DER SCHWARZE DIAMANT

Als ob nichts Wesentliches passiert sei, stießen Holmes und Watson wieder zu der kleinen Gruppe von Menschen auf dem Bootsdeck und nahmen weiter an der Gedenkveranstaltung teil. Die an der Reling Verbliebenen hatten ihre Statements fortgesetzt.

»… für mich unvorstellbar, einen Angehörigen zu verlieren. Ich spreche allen Betroffenen meine Anteilnahme aus«, sagte gerade Irene Adler. »Umso wesentlicher ist es, dass Mr. Holmes, wie er es schon vor Antritt der Reise über die Pall Mall Gazette verlauten ließ, tatsächlich alle Unklarheiten beseitigt und die Weltöffentlichkeit über die wahren Hintergründe informiert. Wer, wenn nicht er, wäre geeignet für eine wichtige Aufgabe wie diese.«

»Mir geht es wie meiner Vorrednerin«, sagte John Hatter, der Mitarbeiter von James Faber bei der Royal-Maritime-Versicherung. »Ich verneige mich demütig vor dem großen Geschehen vor drei Jahren, an dem ich selbst keinen Anteil hatte das mich jedoch von Berufs wegen einige Zeit beschäftigte. Die Royal Maritime war und ist in Zusammenarbeit mit vielen kleineren Instituten bestrebt, wenigstens die ärgsten finanziellen Probleme der Betroffenen zu lösen.«

»Klingt wie eine Werbebotschaft. Gefällt mir gar nicht«, zischte Watson.

Als sich sonst niemand mehr zu Wort meldete, schloss der Geistliche das Treffen mit dem Vaterunser, das er auf Latein betete. Manche der Anwesenden falteten dabei die Hände. Dr. Watson verschränkte seine Finger ineinander. Holmes senkte den Kopf. Er betete nicht. Die Musiker stimmten Lowell Masons Nearer My God to Thee an.


Ist mir auch ganz verhüllt

Mein Weg allhier:

Wird nun mein Wunsch erfüllt

Näher zu dir!

Schließt dann mein Pilgerlauf,

Schwing ich mich selig auf

Näher mein Gott zu Dir,

Näher zu Dir!


Als auch die Musiker den Weg in ihre Kabinen angetreten hatten, erkundigte sich Mr. Hatter bei Watson, wie es Mrs. Harrison gehe.

»Ein Schwächeanfall, nichts von Bedeutung«, antwortete dieser.

»Kein Wunder bei den Erinnerungen, die durch die Feier geweckt wurden.«


»Was ist los, Holmes? Was wissen Sie? Was planen Sie?«, fragte Dr. Watson gegen ein Uhr in der Suite des Detektivs, in der auch noch der Journalist Conolly und Bruce Ismay anwesend waren.

»Ich möchte nicht alles auf den Tisch legen. Das ist zu gefährlich im gegenwärtigen Stadium des Falles. Wenn jemand konkrete Fragen stellt, werde ich diese beantworten, so weit mir dies möglich ist. Ich sage aber eines zum heutigen Abend: Der Augenblick der Wahrheit brachte all das, was ich mir erwartet hatte. Es kam zu einer Läuterung, ohne dass ich wesentlich dazu beitrug. Sicher, es waren kleinere Eingriffe nötig, um Beteiligte zu schützen. Ich denke, dass alles seinen vorgegebenen Lauf nehmen wird.«

Auch Joseph Bruce Ismay wollte wissen, wie es Mrs. Harrison gehe und welche Bewandtnis es mit dem Collier von Mrs. Oldman-Smythe habe, das Holmes dem Meer übergeben hatte, ohne zu erwähnen, wo er es gefunden und wer es gestohlen hatte.

