KAPITEL FÜNF. Menschliches Treibgut

Die Lichter Londons glitten bedächtig am Müllkahn vorbei, der weiter in Richtung auf das Meer zuhielt. Vor einer Viertelstunde war die Sonne hinter dem Horizont versunken. Der Himmel im Westen war goldgetönt, und die Themse schimmerte in der Farbe einer matten Bleiplatte. Alecia, die es sich auf dem Heck des Schiffes bequem gemacht hatte und beobachtete, wie die Stadt in der Feme kleiner wurde, erschauderte.

»Ist Ihnen kalt, Miss?« fragte der Kapitän sie. In den verwitterten Händen hielt er einen dunklen Wollmantel.

»Vielen herzlichen Dank«, sagte sie.

Der Mann legte ihr den Mantel um die Schultern.

»Leider haben wir nicht viel zu essen auf der Mary Reil-ly«, verriet er ihr. »Aber Sie sind eingeladen, mit uns zu schmausen. Kaffee, Brot. Etwas Käse.«

Alecia nickte dankbar.

»Ich weiß ja, daß es mich eigentlich nichts angeht, aber falls Sie mir meine Frage verzeihen, wovor hatten Sie dort hinten Angst? Laufen Sie vor irgend etwas davon? Verfolgt Sie jemand?«

»So was in der Art«, antwortete Alecia.

»Ich könnte wetten, daß es sich um einen Mann handelt«, spekulierte der Kapitän und räusperte sich laut. »Ich selbst habe drei Töchter, darum weiß ich, wovon ich spreche. Sieht fast so aus, als wolle Gott mich für die Ausschweifungen meiner Jugendtage bestrafen.«

Alecia mußte lächeln.

»Das Leben wird weitergehen«, spendete er sanft Trost und klopfte ihr auf die Schulter. »Ich bin oben im Steuerhaus, falls Sie was brauchen sollten. Machen Sie sich keine Sorgen, Miss - es ist egal, wovor Sie weglaufen oder wohin. Solange Sie meinem Kommando unterstehen, sind Sie in Sicherheit. Auch wenn das hier nur ein alter Müllkahn ist.«

»Das ist sehr nett von Ihnen.«

Ein Paar sich auf dem Fluß fortbewegender Lichter kam näher, und je näher sie kamen, desto deutlicher konnte sie das insektenartige Dröhnen eines Außenbordmotors hören, der voll aufgedreht war. Alecia begab sich in das Steuerhaus.

»Erwarten Sie Besuch?« fragte sie den Kapitän.

»Nein.«

»Kann ich mich irgendwo verstecken?«

»Keine Angst«, sagte der Mann. »Ich werde nicht zulassen, daß Ihnen etwas zustößt.«

»Sie kennen leider nicht die Sorte Mensch, mit der ich in letzter Zeit zu tun gehabt habe«, sagte sie. »Die werden Sie töten.«

Wieder räusperte sich der Kapitän. Ohne den linken Arm vom Steuerrad zu nehmen, griff er in ein Kästchen an der Wand und zog einen Revolver hervor. Die Waffe steckte er dann in seine Tasche.

Das Motorboot fuhr neben den Müllkahn und drosselte die Geschwindigkeit.

»Snopes«, rief er. »Laß deine Arbeit liegen und komm hier rauf. Du mußt das Steuer übernehmen.«

Der Kapitän vertraute den Kahn seinem ersten- und einzigen - Maat an. Alecia schenkte er ein vertrauensvolles Lächeln. »Sie bleiben besser hier, Miss«, riet er ihr.

Ein Mann sprang vom Deck des Motorboots auf die Mary Reilly. Dabei hätte er fast seinen Hut verloren. Er erwischte ihn gerade noch, bevor er ins dreckige Flußwasser fiel.

»Sie kehren besser dorthin zurück, von wo Sie gekommen sind, mein Sohn.« Der Kapitän richtete die Revolvermündung auf den Brustkorb des Fremden. »Sie will Sie nicht sehen!«

»Jones!« rief Alecia aus dem Steuerhaus.

Indy strahlte und breitete die Arme aus.

»Ist schon in Ordnung, Kapitän«, sagte Alecia und kam nach unten.

»Wollen Sie ihn hier haben?«

»Er gehört nicht zu den Männern, vor denen ich mich fürchte«, verriet sie ihm. »Bitte, lassen Sie ihn an Bord des Schiffes bleiben.«

Indy grinste und winkte zum Motorboot hinüber, das wendete und auf dem Rückweg nach London das Flußwasser am Kiel aufschäumte.

»Da sieh einer an«, meinte der Kapitän. »Sehe ich vielleicht so aus, als ob ich ein Passagierschiff für Arme betreibe? Es hat mir nichts ausgemacht, die junge Dame mitzunehmen, aber -«

»Ich kann Sie bezahlen«, erwähnte Indy.

Der Kapitän räusperte sich.

»Tja, das ändert natürlich die Situation.«

»Jones«, sagte Alecia. Sie schlang den Arm um seine Taille und drückte ihn an sich. »Sie haben Ihre Meinung geän-dert. Ich nahm nicht an, daß ich Sie noch mal Wiedersehen würde. Wie haben Sie mich gefunden?«

Indys Grinsen bekam etwas Verschlagenes.

»Ich brauche Sie«, gestand er.

