine italienische Stimme. »Hier bin ich! Mein Name ist Mario Volatore. Sie haben meinen Bruder Marco getötet. Jetzt sind Sie an der Reihe zu sterben.«

Ein Stiefel erwischte Indy am Kinn und warf ihn auf den Rücken. Schwerfällig erhob er sich, aber ein Faustschlag auf die Schläfe sorgte dafür, daß er wieder am Boden lag.

»Es ist doch genial, wie wir unser Flugzeug modifiziert haben, damit es an Ihrem amerikanischen Luftschiff andocken kann, nicht wahr?« fragte Mario. »Wer hätte das gedacht? Wer würde das schon bei solch einem Sturm vermuten? Was für eine Tragödie! Sie werden sagen, daß es sich um einen Konstruktionsfehler handelte, genau wie bei dem zum Untergang verdammten Schwesternschiff Akron. «

Indy wappnete sich gegen den nächsten Schlag. Sein Sehvermögen kehrte langsam zurück, so daß er Marios Fuß, der sich rasend schnell seinem Gesicht näherte, erkennen konnte. Mit beiden Händen faßte er nach dem Fuß und verdrehte ihn. Mario fiel auf das Deck.

»Bravo!« rief Mario. »Sie möchten also kämpfen? Sehr ehrenwert!«

Mario war größer und stärker, als sein Bruder Marco es ge -wesen war. Ein dicker schwarzer Schnauzbart zierte seine Oberlippe. Er war ganz schwarz gekleidet. Er griff nach einem Schraubenschlüssel, den ein unachtsamer Mechaniker liegengelassen hatte.

Indy schlug ihm zweimal ins Gesicht, aber Marios Kopf bewegte sich kaum.

»Ah, Sie tragen Handschuhe«, sagte Mario. »Wie sportlich!«

Der Schraubenschlüssel beschrieb einen weiten Kreis. Indy zog den Kopf ein. Er spürte, wie der Luftzug seine Haare aufrichtete. Schnell wickelte er die Bandagen ab, in die beide Hände eingewickelt waren, und riß die Fäuste hoch.

Er verpaßte Mario zwei rechte, dann einen linken Haken. Man hörte ein lautes Schmatzen, als die Fäuste auf die nackte Haut trafen. Mario taumelte nach hinten und ließ den Schraubenschlüssel fallen.

»Hat Sarducci sich über Funk mit euch in Verbindung gesetzt und dafür gesorgt, daß ihr uns abfangt?« wollte Indy wissen.

»Aber sicher«, sagte Mario und schüttelte den Kopf. »Er war gar nicht erfreut, als er erfuhr, daß Sie nicht tot sind, weil er fürchtete, Ihnen während Ihrer kurzen Begegnung zuviel verraten zu haben.«

Mario rückte vor und täuschte einen linken Haken vor, ließ sich statt dessen aber auf den Boden fallen und stieß Indy mit seinen kraftvollen Beinen um. In einer Sekunde hatte er sich auf Indy gerollt und drückte ihn gegen den Hangarboden.

Dann zückte er eine automatische Pistole und hielt Indy die Mündung an den Kopf.

»Ich würde Sie ja erschießen, aber der Lärm würde die anderen alarmieren«, verriet er ihm. »So muß ich mich eben damit begnügen, Sie über Bord zu werfen. Aus dieser Höhe dürfen Sie ungefähr drei Minuten und fünfundvierzig Sekunden freien Fall genießen, ehe Sie ins Meer tauchen. Aber keine Sorge - Sie werden nicht ertrinken. Der Aufschlag aus dieser Höhe wird dafür sorgen, daß Sie gleich sterben.«

Mario kniete sich hin, drückte den Pistolenlauf in das weiche Fleisch unter Indys Kinn und drängte ihn zur Luke hinüber.

