10


Andrej konnte lange nicht einschlafen. Immer wieder war er in Gedanken bei Maria, er konnte förmlich den Geruch ihrer Haut riechen und auf dem Rücken überlief ihn ein wohliges Schaudern, bei der Vorstellung, ihre Hände würden ihn streicheln und ihre Fingernägel würden sich sanft in seine Haut graben. Aber da waren auch andere Bilder, die sich dazwischenschoben. Bilder von Leid und Gewalt, von dem brennenden Wirtshaus, in dem sechs unschuldige Menschen den Tod gefunden hatten - nur weil die goldenen Ritter ihn hatten töten wollen. Beide Erinnerungen schoben sich ineinander, so als würden sie zusammengehören, und auf der zerbrechlichen Grenze zwischen Schlaf und Wachen überkam ihn das abstruse Gefühl, daß beides in Zusammenhang stand.

Aber wie sollte das möglich sein?

Erst im Morgengrauen fiel er in einen erlösenden Schlaf. Schon wenig später erwachte er wieder, schweißgebadet und erschöpft. Er benötige ein, zwei Sekunden, bevor ihm bewußt wurde, wo er sich befand. Leise stand er auf, ging zum Fenster hinüber und starrte durch den schmalen Bretterspalt auf die Gasse hinaus. Es herrschte ein für die Tageszeit erstaunlich reges Treiben. Ein paar Seeleute gingen mit ihren geschulterten Seesäcken in die Richtung, die er noch nicht erkundet hatte; wahrscheinlich befand sich dort irgendwo hinter den angrenzenden Häusern eine Abkürzung zum Hafen. Andrej wußte, daß Constãntã seinen Reichtum ausschließlich seiner günstigen Lage am Schwarzen Meer verdankte. Als Venedig des Ostens hatte es eine zentrale Bedeutung - und enge Beziehungen sowohl zu anderen Hafenstädten am Schwarzen Meer als auch am nicht weit entfernten Mittelmeer.

Aber es waren nicht nur Seeleute unterwegs. Ein Händler, der auf einem hölzernen Karren Gemüse vor sich herschob und sich dabei durch ärmlich gekleidete und aufgeregt schnatternde Frauen drängen mußte, transportierte wahrscheinlich gerade frische Ware zum Markt. Nicht weit hinter ihm jagte eine johlende Kinderschar die Gasse entlang. Bei ihrem Anblick fühlte Andrej einen schmerzhaften Stich im Herzen. Auch sein Sohn Marius hätte unter diesen Kindern sein können - oder Frederic, dessen Jugend in dem Moment geendet hatte, als Vater Domenicus und die goldenen Ritter in Borsã eingeritten waren. Sein Blick wanderte zu dem schlafenden Jungen. Wenigstens im Schlaf - er lag zusammengekauert, die Beine fast bis zum Kinn herangezogen, auf der Seite, sein Gesicht ruhte auf den wie zum Beten gefalteten Händen - durfte er Kind sein.

Plötzlich öffnete Frederic seine Augen, sah Andrej überrascht an und fuhr erschrocken hoch. »Oje! Habe ich verschlafen?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Kein Grund zur Aufregung. Wir müssen den Tag sowieso irgendwie herumkriegen. Vor den Abendstunden brauchen wir nicht im ›Einäugigen Bären‹ zu sein.«

»Und was tun wir bis dahin?«

»Wir werden uns etwas in der Stadt umsehen«, sagte Delãny. »Aber vorsichtig - und ohne aufzufallen.«

»Und warum bleiben wir nicht hier?« fragte Frederic.

Andrej schüttelte den Kopf. Er hatte über diese Frage lange Zeit nachgedacht. »Wir sollten dieses Quartier nur im Notfall benutzen«, sagte er. »Es könnte sein, daß die Soldaten jedes Haus in der Stadt auf den Kopf stellen. Wenn sie hierherkommen, will ich jedenfalls nicht mehr da sein.«