»O nein!« rief Alecia. Sie ließ ihn los und wich zurück. »Sie gemeiner Kerl! Sie sind mir gefolgt, nicht wahr?«

»Ich konnte Sie wohl kaum allein ziehen lassen«, fand Indy. »Ich mußte sichergehen, daß Sie nicht verfolgt werden. Und außerdem bin ich auf Ihre Hilfe angewiesen, wenn ich Alistair finden soll.«

»Dazu brauchen Sie mich?« fragte sie. »Das ist alles? Sie haben mich auf dem Gehweg stehenlassen wie ein Stück Kaugummi, das Sie von Ihrer Schuhsohle abgekratzt haben, und jetzt tauchen Sie hier einfach auf, weil Sie meine Hilfe brauchen?«

»Aber Sie sagten doch, ich solle vergessen -«

»Und Sie haben mir geglaubt?«

»Nun -«

Der Kapitän trat zwischen die beiden.

»Möchten Sie, daß ich ihn ins Wasser schmeiße, Miss?« fragte der Mann. »Er sieht gesund aus. Er könnte es bis ans Ufer schaffen.«

»Ja«, stimmte sie seinem Vorschlag zu. »Werfen Sie ihn über Bord wie stinkenden Müll.«

»Alecia«, flehte Indy. Sehnsüchtig blickte er dem Motorboot hinterher, das schon außer Sicht war.

»Nein«, sagte sie. »Tun Sie das nicht. Das wäre noch zu gut für ihn. Überlassen Sie ihn mir - das wird Strafe genug sein. Und um ehrlich zu sein, ich brauche hn auch, um meinen Bruder zu finden. Von nun an werden wir uns wie Geschäftspartner verhalten, haben Sie verstanden, Dr. Jones?«

»Ich dachte, das sei alles -«

»Ach, halten Sie den Mund«, schimpfte Alecia und ließ ihn stehen.

Der Kapitän verstaute seine Waffe wieder in der Tasche.

»Wäre besser, Sie bezahlten mich jetzt gleich, mein Sohn. Schließlich kann ich nicht absehen, wie lange Sie bei uns bleiben werden.«

In der winzigen Kabine unter Deck breitete Indy die Kopie des Voynich-Manüskripts auf dem Tisch aus. Dann nahm er das Gummiband ab, das sein Notizbuch zusammenhielt, strich die Seiten glatt und spitzte seinen Bleistift.

Alecia kam die Treppe hinunter, hielt aber inne, als sie Indy entdeckte.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich möchte Sie nicht stören, ich suche nur die Toilette.«

»Es gibt keine«, verriet er ihr. »Ich habe schon gefragt.«

»Dann ...«

»Über Bord«, schlug er vor.

Alecia rümpfte die Nase.

»Es gibt nichts, das nicht warten kann«, verkündete sie philosophisch. »Womit sind Sie beschäftigt?«

»Ich suche nach Hinweisen.«

»Aber Sie können es doch nicht lesen«, meinte sie selbstgefällig.

»Schon, aber vielleicht sagen mir die Zeichnungen was.«

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Ist das ein Angebot?«

»Wir haben eine zweckorientierte Übereinkunft getroffen«, sagte sie. »Und ich bin durchaus bereit, meinen Anteil einzubringen.«

»Gut. Nehmen Sie Platz. Wenn es Ihnen nichts aus-macht, könnten Sie mir ja verraten, was all das zu bedeuten hat. Sie haben doch Alistair dabei geholfen, einen Teil des Manuskripts zu entziffern, oder?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern«, sagte sie. »Ich meine, als ich ihm bei der Übersetzung zur Hand gegangen bin, habe ich mich in einer Art Trancezustand befunden. Er war derjenige, der die Transkription aufgeschrieben hat. Und ich habe leider nicht die geringste Ahnung, was ich damals gesagt habe.«

Indy seufzte. »Wie steht es mit den Zeichnungen?«

Alecia blätterte die Seiten durch.

»Tut mir leid. Die sagen mir wirklich gar nichts. Das echte Manuskript ist natürlich farbig. Vielleicht ist das ein wichtiger Teil der Übersetzung.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Indy. »Wir sind im Nachteil, weil wir nicht mit dem Original arbeiten. Trotzdem dürfen wir nichts unversucht lassen. Es muß doch eine Möglichkeit geben, aus dem hier eine Bedeutung abzuleiten oder den Sinn all dessen herauszufinden.«

Alecia nickte, nahm den Vorhersagestein aus der Tasche und stellte ihn auf den Tisch.

»Was haben Sie vor?«

»Nun, Sie sagten, wir müßten es versuchen. Und genau das will ich tun. Da es mit Alistair funktioniert hat, könnte es ja durchaus sein, daß es auch mit mir allein klappt.«

»Ich muß Ihnen sagen, Alecia, das hier erinnert mich ganz stark an diese Geschichte mit Arthur Conan Doyle und den Feen.«

»Es ist nicht notwendig, daß Sie daran glauben«, meinte sie. »Sie sollen sich Notizen machen, das ist alles. Und außerdem reden Sie nur so, weil Sie Ihren Ruf als Wissenschaftler nicht gefährden wollen. Ich glaube nämlich, daß

Sie das nicht nur für Unsinn oder Scharlatanerie halten, Dr. Jones. Aber Sie sind nicht bereit, das offen zuzugeben.« Indy schüttelte den Kopf.

