Das Zelt war über dem Skelett aufgeschlagen worden. Elínborg stand davor und beobachtete, wie Erlendur und Sigurður Óli mit raschen Schritten über den ausgetrockneten Boden des Sees auf sie zukamen. Der Abend war bereits fortgeschritten, und die Reporter waren weg. Nachdem bekannt wurde, dass ein Skelett auf dem Grund des Sees gefunden worden war, hatte der Verkehr auf der Straße zunächst zugenommen, aber jetzt war es wieder ruhiger geworden.
»Na, endlich«, sagte Elínborg, als sie eintrafen.
»Sigurður Óli musste sich unbedingt noch einen Hamburger reinziehen«, erwiderte Erlendur gereizt. »Was ist los?«
»Kommt mit«, sagte Elínborg und öffnete das Zelt. »Die Gerichtsmedizinerin ist auch hier.«
Als Erlendur zum See hinüberschaute, der in der Abendstille ruhig dalag, dachte er an die Spalten auf dem Grund des Sees. Er schaute zum Himmel, wo die Sonne immer noch so hoch stand, dass es taghell war. Er starrte auf ein weißes Wolkenknäuel direkt über sich und musste unentwegt daran denken, dass der See dort, wo er jetzt stand, früher vier Meter tief gewesen war.
Die Mitarbeiter der Spurensicherung hatten das Skelett inzwischen freigelegt, und es war jetzt ganz sichtbar. Es gab keinerlei Reste von Haut oder Kleidung. Daneben kniete eine Frau von etwa vierzig Jahren, die mit einem gelben Stift etwas auf den Hüftknochen kritzelte.
»Es handelt sich um einen Mann«, sagte sie. »Mittelgroß und höchstwahrscheinlich so um die vierzig, aber das muss ich noch genauer feststellen. Ich weiß nicht, wie lange er im See gelegen hat, vierzig, fünfzig Jahre vielleicht. Möglicherweise sogar länger, aber das sind nur Spekulationen, Wenn ich die Knochen im Labor untersucht habe, kann ich vielleicht etwas präziser Auskunft geben.« Sie stand auf und gab ihnen die Hand. Erlendur wusste, dass sie Matthildur hieß und gerade erst als Gerichtsmedizinerin angefangen hatte.
Er hätte sie gerne gefragt, warum sie sich auf Verbrechen spezialisiert hatte. Warum sie nicht einfach Ärztin war wie all die anderen und am isländischen Wohlfahrtssystem verdiente.
»Hat er einen Hieb an den Kopf bekommen?«, fragte Erlendur.
»So sieht es aus«, antwortete Matthildur. »Aber schwer zu sagen, was für eine Schlagwaffe verwendet wurde, weil sämtliche Spuren um das Loch herum nicht mehr vorhanden sind.«
»Es geht also um einen vorsätzlichen Mord?«, fragte Sigurður Óli.
»Alle Morde sind vorsätzlich«, sagte Matthildur. »Sie sind bloß unterschiedlich stupide.«
»Es steht außer Frage, dass es sich um Mord handelt«, sagte Elínborg, die dem Gespräch schweigend gelauscht hatte.
Sie stieg auf die andere Seite des Skeletts und deutete in ein großes Loch, das dort gegraben worden war. Erlendur trat an ihre Seite und sah, dass sich in dem Loch ein massiver schwarzer Metallkasten befand, der mit einem Seil an dem Skelett befestigt war. Der Kasten steckte noch zum größten Teil im Sand, aber an der Seite, die nach oben wies, befanden sich so etwas wie zerbrochene Armaturen mit schwarzen Scheiben und schwarzen Knöpfen. Der zerkratzte und verbeulte Kasten war mit Sand gefüllt, weil er sich geöffnet hatte.
»Was ist denn das?«, fragte Sigurður Óli.
»Weiß der Himmel«, sagte Elínborg, »aber damit ist er versenkt worden.«
»Ist das ein Messgerät?«, fragte Erlendur.
»So was habe ich noch nie gesehen. Die von der Spurensicherung meinen, dass es vielleicht ein Sender sein könnte. Sie sind gerade zum Essen.«
»Ein Sender?«, wiederholte Erlendur. »Was für ein Sender?«
»Das wussten sie nicht. Sie müssen das Ding ja auch erst noch ausgraben.«
Erlendur betrachtete das Seil, das an dem Skelett festgebunden war, und den schwarzen Kasten, den man dazu verwendet hatte, die Leiche zu versenken. Vor seinem inneren Auge schleppten sich Männer mit der Leiche ab, zerrten sie aus einem Auto und banden sie an das Gerät, ruderten damit auf den See hinaus und warfen alles zusammen über Bord.