»Ich würde ja gern bleiben und kämpfen, aber anscheinend bleibt mir dazu keine Zeit.«

Mario verpaßte Indy einen Schlag mit dem Pistolengriff, worauf Indy in die Luke fiel. Mit der rechten Hand hielt er sich am Rand des Decks fest. So baumelte er einhändig über dem Meer. Wind und Regen peitschten über ihn hinweg.

Mario schaute auf seine Uhr.

»In fünf Minuten wird alles vorbei sein. Come si chiama - wie heißt es noch? - la bomba?« Mit der Stiefelsohle trat Mario auf Indys Knöchel.

»Was werden Sie während der vierminütigen Reise nach unten wohl denken ?« fragte er. » So kurz und doch eine ganze Ewigkeit! Werden Sie das Gesicht der Frau sehen, mit der Sie das letzte Mal geschlafen haben, oder werden Sie nach Ihrer Mutter oder Ihrem Vater rufen? «

Indy schaute Mario über die Schulter.

»O'Toole« rief er.

»Hinter mir ist niemand. Halten Sie mich für so einen -«, begann Mario. Das Wort Dummkopf kam ihm als undeutliches Grunzen über die Lippen, denn O'Toole schlug - so fest er konnte - mit seinem Louisville Slugger auf ihn ein. Marios Kopf klang so hohl wie eine Wassermelone. Die Waffe fiel ihm aus der Hand, als er mit dem Gesicht auf dem Hangarboden aufschlug. Er rührte sich nicht mehr.

»Heimsieg«, rief O'Toole erfreut. Er kickte die Waffe aus Marios Reichweite, kniete sich dann hin und zog Indy mit festem Griff in den Hangar zurück.

»Ist schon das zweite Mal, daß ich Sie reinziehen muß, Professor«, sagte O'Toole. »Was unterrichten Sie eigentlich, Zirkusakrobatik?«

»Es gibt eine Bombe«, keuchte Indy. »Uns bleiben weniger als fünf Minuten. Rufen Sie Dresel an und setzen Sie eine Suche in Gang. Sofort!«

Indy drehte Mario um und schlug ihm so lange ins Gesicht, bis er zu sich kam.

»Wo ist sie?« fragte er.

»An einem sehr guten Platz«, sagte Mario.

»Sagen Sie mir, wo!«

»Der Skipper ist unterwegs«, rief O'Toole vom Telefon herüber. Indy ballte die Hand zur Faust, aber der Blick aus Marios Augen verriet ihm, daß Gewalt nichts nützen würde.

Indy hob die Pistole auf und warf sie O'Toole hin.

»Passen Sie auf ihn auf«, sagte er und begann, die nähere Umgebung abzusuchen.

»Er kann sie überall im Schiff versteckt haben«, sagte O'Toole.

»Wir müssen trotzdem suchen«, entgegnete Indy.

Als Kommandant Dresel und seine Leute kamen, gingen alle Lichter an.

»Jones!« rief Dresel. »Was hat das hier zu bedeuten?«

»Es befindet sich eine Bombe an Bord«, sagte Indy.

»Wir haben diesen Mann hier gefunden«, warf O'Toole ein und richtete den Pistolenlauf auf Mario. »Aber er will uns nichts verraten.«

»Wie zum Teufel ist der an Bord gekommen?« wollte Dresel wissen.

»Wir haben keine Zeit für langatmige Erklärungen«, sagte Indy. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Uns bleiben noch etwa drei Minuten.«

Dresel setzte sich mit allen Schiffsebenen in Verbindung. Hörner ertönten, und aus den Gegensprechanlagen schallten knarzend Befehle, während die Suche lief. Das Durcheinander ließ Mario kichern.

»Sie haben nicht genug Zeit, um sie zu finden«, freute er sich.

»Dann werden Sie mit uns sterben«, meinte Indy.

»Gern.«

Lichtblitze zuckten durch den Himmel unter ihnen, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnergrollen. Dresel stand schweigend da und wartete mit auf dem Rücken verschränkten Händen. O'Toole stützte sich auf seinen Baseballschläger und zielte auf Mario, während er ängstlich zu Indy hinüberschaute.