»Alles Unsinn«, sagte er. »Aber bitte, fangen Sie an.« Alecia legte den Stein auf die Manuskriptkopie. Sie hüstelte, strich sich die Haare aus dem Gesicht und holte tief Luft. Den Stein fixierend, atmete sie aus. »Reicht das Licht?«

Mit einem Seufzer schloß Alecia die Augen. »Sie müssen still sein.«

Dann neigte sie den Kopf, öffnete die Augen wieder und starrte den Obsidianbrocken an. In den ersten zehn Minuten schien nichts zu passieren. Dann glättete sich ihre durch die Konzentration in Falten gelegte Stirn. Ihr Atem ging gleichmäßiger und langsamer, ihre Augen wurden matt und blickten ins Leere. Sie beugte sich über die Kopie. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, während sie mit der rechten Hand den Stein über die verschlüsselten Zeilen rückte.

Gesegnet sei der Herr dafür, daß er uns ständig mit Geschenken überschüttet. Etwas später ^ folgen unsere Gebete für den Propheten Abraham und seine Familie, dem dieses Buch ergebenst gewidmet ist. Friede sei mit ihnen!

Indy hatte es die Sprache verschlagen. Alecia sprach mit der Stimme eines Mannes, eines sehr alten Mannes. Er griff nach seinem Bleistift und begann zu schreiben.

Das hier ist die Geschichte von al-Jabir ibn-Hayyan, dessen Weisheit mir dargeboten wurde, nachdem ich das Grab von Hermes verlassen habe und in den Besitz der Ta -bula Smaragdina gekommen bin. Ich erkläre hiermit: Die-jenigen, die das Grab betreten und nicht reinen Herzens sind, sollen erkranken und innerhalb von vierzehn Tagen sterben, und diejenigen, die so rücksichtslos sind und das goldene Faß öffnen, in dem der Stein liegt, sollen dort, wo sie stehen, erschlagen werden.

Indy begann, schneller zu schreiben.

Hier sind die Enthüllungen des Hermes:

Sage keine Unwahrheiten, sondern nur das, was sicher und wahr ist; das, was unten liegt, ist gleich dem, was oben liegt, und was oben liegt, ist gleich dem, was unten liegt.

Wie alle Dinge durch ein einziges Wort von Gott erschaffen wurden, so werden alle Dinge, die hierdurch entstehen, durch Adaption geschaffen. Suchet die prima materia, denn dadurch wird euch der Ruhm der ganzen Welt zuteil, und ihr werdet niemals der Dunkelheit erliegen. Das ist der erste Schritt zum Stein.

Er wurde vom Wasser geboren, vom Feuer geschmiedet, durch den Wind vom Himmel herabgebracht und von der Erde genährt. Und es gibt ihn überall: Hausfrauen werfen ihn hinaus, Kinder spielen damit.

Seid frei von Begierde, Heuchelei und Sünde. Ein schlechter Mensch wird niemals etwas erreichen.

Alecias Kopf fiel vornüber. Sie schwankte auf ihrem Stuhl.

Indy ließ den Bleistift fallen, streckte beide Hände über den Tisch und hielt sie an den Schultern fest. Mit flatternden Lidern betrachtete sie ihn. Noch kurzzeitig verwirrt, blickte sie sich um, schluckte und setzte sich aufrecht hin.

»Es geht mir gut«, sagte sie.

»So sieht es aber nicht aus«, entgegnete Indy.

»Doch, es geht mir gut«, wiederholte sie. »Haben Sie etwas erfahren?«

»Ja.« Indy schob ihr das Notizbuch hin. »Aber ich fürchte, daß dadurch mehr Fragen aufgetaucht als beantwortet worden sind.»

Sie blätterte die Seiten des Notizbuches durch.

»Ihre Handschrift ist unlesbar«, meinte sie. »Was bringt man euch in Amerika bei? Sie müssen es mir schon vorlesen. Was bedeutet dieses Wort hier?«

»Ich hatte es schließlich eilig«, verteidigte Indy sich und richtete den Blick auf die Zeile, auf der ihr Finger lag. » >Prima materia<. Die erste Materie.«

»Oh, das sind zwei Worte. Das konnte ich nicht erkennen. Und das hier?«

Indy las das Wort. »Tabula Smaragdina.«

»Die smaragdgrüne Tafel«, übersetzte sie.

Alecia lehnte sich zurück.

»Das ist al-Jabir«, meinte sie. »Falls mich mein Erinnerungsvermögen nicht im Stich läßt, ist er jener arabische Mystiker und Mathematiker, dem wir die moderne Algebra zu verdanken haben, oder?«

»Ja«, stimmte Indy ihr zu. »Aber sein Name steht auch für die lateinische Wurzel unseres Wortes Kauderwelsch. Und genau das scheinen wir hier zu haben - eine lange Liste sinnloser Rätsel.«

Alecia stand vom Tisch auf.

»Ich bin erschöpft«, sagte sie. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, werde ich mich ein bißchen hinlegen. Bitte, wecken Sie mich auf, bevor wir den Kanal erreichen. Dort werden sie den Müll abladen und bis dahin müssen wir ein anderes Schiff aufgetrieben haben.«

Alecia legte sich in die Koje an der gegenüberliegenden Wand. Eine Minute später war sie eingeschlafen. Indy fand eine alte abgewetzte Decke, mit der er sie behutsam zudeckte. Danach kehrte er an den Tisch zurück, überflog die Übersetzung und legte das Notizbuch beiseite.

Er beobachtete Alecia beim Schlafen.

Nach einer Weile nahm er seinen Bleistift in die Hand und begann mit einer Skizze auf einer leeren Seite seines Notizbuches. Er zeichnete Alecia mit ihren roten, um den Kopf drapierten Haaren, mit ihrem leicht geöffneten Mund und den entspannten Gesichtszügen. Ihrer feinen, nach oben gebogenen Nase und ihren Ohren schenkte er besondere Aufmerksamkeit - sie waren besonders zart und schienen leicht spitz auszulaufen.

