DIE DREI DAVIDSKRIEGER

Kingsgate Castle, Wiltshire

29. Dezember 1902, Davidstag

Der athletisch wirkende junge Mann mit den wirren roten Haaren zog einen blühenden Kirschzweig aus der Vase und betrachtete ihn andächtig. Wasser tropfte auf die weiße Tischdecke.

Der Rothaarige hob an zu singen. Zuerst etwas zaghaft, dann fester im Ton und sicherer:


From Tender stem hath sprung,

Of Jesse's lineage coming,

As men of old have sung;

It came, a flow'ret bright,

Amid the cold of winter,

When halfspent was the night.

Es ist ein Ros entsprungen,

Aus einer Wurzel zart.


Nun schlossen sich die beiden anderen Zwanzigjährigen und ein älterer Mann, die mit dem Rothaarigen am Speisetisch saßen, dem Gesang an:


Wie uns die Alten sungen,

Aus Jesse kam die Art

Und hat ein Blümlein bracht,

Mitten im kalten Winter,

Wohl zu der halben Nacht.


»Wohl zu der halben Nacht«, wiederholte ein schmächtiger blonder Junge und trank das Glas mit dem Rotwein aus dem Süden Afrikas leer.

Der etwa vierzigjährige Colonel David King, ein kräftiger Mann mit gepflegtem Schnurrbart und einer kaum verheilten Schussverletzung an der linken Seite seiner Stirn, betätigte die Glocke, um den Butler zu rufen. »Das Mahl war vorzüglich, Jonathan. Danken Sie der Köchin und ihrem Gefolge in meinem Namen und im Namen meiner Gäste. Sie können die Teller abräumen. Und bringen Sie Nachschub! Der Wein ist alt, der Abend jung.«

Der Butler entfernte Geschirr und Servietten, dann kam er mit einem vollen Weinkrug zurück.

Colonel King füllte die Gläser und rief: »Auf den Sieg! Auf König David und seine Krieger!«

»Es lebe König David!«, jubelten die jungen Männer.

»Seid ihr bereit zur Lesung aus dem Heiligen Buch?«

»Wir sind bereit, Sir.«

Colonel King öffnete eine in dunkles Khaki gebundene Feldausgabe der Bibel. Mit etwas undeutlicher Stimme begann er: »Und David ward lüstern und sprach: Wer will mir Wasser zu trinken holen aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor?

Da brachen die drei Helden ins Lager der Philister und schöpften Wasser aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor und trugen's und brachten's David. Aber er wollte es nicht trinken, sondern gab es dem Herrn.

Und sprach: Das lasse der Herr fern von mir sein, dass ich das tue! Ist's nicht das Blut der Männer, die ihr Leben gewagt haben und dahingegangen sind? Und wollte es nicht trinken.«1

Colonel David King nahm einen tiefen Schluck aus seinem Trinkglas, dann wandte er sich wieder an seine Gäste: »Du bist Jasobeam, du Samma und du Eleasar. Ihr seid die drei Helden Davids, die die Philister besiegen, zu ihrem eigenen Ruhm und zum Ruhme ihres Königs. Denkt an die Worte des Heiligen Buches: Da brachen die drei Helden ins Lager der Philister und schöpften Wasser aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor und trugen's und brachten's David.

Eure große Tat geschah vor exakt einem Jahr, am Davidstag des Jahres 1901. Ihr brachtet mir, eurem Colonel, zum Ehrentag den Wein aus der Mitte der Feinde, aus dem Lager der Buren in Ysterspruit. Wie es im Heiligen Buche steht, opferten wir den Wein unserem allmächtigen Gott, der unsere Wege lenkt, uns den Sieg geschenkt hat und mich überleben ließ, trotz der schweren Verwundung. Der euch, meine Krieger, nahezu unversehrt in die Heimat zurückführte.«

Der Colonel hatte sich von seinem Stuhl erhoben und schwankte leicht. Nicht unter dem Einfluss des Alkohols, sondern unter der Schwere seiner Gehirnverletzung, die auch seine Artikulation beeinträchtigte. »Mir wurde Anfang Dezember von Ihrer Majestät, der Queen unseres großartigen Landes, das Victoria-Kreuz verliehen, für Tapferkeit vor dem Feind …«

Die drei Soldaten klopften beifällig mit den Knöcheln ihrer Finger gegen die Tischplatte.