Sie brachen zügig, aber ohne Hast auf und warteten auf einen günstigen Moment, um unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Andrejs Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Er musterte verstohlen jeden Menschen, der ihnen begegnete, und war jederzeit darauf gefaßt, sich zusammen mit Frederic beim Auftauchen einer orangeweißen Uniform schnell und unauffällig zu verdrücken. Und dennoch: Er beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. Die goldenen Ritter und die Stadtwache würden wohl kaum damit rechnen, daß er offen durch die großen Straßen Constãntãs schritt. Wenn sie ihn tatsächlich suchten, würde sie eher jede verborgene Ecke der Stadt durchkämmen und jedes Schlupfloch auszuräuchern versuchen. Deswegen hatte er auch das verfallene Haus wieder so hergerichtet, wie er es vorgefunden hatte: Wenn die Soldaten es in ihrer Abwesenheit durchsuchten, sollten sie keinen Hinweis auf ihn oder Frederic vorfinden. Nur so war gewährleistet, daß ihnen das Versteck für einen Notfall - oder eine weitere Nacht - noch einmal zur Verfügung stand.

Es war kein Zufall, daß er den Weg in Richtung Schloß wählte. Wie auch immer die Befreiungsaktion ablaufen würde: Das Schloß spielte dabei eine zentrale Rolle, und es konnte sich durchaus als lebenswichtig erweisen, sich in dem verwinkelten System der zu ihm führenden Gassen und Straßen auszukennen. Also war es nur konsequent, die gesamte Umgebung zu erkunden. Er prägte sich Straßenverläufe und Besonderheiten der Bebauung möglichst genau ein und versuchte selbst dann, vollkommen unbefangen zu wirken, wenn sie an herzoglichen Wachen vorbeikamen.

Immerhin bekamen sie weder goldene Ritter noch die Schergen des Inquisitors zu Gesicht.

»Ich bin sehr gespannt, wie mich unser Informant da hineinschleusen will«, flüsterte Andrej Frederic zu, bevor sie wieder den Weg Richtung Hafen einschlugen.

Es war gar nicht so einfach, in diesem geschäftigen Trubel einer Stadt so zu tun, als würde man dazugehören. »Laß uns lieber wieder zum Marktplatz gehen, da sind mehr Leute, und im Gedränge fallen wir weniger auf«, sagte er, als ihm der Sonnenstand und seine lichtempfindlichen, brennenden Augen verrieten, daß es Mittagszeit sein mußte.

Wie schon am Vortag hatten sie große Mühe, sich durch die Menge zu schieben, ohne sich dabei aus den Augen zu verlieren. Immer wieder wurden sie angerempelt und herumgeschubst. Ein Menschenpulk hatte sich gebildet, als einer der Gemüsestände ins Wackeln kam, den Halt verlor, um schließlich mit einem lauten Krachen umzukippen. Alle wollten etwas von den Köstlichkeiten haben, die nun zu ihren Füßen lagen. Auch Andrej und Frederic bückten sich, doch als sie sahen, daß die Wachen des Herzogs angeritten kamen, um für Ordnung zu sorgen, strebten sie in die andere Richtung davon. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie das Geschehen, das in einem ausgewachsenen Streit zwischen dem Gemüsehändler auf der einen Seite und einigen besonders vorwitzigen Marktbesuchern auf der anderen Seite gipfelte - auf welche Seite sich die Wachen schlagen würden, die bereits drohend ihre Schwerter gezogen hatten, war noch nicht abzusehen.

»Wir verschwinden besser«, zischte Andrej. »Bevor wir da auch noch mit reingezogen werden.« Er drehte sich um, um den Marktplatz so schnell wie möglich zu verlassen - und erstarrte mitten in der Bewegung.

Direkt vor ihnen stand Maria.

»Was ... wie kommt Ihr denn hierher?« stotterte er. Tausend Dinge schössen ihm durch den Kopf. Die Ereignisse der letzten Nacht kamen ihm wie ein ferner Traum vor, der sich durch keinen noch so großen Zauber mehr zurückholen lassen würde. Was auch immer geschehen war: Für diese junge Dame aus besserem Haus war er wahrscheinlich nicht viel mehr als ein Spielzeug. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was sie zu ihrer Verführungsszene getrieben hatte: Nachdem sie sich mit ihrem Stallburschen und Kammerdiener vergnügte hatte, machte sie jetzt Jagd auf fremde, naive Männer, denen sie den Kopf verdrehen konnte.

»Ich habe Euch dort hinten gesehen.« Sie deutete hinter sich auf die zum Schloß führende Straße. »Das heißt, ich hatte gehofft, daß Ihr es seid. Schließlich habe ich doch noch Schulden bei dem jungen Mann hier, und ich bleibe ungern jemandem etwas schuldig: Vor allem, wenn es sich um eine Zuckerstange handelt!«

Verwirrt sah Frederic von einem zum anderen.

