AN BORD DER OLYMPIC

Sehr früh am Morgen, um dem Frühstück der beiden Damen des Hauses zu entgehen, verließ der Detektiv das Haus. Er wanderte die Baker Street entlang in südlicher Richtung, winkte einen Hansom herbei und ließ sich zum Verlagsgebäude in der Fleet Street bringen.

Dort angekommen gratulierte Sherlock Holmes Robert M. Conolly für die interessanten, wirklich gut geschriebenen Artikel in der Gazette.

»Nicht dass ich Ihre Schlussfolgerungen teile, was die Ursache des Unglücks betrifft«, sagte der Detektiv zu dem 46-jährigen Journalisten mit dem vollen Gesicht, in das sich erste Falten eingegraben hatten.

»Nur zu, Mr. Holmes, wenn Sie andere Erkenntnisse haben. Meine Zeitung und ich sind offen für alles. Die veröffentlichten Details gehen vor allem auf die Recherchen von Stanley Evans und dem Amerikaner Morgan Robertson zurück. Meine Aufgabe beschränkte sich in erster Linie auf die eines journalistischen und rechtlichen Beraters.«

»Sie werden die Serie fortsetzen?«, erkundigte sich Holmes.

»Das war der Plan«, antwortete der Journalist. »Evans berichtete mir noch am letzten Tag des alten Jahres, dass er auf sensationelles neues Material gestoßen sei.«

»Wissen Sie, worum es sich dabei handelt, Mr. Conolly?«

»Leider nein. Ich fand nichts Wesentliches in seinem Schreibtisch in der Redaktion. Und die Polizei gibt an, dass auch in seiner Wohnung keine journalistischen Unterlagen gefunden wurden. Ich habe aber eine vage Idee.«

»Und die wäre?«

»Ich werde sie Ihnen gerne verraten, wenn Sie mir sagen, für wen Sie arbeiten und was genau Sie untersuchen, Mr. Holmes.«

»Meine Auftraggeber sind die White Star Lines. Mr. Joseph Bruce Ismay bat mich, die Anschuldigungen, die Sie und Mr. Evans gegen seine Reederei und ihn erhoben haben, zu prüfen und zu einem Ergebnis zu kommen.«

»Sie sollen ihn reinwaschen.«

»Hätte der Auftrag so gelautet, hätte ich den Fall nicht übernommen. Ich habe freie Hand«, versicherte der Detektiv. »Und ich fände es reizvoll, wenn wir einander bei den Ermittlungen unterstützen. Sie sagten zuvor, Sie hätten eine Vermutung, das neue Material betreffend, das Ihr ermordeter Kollege veröffentlichen wollte.«

»Das trifft zu, Mr. Holmes. Viel von dem, was wir abdruckten, stammte von einem Amerikaner …«

»Morgan Robertson?«, unterbrach ihn Holmes. »Ich las seinen Roman über den Untergang eines Ozeandampfers namens Titan, den Sie in der Gazette veröffentlichten. Ein wirklich gut geschriebener Text.«

»Und das war nicht alles. Robertson, ein Seemann, kennt sich wirklich aus auf diesem Gebiet. Seine Recherchen sind unbezahlbar.«

»Ich hoffe auf ein persönliches Gespräch mit ihm.«

»Sie planen eine Reise in die Vereinigten Staaten?«

»Mein Plan geht darüber hinaus.«

»Erzählen Sie, Mr. Holmes. Ich lasse uns Tee bringen.«

Bei starkem Tee und staubig-trockenen Biscuits legte Holmes dem Journalisten seine Überlegungen dar. »Ich werde Mr. Ismay vorschlagen, eine Commemoration Journey, eine Wiederholungsreise, mit dem Schwesterschiff der Titanic zu machen, um den 10. April herum. Ich kenne den Fahrplan der White Star Line noch nicht. Ideal wäre natürlich eine genaue Übereinstimmung der Daten mit jenen der Titanic.«

»Ich werde dabei sein und darüber berichten«, sagte Conolly mit einem begeisterten Beben in seiner Stimme.