Ihr herzförmiges Gesicht mutete im Moment geradezu kindlich an. Er wünschte sich, ihr ihre Geschichte abnehmen zu können. Zumal es ihm leichtfiel, sie sich als Sie -benjährige vorzustellen, der gesagt wird, daß sie die Letzte einer ganz besonderen Rasse ist und die man auffordert, sich in einem Tätowierungsstudio mit dem Gesicht nach unten auf einen Tisch zu legen, ehe die Nadeln ein jahrhundertealtes Muster in ihre Haut malen. In Indys Augen setzte die Tätowierung ihre Schönheit nicht herab, sondern unterstrich sie eher nur. Er hatte den Wunsch, den Rest der Tätowierung sehen zu dürfen. Er stellte sich vor, daß sie sich wie ein Paar zarter Schwingen über ihren bloßen Rük-ken zog.

Erschöpft legte er den Bleistift weg und rieb sich die Augen. Obwohl er ihr nicht über den Weg traute, fiel ihm auf, daß er anfing, sie zu mögen. Er bettete den Kopf auf die gekreuzten Arme und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Das Klappern von Absatzstiefeln und erboste Stimmen weckten Indy auf. Er nahm seine Notizen und die Manuskriptkopie und verstaute sie in seinem Sack, zusammen mit einer halbvollen Schachtel .38er Munition, die auf dem Regal in der Kajüte lag. Die Waffe des Kapitäns verlangte nach den gleichen Patronen wie seine Webley. Dann kniete er sich neben Alecia und weckte sie auf.

»Wo sind wir?« fragte sie schlaftrunken.

»Pst«, sagte er. »Wir haben Gesellschaft.«

Indy nahm sie an der Hand und ging mit ihr die Stufen zur Kajütentür hoch. Draußen war es immer noch dunkel. Er konnte die Lichtkegel von Taschenlampen ausmachen, die über den Schiffsbug wanderten. Ein Stück weiter vorn unterhielt sich der Kapitän mit einer Gruppe Soldaten. Er hörte, wie der alte Mann vor Wut lauter wurde und sich zornig erkundigte, warum die anderen an Bord seines Schiffes gekommen waren. Zwei Männer hielten von hinten seine Arme fest, während ein dritter ihm mit einem Wollschal den Mund stopfte. Hinter ihnen zeichnete sich der vertraute Umriß eines Flugbootes ab, das ganz still auf dem Wasser wartete.

»Wie haben die uns gefunden?« fragte Alecia.

»Kann ich nicht sagen«, antwortete Indy. »Wir müssen uns unbedingt verstecken.«

»Wo denn? Auf einem Schiff von dieser Größe kann man nicht mal einen Yorkshire Terrier verstecken. Da sie uns sowieso kriegen werden, können wir genausogut jetzt gegen sie vorgehen. Es mit ihnen aufnehmen.«

»Kommen Sie, Prinzessin.« Er nahm seinen Hut und zerrte sie aus der Kajüte. »Ich bin noch nicht bereit, jetzt aufzugeben. Wäre das hier die Schlacht zwischen Custer und den Indianern, stünde ich auf der Seite der Indianer.« »Das Boot durchsuchen«, ordnete Luigi an und machte eine Bewegung mit seinen bandagierten Händen, was sich als schmerzhaft erwies. Ein halbes Dutzend atlanticis schwärmte aus, kämpfte sich durch die Müllberge hinüber zur Kajüte. »Wir wissen, daß sie hier sind. Seid vorsichtig. Der Amerikaner ist bewaffnet, aber ein ziemlich schlechter Schütze.«

»Bei deinen Zigarren mußte er ja anscheinend auch nicht gut zielen können«, lautete Sarduccis Kommentar.

Luigi zuckte mit den Achseln.

»Ich hatte eh vor, das Rauchen aufzugeben.«

»Bist du sicher, daß der Bootsbesitzer dir die Wahrheit gesagt hat?«

»Die letzten Worte eines Todgeweihten sind fast immer wahr«, erwiderte Luigi.

Während die Soldaten die einzige Kajüte auf dem Schiff umzingelten, schloß der Kapitän die Augen.

»Die Kajüte ist leer«, rief einer der Soldaten auf italienisch. »Aber wir haben das hier gefunden.« Er hielt Alecias Handtasche hoch.

»Bring sie her«, sagte Sarducci.

»Dann befindet sich also keine Frau an Bord, hm?« fragte Luigi. »Ich nehme mal an, daß man als Frau immer eine Handtasche mitnimmt, wenn man eine Seereise antritt. Und da frage ich mich natürlich, was man da reinstopft.« Luigi suchte in seinen Taschen nach seiner Waffe.

»Rechnen Sie mit Schwierigkeiten?« fragte er. Umständlich schüttelte er mit seinen bandagierten Händen die Revolvertrommel auf und inspizierte die sechs glänzenden Patronenhülsen.

Sarducci durchsuchte die Handtasche.

