IRENE ADLER

Dies Bildnis ist bezaubernd schön,

Wie noch kein Auge je geseh'n!

Ich fühl' es, wie dies Götterbild

Mein Herz mit neuer Regung füllt.

Dies Etwas kann ich zwar nicht nennen!

Doch fühl' ich's hier wie Feuer brennen.

Soll die Empfindung Liebe sein?

Ja, ja! Die Liebe ist's allein. –

O wenn ich sie nur finden könnte!

O wenn sie doch schon vor mir stände!

Ich würde – würde – warm und rein –

Was würde ich! – Sie voll Entzücken

An diesen heißen Busen drücken,

Und ewig wäre sie dann mein.


Mittwoch, der 14. April 1915, begann stürmisch. Die Gischt des Ozeans wurde bis zum Promenadendeck geschleudert, und das war immerhin 160 Fuß hoch. Sherlock Holmes hatte nach dem Frühstück Mrs. Harrison und ihren Mann gebeten, sich am Vormittag um Christine Reynolds zu kümmern. Er müsse mit der Mutter ein Gespräch führen.

»Sie kann uns ins Schwimmbad begleiten«, sagte Mrs. Harrison.

Als Miss Reynolds protestieren wollte, nahm Holmes sie zur Seite und redete auf sie ein. Die Schauspielerin nickte mehrmals, dann verließ sie den Speisesaal an seiner Seite. Gemeinsam betraten sie ihre Kabine.

»Sind Sie bereit, das Collier von Mrs. Oldman-Smythe freiwillig herauszugeben, oder ist es nötig, Aufsehen zu erregen und den Kapitän beizuziehen? Nicht auszuschließen ist eine Befragung durch die New Yorker Polizei, inwiefern Sie Schuld am Tod der Malerin tragen.«

»Ich habe nichts mit dem Verschwinden von Mrs. Smythe zu tun. Und ich habe ihre Kette natürlich nicht in meinem Besitz.«

»Gut, dann lassen Sie mich entweder danach suchen, oder ich alarmiere den Kapitän.«

»Sie können danach suchen.«

Holmes begab sich sofort in das Badezimmer der Schauspielerin, wo er sich kurz umsah und dann einen Behälter öffnete, in dem sich Creme zum Abschminken befand. Mit einer Schere, die er in der weißen Paste bewegte, sondierte er den Behälter und zog tatsächlich das Collier mit dem wertvollen schwarzen Diamanten hervor. Er legte das Schmuckstück in das Waschbecken, nahm ein Stück Seife und ließ Wasser darüber laufen, dann trocknete er es mit dem Handtuch.

»Ich weiß nichts davon«, beteuerte die Schauspielerin. »Jemand muss mir das Ding in die Kabine geschmuggelt haben.«

»Wie Sie wollen, Miss Reynolds. In welcher Kabine der dritten Klasse wohnt Ihr Schauspielerkollege, mit dem Sie gemeinsam am Candler Theater arbeiten werden?«

»Er hat nichts damit zu tun.«

»Warum sind Sie sich dessen so sicher?«

»Weil … weil …«

»Weil Sie genau wissen, wer für den Diebstahl verantwortlich ist«, stellte Sherlock Holmes fest. »Ich schlage vor, Sie erzählen mir, was Sie dazu bewog, die Kette zu entwenden. Wenn Sie mich überzeugen, dass Sie mit der Ermordung der Malerin nichts zu tun haben, werde ich darauf verzichten, Sie bloßzustellen.«

»Das ließe sich wirklich machen? Ich meine, die Angelegenheit diskret zu behandeln?«

Holmes nickte. »Nur zu, Miss Reynolds!«

»Wie kamen Sie im Übrigen auf mich? Ich denke, dass ich so geschickt vorging, dass niemand …«

»Ich hatte einen Verdacht. Ihre Tochter Christine erwähnte unlängst Kabine 23-C. Sie hatte offenbar den Auftrag, herauszufinden, wo Mrs. Oldman-Smythe logierte. Als ich eine Bemerkung zum Diebstahl des Colliers machte, verriet mir die Reaktion von Christine, dass Sie darin verwickelt sind.«

»Christine weiß nichts davon. Ich bin doch nicht verrückt, mein Mädchen in die Sache hineinzuziehen.«