»Also gut«, sagte Andrej. »Aber wir haben wirklich ...«

»... nicht viel Zeit, ich weiß«, führte Maria seinen Satz zu Ende. »Ich übrigens auch nicht. Mein Bruder wartet sicher schon auf mich. Also kommt.«

Sie ergriff Frederics Hand und lief so schnell los, daß sie den Jungen im ersten Moment beinahe hinter sich her zerrte, ehe er den gleichen Rhythmus fand wie sie. Andrej schloß sich den beiden an und ließ seinen Blick aufmerksam von rechts nach links und wieder zurück schweifen. Mit Ausnahme der immer noch beunruhigend großen Menschenmenge, die sie nun von allen Richtungen umgab, bemerkte er jedoch nichts Außergewöhnliches. Trotzdem fragte er sich einen Moment lang ernsthaft, ob er eigentlich den Verstand verloren hatte. Wahrscheinlich bestand kein Grund, Maria gegenüber mißtrauisch zu sein - aber andererseits konnte er sich des merkwürdigen Gefühls nicht erwehren, daß sie ihm etwas äußerst Wichtiges verschwieg. Konnte es sein, daß jemand sie auf ihn angesetzt hatte mit dem Ziel, sein Vertrauen zu gewinnen und seine geheimen Pläne zu erforschen?

Er wußte selber, daß er Unsinn dachte, aber er konnte nicht dagegen an. Seine Gefühle dieser jungen Frau gegenüber waren äußerst zwiespältig. Auf der einen Seite fühlte er sich auf eine Art und Weise von ihr angezogen, die ihn geradezu hilflos machte und seine Hände allein schon bei dem Gedanken erzittern ließen, sie wieder zu berühren. Auf der anderen Seite konnte er ihrem allzu forschen und selbstsicheren Auftreten nichts abgewinnen. Sie war ... äußerst ungewöhnlich und von einer geradezu erschreckenden Offenheit, wie er sie zuvor bei noch keiner Frau kennengelernt hatte - nicht einmal im entferntesten. Vielleicht war sie die Tochter eines reichen Adligen oder die Frau eines Ritters, der als Gast auf dem Schloß weilte. Aber so, wie die Dinge lagen, durften sie einfach niemandem trauen - ganz abgesehen davon, daß sie kaum noch genug Zeit hatten, pünktlich zu ihrer Verabredung zu kommen. Aber wenn er es schon nicht für sich selbst tat: Vielleicht war er Frederic diese wenigen kostbaren Minuten einfach schuldig.

Sie überquerten den Marktplatz, wobei Maria trotz des Gedränges ein so scharfes Tempo vorlegte, daß Andrej Mühe hatte, mit Frederic und ihr Schritt zu halten. Schließlich erreichten sie einen Stand, an dem außer Obst und frischem Gemüse auch Zuckerstangen und andere Leckereien feilgeboten wurden. Maria bedeutete Frederic, sich etwas auszusuchen, und der Junge traf sorgsam und mit großem Bedacht seine Wahl.

Andrej konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er den seligen Ausdruck auf dem Gesicht seines Schützlings sah. Frederics Hände zitterten ganz leicht, und er wirkte so angespannt wie ein Goldschmied, der Edelsteine für ein besonders kostbares Geschmeide auswählt. Schließlich nahm er aber genau das, was die junge Frau ihm von Anfang an in Aussicht gestellt hatte: eine Zuckerstange.

Maria drehte sich zu Andrej um und lächelte. Sie war unglaublich schön und wirkte plötzlich nicht nur viel jünger als wenige Augenblicke zuvor, sondern so verheißungsvoll, daß Andrej keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Und sie schien an diesem schmutzigen, lauten Ort so fehl am Platze zu sein, wie man sich das nur vorstellen konnte. Obwohl Andrej nicht anders konnte, als sie hingerissen anzustarren, fiel ihm auf, daß sie keine Anstalten machte, die Zuckerstange zu bezahlen. Der Verkäufer schien das ganz selbstverständlich zu finden. Andrej nicht. Aber er weigerte sich in diesem Moment, darüber nachzudenken.