»Ach, ich kann den Kram nicht leiden, den Frauen immer mit sich rumschleppen«, beklagte er sich und warf Lippenstift, Rouge und eine Haarbürste über Bord. »Aber das hier, das ist selbstverständlich was anderes.« Er holte den Vorhersagestein raus und hielt ihn in die Höhe. »Sie sind hier.«

Mit einer ausladenden Handbewegung klappte Luigi die Trommel wieder zu, ehe er sich dicht über das Gesicht des alten Mannes beugte. »Du hast mich angelogen. Und Lügner kann ich auf den Tod nicht ausstehen.«

Damit zog er dem Kapitän den Griff der Waffe durchs Gesicht, und zwar so fest, daß die Männer, die ihn hielten, fast umfielen. Snopes, der im Steuerhaus noch mit seinen Widersachern kämpfte, gab alle Gegenwehr auf, als ihm jemand die Mündung einer Maschinenpistole in den Rücken drückte.

Luigi befreite den Kapitän von seinem Wollknebel. Der alte Mann bombardierte ihn mit zornigen Blicken, obwohl ihm das Blut zwischen den Augen hinunterlief.

»Wo sind sie?« wollte Luigi wissen.

Der Kapitän sagte kein Wort.

»Durchsucht dieses stinkende Wrack von einem Boot«, befahl Luigi auf italienisch. »Irgendwo müssen sie ja stekken. Aber tut dem Mädchen nicht weh. Krümmt ihr kein Haar, wir brauchen sie unbeschädigt. Wenn ihr den Amerikaner findet, bringt ihn zu mir - ich möchte ihn eigenhändig töten. Nur so kann ich meinen Brüdern Respekt erweisen.«

Zehn Minuten später hatten die Soldaten jeden Zentimeter auf und unter Deck durchsucht. Wütend schritt Luigi auf dem Deck auf und ab und bellte seinen Männern den Befehl zu, das Schiff zum zweiten Mal zu durchsuchen.

»Immer mit der Ruhe«, versuchte Sarducci ihn zu beschwichtigen. »Wir haben noch nicht jeden Winkel abge-sucht. Es gibt noch eine Stelle, wo sie sich verstecken könnten - und das ist eigentlich die offensichtlichste Möglichkeit.«

»Was meinen Sie?« fragte Luigi, wie üblich schwer von Begriff. »Wo sonst sollen wir suchen? Ach, der Müll. Aber das sind ja riesige Müllberge. Müssen wir jeden von denen durchkämmen?«

Sarducci wandte sich an den Kapitän.

»Sie entsorgen Ihren Müll hier im Kanal, nicht wahr? Nun, dann machen Sie sich mal an Ihre Arbeit.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Siehst du?« sagte Sarducci zu Luigi. »Ich habe recht. Aber schließlich habe ich ja immer recht, nicht wahr? Der Mann im Steuerhaus - sag ihm, daß er den Müll abladen soll. Wenn er das nicht tut, wird er es bereuen.«

»Aber das Mädchen«, protestierte Luigi. »Wir dürfen ihr doch nichts antun.«

»Wir tun unser Bestes«, fand Sarducci. »Und Jones muß sterben, daran führt kein Weg vorbei. Falls er das Mädchen mitnimmt, können wir das wohl kaum verhindern. Außerdem können wir den Leichnam aus dem Wasser fischen. Mehr brauchen wir nicht. Sag ihm, daß er den Müll abladen soll.«

Snopes weigerte sich beharrlich.

Daraufhin stieß sein Häscher ihm die Pistolenmündung tiefer ins Kreuz. Er hörte deutlich das Klicken, als die Waffe entsichert wurde,

»Noch eins«, sagte Sarducci. »Starten Sie die Maschine, lassen Sie die Schiffsschraube laufen. Eine langsame Drehung dürfte genügen. Und drehen Sie einen weiten Kreis um unser Flugzeug.«

»Kapitän?« rief Snopes.

»Machen Sie schon«, rief der alte Mann zurück. »Gott wird Verständnis haben.«

Snopes drückte auf den Startknopf. Der Dieselmotor sprang an. Dann drückte er den Hebel für den ersten Behälter hinunter, woraufhin die hydraulischen Türen auf dem Deck nach innen schwangen. Zahlreiche Tonnen Abfall rutschten unter dem Geschrei von Ratten ins kalte Meer.

Mit gezückten Maschinenpistolen spähten die atlantici ins Wasser. Eine Wolke dampfenden Mülls verteilte sich hinten am Schiffsende bei den Schrauben.

»Ist was zu sehen?« fragte Sarducci.

»Nur Ratten«, kam die Antwort. »Unmengen von Ratten.«

»Jetzt den Rest«, ordnete Sarducci an.

Snopes bekreuzigte sich und drückte die beiden anderen Hebel hinunter.

In der dritten Ladung, unter einem Berg von Kaffeesatz, Eierschalen und Zeitungen, in die Fish and Chips und unzählige andere übelriechende Dinge eingewickelt gewesen waren, preßte Indy die um sich schlagende Alecia an sich.

»Wir werden ertrinken«, keuchte sie.

»Nein, das werden wir nicht«, meinte er. Er schüttelte eine Ratte ab, die sich an seinem Fuß festklammerte. »Bleiben Sie locker. Sparen Sie Ihre Kraft.«

Ihr Müllhaufen kam in Bewegung, als die zweite Klappe aufging und der dazugehörige Müllberg in die See gekippt wurde.