»Kinder ahnen und wissen mehr, als uns Erwachsenen lieb ist.«

»Mein Gott, worauf habe ich mich da eingelassen! Als diese eitle, hohle Person ständig damit prahlte und dann noch die dumme Geschichte erzählte, dass der Fluch der Titanic den Diamanten verfärbt habe, wuchs mein Wunsch, ihr das Collier abzujagen. Wer weiß, auf welche Weise sie es erworben hat.«

»Es wäre tatsächlich interessant, dies in Erfahrung zu bringen«, bemerkte Sherlock Holmes. »Besaß sie es schon auf der Reise mit der Titanic?«

»Nein, das wäre mir aufgefallen. Ich habe ein Auge für so etwas.«

»Die Kette nehme ich an mich. Ich werde Sie damit nicht in Verbindung bringen.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Holmes.«

»Wobei ich zu bedenken gebe, dass Ihnen eine Anzeige viel Publicity bringen würde. Die amerikanische Presse würde Sie bei unserer Ankunft in New York mit großem Interesse empfangen.«

»Darauf verzichte ich. Auch mit Rücksicht auf meine Tochter. Eine Frage noch, Mr. Holmes. Wie konnten Sie wissen, dass ich das Collier in meinem Schminktiegel aufbewahre?«

»Ich versetze mich beim Lösen von Problemen gerne in die Gedankenwelt der Täter, deren Spur ich verfolge. In Ihrem Fall dachte ich: Wo wird eine Schauspielerin eine Schmuckkette verstecken? In ihrer Kleidung, im Futter eines Mantels? Kaum. Sie wird das Nähen nicht in der nötigen Perfektion beherrschen.«

»Schauspielerin – Schminke. Das war Ihre Überlegung.«

»Ja. Und ein Behälter, der groß genug sein musste.«

»Sie wären ein perfekter Dieb und Mörder geworden.«

»Sicher. Wenn ich mich nicht anders entschieden hätte. Im Leben der meisten Menschen gibt es die Möglichkeit, sich zu entscheiden.«

Die eigenen Worte lösten in Holmes plötzlich eine Flut von Gedanken aus und er eilte zurück zu seiner Suite. Mit einem schwarzen Etui in seiner Jacketttasche begab er sich anschließend zur Kabine von Doktor Watson.

»Watson. Ich brauche in den nächsten Stunden Ruhe, absolute Ruhe. Und die finde ich in Ihren Räumen. Es ist wichtig, dass Sie sich in meiner Suite um Ismay und Conolly kümmern. Die beiden dürfen die Räumlichkeiten bis ich wiederkomme nicht verlassen. Beschäftigen oder betäuben Sie sie. Und wenn das nicht hilft, erschießen Sie sie.«

»Was ist los, Holmes? Sie sind völlig außer sich. Was ist geschehen?«

»Ich sehe eine zweite Chance in einem alten Fall. Ich muss einen klaren Kopf bewahren.«

»Und das wollen Sie damit erreichen?«, fragte Watson, vorwurfsvoll auf das schwarze Etui zeigend, das aus Holmes' Tasche hervorlugte.

»In Ausnahmefällen hilft sie, die weiße Göttin«, antwortete Holmes.

Kopfschüttelnd entfernte sich der Doktor und Holmes betrat dessen Kabine. Hastig öffnete er den Behälter und entnahm ihm ein braunes Fläschchen, das eine milchig-weiße Flüssigkeit enthielt. Durch die Kanüle der Glasspritze sog Holmes 0,5 ml Kokain in den Hohlraum, dann stach er die Nadel in die Beuge seines linken Armes und injizierte sich die Droge. Innerhalb von Sekunden fühlte er, wie heißes Blut bis in die letzten Äderchen seines Körpers strömte und ihn mit pulsierendem Leben und Sauerstoff erfüllte.

Tiefe Zufriedenheit kam über den Detektiv. Er fühlte sich stark und tatkräftig wie in seinen besten Jahren.

IRENE. IRENE ADLER.

Holmes erinnerte sich an die geheimnisvoll-tiefe Stimme der amerikanischen Opernsängerin Irene Adler, der Frau seiner detektivischen Karriere, die ihn überlistet hatte, deren Foto er in seinem Schreibtisch im Fairmount Hotel aufbewahrte, als Erinnerung an einen Fall, den Watson Ein Skandal in Böhmen genannt hatte.

