Zwei

Die Polizisten meldeten den Skelettfund auf dem Boden des Sees beim Polizeirevier in Hafnarfjörður, und sie brauchten einige Zeit, um den Tatbestand zu erklären, dass sie trockenen Fußes mitten im See stehen konnten. Der Hauptwachtmeister setzte sich telefonisch mit dem zuständigen Beamten beim Isländischen Landeskriminalamt in Verbindung, gab die Meldung über den Skelettfund weiter und wollte wissen, ob der Fall nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen würde.

»Das ist ein Fall für die Identifizierungskommission«, erklärte der zuständige Beamte. »Ich glaube, ich weiß den richtigen Mann dafür.«

»Und wer ist das?«

»Wir mussten ihn zwingen, Urlaub zu nehmen. Soweit ich weiß, hat er fünf Jahre Urlaub angesammelt, aber ich bin mir sicher, dass er froh sein wird, etwas zu tun zu bekommen. Er ist spezialisiert auf Vermisstenfälle. So eine Kleinarbeit macht ihm Spaß.«

Nachdem sich der Polizeikommissar von seinem Kollegen in Hafnarfjörður verabschiedet hatte, griff er wieder zum Telefon und veranlasste, dass Erlendur Sveinsson benachrichtigt und mitsamt seinem Team zum Kleifarvatn im Süden von Reykjavik geschickt wurde.

Erlendur war in seine Lektüre vertieft, als das Telefon klingelte. Die schweren Vorhänge vor den Fenstern im Wohnzimmer waren zugezogen, denn Erlendur versuchte, die helle Maisonne, so gut es ging, auszusperren. Da es in der Küche keine richtigen Gardinen gab, hatte er die Tür dorthin zugemacht. Auf diese Weise war es im Wohnzimmer dunkel genug um ihn herum, dass er Grund hatte, seine Stehlampe beim Sessel anzuschalten.

Erlendur kannte die Geschichte gut, denn er hatte sie schon mehrmals gelesen. Im Herbst 1868 hatten sich einige Männer aus dem Skaftártunga-Bezirk auf den Weg gemacht.

Sie wollten in den Südwesten zur Halbinsel Reykjanes, um von dort aus zum Fischen hinauszurudern. Sie nahmen die kürzeste Strecke »Hinter den Bergen«, an der nördlichen Seite des Mýrdal-Gletschers entlang. Mit dabei war ein junger Bursche von 17 Jahren, der David hieß. Die Männer waren an solche Reisen gewöhnt, und sie kannten die Strecke, aber bald nachdem sie in die Berge aufgebrochen waren, brach ein Unwetter herein, und sie kehrten nie wieder in bewohnte Gebiete zurück. Eine umfangreiche Suche nach ihnen wurde eingeleitet, aber man fand nicht die geringste Spur. Erst zehn Jahre später wurden ihre Knochen aus purem Zufall bei einer großen Sanddüne südlich von Kaldaklof entdeckt. Sie hatten eine Plane über sich gebreitet und lagen dicht nebeneinander.

Erlendur blickte im dämmrigen Licht hoch und sah im Geiste den jungen Burschen in der Gruppe vor sich, besorgt und ängstlich. Vor der Abreise schien er zu spüren, worauf es hinauslaufen würde; die ganze Gegend sprach darüber, dass er seine alten Spielsachen an seine Geschwister verteilt und gesagt hatte, dass er sie nicht wieder zurückfordern werde.

Erlendur legte das Buch weg, stand mit steifen Gliedern auf und nahm den Hörer ab. Es war Elínborg.

»Du kommst doch, oder?«, war ihre erste Frage.

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, sagte Erlendur.

Elínborg hatte ein Kochbuch zusammengestellt, das jetzt endlich erscheinen sollte.

»Mein Gott, was bin ich nervös. Was glaubst du, wie es wohl ankommen wird?«

»Ich kann noch nicht mal richtig mit der Mikrowelle umgehen«, sagte Erlendur, »deswegen bin ich vielleicht nicht …«

»Beim Verlag sind sie sehr angetan«, unterbrach Elínborgihn.