»Und weil ihr, meine Krieger, diese Auszeichnung mindestens so verdient habt wie ich, habe ich euch zu dieser Feier nach Kingsgate eingeladen. Die tapfersten Soldaten meiner Truppe bekommen hiermit das Kreuz aus meiner Hand verliehen. Das Victoria-Kreuz für heldenhafte Taten im Südafrikanischen Krieg geht an Private Jasobeam, an Private Eleasar und an Private Samma.«

Mit unsicherer Hand heftete Colonel King den jungen Männern die Bronzemedaillen an ihre dunklen Jacketts, genau über den Herzen. Dann nahm er die Kristallvase, der der Rothaarige den Kirschzweig entnommen hatte, goss das Wasser achtlos auf den Teppich des Speisesaals und füllte sie mit rotem Wein. Den Zweig tauchte er in die rote Flüssigkeit und stellte das Gefäß an das Fenster zum Park. Auf bunten Bleiglasscheiben wurde der Baum Jesse dargestellt, die Blutlinie des Hauses David, angefangen von Adam, über König David und dessen Sohn Salomon, über den Heiligen Josef und Jesus Christus, bis herauf zu den verstorbenen Eltern des Schlossherren.

»Für den Herrn«, bemerkte David King, und füllte sein Glas und die Becher der Gäste bis zum Rand mit Rotwein. »Und das für uns. Auf unsere Zukunft!«

»Ich bedanke mich in meinem Namen und im Namen meiner Kameraden für die Auszeichnung, Sir. Geben Sie einen Befehl, wir führen ihn aus!«, rief der blonde Junge mit den starken Brillengläsern.

»Wir treffen uns in einem Jahr wieder. Hier, in meinem Schloss. Bis dahin macht ihr euch unentbehrlich im Umkreis eurer Väter. Versucht in euren zivilen Berufen voranzukommen. Weit voran. Ich beobachtete euch lange im Krieg in Afrika und ich sah, dass ihr den Kameraden im Kopf und im Körper etwas voraus habt. Aber ich wählte euch auch wegen eures privaten Hintergrundes aus. Ihr könnt und werdet das Land verändern, verbessern.«

»Sagen Sie, was wir tun sollen, King David!«, rief der Blonde.

»Ihr könnt euch auf mich verlassen. Und ich mich auf euch, das weiß ich. Ich werde, sobald mein Kopf einigermaßen in Ordnung ist, wieder im Ministerium tätig sein. Ich trainiere täglich. Die Fortschritte sind zufriedenstellend.«

Dann sagte er noch: »Und vergesst nicht das Symbol über dem Ausgang dieser Halle, die Schweigerose. Sie soll euch daran erinnern, dass nichts von dem, was hier gesprochen wird, nach außen dringen darf.«

»Wir werden schweigen, King David!«, riefen die Männer.

Draußen hatte es zu schneien begonnen. Der Schnee schluckte die ohnehin spärlichen Geräusche in der Landschaft Wiltshires.


Zwölf Jahre danach

9. Jänner 1915, 19:34 Uhr

Tallis Street 11, London

Das Wasser in der Wanne war noch etwas zu heiß, also ließ der schlanke, fast hagere Mann noch kaltes Wasser nachfließen. Der Dunst legte sich auf die Kacheln des Badezimmers der gemieteten Wohnung in der Tallis Street, unweit der Londoner Fleet Street. Der Journalist Stanley R. Evans – das R. stand für Richard – hatte die schäbige Unterkunft in dem Backsteingebäude aus dem vorigen Jahrhundert bezogen, weil es von hier nicht weit zu seinem Arbeitsplatz war, dem Verlagsgebäude der Pall Mall Gazette. Ein besseres Quartier in dieser Gegend hatte sich der junge Lokalreporter mit seinem bescheidenen Gehalt damals nicht leisten können.

Doch das war anders geworden, seitdem ihm dieser amerikanische Schriftsteller sein Buch zugeschickt hatte: Hoffnungslos – oder das Wrack der Titan. Bevor Evans den Text von Morgan Robertson zu lesen begonnen hatte, hatte er gemeint, er handle vom Untergang der Titanic, die am 15. April 1912 auf ihrer Fahrt von England nach New York vor Halifax gesunken war.