IRENE ADLER. Ihr Gesicht, ihr Haar, ihr Körper waren Holmes so gegenwärtig, als ob sie im Zimmer stünde. Sie war an Bord der Olympic. Irene Adler war an Bord des Schiffes. Holmes spürte das. Aber wer war sie? Faszinierend und klug wie in jungen Jahren, die Stimme eventuell noch dunkler als damals. Mrs. Oldman-Smythe?

NEIN. Keine Jahrmarktsfigur, die sich überlisten, bestehlen und töten ließ.

Oder war das nur Show? Lebte sie noch?

Natürlich lebte Irene noch. Aber nicht als Mrs. Oldman-Smythe.

Irene Adler war ihm wieder einen Schritt voraus. Sie konnte in seinem Gehirn lesen wie in einem offenen Buch. Offene Bücher. Sie war in eigener Sache an Bord der Olympic. Als Ermittlerin. In wessen Auftrag?

Er hatte eine zweite Chance. Und er würde aus dem Zweikampf mit IRENE ADLER nicht wieder als Verlierer hervorgehen. Dieses Mal musste er gewinnen! Dieses Mal!

Holmes wollte sich eine zweite Spritze mit einer geringeren Dosis setzen. Aber noch bevor die Nadel in die Vene drang, sah er das Gesicht jener Frau vor sich, die Irene Adler war. Sie war noch immer schön, obwohl sie sich getarnt hatte.

Holmes ließ die Spritze sinken. Er würde sich ausruhen und sie aufsuchen, sobald er dazu fähig war. Er legte sich auf die Couch in Watsons Kabine und schlief bis Mittag.


Holmes verschlang den Lunch mit besonderem Heißhunger, immer wieder misstrauisch beobachtet von Dr. Watson.

»Sie erinnern sich an Miss Adler?«, fragte der Detektiv schließlich seinen Biographen.

»Ach ja. Jetzt kommt wieder diese alte Geschichte hoch. Ich weiß nicht, ob es besonders empfehlenswert ist, während der Arbeit an einem Fall zu einem Mittel zu greifen, das nachweislich …«

»Hinter welcher Dame an Bord der Olympic«, setzte Holmes ungerührt fort, »würden Sie Irene Adler vermuten?«

»Ach, kommen Sie, Holmes. Welch ein Unsinn! Irene Adler ist tot. Sie haben es selbst gesagt.«

»Nie. Ich sprach, wenn ich sie erwähnte, von der vormaligen Irene Adler. Und damit meinte ich nicht ihren Tod, sondern eine Änderung ihres Namens.«

»Sie reden wirr, Holmes. Ich denke, wir beenden das Gespräch, bis es Ihnen wieder besser geht.«

»Sagte Adam zu seinem Schöpfer, der ihn des Paradieses verwies.«

»Das ist doch unter Ihrem Niveau, Holmes!«

»Begleiten Sie mich auf diesem gemeinsamen gedanklichen Spaziergang, der weit unter unser gewohntes Niveau führt. Also! Wer auf diesem Schiff könnte Irene Adler sein? Denken Sie dabei an eine außergewöhnliche Frau, die so außergewöhnlich ist, dass sie ihre Außergewöhnlichkeit geschickt verbirgt.«

»Die beiden Brüder Smith, vermutlich. Sie hat sich …«

»Wer hat sich nun mit der weißen Göttin eingelassen? Sie oder ich?«

»Nun, im Ernst gesprochen, fällt mir da eine einzige Frau ein.«

»Und genau zu dieser begebe ich mich jetzt, Doktor. Wie sehe ich aus? Würdig genug für diesen wichtigen Augenblick in meinem Leben?«

»Ich denke schon.«

»Dann ist es gut.«

»Soll ich Sie begleiten?«

Holmes lehnte dankend ab und begab sich in die Schiffsbibliothek, wo er sich bei Miss Ronstead erkundigte, in welchem Schrank sie die gesammelten Werke von Doktor Watson aufbewahrte.

»Wenn Sie mir bitte folgen, Mr. Holmes. In welche der Erzählungen wollen Sie Einsicht nehmen?«

»In den Skandal in Böhmen. Mir sind einige Details entfallen. Es ist schon lange her, seitdem ich daran arbeitete.«

»Einen Moment bitte. Wenn Sie inzwischen Platz nehmen wollen«, sagte Miss Ronstead, um wenige Augenblicke später mit dem Band Die Abenteuer des Sherlock Holmes wiederzukehren.