»Er ist also versenkt worden?«
»Er hat das ja wohl kaum selber so arrangiert«, stieß Sigurður Óli hervor. »Er rudert doch nicht mitten auf den See raus, bindet sich an diesen Apparat an, nimmt ihn in den Arm, lässt sich dann fallen, und achtet dabei nicht nur darauf, dass er auf die Bordkante knallt, sondern auch, dass er anschließend über Bord geht, damit um jeden Preis gewährleistet ist, dass er verschwindet. Das wäre ja wohl der idiotischste Selbstmord der Menschheitsgeschichte.«
»Ob das Gerät wohl schwer ist?«, fragte Erlendur und versuchte, sich nicht von Sigurður Óli irritieren zu lassen.
»Mir kommt es so vor, als wäre es bleischwer«, sagte Matthildur.
»Ob es wohl sinnvoll wäre, hier auf dem Grund des Sees nach der Mordwaffe zu suchen?«, fragte Elínborg. »Mit einem Metalldetektor, falls es ein Hammer oder so was Ähnliches war? Vielleicht wurde das zusammen mit der Leiche über Bord geworfen.«
»Dafür ist die Spurensicherung zuständig«, sagte Erlendur, kniete neben dem schwarzen Kasten nieder und strich den Sand weg.
»Vielleicht handelt es sich um einen Funkamateur«, sagte Sigurður Óli.
»Du kommst doch zu der Party, wenn das Buch erscheint?«, fragte Elínborg ihn.
»Das muss man ja wohl«, entgegnete Sigurður Óli.
»Ich will dich natürlich nicht zwingen.«
»Wie heißt das Buch?«, erkundigte sich Erlendur.
»Von Gerichten und Schichten«, sagte Elínborg. »Das soll ein bisschen witzig klingen, eine Anspielung auf Schichten, wie ich sie in der Arbeit habe, aber auch die im Schichtkuchen, und anderen Gerichten …«
»Wirklich genial«, sagte Erlendur und sah Sigurður Óli verwundert an, der laut losprustete.
Eva Lind saß ihm in weißem Bademantel im Schneidersitz gegenüber und zwirbelte wie hypnotisiert mit dem Zeigefinger eine Strähne ihres Haars. Normalerweise durften Patienten während der Therapie keinen Besuch bekommen, aber das Personal kannte Erlendur gut und erhob keine Einwände, als er darum bat, sie besuchen zu dürfen.
Geraume Zeit saßen sie schweigend im Aufenthaltsraum für die Patienten. An den Wänden klebten Plakate gegen Alkohol- und Drogenkonsum.
»Triffst du dich immer noch mit dieser alten Schnepfe?«, fragte Eva und drehte weiter an ihren Haaren.
»Hör auf, sie alte Schnepfe zu nennen«, sagte Erlendur. »Valgerður ist zwei Jahre jünger als ich.«
»Eben, dann passt es doch gut. Triffst du dich immer noch mit ihr?«
»Ja.«
»Und? Besucht diese Valgerður dich auch zu Hause?«
»Das hat sie einmal gemacht.«
»Und sonst trefft ihr euch im Hotel.«
»So in der Art. Wie geht es dir? Schöne Grüße von Sigurður Óli. Er sagt, dass seine Schulter so langsam wieder in Ordnung kommt.«
»Ich hab daneben getroffen. Ich hatte auf seine Birne gezielt.«
»Nicht zu fassen, wie verdammt bescheuert du dich aufführen kannst.«
»Hat sie ihren Kerl denn jetzt verlassen? Die war doch verheiratet, diese Valgerður? Das hast du irgendwann mal gesagt.«
»Das geht dich nichts an.«
»Sie geht also fremd? Was bedeutet, dass du eine verheiratete Frau vögelst. Was denkst du dir dabei?«
»Wir haben nicht miteinander geschlafen. Das geht dich überhaupt nichts an. Und red nicht so ordinär daher!«
»Echt der Killer, dass ihr angeblich noch nicht gevögelt habt.«
»Ich dachte, du würdest hier irgendwelche Medikamente kriegen, beispielsweise gegen deine saumäßige Laune?« Er stand auf, und sie schaute zu ihm hoch. »Ich habe nicht darum gebeten, hier eingeliefert zu werden. Ich habe dich nicht gebeten, dich um mich zu kümmern. Ich will, dass du mich in Ruhe lässt. Total in Ruhe.« Er verließ den Aufenthaltsraum, ohne sich zu verabschieden.