»Nun, Andrej«, fragte sie sanft, »ist dieses Lächeln nicht ein paar Augenblicke wert?«

Anfangs kamen Delãny diese Worte fast lächerlich vor. Wie Maria so dastand mit ihrem fröhlichen Lächeln, beschienen vom hellen Sonnenlicht, das Funken in ihr dunkles Haar zauberte, erschien sie ihm selbst kaum älter als der Junge. Allein ihr unbeschwertes Lachen ließ sein Herz höher schlagen, und ihre Fröhlichkeit konnte dem Jungen nur guttun - und doch war etwas an ihr, daß ihn beinahe ängstigte. Das Gefühl, daß sie ein dunkles Geheimnis umgab, wurde übermächtig.

»Ja«, gab er dennoch achselzuckend zu und wich ihrem Blick aus. Andrej fühlte sich befangen, fast verlegen, und daß er aus dem Zwiespalt seiner Gefühle nicht herausfand, verschlimmerte diesen Zustand noch.

Maria gab jedoch nicht so leicht auf. »Wo kommt Ihr her, Andrej ?« fragte sie. »Aus dem Westen?«

»Sieht man das so deutlich?« fragte Andrej, während ihm bewußt wurde, wie viel sie voneinander trennte.

»Ich weiß es nicht. Ich selbst bin noch nie durch Transsilvanien gereist - so etwas überlasse ich meinem Bruder -, aber man hat mir erzählt, daß in den Bergen noch barbarische Stämme leben sollen, die heidnische Götter anbeten.« Sie stutzte, und plötzlich huschte ein betroffener Ausdruck über ihr Gesicht.

»Das ... das war jetzt nicht so gemeint«, sagte sie stokkend. »Ich wollte damit nicht sagen, daß Ihr ausseht wie ein heidnischer Barbar, sondern nur, daß ...« Sie verhaspelte sich, brach endgültig ab und rettete sich in ein Kopfschütteln und ein verlegenes Lachen. »Mein Bruder hat recht«, schloß sie. »Ich rede manchmal einen ziemlichen Unsinn, fürchte ich.«

»Nur gibst du es normalerweise nicht zu«, ließ sich plötzlich eine Stimme hinter Delãny vernehmen. »Jedenfalls nicht, wenn ich in der Nähe bin.«

Andrej wollte sich umdrehen, um Marias Bruder zu begrüßen, stockte aber, als er Frederics Reaktion bemerkte. Aus dem Gesicht des Jungen war jegliche Farbe gewichen. Seine Augen waren so groß, daß sie fast aus den Höhlen zu quellen schienen ... und schwarz vor Furcht. Er zitterte am ganzen Leib.

Andrej drehte sich mit einem Ruck herum - und hatte plötzlich selbst Mühe, einen überraschten Schrei zu unterdrücken. Hinter ihm stand ein sehr großer, breitschultriger Mann mit dunklen Augen und kurzgeschnittenem, schwarzen Haar. Der rote Umhang wirkte jetzt, da er nicht mehr im Sattel saß, eher protzig als ehrfurchtgebietend, und den merkwürdigen Hut mit dem breiten Rand hatte er abgesetzt und hielt ihn in der linken Hand. Vor seiner Brust hing ein goldenes Kreuz, das mindestens ein Pfund wiegen mußte und mit kostbaren Juwelen besetzt war.

Vater Domenicus streifte Andrej mit einem raschen, aber sehr aufmerksamen Blick, bevor er sich mit einem übertriebenen Kopfschütteln wieder an Maria wandte. »Es ist schon so, wie ich immer sage«, seufzte er. »Man kann dich keinen Moment aus den Augen lassen. Ich hoffe, meine Schwester hat Euch nicht belästigt. Sie ist manchmal ziemlich keck, müßt Ihr wissen.«

Andrej entgegnete nichts auf diese Bemerkung, und er war sich ziemlich sicher, daß Domenicus eine Antwort nicht einmal zur Kenntnis genommen hätte. Der Inquisitor war kein Geistlicher von der Art, wie Andrej sie kannte - kein Mann des Volkes, sondern einer, der über dem Volk stand und das Wissen darum wie einen unsichtbaren Schild vor sich her trug.

Und er war vor allem der Mörder seines Sohnes, Baraks und der anderen aus dem Borsã-Tal.