»So weit ich mich erinnere«, sagte sie, »ist es die erste Erzählung darin.«

»Sie kennen das Buch?«

»Ich kenne alle Geschichten von Doktor Watson. Und Ihnen natürlich.«


Holmes vertiefte sich in den Text.


Für Sherlock Holmes ist sie die Frau geblieben. Er hat sie, wenn er von ihr sprach, selten anders genannt. In seinen Augen ist sie die bedeutendste und wichtigste Vertreterin ihres Geschlechts. Nicht dass er Irene Adler liebte. Sein kalter, präziser, jedoch bemerkenswert ausgeglichener Geist verabscheute alle Gefühle, und das der Liebe vornehmlich. Er war, vermute ich, der perfekteste Denk- und Beobachtungsapparat, den die Welt je gesehen hatte. Als Liebender jedoch wäre er fehl am Platz gewesen. Er machte sich stets in abfälliger Weise lustig über die zarteren Gefühle, die er jedoch gern beobachtete, weil sie auf die Motive von Menschen und ihren Handlungen schließen ließen. Für ihn selbst kamen solche Verirrungen nicht in Frage. Sie hätten sein Denken in Unordnung gebracht. Und doch gab es für ihn eine einzige Frau und diese Frau von mehr als dubiosem Ruf war die vormalige Irene Adler.


Kein Zweifel, dachte Holmes, Watson hatte sich verliebt in die Sängerin und wollte das auf keinen Fall zugeben. Der treue Freund, der loyale Biograph, der Holmes in seinen Werken immer von der allerbesten Seite zeigte, schilderte genüsslich das Scheitern des Detektivs. Er porträtierte Holmes als gefühllose Detektivmaschine, die einer faszinierenden Frau unterlag.

Die Bewunderung des Autors galt in diesem einen Fall nicht dem Detektiv, sondern ausschließlich dieser Frau. IRENE ADLER.

Sie spielte mit den Männern, allen voran mit dem König von Böhmen, einem aufgeblasenen Adeligen mit sehr beschränkten geistigen und moralischen Eigenschaften. Aber sie war keine Erpresserin. Sie verlangte vom König kein Geld für das Foto, das ihn gemeinsam mit ihr zeigte, in einer nicht unverfänglichen Pose. Irene Adler spielte eine Weile mit ihm wie die Katze mit der Maus, um ihm letztendlich ein anderes Bild zu überlassen, das sie allein zeigte. Mit dem Versprechen, das ursprüngliche Foto für immer in sicherer Verwahrung zu halten und ihm damit nicht zu schaden.

Und sie spielte auch, der Darstellung von Watson zufolge, mit Holmes, der sie vergeblich mit einem Trick überführen und zur Herausgabe des Bildes bewegen wollte.

Am Ende dieser Geschichte besiegte Irene Adler den großen Detektiv.

Bevor Holmes das Buch schloss, las er noch einmal das Ende der Erzählung, in dem Watson den Abschied von Irene Adler beschrieben hatte.


Eine ältere Frau stand auf den Stufen zum Tor von Briony Lodge. Sie beobachtete unsere Ankunft mit boshaften Blicken.

»Mr. Holmes, wenn ich mich nicht irre?«, sagte sie.

»So ist es«, bestätigte mein Begleiter in fragendem Ton.

»Meine Herrin kündigte mir Ihr Kommen an. Sie nahm diesen Morgen einen Zug zum Kontinent.«

»Was!« Holmes' Gesicht hatte alle Farbe verloren. »Sie wollen doch nicht sagen, dass sie England verlassen hat!«


Obwohl der Detektiv diese Stelle aus Watsons Erzählung mehr als zur Genüge kannte, flammte der alte Ärger darüber erneut in ihm auf.

Das passte alles nicht zusammen! Hatte weder Hand noch Fuß! Am Anfang wurde er von Watson als gefühlloser Apparat beschrieben, nun erbleichte er vor einem Dienstmädchen.