»Das sollen Sie auch. Ich rechne damit, dass Ihre Artikel über diese Reise Bewegung in den Fall bringen. Es wird von einigem Interesse sein, wer sich für die Fahrt Tickets besorgt.«

»Ich verspreche, Sie ganz groß herauszubringen, Mr. Holmes. Was planen Sie als Nächstes?«

»Ich werde Mr. Ismay meinen Plan unterbreiten.«

»Und dann?«

»Dann werde ich den Leseraum des British Museum aufsuchen und das Zeitungsarchiv des Jahres 1912 durchforsten. Es interessiert mich, was die Zeitungen seinerzeit über den Untergang der Titanic zu berichten wussten.«

»Entschuldigen Sie, Chef, es ist wichtig«, unterbrach ein junger Mitarbeiter des Redakteurs das Gespräch der beiden Männer. »Ein Fernschreiben aus den Staaten.«

»Einen Augenblick«, entschuldigte sich Conolly bei Sherlock Holmes.

Als der Mann völlig aufgelöst zurückkam glänzte sein fülliges Gesicht vor Schweiß und Holmes fragte ihn besorgt, was vorgefallen sei.

»Robertson ist tot. Ermordet. Wie Evans.«

»Morgan Robertson. Das ist fürwahr eine erschreckende Nachricht«, sagte Holmes nachdenklich.

»Soeben über den Telegraph eingetroffen. Er starb in einem Zimmer des Alamac Hotels in Atlantic City«, berichtete Conolly. »Ich verstehe nicht, was er in dem Hotel machte. Der Mann lebte auf einem Schiff und war ständig in Bewegung. Wir erreichten ihn nur postlagernd. Robertson war auf der Spur der wahren Hintergründe des Titanic-Unglücks. Er wollte noch in diesem Monat einen Bericht an mich senden. Man hat ihn umgebracht, da bin ich mir völlig sicher.«

»Das sagten Sie schon. Ist Ihnen bekannt, woran er starb?«, fragte Holmes den Journalisten.

»Angeblich Herzversagen. Doch es ist Mord, ganz eindeutig Mord.«

»Umso wichtiger für die Klärung der Umstände wird unsere Reise in zwei Wochen«, versuchte Holmes den Mann zu beruhigen.


Die nächsten Tage verbrachte Holmes im Lesesaal des British Museums, wo er Berichte englischer und amerikanischer Zeitungen zum Untergang der Titanic studierte. Stunde um Stunde saß der Detektiv in jenem kreisrunden Dom aus Gusseisen und Glas in der Great Russell Street, in dem sich so trefflich arbeiten ließ. Dort las er auch den Nachruf, den Mr. Conolly auf seinen amerikanischen Kollegen verfasst hatte.


TITAN-AUTOR TOT

Bedienstete des Alamac Hotels in Atlantic City fanden den leblosen Körper des Schriftstellers und Seemanns Morgan Robertson. Er starb an Herzversagen.

Den Lesern der PALL MALL GAZETTE ist Mr. Robertson als Autor des Romans Hoffnungslos – oder das Wrack der Titan bekannt, einem Text, der im Jahre 1898 das Unglück der Titanic bis in Details voraussah.

Morgan Robertson gilt außerdem als Erfinder des Periskops, eines Gerätes, das die Navigation von U-Booten erheblich erleichtert. Viele Einzelheiten unserer Artikelserie über die wahren Hintergründe des Untergangs der Titanic stammen von ihm.

Die Redaktion der PALL MALL GAZETTE gedenkt voll Hochachtung ihres amerikanischen Kollegen und erneuert hiermit das Versprechen, das Bemühen um die Aufklärung der wahren Hintergründe des Untergangs der Titanic und seines Todes mit vollem Einsatz fortzusetzen.


Am Vormittag des 17. März 1915 betrat Sherlock Holmes das Gebäude der Royal-Maritime-Versicherung am Victoria Embankment in der City of Westminster, direkt am Ufer der Themse. Es handelte sich dabei um einen ausgedehnten dreistöckigen Bau aus hellem Portlandstein, über dessen Eingang der Bronzeguss eines Ankers hing.

Ein uniformierter Portier empfing Holmes und brachte ihn in den ersten Stock zum Office von Mr. Faber. Der Fußboden der Säle, in denen das Büro des Chefs der Royal Maritime untergebracht war, bestand aus spiegelndem hellem Marmor, die Wände und die Raumdecke waren mit geschnitzten Eichenpaneelen verkleidet, die den Räumlichkeiten eine beinahe freundliche, helle Atmosphäre verliehen.