»Zwei Minuten«, sagte Indy.

Dresel beäugte Mario mit angewiderter Miene.

»Diesen Befehl habe ich noch niemals zuvor gegeben«, sagte er. »Aber hier steht das Leben von siebenundachtzig Männern auf dem Spiel. Matrose O'Toole, prügeln Sie die Information aus ihm heraus.«

»Aye, aye, Sir.«

O'Toole schulterte den Schläger und ging auf Mario zu, der von zwei anderen Besatzungsmitgliedern festgehalten wurde. Mario drehte sich hin und her, riß sich los und sprang dann ins Leere.

Mit beiden Händen erwischte er den Trapezmechanismus und baumelte einen Augenblick lang daran, während er Indy und die anderen betrachtete. Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ er los.

»Spazio!« rief er und fiel nach unten.

»Einfach prima«, meinte Indy. »Skipper, falls Sie eine Bombe auslegen müßten, um die Macon zu zerstören, wo würden Sie sie hinlegen, wenn es wie ein Unfall aussehen soll?«

Dresel überlegte.

»Ich würde sie in den Schacht legen, in dem die Kontrollleitungen zum Schiffsende laufen. Damit würden die Ruder und die Fahrstühle stillgelegt. Und wir würden wie ein Stein ins Wasser plumpsen.«

»Und von wo aus macht man das?«

»Das ist nicht weit«, sagte Dresel. Er und O'Toole liefen schon los.

Als Indy sie einholte, im Gang hinter dem Hangardeck, kroch O'Toole mit einer Taschenlampe durch eine Inspektionsluke.

»Ich habe sie gefunden«, rief er.

Er reichte ein Bündel mit fünf Dynamitstangen heraus, die an einer schwarzen Schachtel fixiert waren. Dann begann er, die Drähte loszupflücken, aber Indy hielt ihn mit einem Ruf zurück.

»Wenn Sie die falschen ziehen, geht sie in die Luft«, erklärte er.

Der Matrose nahm die Bombe und rannte los.

Indy schaute abermals auf seine Uhr. Die Zeit war abgelaufen, aber es hatte keinen Sinn mehr, diese Information auszugeben. Ein paar Sekunden mehr oder weniger machten einen beträchtlichen Unterschied. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Atem anzuhalten.

Auf der Backbordseite ertönte eine Explosion.

»Gott sei Dank«, flüsterte Dresel.

»Ja, dem schließe ich mich an«, sagte O'Toole.

Indy atmete wieder.

Als sie ins Hangardeck der Macon zurückkehrten, war das unter dem Schiffsrumpf hängende Flugzeug verschwunden. Der Pilot hatte Mario seinem Schicksal überlassen, hatte sich ausgeklinkt und war geräuschlos im Sturm untergetaucht.

»Sie werden niemals in der Lage sein, bei so einem aufgewühlten Meer das Flugzeug zu finden«, vermutete Dresel. »Zu schade, denn ich hätte den Piloten nur allzugern den zuständigen Behörden ausgeliefert.« Dann drehte er sich um und schüttelte Indy die Hand.

»Jones, ich bin Ihnen für Ihr schnelles Handeln überaus dankbar, aber ich werde auch drei Kreuze schlagen, wenn Sie endlich mein Luftschiff verlassen. Überall, wo Sie auftauchen, scheint es Schwierigkeiten zu geben.«

»Um ehrlich zu sein, eigentlich ist das nicht so«, verteidigte sich Indy.

»Professor«, sagte O'Toole. »Was hat dieser Mistkerl gerufen, ehe er ins Meer fiel?«

»Den Kriegsruf der Faschisten«, sagte Indy. »Spazio. Das ist das italienische Wort für Raum, für Territorium - für Durchsetzungskraft.«

»Nun, Raum hat er jetzt ja«, erwiderte O'Toole trocken. »Es ist ein weiter Weg nach unten.«

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