»Wenn wir im Wasser sind, tauchen Sie unter und schwimmen Sie unter Wasser, so weit Sie können, weg von den Schiffsschrauben. Tauchen Sie erst auf der anderen Seite wieder auf. So lautet der Plan.«

»Das nennen Sie einen Plan?« höhnte Alecia. »Ich kann nicht schwimmen!«

»Oh«, sagte Indy, als die Klappen unter ihnen zu stöhnen anfingen. Er hielt Alecias Hand fest. »Das ändert die Situation grundlegend. Holen Sie tief Luft und verhalten Sie sich ruhig -«

Auf einmal rutschten sie zusammen mit dem Müll nach unten. Das Wasser im Kanal war eiskalt. Indy versuchte, die Augen aufzumachen, trotz des salzigen Wassers, das auf seinen Netzhäuten brannte. Sehen konnte er nichts. Aber er spürte, wie ein Dutzend Ratten Halt suchte.

Er ließ Alecias Hand los, drehte sie unter Wasser um, schob dann seinen linken Arm unter ihre Achseln und drückte sie fest an sich.

Zusammen mit seiner Last tauchte er, so tief er konnte, strampelte mit den Beinen, schob mit der freien Hand die Wassermassen weg. Alecia bäumte sich auf und stieß ihm die Fingernägel in die Hand, aber er ließ sie nicht los. Er schwamm so lange, bis er glaubte, seine Lungen würden bersten, aber er zwang sich, nicht aufzugeben. Er hörte ein Klingelgeräusch. Grelle Blitze explodierten in seinem Kopf.

Auf einmal konnte er nicht mehr unterscheiden, wo oben und unten war. Er hatte keine Luft mehr. Das eiskalte Wasser legte seine Muskeln lahm. Seine Lungen brannten wie Feuer, und er wußte nicht, wohin er schwimmen mußte, um an die Oberfläche zu gelangen.

Da preßte er den letzten Schwall Luft aus seinen schmerzenden Lungen. Die Luftblasen stiegen nach oben, und als sie seine Wangen streiften, wußte er, welche Richtung er einschlagen mußte.

Sie durchbrachen die Wasseroberfläche. Unendlich dankbar atmete Indy die kühle Nachtluft ein. Alecia keuchte, verschluckte Wasser und erstickte beinah. Nachdem sie sich endlich beruhigt und Luft geschöpft hatte, mußte Indy ihr schnell die Hand auf den Mund legen und energisch den Kopf schütteln, um zu verhindern, daß sie schrie. Mit einem Blick gab sie ihm zu verstehen, daß sie begriffen hatte, und er nahm die Hand von ihren Lippen.

Um sie beide über Wasser zu halten, strampelte er wie wild mit den Beinen.

Sie befanden sich ein paar Meter neben der Backbordseite des Kahns. Sarducci und seine Leute hatten sich auf der anderen Seite aufgebaut und beobachteten, wie der Müll von den Schiffsschrauben durchgewirbelt wurde. Synchron zum monotonen Singsang stieß der Dieselmotor Rauchwolken aus.

Der Kapitän stand an der Reling und tupfte seine blutende Wunde mit dem Schal ab. Aus dem Augenwinkel heraus erspähte er Indy und Alecia im Wasser. Indy legte den Zeigefinger auf den Mund und schüttelte beharrlich den Kopf.

Der Kahn schwamm langsam weg.

Indys Beine waren schwer wie Blei. Erschöpft wie er war, konnte er nicht mehr lange durchhalten.

Das Flugboot wartete hinter ihnen. Im Cockpit zwischen den Tragflächen brannte Licht. Indy sah, daß der Pilot mit einem Klemmbrett vor dem Instrumentenpult stand. Alle anderen waren an Bord des Müllkahns. Wenigstens hoffte er das.

»Ich halte Sie«, flüsterte Indy Alecia ins Ohr. »Wir werden ganz leise schwimmen, Prinzessin. Aber ich bin auf Ihre Mithilfe angewiesen- Sie müssen sich entspannen und sich treiben lassen.«

»Wohin wollen wir?« fragte sie ihn, ohne den langsam

wegtreibenden Müllkahn aus den Augen zu lassen. Das Flugboot hinter ihnen konnte sie nicht sehen. »Wir müssen unser Flugzeug kriegen«, sagte er.

Sie befanden sich in einer Höhe von sechzehntausend Fuß an Bord der Savoia-Marchetti 55. Alecia zitterte vor Kälte und hielt sich in der Dunkelheit hinter einer Kiste mit losen Ersatzteilen versteckt.

»Jones«, preßte sie zwischen klappernden Zähnen hervor. »Ich erfriere. Eiszapfen bilden sich in meinem Haar.«

»Wir sind wahrscheinlich drei Meilen hoch am Himmel«, meinte Indy. »Wir müssen unsere nassen Klamotten ausziehen.«

»Das w-w-würde Ihnen so passen«, erwiderte sie.

»Keine Sorge«, sagte Indy und gab sich betont fröhlich. »Nur zu, ziehen Sie sich aus. Hier drinnen ist es stockdunkel. Da bin ich schon stark auf meine Phantasie angewiesen.«

»Ich könnte wetten, daß Sie - was das betrifft - ein M-M-Meistersind.«

»Irgendwo muß eine Abdeckplane oder so etwas in der Richtung herumliegen. Damit können Sie sich zudecken«, schlug Indy vor. Er tastete sich an den Kisten und Schachteln vorbei zum Schott, wo sich das Werkzeug befand. Mit steifen Fingern riß er einen Schraubenschlüssel vom Haken und schnitt eine Grimasse, als er klirrend auf dem Boden landete.

»Tut mir leid«, flüsterte er.

Seine Hände fuhren über das übrige Werkzeug, bis sie ein Regal fanden. Auf dem obersten Einlegeboden stand ein Metallbehälter. Seine Fingerspitzen spürten Wolle. Ein Stapel Decken. Daneben eine kleine Metallkiste, deren Deckel er hochhob. Eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer.