Es war wirklich an der Zeit, jemand anderen zu finden, der in der Lage war, seine Fälle auf vernünftige und einigermaßen würdevolle Art zu porträtieren. Die Zusammenarbeit mit Watson war unbefriedigend geworden.


Sie wollen doch nicht sagen, dass sie England verlassen hat!«

»Um niemals wiederzukehren.«

»Und das Bild?«, fragte der König heiser. »Nun ist alles verloren.«

»Das bleibt abzuwarten«, sagte Holmes.

Er schob die Frau beiseite und eilte, gefolgt vom König und mir, in den Salon. Er steuerte zielstrebig auf ein Geheimfach zu, in dem er ein Foto und einen Brief fand. Das Bild zeigte Irene Adler, allein, im Abendkleid, der Brief war an Sherlock Holmes adressiert.

Mein Freund riss den Umschlag auf und begann zu lesen.


Was Watson mit diesem persönlichen Brief der breiten Öffentlichkeit präsentierte, war der Gipfel der Peinlichkeit, die Bloßstellung des Detektivs durch eine gerissene Frau und, unbewusst, eines in diese Frau verliebten, eifersüchtigen Biographen.

Na warte, Watson, dachte der Detektiv. Noch ist nicht aller Tage Abend! Für diese Zeilen wird er büßen!

Das Schreiben endete, Watsons Bericht zufolge, mit folgenden Zeilen.


Was die Fotografie betrifft, so kann Ihr Auftraggeber beruhigt sein. Ich liebe einen besseren Mann als ihn und werde von diesem geliebt. Der König soll tun und lassen, was er will, ohne von einer Frau daran gehindert zu werden, der er bitteres Unrecht angetan hat. Ich behalte das Bild, um mich in Zukunft gegen Angriffe von seiner Seite zur Wehr setzen zu können, und ersetze es durch ein Foto, das er vielleicht behalten will.

Ich verbleibe, mein lieber Mr. Sherlock Holmes, in Verbundenheit,

IRENE NORTON, vormalige ADLER.

»Welch eine Frau, oh, welch eine Frau!«, rief der König von Böhmen. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, wie schnell und entschlossen sie ist? Sie wäre eine perfekte Königin! Schade, dass sie nicht meinem Niveau entspricht.«

»So wie ich die Dame einschätze«, erwiderte Holmes kühl, »hat sie tatsächlich ein anderes Niveau als Sie. Es tut mir leid, dass ich Ihren Auftrag nicht erfolgreicher abschließen kann.«

»Aber nein, Mr. Holmes«, versicherte der König. »Sie waren höchst erfolgreich. Ich vertraue dem Wort der Dame absolut. Das besagte Foto ist nun so sicher, als ob ich es dem Feuer anvertraut hätte.«

»Ich höre diese Worte Eurer Majestät mit Genugtuung.«

»Ich schulde Ihnen so viel, Mr. Holmes. Wie kann ich Ihnen nur danken?«

Mit diesen Worten zog der König von Böhmen einen mit einem Smaragd geschmückten Ring vom Finger und wollte ihn Holmes geben.

»Eure Majestät besitzen einen Gegenstand von höherem Wert«, sagte Holmes.

»Worum handelt es sich?«

»Das Foto Irenes«, rief Holmes.

»Natürlich. Wenn Sie es haben wollen.«

»Ich danke Eurer Majestät. Ich wünsche Ihnen einen sehr guten Morgen.«

Holmes verbeugte sich und ging, ohne die Hand zu beachten, die der König zum Gruß ausgestreckt hatte.

So endete ein großer Skandal, der das Königreich Böhmen bedrohte, und in dessen Verlauf die schlauesten Pläne von Mr. Sherlock Holmes durch die Intelligenz einer Frau zunichte gemacht wurden. Holmes, der gerne über die geistigen Fähigkeiten von Frauen spottete, verstummte für eine Weile, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Und wenn er von Irene Adler spricht, so nennt er sie immer die Frau.3


Peinlich, wie dick der Doktor aufgetragen hatte, besonders in den letzten Absätzen der Geschichte, fand der Detektiv.

Und doch … Watson hatte natürlich im Kern der Sache recht. Irene Adler war wichtig für Sherlock Holmes gewesen. Und sie hatte noch immer Bedeutung.