Diese Erkenntnis traf Andrej mit einigen Sekunden Verzögerung, dafür aber mit um so heftigerer Wucht. Plötzlich begannen auch seine Hände zu zittern, und für einen Moment verschwamm die Gestalt des Geistlichen vor seinen Augen. Sein Herz raste, er mußte sich mit aller Macht beherrschen, nicht sein Schwert zu ziehen und den Mann auf der Stelle zu töten. Hätte Domenicus ihn in diesem Moment angeblickt, hätte er in Andrejs Augen zweifellos dessen Gedanken gelesen.

Der Inquisitor sah aber nicht ihn, sondern Frederic an, und er tat dies auf eine sehr sonderbare Art; nicht einmal unfreundlich, aber doch in gewisser Weise mißtrauisch und zugleich auch verwirrt.

»Warum bist du so erschrocken, Kleiner?« fragte er. »Kennen wir uns?«

»Ihr ... Ihr seid ...«, stammelte Frederic.

Domenicus seufzte. »Ich verstehe«, sagte er. »Ja, du hast recht, mein Junge. Ich bin Vater Domenicus, und bevor du fragst: Ja, ich bin der Inquisitor, der zu Gast im Schloß ist. Aber was immer man dir auch erzählt haben mag, du hast keinen Grund, mich zu fürchten.«

»Aber Ihr...«

»Sei still, Frederic«, sagte Andrej. Auch seine Stimme zitterte. Er räusperte sich, zwang sich, einen möglichst gleichmütigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, und wandte sich mit einer steifen Bewegung wieder Domenicus zu.

»Bitte, verzeiht meinem Neffen, Hochwürden. Er ist ein dummes Kind, das jeden Unsinn glaubt, den es aufschnappt.«

»Welchen Unsinn hat er denn aufgeschnappt?« fragte Domenicus kühl. Er lächelte, aber es war das kälteste Lächeln, das Andrej jemals auf den Lippen eines Menschen gesehen hatte. Seine linke Hand spielte gedankenverloren mit dem goldenen Kreuz, das vor seiner Brust hing.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej. »Bitte, verzeiht noch einmal, daß wir Euch belästigt haben. Wir müssen nun wirklich gehen. Frederic - Komm!«

Frederic schien seine Worte gar nicht wahrzunehmen, sondern starrte weiterhin den Inquisitor an. Schließlich packte Andrej ihn an der Schulter und zog ihn zu sich heran. Mit einem kurzen Nicken in Marias Richtung drehte er sich um und wollte gehen, doch da sagte Vater Domenicus völlig unerwartet: »Aber warum habt Ihr es denn so eilig? Ich würde gerne noch ein wenig mit Euch plaudern, Andrej Delãny.«

Andrej erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Hände schlössen sich fest um Frederics Schulter, und sein Herzschlag verlangsamte sich und wurde so schwer, daß er ihn bis in die Fingerspitzen fühlen konnte.

Nach und nach löste er die Hand von Frederics Schulter, schob den Jungen unauffällig ein Stück von sich fort und drehte sich wieder zu Domenicus herum. Seine rechte Hand schlug den zerrissenen Mantel zurück und legte sich auf den Griff des Sarazenenschwertes.

Der Inquisitor war nicht mehr allein. Hinter ihm standen zwei Männer in schwarzen Lederrüstungen und knöchellangen, schweren Wollmänteln; Andrej mußte sich nicht umschauen, um zu wissen, daß auch hinter ihm Bewaffnete aufgetaucht waren. Von den goldenen Rittern war nichts zu sehen, aber er konnte sich gut vorstellen, daß sie sich hier in der Nähe aufhielten.

Sein Blick suchte den Marias. Die junge Frau sah vollkommen verwirrt von ihrem Bruder zu ihm und wieder zurück. Entweder verstand sie nicht, was vor sich ging, oder sie war die beste Schauspielerin, die er je kennengelernt hatte.

»Domenicus, was ...«

»Du solltest jetzt besser gehen, Maria«, sagte der Geistliche. »Es könnte gefährlich werden.«

»Was soll das heißen?!« Marias Stimme klang scharf, fast aggressiv. »Ich verlange eine Erklärung! Du kennst diesen Mann?«

»Das soll heißen, daß Ihr mich in eine Falle gelockt habt«, sagte Andrej. »Wie ich vermute, hat Euch Euer Bruder gestern auf uns aufmerksam gemacht - auch wenn er es vermutlich sehr geschickt angestellt hat.«

Maria erbleichte. »Ist das wahr?« fragte sie. »Domenicus?!«

Ihr Bruder sah sie kurz an, zog die linke Augenbraue hoch und wandte sich wieder an Andrej, ohne ihre Frage zu beantworten. »Gebt auf, Delãny!« sagte er. »Ihr habt keine Chance.«

»Wir werden sehen«, entgegnete Andrej.