Dann jedoch entdeckte der junge Journalist, dass Robertsons Novelle bereits vierzehn Jahre vor dem Unglück, im Jahr 1898, erschienen war. Das im Buch beschriebene Schiff Titan sank wie die Titanic im Nordatlantik nach der Kollision mit einem Eisberg. Der Lokalreporter erkannte die Chance, das Thema Untergang der Titanic neu zu beleben, und wandte sich an seinen erfahreneren Kollegen Conolly, der sofort einen Abdruck des Romans in Fortsetzungen in die Wege leitete.

Robertson, der Autor des Buches, lebte in den Vereinigten Staaten von Amerika, und er bewilligte für ein relativ bescheidenes Honorar den Nachdruck in der Gazette. Zudem versprach er weiteres sensationelles Material, den Untergang der Titanic betreffend.

Das war der Schneeball, der die Lawine auslöste. Von da an – es war Anfang Mai 1914 – überschlugen sich die Ereignisse.

Stanley Evans hatte seither keinen Augenblick der Ruhe gehabt, nicht einmal über Weihnachten. Der junge Journalist fühlte sich ausgelaugt. Er fand seit Tagen keinen Frieden mehr, konnte nicht schlafen. Seine Hände zitterten so stark, dass es ihm schwerfiel, auf seiner Remington zu schreiben oder sich eine Zigarette anzuzünden. Er würde sich, wenn das Ärgste vorüber war, mehr Zeit für sich selbst nehmen, in Ruhe essen, spazieren gehen.

Das Badewasser hatte nun die richtige Temperatur und Stanley Evans ließ sich in die mit den Jahren rau gewordene Wanne gleiten. Seine Haut gab vor dem Untertauchen verstärkt den Geruch von Zigarettenrauch ab.

Evans atmete durch. Die größte Hektik, die seine und Conollys Artikelserie über den Untergang der Titanic ausgelöst hatte, war ausgestanden. Kaum dass die Gazette mit dem Abdruck des Romans begonnen hatte, übermittelte ihm Morgan Robertson weitere Dokumente. Brisantes Material, das auf einen gigantischen Versicherungsbetrug schließen ließ.

Der Chefredakteur gab grünes Licht, so dass die Gazette den ganzen Dezember über die sensationelle Artikelserie veröffentlichen konnte. Und Evans und Conolly hatten noch einiges auf Lager. Material, das den Untergang der Titanic in neuem Licht zeigen würde. Diese Artikel sollten in den nächsten Tagen in Druck gehen. Dann würde er Urlaub machen und sich eine größere Wohnung suchen. Eine komfortablere Bleibe, etwas außerhalb des Stadtzentrums gelegen.

Evans spürte einen kalten Luftzug an den Schultern und drehte seinen Kopf in Richtung Tür. Er sah dort einen in dunklen Khaki gekleideten Mann. Einen Soldaten, der eine Colt-Browning M1895 auf ihn richtete, einen Gasdrucklader, wie er im Burenkrieg Verwendung gefunden hatte.

Eine Serie von Schüssen zerfetzte den Kopf des Journalisten.

Bedächtig legte der Soldat einen blühenden Kirschzweig auf den Rand der Wanne.


Fairmount Hotel, Sussex

21. Jänner 1915

In der Times, die im ersten Monat des Jahres 1915 voll von Kriegsmeldungen war, las Holmes über das Bombardement der Städte Great Yarmouth und King's Lynn durch die Deutschen. Diese Luftangriffe mit Starrluftschiffen, die nach ihrem Konstrukteur Zeppeline genannt wurden, hatten zwanzig Menschenleben gefordert.

Bereits der zweite spektakuläre Erfolg für die Deutschen in diesem jungen Jahr, überlegte Holmes. Am 1. Jänner hatte ein deutsches U-Boot das Kampfschiff HMS Formidable vor Lyme Regis in Dorset versenkt. Eine furchtbare Katastrophe für England und die ganze Welt, in die mittlerweile alle Staaten Europas, aber auch die USA, verwickelt waren.