»Ich warf tatsächlich einen Gegenstand aus dem Besitz von Mrs. Oldman-Smythe über die Reling. Ich behauptete jedoch nie, dass es sich dabei um das Collier gehandelt hat. Die Kette befindet sich unversehrt in der Kabine eines Passagiers«, erklärte Sherlock Holmes. »Conolly fand sie, ich sicherte sie. Und nun ist sie an ihrem Ziel angelangt.«

Der Journalist protestierte: »Meinen Sie nicht auch, Mr. Holmes, dass ich als Finder dieses Schmuckstücks ein Recht habe zu wissen, wo es nun liegt?«

»Sie werden es erfahren. Noch ist die Zeit dafür nicht reif«, meinte Holmes und beobachtete, wie sich sowohl Watson als auch Conolly Notizen machten. »Sie führen Buch, Mr. Conolly, Doktor Watson?«

Beide Männer nickten.

»Das ist gut so. Es wäre außerordentlich reizvoll, morgen Abend in der Schiffsbibliothek für einen kleinen, interessierten Kreis eine Abschiedslesung aus Ihren Texten zu geben.«

»Da müssen Sie uns aber vorher in das Ergebnis Ihrer Ermittlungen einweihen, Mr. Holmes«, sagte Conolly. »Ich bin gegenüber Ihrem Biographen schwer benachteiligt, da ich nicht einmal die Kabine verlassen darf.«

»So hat jeder an seinem Geschick zu tragen«, stellte Holmes trocken fest. »Dafür leben Sie noch. Ist ja auch etwas. Nein, Sie schreiben nur das, was Sie selbst wissen, meine Herren. Der Gegner soll im Unklaren bleiben.«

»Können wir schreiben, dass das Mädchen durch einen Schock wieder sprechen kann?«, fragte Conolly.

»Sie haben geplaudert, Watson, und das Ihrem schriftstellerischen Konkurrenten gegenüber. Wie unklug, wie überaus unklug. Zu Ihrer Frage, Mr. Conolly: Ich lasse Sie das selbst entscheiden. Ist Ihnen eine journalistische Sensation wichtiger als das Wohlergehen eines kleinen Mädchens? Ist Ihnen ein momentaner Triumph wichtiger als die Gesamtlösung?«

»Aber … Ich habe vor dieser Reise groß berichtet. Und nun? Es scheint, als ob am Ende der Reise keine der wesentlichen Fragen beantwortet ist. Haben Mr. Ismay und sein amerikanischer Partner die Versicherung betrogen und die Titanic versenkt? Wenn ja, wie? Wenn nein, wer oder was steckt wirklich dahinter? Wer wollte mich vergiften? Wer hat meine Kollegen Evans und Robertson auf dem Gewissen?

Wer tötete Mrs. Oldman-Smythe und warum musste sie sterben? Wer stahl ihr Collier?«

»Sie haben wie ich dieselben Chancen, all diese Punkte zu klären. Ich lasse Ihnen völlig freie Hand. Sie können auch die Kabine verlassen, wenn Sie sich dementsprechend verkleiden. Es könnte jemand vor Schreck tot umfallen, Ihr Gespenst zu sehen. Und nach dieser Reise können Sie veröffentlichen, was immer Sie wollen. Wenn Sie der Meinung sind, dass ich versagt habe und nicht fähig war, den Fall zu lösen, dürfen Sie mich öffentlich bloßstellen. Ich werde mich nicht dagegen wehren.«

Holmes hatte sich in Rage geredet. Sein Gesicht war leicht gerötet.

»Aber … Aber warum erzählen Sie uns nicht, was Sie wissen? Wir könnten Sie weiterhin in jeder Weise unterstützen.«

»Der Grund dafür ist einfach. Der Fall darf noch nicht gelöst werden, weil sonst die Verantwortlichen untertauchen oder versuchen werden, uns zu vernichten. Der Fall wird am 30. Dezember dieses Jahres gelöst. Ich lade Sie, meine Herren, ein, mit mir ein Essen, ein Mittagsmahl, in unserer Wohnung in der Baker Street einzunehmen. Um Punkt 12 Uhr. Am nächsten Tag können Sie darüber in der Zeitung schreiben, Mr. Conolly. Aber damit Sie sehen, dass ich nicht alles vor Ihnen verberge, zwei Hinweise. Erstens: Warum wurde Mrs. Oldman-Smythe ermordet? Ich erinnere daran, was ich schon einmal feststellte. Die Frau wusste viel über die Hintergründe unseres Falls. Sie war mit den Verantwortlichen persönlich bekannt. Ihr ging es nicht darum, weitere Untaten zu verhindern. Mrs. Oldman-Smythe wollte persönlichen Nutzen aus ihrem Wissen ziehen.«

»Sie deuten damit an, dass sie die Täter erpresste«, stellte Watson fest.