Er wirkte äußerlich vollkommen gefaßt, in seinem Innersten jedoch tobte das reinste Chaos. Die beiden Soldaten rechts und links des Geistlichen hatten die Hände auf ihre Schwerter gesenkt, die Waffen aber noch nicht gezogen. Trotzdem war die Anspannung, unter der sie standen, deutlich zu spüren. Die Männer hatten Angst, was sie unberechenbar und damit um so bedrohlicher wirken ließ.

»Ich weiß, wie gefährlich Ihr seid, Andrej Delãny«, antwortete Domenicus ernst. »Zweifellos könntet Ihr einen oder zwei meiner Männer töten, bevor wir Euch überwältigen. Aber ich bitte Euch zu bedenken, wo wir sind. Es könnten Unschuldige zu Schaden kommen. Wollt Ihr das wirklich?«

Andrej spürte förmlich, daß sich ihm auch von hinten mindestens zwei Männer näherten, vermutlich mehr, und höchstwahrscheinlich war auch mindestens einer der goldenen Ritter in der Nähe.

»Ergebt Euch ohne Widerstand, und ich sichere Euch einen fairen Prozeß zu«, fuhr Domenicus fort, als Andrej immer noch nicht reagierte. Er lächelte, wirkte zugleich aber auch ein wenig nervös.

»So wie Barak?« fragte Delãny nach einer endlos erscheinenden Pause.

»Barak?« Domenicus schien einen Moment lang über die Bedeutung dieses Namens nachdenken zu müssen. Dann nickte er. »Der halsstarrige alte Mann im Borsã-Tal.«

»Ihr vergeßt rasch die Namen von Männern, die Ihr zu Tode gefoltert habt«, sagte Andrej. »Oder sind es schon so viele, daß Ihr sie Euch nicht mehr merken könnt?«

»Barak Delãny war ein Hexer«, erwiderte Domenicus kalt. »Er hat zugegeben, seine Seele dem Teufel verkauft zu haben. Seid Ihr auch ein Anhänger Satans?«

»Wenn ich es wäre, dann müßtet Ihr es wissen«, sagte Andrej. »Frederic! Lauf.«

Er wirbelte herum, versetzte Frederic einen Stoß, der den Jungen haltlos zurücktaumeln ließ und registrierte aus den Augenwinkeln eine hektische Bewegung. Er hatte sich getäuscht. Hinter ihm waren nicht zwei, sondern sehr viel mehr Soldaten aufgetaucht, unter ihnen auch ein goldener Ritter: Es war der Hüne, gegen den Delãny schon einmal gekämpft und um ein Haar verloren hätte! Er hatte ihm versprochen, daß sie sich wiedersehen würden - aber Andrej hätte sich nie träumen lassen, daß das mitten in Constãntã und im Beisein des Inquisitors sein würde.

Zwei der Männer attackierten Delãny mit gezogenen Schwertern. Mit einer geschickten Körperbewegung wich er einem beidhändig geführten, wuchtigen Schwerthieb aus, der kräftig genug gewesen wäre, ihn auf der Stelle zu enthaupten; er glitt aus und fiel auf die Seite. Eine zweite Klinge schlug unmittelbar neben seiner linken Schulter Funken aus dem Stein.

Er rollte herum, trat dem Angreifer, der sich zu weit vorgewagt hatte, die Beine unter dem Leib weg und sprang aus der gleichen Bewegung heraus hoch. Der Mann, der ihn zu enthaupten versucht hatte, attackierte ihn erneut. Andrej duckte sich unter der heranzischenden Klinge weg, schlug die Arme des Mannes zur Seite und schlug ihm mit der Handkante gegen die Kehle. Der Hieb hätte tödlich sein können, war aber zu schlecht gezielt und mit zu geringer Kraft ausgeführt worden; der Soldat ließ sein Schwert fallen, taumelte zurück und preßte würgend die Hände gegen den Hals, hielt sich aber mühsam auf den Beinen.