Es war an der Zeit, dass England all seine Kräfte bündelte, dass alle politischen Lager zusammenarbeiteten, in einer einzigen Regierung. Ansonsten …

Mycroft Holmes, der Bruder des Detektivs, hatte Premier Asquith von der Liberalen Partei eine Konzentrationsregierung vorgeschlagen, an der auch die Konservativen beteiligt werden sollten. Wie sein Bruder sah auch Sherlock Holmes darin die einzige Chance für das Land. Interne Zwistigkeiten mussten überwunden werden, um den gemeinsamen Feind, die Deutschen, besiegen zu können.

Der Wind trieb den Regen, der an diesem Morgen mit Schnee vermischt war, vom Kanal her gegen das Fairmount Hotel an den Klippen von Sussex. Ein Wetter, das Luftangriffe der Deutschen erschweren würde, überlegte Holmes und blätterte in seiner einen Tag alten Ausgabe der Londoner Zeitung.

Das Fairmount Hotel lag zu weit entfernt von London, um eine täglich aktuelle Anlieferung der Times zu ermöglichen. So musste sich der Detektiv mit den Ausgaben des Vortages begnügen. Aber das war beinahe der einzige Nachteil seines neuen Zuhauses, in das er sich 1903 aus der Großstadt zurückgezogen hatte.

Mit einundsechzig Jahren hatte er es sich verdient, das Leben im Lande und in der Welt mit etwas Distanz zu betrachten, meinte er, wohl versorgt durch die jungen, bemühten Betreiber des Hotels, Mr. und Mrs. Bromham, die dafür sorgten, dass die vier Dauergäste des Hotels mit Wärme und ausgezeichneten Mahlzeiten versorgt wurden.

Ein Klopfen an der Tür riss Holmes aus seinen Gedanken. Molly Fernwick, das Zimmermädchen, holte das Frühstückstablett ab und schob Holz in den offenen Kamin, der angenehme Wärme spendete.

Als der Detektiv die Zeitung auf dem nun frei gewordenen Tisch am Fenster zum Meer ausbreitete, erregte ein unscheinbarer Bericht auf Seite fünf seine Aufmerksamkeit.


MORD AN JOURNALIST

Der junge Reporter Stanley R. Evans von der Pall Mall Gazette wurde am Abend des 9. Jänners im Badezimmer seiner Wohnung tot aufgefunden. Er starb nach Angaben der Metropolitan Police an einer Schussverletzung, verursacht durch ein Maschinengewehr militärischer Herkunft. Wie die Polizei berichtet, fand man neben der Leiche einen blühenden Kirschzweig.

Evans war mit seiner Artikelserie über die Hintergründe des Titanic-Unglücks, die er gemeinsam mit einem Kollegen verfasste, bekannt geworden. Die Kollegen der Pall Mall Gazette zeigen sich erschüttert über den Tod ihres Mitarbeiters.


Trotz des nassen Winterwetters wollte Holmes nicht auf seinen Morgenspaziergang verzichten. Dieses Mal jedoch wählte er einen Pfad, der in das Landesinnere führte. Der Weg die Klippen entlang, den er ansonsten nahm, war den Winterstürmen zu sehr ausgesetzt.

Als er nach einer Stunde durchnässt ins Hotel zurückkam, reichte ihm Mrs. Halliwell, die verwitwete Mutter der jungen Hotelbesitzerin, die Post, die Mr. Oliver, der Kutscher des Hotels, aus dem benachbarten Yapton abgeholt hatte.

Holmes erkannte die Handschrift seines Bruders Mycroft auf einem der Kuverts und öffnete dieses noch auf der Treppe zu seinen Zimmern im ersten Stock. Er vermutete, dass ihn Mycroft aus staatspolitischen Gründen kontaktierte, und dachte schon daran, abzulehnen. Immerhin lag die Schuld an der verfahrenen politischen Situation auch an der englischen Regierung und Holmes fühlte sich wenig geneigt, Position zu beziehen. Daher überraschte und beruhigte ihn der Inhalt von Mycrofts Schreiben.

Mycroft Holmes schlug seinem Bruder ein Treffen im Londoner Diogenes Club vor, in einer wichtigen Angelegenheit, die in Zusammenhang mit dem Untergang der Titanic und Anschuldigungen eines Journalisten gegen einen persönlichen Freund Mycrofts stand.