»So ist es. Die unglaublich wertvolle Kette war ein solches Produkt ihrer törichten Drohungen. Auch der Verkauf von vier ihrer Bilder, noch vor der Vernissage. Ich erinnere an ihre Andeutung bei der Ansprache zur Eröffnung der Gemäldeausstellung. Sie wollte noch mehr Schweigegeld. Das war ihr Todesurteil.«

»Warum der 30. Dezember? Ist dieser Tag von besonderer Bedeutung?«, fragte Watson.

»Mehr erfahren Sie nicht von mir, meine Herren. Bemühen Sie sich selbst. Und sind Sie vernünftig in dem, was Sie schriftlich festhalten.«

»Ich werde beim Schreiben Vernunft beweisen. Nicht aber beim Ermitteln. Davon hält mich nun keiner mehr ab«, sagte Robert M. Conolly und eilte in sein Zimmer.

Einige Minuten später verließ er, als Steward verkleidet, die Kabine.

Conolly ahnte, welche Bedeutung der 30. Dezember, beziehungsweise der Tag davor, hatte. Er hatte eine Notiz dazu in den Unterlagen von Morgan Robertson gefunden. Und der Journalist hatte eine Vermutung, wer auf der Olympic in Zusammenhang mit den so genannten Davidskriegern stehen konnte, jener teuflischen Gruppe, die hinter dem Fluch der Titanic steckte.

Es war nicht schwer für ihn, die Tür zu der Kabine des von ihm Verdächtigten zu öffnen. Und tatsächlich, die zwei Räume, die von dem Mann bewohnt wurden, enthielten das, was er vermutet hatte. Er würde seinen eigenen Bericht schreiben und ihn per Funk an die Redaktion übermitteln lassen, so dass die Gazette noch lange vor Holmes und ihrer Ankunft in New York exklusiv darüber berichten würde.

Die einen Spalt breit offen stehende Tür war ins Schloss gefallen. Conolly drehte sich um und sah in die Augen der Person, die er verdächtigte. Bevor er reagieren konnte, beendete eine Salve von Schüssen aus einer Colt-Browning M1895, die ihn mitten in die Stirn trafen, sein Denken und sein Leben.


»Was ist mit Conolly geschehen? Wo ist er?«, fragte Dr. Watson.

»Er wurde ermordet und man wird ihn des Nachts über Bord werfen«, sagte Holmes zu Watson.

»Und was gedenken Sie zu unternehmen?«, fragte der Besitzer der White Star Lines.

»Nichts. Jedes Eingreifen würde das Ziel meines Auftrags gefährden. Und das wollen wir doch nicht riskieren, Mr. Ismay.«

»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Mr. Holmes, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass der Kapitän ebenso besonnen bleibt wie Sie.«

»Kapitän Hayes wird die New Yorker Polizei einschalten müssen, um das Verschwinden von Mrs. Oldman-Smythe und ihres Colliers sowie von Mr. Conolly zu klären. Die Cops werden das Collier finden, aber keine Spur der beiden Ermordeten und keinen Hinweis auf die Täter. Und es würde mich außerordentlich überraschen, wenn nicht ein weiterer Passagier zu Tode kommen würde, bevor wir New York erreichen.«

»Ich bin empört, Holmes, dass Sie so leichtfertig über den Tod eines Menschen hinweggehen, der uns doch nahe gestanden hat. Mir war Mr. Conolly sehr wichtig. Ich habe ihn sehr geschätzt«, sagte Dr. Watson in vorwurfsvollem Ton.