Umso stärker hob sich die Sekretärin, Mrs. Liza Rollings, von ihrer Umgebung ab. Die Frau, zu der der Portier Holmes führte, wirkte finster mit ihren kurzen, fast schwarzen Haaren, außerdem war sie dunkel gekleidet. Sie betrachtete den Detektiv mit forschenden, ernsten Augen.

Holmes hätte nur zu gern gewusst, welches Geheimnis sich hinter der traurig wirkenden Frau verbarg.

Während Mrs. Rollings konzentriert Briefe auf ihrer Underwood tippte, hüllte sie sich und ihre Umgebung in den dichten Rauch ihrer selbst gedrehten Zigaretten. Mit dunkler, belegter Stimme begrüßte sie den Besucher überraschend freundlich. »Es freut mich, Sie persönlich kennenzulernen, Mr. Holmes. Sie müssen wissen, dass ich zu Ihren Bewunderern zähle.«

Sie schüttelte seine Hand und Holmes war überrascht, wie kräftig die zierliche Frau zupacken konnte.

»Ich führe Sie zu Mr. Faber. Er erwartet Sie bereits.«

Das Büro von James R. Faber war ähnlich eingerichtet wie der Raum der Sekretärin, es war aber etwa dreimal so groß. Die vier Fenster gewährten einen Blick auf die Themse. James Faber war ein jugendlich wirkender Mann mit dichtem dunklem Haar über dem sportlich gebräunten Gesicht.

Nach den ersten Sätzen der Begrüßung fragte ihn Holmes, seit wann er der Versicherung vorstand.

»Seit 1912. Seit dem Tod meines Vaters.«

»Sie wissen, warum mein Bruder Mycroft Sie um einen Gesprächstermin für mich gebeten hat?«, fragte Holmes.

»Mein Clubfreund Mycroft teilte mir mit, dass Sie auf seine Vermittlung hin klären wollen, inwieweit die Anschuldigungen der Journalisten der Wahrheit entsprechen.«

»Und was ist Ihre Meinung dazu? Immerhin geht es um Ihre Versicherungsgesellschaft, die den Artikeln von Evans und Conolly gemäß von den Inhabern der White Star Line betrogen wurde.«

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich werde Mrs. Rollings ersuchen, uns eine Erfrischung zu servieren. Sind Sie mit Tee und Brötchen einverstanden?«

Holmes nickte.

Als James Faber nach seiner Rückkehr schwieg, wiederholte Holmes seine Frage. »Wie sehen Sie die gegen die Schifffahrtsgesellschaft erhobenen Vorwürfe?«

»Ach ja, das war Ihre Frage. Nun, ich betrachte die Angelegenheit mit großer Gelassenheit. Die Royal Maritime war bei über dreißig kleineren Versicherungsagenturen weltweit rückversichert, so dass uns aus dem Unglück kein finanzieller Schaden entstand. Zudem war ausschließlich das Schiff bei uns versichert. Das Risiko der Fracht trugen andere Gesellschaften, ebenso wie die Versicherung der Menschenleben. Somit sehen wir keinen Grund, von uns aus tätig zu werden. Wenn unsere Konkurrenten eine Chance sehen, das verlorene Kapital zurückzugewinnen, werden sie das sicher tun. Ich bin froh, dass ich nicht gegen Bruce vorgehen muss. Er ist ebenso Mitglied im Diogenes Club wie Ihr Bruder, Mr. Holmes.«

»Und Sie selbst, Mr. Faber.«

»Natürlich.«

»Wäre es möglich, mir Einblick in die Abwicklung des mit dem Untergang einhergehenden Schadens zu gewähren?«

»Mrs. Rollings hat den Überblick über das gesamte Material. Sie kann Ihnen dabei behilflich sein. Und natürlich wird sie mein Assistent John Hatter dabei unterstützen. Mr. Hatter ist für die Kommunikation in unserem Unternehmen zuständig. Er hat dafür eine beinahe revolutionäre Technik entwickelt. Wenn es Sie interessiert …«

Holmes zeigte Interesse und wurde von Mr. Faber in das Arbeitszimmer von John Hatter geführt.

Der Mann saß an einem Holzkasten mit der Tastatur einer Schreibmaschine.

»Unser Fernschreiber. Eine Sendestation schickt die Radiosignale zu den Empfängern in unseren Niederlassungen, wo der Text ausgedruckt wird. Umgekehrt funktioniert es genauso«, sagte Mr. Faber stolz.

Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte der Funker den Besucher und begann mit seinen Erklärungen. »Das System basiert auf einer sequenziellen digitalen asynchronen Datenübertragung, wobei ein bestimmter Code verwendet wird, der die Daten verschlüsselt, so dass sie nicht von Fremden gelesen werden können. Also einfacher ausgedrückt: Die Nachricht wird mit modulierten hochfrequenten elektromagnetischen Schwingungen zwischen Sender und Empfänger übertragen.«

»Welche Reichweite hat dieses System?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Es hängt ab von der Größe der Tonfunkensender. Wir von der Zentrale können Nachrichten über den Atlantik bis in die Vereinigten Staaten übermitteln, die Reichweite der Nebenstellen erstreckt sich nur bis nach Frankreich.«

»Ein System, das uns einen enormen Vorsprung gegenüber unseren Konkurrenten beschert hat«, erklärte Mr. Faber stolz. »Wir sind unabhängig von schlecht funktionierenden Telefonverbindungen und haben selbst mit entlegenen Regionen unseres Landes ständigen Kontakt. Mr. Hatters Arbeit ist von großer Bedeutung für unseren Betrieb.«


Holmes studierte die nächsten zwei Tage Versicherungsakten, die in Zusammenhang mit der gesunkenen Titanic standen. Als er sich das nötige Wissen verschafft hatte, bedankte er sich bei Mrs. Rollings mit einer Schachtel Charbonnel & Walker-Pralinen für ihre Erklärungen, die ihm halfen, die schwierige Materie zu verstehen, und den Tee, den sie ihm täglich mit feinen Sandwiches servierte.

»Seit wann arbeiten Sie hier, Mrs. Rollings?«

»Seit undenklichen Zeiten. Mr. Faber, der Vater unseres Chefs, engagierte mich, als ich sechzehn war. Miss Gordon, seine damalige Sekretärin, bildete mich aus, und vor zehn, nein, vor neun Jahren, übernahm ich ihn von ihr.«

»Ich danke Ihnen für alles, Mrs. Rollings.«

»Ihre Gegenwart bedeutete eine begrüßenswerte Abwechslung in meiner täglichen Routine, Mr. Holmes.«


Sherlock Holmes und sein Begleiter, der Journalist Robert M. Conolly, waren bereits am 8. April nach Southampton gereist, wo sie im Hauptquartier der White Star Line die aktuelle Passagierliste der Olympic, mit der sie nach New York reisen würden, prüften. Holmes und Conolly verglichen sie mit jener des Schwesterschiffes Titanic, das dieselbe Reise drei Jahre zuvor angetreten, aber nicht vollendet hatte.

Der Detektiv übernahm die heikle Aufgabe, Mr. Ismay, den Besitzer der White Star Line, und den Journalisten, der die Anschuldigungen gegen ihn und seinen amerikanischen Partner erhoben hatte, einander vorzustellen.

Holmes sagte: »Ich versichere Ihnen, Mr. Ismay, dass Mr. Conolly keine weiteren Artikel gegen Sie veröffentlichen wird, bis ich den Fall gelöst habe. Stellt sich dabei die Unschuld der White Star Line heraus, wird er darüber berichten. Wir arbeiten eng zusammen.«

Joseph B. Ismay nickte stumm und sagte dann, ohne Conolly anzusehen: »Ich vertraue Ihnen, Mr. Holmes.«


Am Samstag, dem 10. April 1915, gegen zwölf Uhr Mittag, verließ der Dampfer Olympic bei kaltem und windigem Wetter den Hafen von Southampton. Der gigantische Schiffsrumpf mit einer Verdrängung von beinahe 60.000 Tonnen durchpflügte das Wasser des Hafens mit einer solchen Gewalt, dass die restlichen Schiffe mit Stahltrossen gesichert werden mussten, um nicht losgerissen zu werden.

Bruce Ismay, der wie Holmes durch Ölzeug gegen den Regen geschützt auf dem vorderen Schiffsdeck stand, erzählte, dass es am 10. April 1912, als die Titanic in See stach – es war ein Mittwoch, wie sich der Reeder erinnerte – schon bei der Abfahrt beinahe zu einem Zusammenstoß mit der New York gekommen wäre, die durch die Gewalt der Strömung losgerissen worden war und gegen die Titanic trieb. Zwei Schlepper konnten eine Kollision verhindern.