Delãny täuschte gegen den dritten Angreifer einen Fußtritt an, sprang blitzschnell zurück und hatte so für einige wenige Sekunden Luft. Rasch drehte er sich einmal um die eigene Achse und versuchte, sich schnell eine Übersicht über die Lage zu verschaffen.

Seit dem kurzen Handgemenge waren nur wenige Sekunden verstrichen, aber die Situation hatte sich trotzdem total verändert: Nur drei der vier Männer beteiligten sich direkt an dem Angriff auf ihn. Der vierte hatte offensichtlich versucht, Frederic zu packen, den Jungen aber verfehlt und war schwer auf die Knie gefallen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und er war sichtlich nicht in der Lage, aus eigener Kraft aufzustehen. Der goldene Ritter - es war der Mann, gegen den Andrej im Wald gekämpft hatte - stand in einiger Entfernung reglos da und beobachtete Andrej mit einer Mischung aus Neugier und heiterer Gelassenheit. Er hatte sich bisher nicht einmal die Mühe gemacht, seine Waffe zu ziehen, und wahrscheinlich hatte er das auch nicht vor. Andrej begriff instinktiv, daß er von diesem Gegner keinen fairen Kampf erwarten durfte. Er würde einfach abwarten, bis seine Kumpanen Andrej überwältigt oder zumindest weit genug in die Enge getrieben hatten, ehe er dann im entscheidenden Moment zuschlug.

»Gebt auf, Delãny!« forderte Domenicus ihn in scharfem Tonfall auf. »Oder wollt Ihr unbedingt sterben, Ihr Narr?«

Die beiden Männer zur Rechten und Linken des Inquisitors machten keine Anstalten, Andrej anzugreifen. Einer von ihnen hatte Maria ergriffen und hielt sie mit deutlich mehr als sanfter Gewalt fest. Der andere hatte sein Schwert gezogen und sich schützend zwischen Andrej und seinem Herrn postiert. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund versuchten die Söldner, einen Kampf mit Andrej zu vermeiden.

Und plötzlich begriff Delãny schlagartig, warum.

Sie waren nicht allein. Die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung hatten sich panikartig in Sicherheit gebracht, als die Soldaten ihre Waffen zogen, und bildeten nun eine lebende, mehr als zehn Schritte messende Arena, in deren Zentrum sich Andrej und seine Gegner befanden. Aber es gab Dutzende von Zeugen, wahrscheinlich sogar Hunderte. Weder dem goldenen Ritter noch dem angeblichen Inquisitor konnte daran gelegen sein, daß Andrej hier und jetzt sein Leben aushauchte - sie wollten ihn unter der Folter und dann auf dem Scheiterhaufen sehen.

Auch Delãny hatte sein Schwert bisher nicht gezogen. Er benötigte keine Waffe, um mit einem oder zwei gewöhnlichen Angreifern fertig zu werden.

Hinter ihm erscholl in dieser Sekunde ein keuchender Schrei. Andrej warf einen raschen Blick über die Schulter zurück und erkannte mit schierem Entsetzen, daß sich der vierte Soldat wieder erhoben und Frederic nun doch gepackt hatte. Der Junge wehrte sich nach Kräften, aber er hatte gegen den Erwachsenen natürlich keine Chance. Der hünenhafte Ritter war schräg hinter die beiden getreten und hatte die Hand auf sein Schwert gelegt. Er lächelte kalt. Andrej wägte blitzschnell seine Aussichten ab, den Mann mit einem Schritt zu erreichen und Frederic zu befreien, verwarf diesen Gedanken aber augenblicklich wieder. Der Soldat wäre tot, ehe er richtig begriff, was überhaupt geschah, aber Andrej zweifelte nicht daran, daß der Goldene Frederic, ohne zu zögern, töten würde.

»Gebt auf, Andrej Delãny!« sagte Vater Domenicus noch einmal. »Es ist schon zu viel unschuldiges Blut vergossen worden. Ihr habt mein Wort, daß Euch Gerechtigkeit widerfahren wird.«

Andrej erwog für die Dauer eines Atemzugs, sich statt auf Frederic auf den Geistlichen zu stürzen und ihn als Geisel zu nehmen, um ihn am eigenen Leibe spüren zu lassen, was Gerechtigkeit bedeutete. Aber er verwarf auch diesen Gedanken, allein schon deshalb, weil er auf dem Gesicht des Inquisitors las, daß dieser mit solch einem Versuch rechnete und darauf vorbereitet war. Domenicus war keiner von den Geistlichen, die ihre Tage ausschließlich mit Beten und frommen Exerzitien zubrachten. Andrej erkannte einen Krieger, wenn er ihm in die Augen blickte.