»Ich versuchte ihn zu schützen. Ich warnte ihn. Er meinte, das in den Wind schlagen zu können. Ich wiederhole nun auch für Sie, Watson, Mr. Ismay: Wir haben es mit keinem alltäglichen Fall und keinem alltäglichen Gegner zu tun. Vorsicht und Klugheit sind gefragt, wollen Sie nicht auch noch Ihr Leben riskieren.«

»Also, was hast du zu sagen? Ich höre«, sagte Linda Hornby zu ihrem um ein Jahr jüngeren Bräutigam.

»Ich bedaure, wie ich mich bisher dir gegenüber verhalten habe, und ich bitte dich, mir eine Chance zu geben. Eine letzte Chance.«

»Du hast mir auf dieser Schiffsreise die Augen geöffnet. Du hast nicht mich geheiratet, sondern unsere Firma. Ich bin ein lästiges Anhängsel bei diesem Geschäft. Und jede verrückte Alte, wie diese unmögliche Malerin, ist für dich interessanter, als ich es bin.«

»Ich entschuldige mich und bitte dich um einen Neuanfang.«

»Hast du etwas mit dem Verschwinden von Mrs. Oldman-Smythe zu tun, Graham?«, fragte ihn die junge Frau.

»Nein. Aber du vielleicht?«

»Ich auch nicht.«

»Gut. Das ist wichtig«, sagte der Einundzwanzigjährige. »Ich hatte nichts mit der Frau, im eigentlichen Sinn.«

»Was meinst du damit?«

»Du weißt schon.«

»Mit mir hattest du auch noch nichts im eigentlichen Sinn.«

»Es ist schwer, Linda.«

»Was ist schwer?«

»Darüber zu reden. Ich … ich hatte Angst vor dir.

Und ich meinte, die ältere, erfahrene Frau könnte mir den Weg ebnen.«

»Den Weg in mein Bett?«

Graham Hornby schwieg.

»Was ist so Furcht erregend an mir, Graham?«

»Ich weiß nicht. Ich habe bisher alles getan, was meine Eltern von mir wollten. Ich arbeite in der Firma, ich habe dich geheiratet. Ja, ich gebe zu, dass ich damit nur den Wunsch meiner Eltern erfüllt habe. Aber dann stand ich dir gegenüber, einer Frau aus Fleisch und Blut, einem seltsamen, rätselhaften Wesen, wie es mir bisher noch nicht untergekommen war. Einer Frau, die Interesse an mir zeigte.«

»Die dir keine Befehle gab und dir nicht sagte, wo es lang ging, sondern auf Vorschläge von dir wartete. Die darauf wartete, dass du zu ihr kommst.«

»Ja, ungefähr so. Ich bin ratlos und nun habe ich alles verdorben. Gib mir Zeit. Ich muss …«

»Du musst ein Mann werden, bevor du wie ein Mann handeln kannst.«

»Ja, so ist es. Ich bemühe mich, aber es ist nicht leicht. Gib mir bitte Zeit!«

»Heißt das, dass du bei mir bleiben willst?«

»Ja, unbedingt.«

»Gut. Auch ich will bei dir bleiben. Wie viel Zeit brauchst du?«

»Ein Jahr.«

»Was willst du in diesem Jahr machen?«

»Ich möchte ganz normal mit dir leben, ohne …«

»Ohne mit mir ins Bett zu gehen.«

»Ich weiß nicht. Nein, das ist es nicht. Ich …«

»Also, worauf soll ich in diesem Jahr verzichten?«

»Gib mir die Freiheit, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Ich werde mich sehr bemühen. Wenn ich es nicht schaffe, gehe ich.«

»Du wirst es schaffen. Ich werde dich unterstützen.«

»Danke. Ich liebe dich, Linda.«


Donnerstag, der 15. April, begann ruhig. Holmes schlief lange und ließ das Frühstück in seine Kabine bringen.

Zum Mittagsmahl, das er mit Bruce Ismay in der Suite einnahm, hatte er Watson und die Bibliothekarin eingeladen, unter dem Vorwand, Details für die Lesung am Abend besprechen zu wollen.