»Kein Mensch ahnte, dass dieses mächtige Schiff verletzbar wäre. Man hätte annehmen können, dass alles, was sich dem Giganten in den Weg stellte, zermalmt würde«, meinte Bruce Ismay. »Ich werde Sie mit dem Kapitän bekannt machen, Mr. Holmes, sobald wir die Isle of Wight hinter uns gelassen haben. Die Passage ist eng und stark befahren. Sie erfordert seine volle Aufmerksamkeit.«


Die Bordkapelle spielte Melodien aus The Chocolate Soldier, darunter Thank the Lord the War Is Over, eine musikalische Behauptung, die auf die gegenwärtige politische Lage nicht zutraf, und Holmes zog sich in seine Erste-Klasse-Suite im 6. Stockwerk des Schiffes zurück. Er bewohnte die Kabine gemeinsam mit Conolly.

Wie die Titanic verfügte die Olympic über einen Rauminhalt von über 46.000 Bruttoregistertonnen, eine Länge von 886 und eine Breite von 98 Fuß. Die mit weichen Teppichen ausgelegten Korridore erstreckten sich auf 4,4 Meilen. Die Höhe vom Kiel bis zu den vier Schornsteinen betrug 184 Fuß. Das Schiff konnte eine Höchstgeschwindigkeit von 22 Knoten erreichen, hatte eine Besatzung von 885 Mann und war in der Lage, 3.300 Passagiere, die in 762 Kabinen von drei Qualitätsklassen untergebracht waren, an Bord zu nehmen. Die Suite des Detektivs und seines Begleiters war im überladenen Belle-Époque-Stil ausgestattet.

Das Schiff bewegte sich ruhig vorwärts. Nur ein leichtes Beben des Bodens verriet die enorme Kraft der drei insgesamt 51.000 PS starken Dampfmaschinen.

»Wir werden uns enorm anstrengen müssen, in dieser einen Woche – bis wir New York erreichen – sowohl die Fahrt der Titanic zu rekonstruieren, als auch das Geschehen auf dem gegenwärtigen Schiff nicht aus den Augen zu verlieren«, sagte der Detektiv zu seinem Begleiter. »Ich zähle auf Sie, Conolly.«

»Ich werde mich bemühen, mein Bestes zu geben. Wenn Sie mir allerdings einen Hinweis geben könnten, worauf ich besonders achten soll, Mr. Holmes, wäre dies eine enorme Erleichterung für mich.«

»Das ist eine methodische Herangehensweise, die ich mir lobe. Ich habe tatsächlich eine spezielle Aufgabe für Sie. Den Unterlagen zufolge gibt es außer Bruce Ismay sechs weitere Passagiere, die schon an Bord der Titanic waren. Ein bemerkenswerter Umstand, nach einem solchen Unglück noch einmal mit einem beinahe identischen Schiff auf Reisen zu gehen. Dafür muss es Gründe geben. Ich ersuche Sie, diese Menschen mit den kritischen Augen des Journalisten zu beobachten und auf die Motive zu achten, die sie an dieser Gedenkreise teilnehmen lassen.«

»Das ist selbstverständlich. Ich habe mich bereits mit ihnen beschäftigt und einiges herausgefunden.«

»Hervorragend.«

»Es handelt sich bei diesen Personen um die Malerin Vera Oldman-Smythe aus Manchester, Sarah Harrison und ihre Tochter Alice aus Newhaven, die Schauspieler Gloria Reynolds und ihre Tochter Christine aus London und um Mrs. Hilda Farland, ebenfalls aus London. Bemerkenswert ist auch, dass sich Reginald und Bertram Smith an Bord der Olympic befinden.«

»Smiths gibt es viele. Es muss sich also, da Sie die Männer erwähnen, um ganz besondere Wesen dieses Namens handeln.«

»So ist es«, bestätigte der dickliche Journalist stolz. »Es sind die beiden Brüder des Kapitäns der Titanic, des mit seinem Schiff untergegangenen Edward John Smith.«

Holmes nickte. »Das klingt durchaus interessant.«

»Und worum werden Sie sich kümmern, Mr. Holmes?«

»Ich werde versuchen, Augen und Ohren für alles und jedes offen zu halten, ohne mich auf irgendein Detail einengen zu lassen, in der Hoffnung, entscheidende Hinweise für Schuld oder Unschuld von Bruce Ismay und J. P. Morgan zu bekommen. Vielleicht mehr als das.«


Die RMS Olympic überquerte bei starkem Seegang, der jedoch auf dem Dampfer kaum zu spüren war, den Kanal und erreichte gegen halb sieben Uhr den Hafen von Cherbourg im Norden von Frankreich. Einige Passagiere der 3. Klasse verließen das Schiff, neue Reisende bestiegen es über die Landebrücke.