»Und die Fotos von den Gerichten sind fantastisch. Dafür wurde sogar ein spezieller Beleuchter hinzugezogen. Und dann gibt es ein Extrakapitel über Weihnachtsessen …«

»Elínborg.«

»Ja.«

»Hattest du einen bestimmten Grund, mich anzurufen?«

»Irgendwelche Knochen im Kleifarvatn«, sagte Elínborg und senkte die Stimme, als es nun nicht mehr um ihr Kochbuch ging. »Ich soll dich abholen. Der See ist kleiner geworden oder irgendsowas, und deswegen hat man dort heute morgen Knochen gefunden. Sie möchten, dass du dir das anschaust.«

»Der See ist kleiner geworden?«

»Ja, ich habe das allerdings nicht so richtig mitgekriegt.«


Sigurður Óli stand bei dem Skelett, als Erlendur und Elínborg am See eintrafen. Man erwartete die Spezialisten von der Spurensicherung. Die Polizisten aus Hafnarfjörður fummelten mit dem gelben Absperrband herum, um die Fundstelle abzugrenzen, mussten aber feststellen, dass sie nichts hatten, woran sie es befestigen konnten. Sigurður Óli beobachtete ihre Bemühungen und versuchte vergeblich, sich an irgendwelche typischen Witze zu erinnern, die man sich über die Einwohner von Hafnarfjörður erzählte.

»Hast du nicht Urlaub?«, fragte er Erlendur, der ihm auf dem sandigen Seegrund entgegenkam.

»Doch«, sagte Erlendur. »Was gibt’s Neues bei dir?«

»Same old …«, sagte Sigurður Óli. Er blickte zur Straße hoch, wo in diesem Augenblick ein klotziger Jeep von einer der Fernsehanstalten am Rand hielt. »Sie haben ihr gestattet, nach Hause zu fahren«, fuhr er fort und nickte in Richtung der Polizisten aus Hafnarfjörður. »Der Frau, die die Knochen gefunden hat. Sie hat hier irgendwelche Messungen durchgeführt. Wir können uns später mit ihr unterhalten, falls wir in Erfahrung bringen müssen, weshalb der See verschwunden ist. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, wären wir hier an dieser Stelle jetzt auf Tauchstation.«

»Was ist mit deiner Schulter, ist sie wieder in Ordnung?«

»Ja. Wie geht es deiner Tochter?«

»Eva Lind ist noch nicht aus der Therapie abgehauen. Ich glaube, dass sie es bereut, aber im Grunde genommen weiß ich das nicht.« Er kniete sich hin und betrachtete das, was vom Skelett zu sehen war. Er steckte seinen Finger in das Loch im Schädel und strich über eine der Rippen.

»Jemand hat ihm den Kopf eingeschlagen«, sagte er und stand wieder auf.

»Das könnte kaum offensichtlicher sein«, sagte Elínborg mit spöttischem Unterton. »Falls es denn ein er ist«, fügte sie hinzu.

»Sieht ein bisschen nach einer Schlägerei aus, oder?«, sagte Sigurður Óli. »Das Loch ist direkt hinter der rechten Schläfe.

Möglicherweise hat ein einziger kräftiger Hieb gereicht.«

»Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass er hier ganz allein auf einem Boot unterwegs war und dabei ausgerutscht und auf die Bordkante gefallen ist«, sagte Erlendur und blickte Elínborg an. »Dieser Ton, den du anschlägst, findet man den auch in deinem Kochbuch?«

»Die Bruchsplitter sind natürlich schon längst weggewaschen worden«, sagte Elínborg, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Wir müssen die Knochen jetzt freischaufeln lassen«, sagte Sigurður Óli. »Wann kommen die Techniker?« Erlendur sah, dass weitere Autos am Straßenrand geparkt wurden, und ging davon aus, dass der Knochenfund sich bereits bei den Nachrichtenredaktionen herumgesprochen hatte.