»Die weiteren Texte, in denen dieser Fall erwähnt wird, befinden sich ebenfalls in diesem Band, bis auf Das letzte Problem, das in den Memoiren des Sherlock Holmes veröffentlicht wurde«, näherte sich die Bibliothekarin flüsternd dem Lesetisch des Detektivs.

»Sie überraschen mich mit Ihrer Detailkenntnis, Miss Ronstead.«

»Die Einsamkeit, Mr. Holmes, die Einsamkeit. Was bleibt einer alten Frau wie mir außer Phantasie und Büchern.«

Mit diesen Worten legte sie die Memoiren des Sherlock Holmes auf den Tisch.

Holmes blickte überrascht auf. »Eine Frage der Identität war mir bewusst. In dieser Erzählung konnte der Doktor es erneut nicht unterlassen, eine berufliche Niederlage meinerseits genüsslich auszuwalzen, wobei ihm der Fehler unterlief, ein Geschenk des Königs von Böhmen zu erwähnen, das ich nie erhalten hatte.«

»Die Schnupftabakdose mit dem Smaragd. Es ist die dritte Geschichte in diesem Band«, sagte Miss Ronstead.

»Dabei hatte der König nie eine solche Dose besessen. Der Smaragd war Teil eines Ringes, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht«, meinte Miss Ronstead und blätterte weiter in dem Band der Abenteuer des Sherlock Holmes. »Im Falle der Fünf Orangenkerne nimmt Doktor Watson erneut Bezug auf diesen Fall.«

»Genau. Beinahe hätte ich auch diese Passage vergessen. Der gute Doktor widerspricht sich abermals. Plötzlich gibt es mehrere Menschen, die Holmes überlistet haben.«

»Nicht ganz. Irene Adler bleibt die einzige Frau, die Sherlock Holmes besiegte.«

»Watson erwähnt aber erstmals drei Männer, denen ich unterlag. Natürlich ohne Namen zu nennen. Das zählt zu seinen ständigen kleinen Spitzen, die er gegen mich abzuschießen pflegt.« Holmes streckte seine rechte Hand aus, legte sie auf die Hand der Bibliothekarin und drückte sie. »Nach all den Jahren. Ich bin tief bewegt, Sie wiederzusehen.«

Die Bibliothekarin erwiderte den Händedruck.

»Und ich bin beruhigt zu sehen, dass Ihre detektivischen Fähigkeiten ungebrochen vorhanden sind.«

Holmes betrachtete die Frau, die ihm gegenüber saß, lange und erkannte in ihr die Schönheit von Irene Adler. Wohl durch das Alter verändert, aber noch immer deutlich sichtbar.

Die leuchtend rot gemalten Lippen der beinahe Sechzigjährigen lächelten spöttisch. »Sollten wir die Rückreise tatsächlich gemeinsam antreten, darf ich doch mit der versprochenen Lesung aus Ihrem Werk rechnen, Mr. Holmes?«

»Aber selbstverständlich«, erwiderte dieser. »Ein Skandal in Böhmen würde sich besonders eignen.«

»Das finde ich auch«, meinte Irene Adler.

»Zumal die Protagonistin dieses bemerkenswerten Textes eine Wandlung zum Positiven erfahren hat. Als weiblicher Detektiv begeht sie keine Verbrechen mehr, sondern setzt nun ihr außergewöhnliches Talent ausschließlich zum Wohle der Menschheit ein.«

»Einspruch, Mr. Holmes! Verbrechen habe ich nie begangen. Ich benutzte nur, wie soll ich es sagen, die Dummheit, oder nennen wir es die Eitelkeit der Menschen, um gewisse Ziele zu erreichen.«

»Die Dummheit und die Eitelkeit der Männer«, verbesserte Holmes. »Wobei ich mich ausdrücklich nicht ausschließe.«

»In Ihrem Fall, Mr. Holmes, sehe ich das etwas anders. Ihr Problem ist nicht Dummheit, sondern eine zu große Konzentration auf die geistigen Kräfte, wobei Sie Instinkt und Kreativität vernachlässigen.«

»Ich arbeite daran. Und wie Sie sehen, nicht ganz ohne Erfolg. Immerhin habe ich Sie auf diesem Schiff aufgespürt. Für wen, wenn ich fragen darf, arbeiten Sie? Und wie lautet Ihr Auftrag?«