»Ich werde ein Streichholz anreißen«, sagte er. »Und ich werde nicht gucken.«

»Mir ist zu kalt. Davon lasse ich mich nicht abhalten«, gestand Alecia ihm.

Er zündete das Streichholz an und inspizierte durch seinen von der Kälte weißgefärbten Atem hindurch den Inhalt der Metallschachtel. Dabei handelte es sich um einen Er-ste-Hilfe-Kasten mit Verbandszeug, Lebensmittelkonserven, einer Leuchtfeuerpistole und einer Wasserflasche. Neben dem Regal stand ein Umkleideschrank mit Kleidungsstücken.

»Jackpot«, rief Indy leise.

Er blies das Streichholz aus.

Indy klemmte sich die Overalls und die Decken unter den Arm und tastete sich mit dem Erste-Hilfe-Kasten zurück zu der Stelle, wo Alecia sich versteckt hielt. Als er die Decke auseinanderfaltete und sie ihr um die Schultern legen wollte, entlud sich eine statische Ladung, so daß er einen kurzen Blick auf ihren tätowierten Rücken erhaschte.

»Sehr erfindungsreich, Jones«, lobte sie ihn und wickelte sich in die Decke ein. »Ich nehme an, als nächstes werden Sie stolpern und gegen mich fallen - natürlich nur aus Versehen.«

»Aber sicher. Hier, ich habe was zu essen gefunden. Sie dürfen hiermit anfangen. Fühlt sich wie eine Schachtel Cracker an.«

»Ist mir egal, was es ist. Hauptsache, ich kann es essen.«

Er reichte ihr die Schachtel.

»Jetzt bin ich an der Reihe, mich umzuziehen«, meinte er. Steif schälte er sich aus seinen Klamotten und zog einen Mechanikeroverall an, den er im Umkleideschrank gefunden hatte, bevor er mit zittrigen Fingern eine der Kerzen an-zündete und ein paar Tropfen Wachs auf den Boden zwischen ihnen tropfte.

»Ist das nicht gefährlich?« fragte sie ihn.

»Ich kann hier hinten keinen Treibstoff riechen«, sagte er, während er die Kerze ins weiche Wachs drückte. »Andererseits ist meine Nase eingefroren, was heißt, daß ich eh nichts riechen kann.«

Alecia nahm eine zweite Decke und schüttelte das Eis aus ihrem Haar. »Das ist ein beschissener Tag gewesen«, fand sie. »Man hat auf mich geschossen, mich beinah in die Luft gejagt, und dem Flammentod bin ich nur knapp entgangen. Ich wurde von charmanten Herren in Schwarz gejagt und mit einer Ladung Müll ins Meer geworfen, damit ich dort ertrinke. Doch damit nicht genug - ich bin dabei zu erfrieren, im Bauch eines faschistischen Flugzeugs, das nach Gott-weiß-wohin unterwegs ist. Und das alles hat sich innerhalb von vieründzwanzig Stunden, nachdem ich Ihnen begegnet bin, zugetragen, Jones. Spielt sich Ihr Leben immer so ab?«

»Nein«, entgegnete er. »Manchmal ist es aufregend.« Er riß den Deckel von einer Dose, tauchte den Zeigefinger hinein und leckte ihn ab. »Sardinen«, beklagte er sich.

»Ich liebe Sardinen«, verriet sie ihm.

»Dann nehmen Sie sie.« Er nahm eine andere Dose aus dem Kasten und zog den Deckel ab. »Können Sie Italienisch lesen? Ich auch nicht. Es heißt, daß dem Reisen im Flugzeug die Zukunft gehört. Wenn es so ist, müssen sie dringend die Mahlzeiten verbessern. Ah, das schmeckt besser.«

»Was ist es?«

»Irgendwelches gekochtes Fleisch«, sagte er.

Während des Essens begann Indy, seinen Revolver auf der Wolldecke zu trocknen. Als er die Trommel öffnete, um die

Patronen zu überprüfen, rutschte ein Eiszapfen aus dem Lauf, der auf dem Boden zerbarst.

»Meine Armbanduhr funktioniert auch nicht.« Er schüttelte sie und hielt sie an sein Ohr. »Aber ich schätze, daß wir seit ungefähr einer Stunde in der Luft sind und uns höchstwahrscheinlich auf dem Weg nach Rom befinden.«

»Wie lange wird der Flug dauern?«

»Die Luftlinie zwischen London und Rom beträgt grob geschätzt zweitausend Meilen. Dann dürften wir noch zehn, zwölf Stunden unterwegs sein. Falls wir Glück haben, kontrollieren sie diesen Raum nicht, bevor wir landen.«

»Und falls wir kein Glück haben?«

Indy antwortete mit einem Achselzucken.

»Das hier ist immer noch besser als ertrinken, Prinzessin.«

Alecia aß die Sardinen auf und stellte die Dose weg, ehe sie die Decke enger um sich schlang und zu Indy hinüberrutschte.

»Jones«, sagte sie.

»Ja?«

»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Heute ist zwar der schrecklichste Tag meines Lebens gewesen, aber ich habe mich niemals lebendiger gefühlt. Und ich weiß, daß ich wegen Alistair in diese Sache verwickelt bin und nicht Ihretwegen.«

Indy gab vor, seine Webley zu kontrollieren. Alecia legte die Hand auf den Lauf und nahm ihm die Waffe ab.