»Sollte hier nicht ein Zelt aufgeschlagen werden?«

»Natürlich«, sagte Sigurður Óli, »die bringen bestimmt ein Zelt mit.«

»Meinst du, dass er hier ganz allein geangelt hat?«, fragte Elínborg.

»Das ist nur eine Möglichkeit«, sagte Erlendur.

»Aber wenn er tatsächlich einen Hieb gegen den Kopf bekommen hat?«

»Dann war es jedenfalls kein Unfall«, sagte Sigurður Óli.

»Wir wissen nicht, was passiert ist«, sagte Erlendur. »Vielleicht hat er einen Hieb bekommen. Vielleicht war er mit jemand anderem auf dem See, und auf einmal zieht dieser andere einen Hammer hervor. Vielleicht waren es bloß zwei. Vielleicht waren sie auch zu fünft.«

»Oder«, warf Sigurður Óli ein, »er kriegt ganz woanders, beispielsweise in Reykjavik, eine verpasst, und dann bringt man ihn hierher und versenkt ihn.«

»Und wie hat man ihn versenkt?«, fragte Elínborg. »Dazu braucht man etwas Schweres, um die Leiche unten zu halten.«

»Ist es ein erwachsener Mensch?«, sagte Sigurður Óli.

»Sag ihnen, sie sollen sich in gebührender Entfernung halten«, sagte Erlendur, der sah, wie die Reporter von der Straße zum See herunterkamen. Von Reykjavik her näherte sich ein kleines Flugzeug, das im Niedrigflug über sie hinwegbrummte, und sie sahen einen Mann, der eine Kamera auf sie gerichtet hielt.

Während Sigurður Óli den Reportern entgegenging, begab Erlendur sich zum Wasser. Kleine Wellen plätscherten träge auf den Sand, und die Nachmittagssonne glitzerte auf der Wasseroberfläche. Er überlegte, was hier vor sich ging. Verschwand das Wasser aufgrund von menschlichem Einwirken, oder war die Natur am Werk? Es hatte ganz den Anschein, als wolle der See von sich aus ein Verbrechen aufdecken. Verbargen sich in seinen Tiefen, wo immer noch Dunkelheit und Schweigen herrschten, womöglich weitere düstere Freveltaten?

Er blickte wieder zur Straße. Die Spurensicherung in weißen Overalls eilte über den Sand auf ihn zu. Sie hatten ein kleines Zelt dabei — und die Taschen voller Berufsgeheimnisse. Als er zum Himmel aufschaute, spürte er die Wärme der Sonne im Gesicht.

Vielleicht war sie es, die den See austrocknete.

Das Erste, was die Leute von der Spurensicherung entdeckten, als sie das Skelett mit kleinen Schaufeln und weichen Pinseln vom Sand befreiten, war ein Seil. Es hatte sich zwischen die Rippen gelegt, führte an der Wirbelsäule vorbei nach unten und verschwand im Sand.


Die Hydrologin Sunna hatte es sich auf dem Sofa mit einer Decke gemütlich gemacht. Die Kassette steckte im Videogerät, ein amerikanischer Thriller, der The Bone Collector hieß. Der Mann mit den schwarzen Socken war weg. Er hatte zwei Telefonnummern hinterlassen, die sie im Klo hinunterspülte. Der Filmanfang lief gerade, als es an der Tür klingelte. Sie beschloss, so zu tun, als sei sie nicht zu Hause. Dauernd wurde man gestört. Entweder versuchten die Leute, einem am Telefon etwas aufzuschwatzen, oder es standen Typen vor der Tür, die mit getrocknetem Fisch hausierten, oder kleine Jungs, die Pfandflaschen sammelten und schwindelten, der Erlös sei für das Rote Kreuz. Es klingelte wieder, und sie zögerte immer noch.

Dann seufzte sie laut und schleuderte die Decke zur Seite.