»Länger als eine Stunde dürfen Sie nicht lesen, Watson«, riet der Detektiv. »Das hält kein Publikum aus.«

»Ich habe nicht vor, die Ohren der Passagiere zu quälen«, sagte der Doktor etwas gekränkt. »Und ich will auch die Zeit nicht beschneiden, in der Sie selbst über Ihre Arbeit als der Welt größter Detektiv berichten.«

»Entnehme ich Ihrer Stimme so etwas wie bitteren Sarkasmus, Watson? Wenn das so ist, ersuche ich Sie dringend, etwas direkter zu werden.«

»Gern. Aber nicht im Beisein einer Dame und von Mr. Ismay.«

»Nach dem Mahl und der Besprechung des Abendprogramms stehe ich für ein Vieraugengespräch zur Verfügung. Im Augenblick jedoch nicht«, wehrte Holmes ab.

»Ich werde Sitzplätze für etwa 50 Passagiere bereitstellen lassen«, schlug Irene Adler-Wolfe, alias Joyce Alexandra Ronstead, vor. »Sie, Mr. Holmes und Sie, Doktor Watson, werden gemeinsam mit mir an einem Lesetisch Platz nehmen. Ich werde Sie den Gästen vorstellen, dann wird Doktor Watson aus seinen Büchern lesen. Wir haben alle wesentlichen Bände in der Bibliothek. Auch ich glaube, dass eine Stunde Vortrag ein ideales Maß ist, um die Zuhörer nicht zu überfordern. Dann soll Sherlock Holmes berichten, was immer er dem Publikum erzählen will. Eine Frage noch, meine Herren. Soll den Besuchern die Möglichkeit gegeben werden, an Sie beide Fragen zu stellen?«

Watson sah Holmes Hilfe suchend an, dieser sagte: »Von meiner Seite besteht kein Einwand dagegen. Ja, ich würde die Kommunikation mit den Zuhörern sogar begrüßen.«

»Sie führen etwas Besonderes im Schilde, Mr. Holmes?«, fragte die Bibliothekarin interessiert.

»Nichts von Bedeutung, Miss Ronstead. Das Außergewöhnliche an diesem Abend beschränkt sich auf die literarischen Werke meines Freundes Watson.«

»Beschränkt«, murrte dieser. »Sie können es nicht lassen, Holmes.«

»Ich bedaure die unglückliche Formulierung«, verbesserte sich dieser. »Der wahre Höhepunkt unserer gesamten Reise auf der Olympic wird heute Abend erreicht. Durch Doktor Watson und seinen literarischen Vortrag. Gut so, Watson?«

»Wenn Sie fertig sind mit Ihren Seitenhieben auf mich, vergessen Sie nicht das Gespräch, um das ich Sie gebeten habe«, antwortete dieser.


»Was wollen Sie mir unbedingt mitteilen, Doktor?«, fragte der Detektiv bei einem Glas Whisky seinen Begleiter in dessen Kabine.

»Was gedenken Sie mit Mr. Ismay zu tun? Werden Sie ihn der New Yorker Polizei übergeben oder bringen Sie ihn zurück nach London, um ihn an Scotland Yard auszuliefern?«

»Mr. Ismay? Was haben Sie gegen diesen Gentleman, Watson?«

»Es ist wohl klar, was ich meine. Ismay hat mit Conolly seinen letzten Widersacher ausgeschaltet, er steckt wohl auch hinter der Ermordung von Mrs. Oldman-Smythe. Und Sie selbst, Holmes, haben angekündigt, dass dies nicht der letzte Mord auf der Erinnerungsreise war.«

»Wer, glauben Sie, Watson, wird als Nächster daran glauben müssen, wenn wir, bescheiden, wie wir sind, anderen zunächst den Vortritt lassen?«

Der Doktor dachte nach, dann meinte er: »Daran habe ich noch nicht gedacht. Aber ich fühle mich durchaus nicht wohl in meiner Haut. Ismay ahnt, dass ich ihn verdächtige. Und dass er keine Skrupel kennt, wissen wir ja. Es wäre also zu empfehlen, ihn zu verhaften und ihn sicher zu verwahren.«