Sherlock Holmes bat Mrs. Halliwell, für elf Uhr eine Kutsche nach London kommen zu lassen. »Ein wasser- und sturmdichtes Modell, wenn es sich machen lässt.«

»Sehr wohl, Mr. Holmes. Simon wird Sie nach Yapton bringen und sich um ein geeignetes Gefährt für die Weiterfahrt kümmern.«

»Was würde ich wohl ohne Sie machen, Mrs. Halliwell«, bedankte sich der Detektiv.

»Jeder von uns ist ersetzbar, Mr. Holmes«, antwortete die Witwe, die etwa das Alter von Holmes hatte.

»Mit Ausnahmen«, sagte Holmes.

»Natürlich. Entschuldigen Sie, Mr. Holmes. Ich vergaß …«

»Ich denke ausnahmsweise nicht an mich, Mrs. Halliwell.«


Bevor Holmes den Brougham bestieg, verständigte er vom Postamt in Yapton aus seinen Bruder telefonisch, dass er ihn am nächsten Tag zum Lunch im Club treffen werde. Er wollte noch einen Abstecher nach Tunbridge Wells machen, zu seinem alten Freund und Biographen John Watson, der dort als Arzt für wohlhabende Londoner und Londonerinnen tätig war, die ihren Kuraufenthalt in der ruhigen Kleinstadt verbrachten. Der Doktor hatte sich, als er sechzig wurde, mit seiner dritten Frau, der charmanten Elsa, dorthin zurückgezogen.

Holmes war froh, als ihm der Turm von St. Swithun's in East Grinstead, etwa fünfzehn Meilen westlich von Tunbridge Wells, das bevorstehende Ende der Reise ankündigte. Es regnete heftig. Wenigstens der Schneefall hatte nachgelassen, der dem Kutscher am Anfang der Reise so sehr die Sicht genommen hatte, dass sie nur langsam vorangekommen waren. Im Sommer, bei trockenem Wetter, war Tunbridge Wells in drei Stunden zu erreichen.

Mrs. Elsa Watson, eine blühende Frau Ende vierzig, öffnete die Tür zu ihrem Haus, das in unmittelbarer Nachbarschaft zum Zentrum des eleganten Kurortes, den Pantiles, lag.

»James«, so nannte Mrs. Watson gelegentlich ihren Mann, »hat sich nach der Sprechstunde zurückgezogen. Ich werde ihn sofort rufen. Nehmen Sie doch Platz, Mr. Holmes. Ich freue mich so sehr, Sie endlich wieder bei uns begrüßen zu können. Wie geht es Ihnen? Wie war die Fahrt?«

Holmes ließ Mrs. Watson, die ohnehin auf keine Antwort wartete, geduldig ausreden und betrat das edle Haus.

»Holmes! Ich habe Ihre Stimme erkannt!« Watson kam etwas verschlafen die Treppe aus dem ersten Geschoss des Hauses herunter.

Der Detektiv wollte seinem Freund die Hand zur Begrüßung reichen, doch dieser umarmte ihn und drückte ihn fest an sich. Mrs. Watson entfernte sich diskret.

Im Salon des Hauses servierte sie den Männern Sherry.

»Das Essen ist in einer halben Stunde fertig«, kündigte sie an. »Sie mögen doch Haddock, Mr. Holmes? Ich muss auf die Gesundheit meines Mannes achten und da ist Fisch am geeignetsten.«

»Sie sehen jünger aus als noch vor zehn Jahren«, sagte Holmes zu seinem Freund, nachdem sich die Dame des Hauses Richtung Küche entfernt hatte. »Die Ehe tut Ihnen gut.«

»Ich war auch vor zehn Jahren verheiratet«, bemerkte der Doktor.

»Dann hat Ihr Aussehen andere Gründe. Womöglich hängt es damit zusammen, dass ich Sie nun mit meinen Fällen nicht mehr so strapaziere.«

»Das trifft in keiner Weise zu. Ihre detektivischen Fähigkeiten scheinen nachzulassen oder Sie wollen mich fernhalten von weiteren Ermittlungen, Holmes, und das gefällt mir gar nicht. Ich bin noch kein Greis und ich versichere Ihnen …«

»Es gibt keine weiteren Fälle, Watson, also auch keinen Grund, etwas vor Ihnen zu verbergen. Der Detektiv ist in den Ruhestand getreten und sieht keinen Anlass, daran etwas zu ändern.«