Bruce Ismay führte Holmes auf die Kommandobrücke zu Kapitän Hayes, einen beinahe sechseinhalb Fuß großen Mann von etwa vierzig Jahren. Der Besitzer der Schifffahrtslinie stellte die Männer einander vor und der Kapitän wünschte eine angenehme und störungsfreie Reise.

»Das Wetter sollte einigermaßen passen, abgesehen von etwas Wind. Und zu Ihrer Beruhigung, Mr. Holmes: Die Olympic ist im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin mit ausreichend Rettungsbooten versehen. Aber wer hätte mit dem Desaster gerechnet? Sie kommen sich auf einem Monstrum wie diesem unbesiegbar vor und vergessen, dass auch die Saurier ausgestorben sind.«

»Sie meinen, dass Schiffe dieser Größe keine Zukunft haben?«, fragte Sherlock Holmes nach.

»Als Urlaubs- oder Kriegsschiffe durchaus. Nicht aber als Transportmittel für Menschen. Diese Aufgabe werden Luftschiffe übernehmen. Wie dieser unglückselige Zeppelin der Deutschen.«

»Der Krieg, Kapitän, ist der Vater aller Dinge«, zitierte Holmes.

»Heraklit von Ephesos«, ergänzte Mr. Ismay. »Ja, wir werden uns umstellen müssen, den neuen Zeiten anpassen. Die Olympic ist nur zu drei Viertel belegt. Besonders die erste und zweite Klasse sind halb leer. Würden wir nicht auch Güter befördern, wären die Fahrten ein Verlustgeschäft.«

»Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern, dass wir aus Vergangenem gelernt haben und sicher in New York ankommen werden«, beteuerte der Kapitän.

»Sie kannten Ihren Kollegen von der Titanic, Edward John Smith?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Smith war um einiges älter als ich, ja, aber wir hatten uns getroffen. Er hatte schon die Majestic befehligt, dann die Baltic und die Adriatic. Man übertrug dem erfahrenen Mann die Jungfernreisen aller großen Schiffe von White Star, auch der Olympic, mit der es allerdings das Problem des Zusammenstoßes mit der HMS Hawke gab, ein Vorfall, der in meinen Augen die Verantwortlichen«, und bei diesen Worten wandte er seinen Blick auf Bruce Ismay, »hätte alarmieren müssen. Ein Kapitän, der die sechzig überschritten hat, sollte in den Ruhestand treten und nicht mit neuester Technik konfrontiert werden. Das könnte einen älteren Mann überfordern.«

Mr. Ismay wandte seinen Blick ab und schwieg.

»Wie auch immer«, setzte Kapitän Hayes fort. »Er war in meinen Augen nicht mehr in der Lage, ein Schiff zu steuern, eine Mannschaft zu befehligen. Doch keiner der Offiziere hatte den Mut, in den entscheidenden Minuten das Kommando zu übernehmen. So ging wertvolle Zeit verloren. Das Unheil nahm seinen Lauf.«

»Es wäre mir außerordentlich wichtig, wenn Sie den Hergang des Unglücks aus Ihrer Sicht im Detail schildern, Kapitän«, meinte Holmes.

»Ich muss mich um unsere Weiterfahrt kümmern, stehe Ihnen aber morgen, bei unserem Aufenthalt in Queenstown, zur Verfügung. Wir erreichen den Hafen im Süden von Irland morgen gegen Mittag. Ich lade Sie, Mr. Holmes, Mr. Ismay, ein, das Mittagsmahl mit mir einzunehmen.« Dann wandte er sich direkt an den Detektiv mit der Frage, wie weit er in seinen Ermittlungen vorangekommen sei.

»Wie dieses Schiff, wie die Olympic, arbeite ich mich voran, durch unbekannte, trügerische Gewässer in der Hoffnung, das Ziel zu erreichen und nicht wie das Schwesterschiff tragisch zu scheitern«, erwiderte dieser, dann fügte er, mehr an sich selbst gerichtet, hinzu: »Ich vermute, dass sich an Bord der Olympic auch Menschen befinden, die ihre wahre Identität verschleiern.«

Загрузка...