Miss Ronstead lächelte. »Ein Berufsgeheimnis, zum großen Teil. Ich vermute, wir sind hinter demselben Rätsel her. Ich möchte für mich und meinen Auftraggeber herausfinden, ob die Titanic mit Absicht versenkt wurde. Und wenn ja, mit welcher Absicht.«

»Und J. P. Morgan jr. zahlt so schlecht, dass Sie sich als Schiffsbibliothekarin verdingen müssen, Miss Ronstead?«

»Ich wüsste nicht, was J. P. Morgan mit meinem Aufenthalt an Bord dieses Schiffes zu tun hätte. Ein netter Versuch, Mr. Holmes. Aber nicht mehr als das. Zu Ihrer Aussage bezüglich meiner finanziellen Ressourcen: Meine Tätigkeit als Bibliothekarin hat einige Vorteile, unter anderem jenen, dass die Bücherei nur zu bestimmten Zeiten geöffnet hat, ganz abgesehen von der herrlichen Ruhe, die hier geherrscht hat, bevor Sie auftauchten.«

»Können Sie sich dennoch vorstellen, mich auf einen Drink zu begleiten?«

»In den Rauchsalon. Ich sterbe vor Gier nach einer Zigarette«, sagte Irene Adler und schloss sich dem Detektiv an.

»Was planen Sie Besonderes, um den Fall zu lösen, Mr. Holmes?«, fragte die Bibliothekarin und blies den Rauch ihrer Belair in die Luft.

»Ich entgegne Ihrer Frage mit einem Zitat aus Ihrem eigenen Mund: Das ist mein Berufsgeheimnis. Ich lade Sie jedoch zu einer Gedenkveranstaltung an Deck der Olympic ein. Heute gegen Mitternacht. Zu jener Zeit, zu der vor drei Jahren das Unglück geschah.«

»Bei den Rettungsbooten, unter freiem Himmel?«

»Bei hoffentlich trockenem Wetter.«

»Ich werde Ihrer Einladung folgen. Ich denke, das ist eine gute Idee.«

Nach einigen weiteren Drinks erkundigte sich Holmes bei Irene Adler, wie ihr weiteres Leben seit ihrem einzigen und letzten Treffen im Jahr 1888 verlaufen war.

»Ich verbrachte einige ruhige Jahre in Amerika mit meinem Mann und den Söhnen. Meine Karriere als Sängerin gab ich auf. Als Nero und Michael alt genug waren, auf eigenen Beinen zu stehen, begann ich in New York als Private Eye zu arbeiten.«

»Eine ungewöhnliche Tätigkeit für eine Frau«, bemerkte Holmes.

»Beeinflusst durch Dr. Watsons Bücher«, sagte Irene Adler. »Ich dachte mir …«

»Was dieser britische Detektiv zuwege bringt, kann eine Amerikanerin noch lange.«

»Nicht genau meine Worte, Mr. Holmes, aber sinngemäß haben Sie recht. Wie immer. Und wie läuft es bei Ihnen?«

»Ich habe meine Ruhe gefunden, im Süden Englands, am Meer.«

»Und dennoch befinden Sie sich an Bord dieses Schiffes und ermitteln.«

»Wer allzu konsequent ist, ist bereits tot. Aber nun möchte ich Sie nicht mehr von Ihrer Tätigkeit abhalten, Mrs. …?

»Wolfe. Ich nenne mich Irene Wolfe, nach meinem zweiten Mann, mit dem ich noch immer verheiratet bin. Und meine Kanzlei nennt sich I. Wolfe, um mögliche Kunden nicht zu früh davon abzuschrecken, zu mir zu kommen.«

»Sie meinen durch einen weiblichen Vornamen?«

»Exakt. Auch wirkungsvollste Drogen sind nicht in der Lage, Ihr klares Denken auszuschalten. Bevor Sie mich fragen, woher ich weiß, dass Sie etwas genommen haben: Ich sehe das an den erweiterten Pupillen Ihrer noch immer sehr reizvollen Augen.«

»Ich danke für das Kompliment, falls es eines ist.«

»Was haben Sie mit der Kette der Ermordeten vor?«, fragte die Detektivin unvermittelt.

»Das ist eine interessante Frage.«

»Die eine ebenso interessante Antwort verdient.«

»Neuerlich ein Berufsgeheimnis«, bedauerte Sherlock Holmes.

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