»Schöne Grüße an die alte Schnepfe«, rief Eva Lind hinter ihm her und fummelte völlig ungerührt weiter an ihren Haaren. »Schöne Grüße an diese verdammte alte Schnepfe«, wiederholte sie leise.
Erlendur parkte den Wagen vor seinem Wohnblock und betrat das Treppenhaus. Auf seiner Etage angekommen, bemerkte er einen schlaksigen jungen Mann vor der Tür zu seiner Wohnung. Er hatte lange Haare und rauchte. Der Oberkörper befand sich im Schatten, sodass Erlendur sein Gesicht nicht erkennen konnte. Erst dachte er, dass es irgendein Krimineller war, der eine Rechnung mit ihm begleichen wollte. Er bekam manchmal Anrufe, vor allem, wenn die Betreffenden betrunken waren, und sie drohten ihm mit allem Möglichen, weil er ihnen auf die eine oder andere Weise in ihrer tristen Existenz in die Quere gekommen war. Aber es gab auch immer wieder welche, die sich bei ihm zu Hause blicken ließen und ihn zulaberten. Auf so etwas machte er sich jetzt hier im Treppenhaus gefasst.
Der junge Mann richtete sich auf, als er Erlendur sah.
»Kann ich bei dir übernachten?«, fragte er und wusste nicht, was er mit dem Zigarettenstummel machen sollte.
Erlendur bemerkte zwei Stummel auf dem Linoleum.
»Wer …?«
»Sindri«, sagte der junge Mann und trat aus dem Schatten.
»Dein Sohn. Kennst du mich nicht?«
»Sindri?«, fragte Erlendur verwundert.
»Ich bin jetzt wieder in der Stadt«, sagte er. »Mir fiel ein, dass ich mal bei dir vorbeischauen könnte.«
Sigurður Óli hatte sich gerade neben Bergþóra ins Bett gelegt, als das Telefon auf seinem Nachttisch klingelte. Er schaute auf das Display und wusste, wer der Anrufer war.
Er hatte nicht vor, zu antworten. Beim siebten Klingeln knuffte Bergþóra ihn in die Seite.
»Geh dran«, sagte sie. »Es tut ihm gut, wenn du mit ihm redest. Er hat das Gefühl, dass du ihm hilfst.«
»Ich will nicht, dass er davon ausgeht, dass er mich zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Hause anrufen kann«, sagte Sigurður Óli.
»Mensch, hab dich doch nicht so«, sagte Bergþóra und griff über Sigurður Óli hinweg nach dem Telefon auf seinem Nachttisch.
»Ja, er ist zu Hause«, sagte sie. »Einen Moment.« Sie reichte Sigurður Óli den Hörer.
»Für dich«, sagte sie lächelnd.
»Hast du schon geschlafen?«, sagte die Stimme in der Leitung.
»Ja«, log Sigurður Óli. »Und ich hatte dich gebeten, nicht bei mir zu Hause anzurufen. Ich möchte das nicht.«
»Entschuldige«, sagte die Stimme. »Ich kann nicht schlafen. Ich nehme Psychopharmaka und Beruhigungsmittel und Schlaftabletten, aber nichts hilft.«
»Du kannst nicht einfach hier anrufen, wann es dir passt«, sagte Sigurður Óli.
»Entschuldige«, sagte der Mann. »Es geht mir nicht gut.«
»In Ordnung«, sagte Sigurður Óli.
»Es ist genau ein Jahr her. Heute.«
»Ja«, sagte Sigurður Óli. »Ich weiß.«
»Ein ganzes Jahr in der Hölle.«
»Versuch doch, nicht daran zu denken«, sagte Sigurður Óli. »Höchste Zeit, dass du aufhörst, dich so zu quälen. Das hilft überhaupt nichts.«
»Das lässt sich leicht sagen«, sagte der Mann. »Ich weiß«, sagte Sigurður Óli. »Aber versuch es doch einmal.«
»Was habe ich mir bloß mit diesen verfluchten Erdbeeren gedacht?«
»Wir sind das tausend Mal durchgegangen«, sagte Sigurður Óli. Er schaute Bergþóra an und schüttelte den Kopf. »Es war nicht deine Schuld. Das musst du doch einsehen. Hör auf, dich so zu quälen.«
»Nein«, beharrte der Mann. »Es war meine Schuld. Es war alles meine Schuld.«
Dann legte er auf.