»Er ist sicher in meiner Kabine verwahrt, Watson. Im Übrigen teile ich Ihren Verdacht, dass Ismay in das mörderische Geschehen verwickelt ist, keineswegs.«

»Aber wer dann? Wer soll dahinter stecken? Die Brüder von Kapitän Smith etwa?«

»Das wäre nicht ganz auszuschließen. Ich denke mir, dass es einen Hintergrund der Geschehnisse gibt, der, ähnlich einem Eisberg, tief und gefährlich bisher im Verborgenen blieb. Etwas, das in die Vergangenheit reicht und mit dem schwarzen Diamanten von Mrs. Oldman-Smythe zu tun hat.«

»Den Sie ins Meer warfen.«

»Den ich symbolisch ins Meer warf, der sich jedoch noch auf diesem Schiff befindet und der Person, die ihn bei sich hat, kein Glück bringen wird.«

»Was haben der Untergang der Titanic und die Morde mit dem schwarzen Diamanten zu tun?«

»Der Stein ist südafrikanischer Herkunft. Black Tear wurde in den Wirren des Burenkrieges Ohm Krugers Frau gestohlen.«

»Kapitän Smith hatte mit dem Burenkrieg zu tun«, sagte Watson.

»Richtig. Er transportierte Truppen nach Südafrika, darunter vermutlich jene Männer, die für die Verbrechen verantwortlich sind, die wir nun klären wollen.«

»Seine Brüder?«

»Sie haben recht, Watson. Wir müssen allem und jedem Misstrauen entgegenbringen, brauchen aber hieb- und stichfeste Beweise, um den Gegner nachhaltig überführen und besiegen zu können.«

»Sagen Sie doch, was Sie alles wissen, Holmes!«

»Es ist wichtig, das Hauptziel, die vollständige Aufdeckung der Verbrechen, im Auge zu behalten und dabei auf kleine Triumphe zu verzichten. Ein langer Atem, ein sehr langer Atem, ist vonnöten. Ein langer Atem, zu dem es auch gehört, schweigen zu können.«

Nach einem Mittagsschläfchen besuchte der Detektiv Irene Adler in der Bibliothek, in der sich um zwei Uhr noch keine Besucher befanden. Die Passagiere schienen am vorletzten Tag ihrer Reise besonders ruhebedürftig.

»Ich freue mich auf den heutigen Abend«, sagte Irene Adler. »Was ich über Sie und Ihre Arbeit weiß, verdanke ich den Texten von Dr. Watson.«

»Watson hat die Bücher in seiner liebenswürdigen Art geschrieben und mich so dargestellt, wie er mich gerne sieht. Als kalten Analytiker, ohne menschliche Regungen, eine Art Detektivmaschine, die einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringt, sich selbst bei der Lösung von meist belanglos-skurrilen Fällen darzustellen.«

»Und Watson irrt damit?«

»Das will ich nicht behaupten«, versuchte Holmes dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. »Sie meinen zu wissen, wie mein Leben seit unserer denkwürdigen Begegnung verlief. Ich wiederum bin nur auf Vermutungen angewiesen und würde gerne aus Ihrem Mund vernehmen, was Ihnen widerfuhr.«

»Ich bin, wie gesagt, Mutter zweier wunderbarer Söhne, von denen einer viel versprechende detektivische Fähigkeiten besitzt.«

»Die er von Ihnen geerbt hat?«

»Vermutlich. Für mich war es wichtig, mich zu entscheiden. Ich fand es im Laufe der Jahre weniger gefährlich, auf der Seite des Gesetzes tätig zu sein, als weiblicher Detektiv …«

»Mit hochinteressanten Überschreitungen der Grenze zwischen Gut und Böse.«

»Wie meinen Sie das, Mr. Holmes?«

»Nur meine Phantasie, Mrs. Wolfe, wie ich schon sagte. In meiner inneren Vorstellung waren Sie sehr erfolgreich. In spektakulären Fällen. Aber Sie haben eine Tendenz, die Bestrafung derer, die Sie überführten, in die eigene Hand zu nehmen, wenn …«