»Sehen Sie mich an«, sagte sie. »Ganz egal, was passieren wird - ob ich das hier überlebe oder nicht -, ich möchte Sie wissen lassen, daß ich keine einzige Minute bereue.«

»Gott, hilf mir«, flehte er und schaute ihr in die Augen.

Er küßte sie. Trotz des Geruchs von Müll, Meerwasser und Sardinen war das ein wundervolles Erlebnis. Die Decke rutschte ihr von den Schultern, und obwohl es ziemlich kalt war, unternahm sie keinen Versuch, sich wieder einzuhüllen. Als sich ihre Lippen öffneten, fand er sich zum wiederholten Mal an diesem Tag atemlos.

»Alecia«, keuchte er.

»Hör mal, Jones, wir könnten innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten sterben. Einer dieser schwarzgewande-ten Schläger könnte durch diese Luke treten, und das wäre unser beider Ende. Niemand, und ich meine wirklich nie -mand, würde jemals erfahren, was uns zugestoßen ist. Nun, ich versuche dir zu sagen, daß ich -«

Indy schloß ihre Lippen mit einem Kuß.

»Sag es nicht«, bat er sie. »Falls du es sagst, muß ich es sagen, und dann bist du garantiert verloren. Ich kann es nicht erklären, vertrau mir einfach. Vier- oder fünfmal warst du heute in einer Situation, wo dein Leben bedroht war, und da dachte ich, daß ich dich nicht leiden kann.«

»Wovon, zur Hölle, redest du?« Sie fischte einen Overall aus dem Berg Kleider, die er herangeschleppt hatte, und zog sich an. Indy drehte den Kopf. »Falls du mich unattraktiv findest, brauchst du es nur zu sagen. Ich bin mir bewußt, daß ich nur eine Bibliothekarin bin, Dr. Jones - aber ich meine es wenigstens ernst. Du brauchst dir keine Ausreden einfallen lassen.«

»Ich habe nur versucht, es dir zu erklären«, begann er.

»Was erklären?« Sie knöpfte den Overall zu, wischte eine Träne von der Wange und wickelte sich in die warme Decke ein.

»Daß ich es mir nicht erlauben kann, etwas für dich zu empfinden«, sprach er weiter. »Als ich vor ein paar Wochen im Dschungel war, kam ich in Kontakt mit diesem, diesem Artefakt, und darauf lastete ein besonders böser Fluch.«

»Ein Fluch?«

Indys Kopf wippte auf und ab. Das Wippen rührte nicht von einem Zittern her, war auch kein Nicken, sondern irgend etwas dazwischen.

»Verzeih mir, aber du hättest dir etwas Besseres einfallen lassen sollen«, meinte Alecia. »Ich hätte erwartet, daß du mir gestehst, du seist verheiratet, oder daß deine Verlobte an einer schrecklichen Krankheit leidet und im Sterben liegt, oder daß du eine Kriegsverletzung hast. Aber ein Fluch? Das ist eine ziemlich billige Ausrede, finde ich.«

Indy schluckte schwer.

»Nicht nur, daß du mich nicht attraktiv findest, du vertraust mir auch nicht. Warum fällt es dir so schwer, jemandem Vertrauen zu schenken? Nein, antworte mir nicht, das macht keinen Unterschied. Es ist das beste, wenn ich mich daran erinnere, daß ich mich nur auf dieses ... Abenteuer eingelassen habe, um meinen Bruder zu finden.«

»Alecia«, warf Indy ein. »Ich möchte einfach nicht, daß irgend etwas geschieht.«

»Das hast du mir verdammt deutlich zu verstehen gegeben«, sagte sie. »Falls es dir nichts ausmacht, werde ich mich jetzt etwas ausruhen. Sollte ich in ein paar Stunden erschossen werden, wäre ich gern ausgeruht.«

Als das Dröhnen der Motoren leiser wurde, wachte Indy auf. Strahlen gebündelten Sonnenlichts fielen durch die runden Steuerbordfenster in den Laderaum ein, als das Flugboot an Höhe verlor. Offenbar setzte der Pilot zum Landeanflug in Ostia, einem Flugbootstützpunkt in der Nähe von Rom, an.

Balbos Geschwader war, wie Indy vom Fenster aus erkennen konnte, schon an den Docks festgezurrt. Die Flugzeuge erinnerten ihn an eine Schar gigantischer kanadischer Gänse. Im Hafen lagen Schiffe unterschiedlichster Größe und Bauart, und Kanonenboote schössen Wasserfontänen in die Luft, um den Triumph gebührend zu feiern.

»Alecia«, sagte Indy. »Es ist Zeit.«

»Nein«, murmelte sie. »Laß mich noch ein wenig schlafen.«

»Okay, aber dann wirst du deine Exekution verpassen«, scherzte er mit ihr.

Da schlug sie die Augen auf.

»Ich dachte, das alles sei nur ein Traum gewesen«, flüsterte sie verschlafen.

Sie setzte sich auf und rieb ihre müden Augen. »Mein Gott, ich bin also immer noch in diesem gräßlichen Flugboot. Aber es ist wenigstens wieder warm. Gehst du wirklich davon aus, daß sie uns erschießen werden?«

»Ja, es sei denn, sie finden uns nicht«, meinte Indy. »Hilf mir, dieses Durcheinander zu beseitigen. Möglicherweise können wir uns in den Umkleideschränken verstecken und dort warten, bis die anderen verschwunden sind und wir in aller Ruhe fliehen können.«

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