Er sah, aber mehr noch spürte er, wie die drei Männer sich ihm aus verschiedenen Richtungen näherten. Sie wirkten angespannt - sie hatten Angst.

»Jetztl« befahl der hünenhafte goldene Ritter.

Die drei Soldaten sprangen in einer fast perfekt aufeinander abgestimmten Bewegung nach vorne. Andrej wurde klar, daß sie diese Art des koordinierten Angriffs lange geübt hatten; eine Technik, die alles andere als ritterlich, aber dafür um so wirkungsvoller war. Selbst der beste Schwertkämpfer war kaum in der Lage, drei Attakken abzuwehren, die gleichzeitig aus drei verschiedenen Richtungen ausgeführt wurden.

Andrej versuchte es gar nicht erst. Sein Sarazenenschwert sirrte mit einer Bewegung aus der Scheide, die zugleich ein Ziehen und ein Angriff war, und verharrte eine halbe Sekunde reglos an seinem weit vorgestreckten Arm. Die Klinge war so schnell durch Leder und Fleisch geglitten, daß an dem rasiermesserscharfen Stahl nicht einmal ein Tropfen Blut zurückgeblieben war. Der Soldat war bereits tot, nur sein Körper schien das noch nicht bemerkt zu haben: Er torkelte mit vorgestrecktem Schwert weiter auf Andrej zu, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der zwischen Überraschung und resignierendem Erkennen angesiedelt war, während seine Lederrüstung auseinanderklaffte und den Blick auf seine Brust freigab, auf der eine dünne, wie mit einer feinen roten Feder gezogene Linie zu sehen war.

Delãny trat dem Mann mit ruhigem Schritt entgegen und vollführte gleichzeitig eine blitzartige halbkreisförmige Bewegung mit dem Sarazenenschwert. Wie beabsichtigt traf er keinen der beiden anderen Angreifer, zwang die Soldaten aber auf diese Weise, ihre Attacken aufzugeben und sich hastig in Sicherheit zu bringen. In dem Moment, in dem der Sterbende an ihm vorbeitorkelte und langsam in die Knie ging, führte Andrej seine Drehbewegung zu Ende und ließ sie in einen grätschbeinigen Sprung übergehen, der ihn mit wehendem Mantel auf Domenicus und seinen Leibwächter zukatapultierte.

Rings um ihn herum gellten Schreie auf. Die Arena, in deren Zentrum sie sich befanden, explodierte förmlich, und aus unbeteiligten Zuschauern wurden Menschen, die sich unvermittelt mit einer ganz konkreten Gefahr für ihr eigenes Leben konfrontiert sahen.

Irgendwo am Rande von Andrejs Gesichtsfeld blitzte es goldfarben auf. Er hörte Frederic schreien. Nichts davon war wichtig. Andrej verschmolz mit seinem Schwert; er bemühte sich nicht, seinen Körper zu bewegen, sondern wurde selbst zu einer einzigen rasend schnellen, fließenden Bewegung, die ihn vor den Augen der entsetzten Zuschauer zu einem huschenden Schatten machte - so schnell, daß er kaum noch zu erkennen war. Das Sarazenenschwert zerteilte die Luft mit dem Geräusch von zerreißender Seide.

Auch Domenicus Beschützer reagierte. Andrej registrierte mit leiser Verblüffung, daß der Mann tatsächlich bereit war, sein Leben für den Inquisitor zu geben - und er war schnell; erstaunlich schnell für einen Mann, der nicht von einem Michail Nadasdy jahrelang in geheimen Kampfkünsten trainiert worden war.

Doch im Vergleich zu Andrej war seine Reaktion geradezu lächerlich langsam; und vollkommen sinnlos dazu. Das Sarazenenschwert war scharf genug, den Mann zu enthaupten und selbst den hinter ihm stehenden Inquisitor noch tödlich zu treffen.

Andrej hatte jedoch nicht vor, Vater Domenicus zu töten. Sein Tod hätte unweigerlich auch Frederics Tod zur Folge gehabt - und vermutlich auch den der gefangenen Menschen aus Borsã.

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