»Wenn nicht gesichert ist, dass die zuständigen Instanzen ihrer Pflicht nachkommen.«

»War das auch im Falle des Thronfolgers so?«

»Sie meinen Prinz Albert Edward?«

»Nein. Ich beziehe mich auf ein Land im Zentrum Europas.«

»Ach. Ich konnte nicht ahnen, wie sehr Sie sich mit meiner Tätigkeit beschäftigten. Im von Ihnen angesprochenen Fall konnte ich nicht anders, Mr. Holmes. Es war klar, wer dahinter steckte. Und diese Person musste zur Rechenschaft gezogen werden, so mächtig sie auch war.«

»Es ist Ihnen aber auch klar, dass der derzeitige Krieg, das Chaos in Europa, das bis nach England und Amerika ausstrahlt, eine Folge Ihrer Ermittlungen ist«, stellte Holmes fest.

»Was wissen Sie konkret über die Ermordung des Thronfolgers und seiner jungen Freundin? Ich bin mir nicht sicher, ob Sie nicht bluffen, um Informationen aus mir herauszuholen. Ach verdammt, es ist sonst niemand hier.«

Mit diesen harschen Worten steckte sich die Bibliothekarin eine Zigarette an.

»Ich weiß«, sagte Holmes, als er ihr Feuer gab, »dass Sie von der Kaiserin beauftragt wurden, den Mord an ihrem Sohn zu klären. Und dass Ihnen das auch gelang, mit jenen weit reichenden Folgen, die ich schon erwähnte.«

»Ich widerspreche Ihnen nicht, Holmes, weigere mich aber, in Details zu gehen. Die Ordnung, die durch einen skrupellosen Mann gestört worden war, wurde wiederhergestellt«, antwortete Irene Adler knapp.

»Und Ihre Auftraggeberin verlor das Leben. Sowie der direkte Nachfolger des Kaisers.«

»Jahre später.«

»Und Sie fürchten, ebenso beseitigt zu werden, wenn Sie nicht schweigen.«

»Die Gefahr verringert sich von Jahr zu Jahr.«

»Gut. Lassen wir es dabei bewenden. Ich weiß, wer die wahre Macht in jenem Land ausübt, Sie wissen es. Und die Schmierenkomödie, die dem Rest der Welt vorgespielt wird, konnte nur in der gegenwärtigen Katastrophe enden.«

»Wir könnten dieses Spiel nun ewig weiterspielen, Mr. Holmes. Ich möchte es aber hiermit beendet wissen.«

»Sofort. Was geschah mit dem wirklichen Kaiser jenes Landes, nachdem er durch den Schauspieler ersetzt wurde?«

»Kein weiteres Wort, Holmes! Sie sind verrückt. Ich ersuche Sie zu gehen.«

»Es war sehr schön, es hat mich …«

»Schweigen Sie, Holmes!«

»Nicht ohne vorher mit Ihnen den Ablauf des heutigen Abends besprochen zu haben.«

»Das klingt wieder ganz vernünftig. Also …?«

»Wir werden die Person X weiter verunsichern. Sie soll glauben, dass ihre Lage ausweglos ist.«

»Und dann?«

»Dann lassen wir sie laufen und schauen, wohin sie läuft.«

»Das ist mir zu vage«, meinte Irene Adler. »Ich habe den Auftrag, den Fall zu lösen. Und ich werde das auch tun.«

»Wie Sie meinen. Jeder auf seine Weise. Watson wird jedenfalls am Ende seiner Lesung über den gegenwärtigen Fall berichten und dabei ein überraschendes Dokument präsentieren, das hoffentlich einige Wirkung hat.«

»Gut. Darauf bin ich gespannt. Wie ich überhaupt außerordentlich angetan bin von der Tatsache, dass die Bibliothek der Olympic heute Abend in das Zentrum des Interesses rücken wird.«

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