»Eine Lüge, eine glatte Lüge. Sie haben ein Leuchten in den Augen, das mir verrät, dass Sie einer interessanten Sache auf der Spur sind. Wie gern würde ich Sie wieder begleiten und die Praxis Praxis sein lassen und nach dem glücklichen Abschluss eines Falles darüber schreiben.«

»Und vernichtende Kritiken für die Bücher einstecken.«

»Ach, daher weht der Wind. Sie wollen nicht mehr, dass ich über Ihre Fälle schreibe, weil Sie meinen, dass meine schriftstellerischen Fähigkeiten ebenso bescheiden sind wie mein detektivisches Talent.«

»Aber nein, im Gegenteil«, beeilte sich Holmes zu sagen.

»Was meinen Sie damit?«

»Womit, teurer Freund?«

»Mit im Gegenteil

»Eine Phrase, Doktor. Nur so dahin gesagt. Sie haben meinen Ruhm mit Ihren wundervollen Textchen über die Welt verbreitet.«

»Textchen. Da haben wir es wieder. Sie selbst halten nichts von meinen Romanen.«

»Schluss jetzt. Wenn den Herren keine anderen Tischgespräche einfallen, verordne ich totales Stillschweigen während des Essens«, unterbrach Mrs. Watson ihren Mann und den Detektiv und servierte Gemüsesuppe.

Watson erwähnte das Thema nicht mehr bis zum frühen Nachmittag des nächsten Tages als der Detektiv einen Brougham nach London bestieg.

»Lassen Sie Mrs. Hudson grüßen«, sagte er noch, dann senkte er traurig den Blick und ging zurück in das Haus.

»Mr. Holmes, warum haben Sie mich nicht verständigt? Die Räume im ersten Stock sind ungeheizt. Ich hätte …«, klagte die Landlady des Hauses Baker Street 221b, doch Holmes unterbrach sie.

»Sehen Sie, Mrs. Hudson, das ist der Grund, warum ich unangemeldet komme. Ich werde mich um all das selbst kümmern.«

»Weil Sie meinen, dass ich in meinem Alter nicht mehr dazu fähig bin! Es ist ein Fluch, alt und hässlich zu werden.«

»Sie beleidigen mich. So deutlich müssten Sie es nicht ausdrücken«, lächelte Holmes.

Die Holmes-Hausdame begann zu weinen. »Entschuldigen Sie mich, Mr. Holmes! Die Freude. Sie überwältigt mich. Dass Sie nun wieder da sind! Ich hoffe, es wird sein wie früher, als …«

»Als mir Mrs. Hudson Tee und Gebäck servierte.«

»Aber doch nicht am Abend!«, protestierte die über Achtzigjährige. »Haben Sie etwas Geduld. Bald gibt es ein Festessen.«

»Bei dem Sie mir Gesellschaft leisten«, fügte Holmes hinzu.

»Ach, Mr. Holmes. Sie sind zu liebenswürdig. Ich weiß, was meine Aufgabe im Hause ist, der ich nun leider nicht mehr so wie früher nachkommen kann.«

»Sie fühlen sich krank, Mrs. Hudson?«, erkundigte sich Holmes.

»Alt und müde bin ich geworden. Ich muss gestehen, dass mir meine Nichte hilft, das Haus und Ihre Wohnung in Ordnung zu halten. Ohne Helen wüsste ich nicht, was ich täte.«

»Ich hoffe, ich bekomme eine Chance, Ihre Nichte kennenzulernen«, erwiderte Holmes.

»O ja, Helen wird Ihnen das Frühstück bereiten. Sie ist momentan unterwegs, mit einem jungen Mann, den sie …«

Aber da war Holmes schon die Treppe in den ersten Stock hoch geeilt. Er wollte in der vertrauten Umgebung nachdenken. Ein Detail der Zeitungsnotiz hatte seine Aufmerksamkeit erregt und beunruhigte ihn außerordentlich. Der blühende Kirschzweig, den man neben dem erschossenen Journalisten entdeckt hatte. Was für ein Kontrast! Tod und blühendes Leben, eine Waffe militärischer Herkunft und eine zarte Blüte.

Der Mord wich dadurch von den üblichen Verbrechen ab. Er hatte etwas Phantasievoll-Verrücktes. Ein Umstand, der den Detektiv an etwas erinnerte und ihn reizte.

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