Als sie die Tür öffnete, standen zwei Männer vor ihr, der eine, der vielleicht etwas über fünfzig war, sah nicht gerade fröhlich aus, er ließ die Schultern hängen und hatte einen seltsam traurigen Gesichtsausdruck. Der andere sah sehr viel sympathischer aus, eigentlich ein attraktiver Mann.

Als Erlendur bemerkte, wie interessiert sie Sigurður Óli anstarrte, konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Es ist wegen Kleifarvatn«, sagte er.

Als sie bei ihr im Wohnzimmer Platz genommen hatten, erklärte sie ihnen, was nach Meinung der Experten aus der hydrologischen Abteilung des Energieforschungsinstituts geschehen war.

»Der See hat keinen oberirdischen Abfluss«, erklärte Sunna, »sondern das Wasser sickert durch den Grund des Sees ins Erdreich, in den letzten Jahrzehnten ungefähr ein Kubikmeter pro Sekunde, und deswegen blieb ein gewisser Gleichstand erhalten.«

Erlendur und Sigurður Óli sahen sie an und versuchten, interessiert zu wirken.

»Ihr erinnert euch doch an das große Erdbeben in Südisland am 17. Juni 2000?«, fragte sie, und beide nickten. »Fünf Sekunden nach diesem großen Beben wurde der See von einem scharfen Erdstoß erschüttert, was dazu führte, dass sich die Abflussgeschwindigkeit verdoppelte. Als der See immer kleiner wurde, dachte man zunächst, dass es mit geringeren Niederschlagsmengen zu tun hätte, aber dann stellte sich heraus, dass das Wasser durch Spalten auf dem Seeboden nach unten rauscht. Die Spalten gibt es zwar schon seit Jahrzehnten, aber sie haben sich durch diesen Erdstoß noch mehr geöffnet, und die Folgen habe ich gerade geschildert. Der Wasserspiegel hat sich um mindestens vier Meter gesenkt.«

»Und deswegen ist das Skelett zutage gekommen«, sagte Erlendur.

»Als sich der Wasserspiegel um zwei Meter gesenkt hatte, fanden wir das Gerippe eines Schafs«, sagte Sunna. »Aber dem hatte niemand eins mit dem Hammer übergezogen.«

»Was meinst du damit, eins mit dem Hammer übergezogen?«, fragte Sigurður Óli.

Sie blickte ihn an. Sie hatte versucht, unauffällig auf seine Hände zu schielen, um zu sehen, ob er einen Ehering trug.

»Ich habe das Loch im Kopf gesehen«, sagte sie. »Wisst ihr schon, wer es ist?«

»Nein«, entgegnete Erlendur. »Er muss wohl ein Boot gehabt haben, nicht wahr? Um so weit hinaus aufs Wasser zu gelangen …«

»Wenn du damit fragen willst, ob jemand zu Fuß dorthin gegangen sein könnte, wo das Skelett liegt, dann ist die Antwort nein. An dieser Stelle war der See bis vor nicht allzu langer Zeit mindestens vier Meter tief. Wenn das vor vielen Jahren passiert ist. was ich natürlich nicht weiß, könnte der See dort sogar noch tiefer gewesen sein.«

»Also muss jemand mit einem Boot unterwegs gewesen sein«, sagte Sigurður Óli. »Gibt es Boote da am Kleifarvatn?«

»Es gibt dort in der Nähe ein paar Sommerhäuser«, sagte sie und schaute ihm in die Augen. Er hatte schöne, dunkelblaue Augen unter schmalen Brauen. »Vielleicht gibt es da Boote. Ich habe allerdings nie eins auf dem See gesehen.« Mit ihm müsste man rudern gehen, dachte sie bei sich.

Erlendurs Handy klingelte. Es war Elínborg. »Du solltest noch mal herkommen«, sagte sie.

»Was ist denn?«, fragte Erlendur.

»Komm selbst und sieh es dir an. Das ist äußerst merkwürdig. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

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