18


Nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen erwachte Andrej mit schmerzendem Kopf, einem widerwärtigen Geschmack im Mund und gefesselten Händen und Füßen. Doch eines war neu: Diesmal hatte man ihm auch die Augen verbunden, so daß er keine Möglichkeit hatte, seine Umgebung zu untersuchen. Aber er spürte, daß er nicht allein war, und er spürte auch, daß er sich nicht unter freiem Himmel befand, sondern in einem geschlossenen und offensichtlich sehr großen Raum - wahrscheinlich einem Lagerhaus. Ein wildes Durcheinander von verschiedensten Gerüchen stürmte auf ihn ein: nasses Stroh, Mehl, Getreide und längst verfaultes Gemüse, Holz und Gewürze; alles durchdrungen von einem sachten, aber penetranten Salzwassergeruch. Sein neues Gefängnis lag am Hafen.

Und er vernahm auch Geräusche: Männer hasteten hin und her, Metall klirrte, etwas offensichtlich sehr Schweres wurde getragen. Niemand sprach.

Andrej war in aufrechter Haltung an einen Pfeiler oder Balken gebunden worden. Zusätzliche Stricke um seine Beine und die Stirn verhinderten, daß er auch nur die geringste Bewegung ausführen konnte; ja, er konnte nicht einmal den Kopf drehen. Wer auch immer ihn in seine Gewalt gebracht hatte - dieser Jemand wußte offensichtlich nur zu gut, wozu er fähig war. Delãny spannte dennoch unauffällig die Muskeln an und prüfte die Festigkeit seiner Fesseln, kam aber zu demselben Ergebnis wie zuvor: Die Stricke waren fest genug, um einen tobenden Bullen zu halten - und mindestens zwei Dutzend Männer, mochten diese auch noch so wütend sein.

Andrej beschloß, seine Kräfte nicht länger sinnlos zu vergeuden, sondern sich auf das zu konzentrieren, was ihm seine Sinne verrieten. Rings um ihn herum herrschte hektische Betriebsamkeit. Andrej schätzte, daß sich mindestens ein Dutzend Männer in diesem Raum aufhielten, die damit beschäftigt waren, eine große Menge an Waren herein- oder hinauszuschaffen. Etliche Gegenstände, mit denen sie sich abmühten, schienen sehr schwer zu sein, wie man aus den schnaubenden Atemzügen sowie gelegentlichem Ächzen und Stöhnen schließen konnte. Seltsam war nur, daß niemand ein Wort sprach.

Andrej versuchte die Geräusche der Arbeitenden zu ignorieren, um die anderen, darunter verborgenen Laute herauszufiltern. Das gelang ihm auch, aber er erfuhr dadurch nichts wesentlich Neues. Befremdlich klang nur ein gelegentliches Ächzen und Knarren, das von etwas sehr Großem, das sich bewegte, herrühren mußte. Aber er konnte diesen Laut nicht genau einordnen.

Zeit verging. Andrej hatte keine Möglichkeit festzustellen, wieviel, aber es war lange, mindestens eine Stunde, vielleicht sogar zwei oder drei. Schließlich hörte er Schritte, die schnell und zielstrebig auf ihn zukamen; und noch bevor die Binde von seinen Augen gerissen wurde, spürte er, daß sich mehrere Männer in seiner Nähe aufhalten mußten. Andrej blinzelte ein paarmal und öffnete vorsichtig die Lider, um nicht geblendet zu werden. Trotzdem dauerte es einige Sekunden, bis der verschwommene Fleck vor seinen Augen schließlich die Konturen eines Gesichts annahm.

Eines Gesichts, das er gut kannte.

»Seid Ihr wach, Delãny?« fragte Ják Demagyar. »Ich hoffe doch, der Schlag war nicht zu fest.«

»Nur keine Sorge, Herzog. Der Bursche ist zäher, als er aussieht.« Malthus, der seitlich versetzt hinter dem Herzog stand, schlug seinen Mantel zurück, so daß der schimmernde Brustharnisch darunter zum Vorschein kam, und lachte leise. »Sogar viel zäher.«

»Bindet mich los, und ich zeige Euch, wie zäh«, antwortete Andrej. Diese Worte waren lächerlich, geradezu kindisch. Aber es war das einzige, was er im Moment überhaupt sagen konnte. Er war verwirrt. Wieso stand Demagyar unverletzt und als freier Mann vor ihm? Gleichzeitig aber hatte er ein nicht weniger verwirrendes, gegenteiliges Gefühl: nämlich, daß dieser Umstand genau ins Bild paßte - auch wenn er dieses Bild in seiner Vorstellungskraft noch nicht vollständig zusammenzusetzen vermochte.

»Nur Geduld, Delãny«, antwortete Malthus. Sein Lächeln erlosch, und seine Augen blitzten plötzlich wie Stahl. »Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen, aber es dauert noch eine Weile. Nicht sehr lange.«

Demagyar blickte stirnrunzelnd von ihm zu Andrej und wieder zurück.

»Für zwei Männer, die sich erst vor kurzem zum ersten Mal begegnet sind, haßt ihr euch ziemlich inbrünstig«, bemerkte er nachdenklich. Dann zuckte er mit den Schultern. »Aber das soll nicht meine Sorge sein. Tötet ihn, Malthus, und dann laßt uns unser Geschäft zu Ende bringen.«

»Noch nicht«, entgegnete der goldene Ritter.

Der Herzog schaute ihn verwirrt an. »Aber ich dachte ...«

»Daß ich ihm die Kehle durchschneide, wenn er hier gefesselt und wehrlos vor mir steht?« fiel ihm Malthus ins Wort. Er schüttelte zornig den Kopf. »Ich bin kein Meuchelmörder, Herzog. Delãny wird sterben, aber in einem fairen Kampf.«

»Ganz wie Ihr meint«, bemerkte Demagyar abfällig, sogar leicht verächtlich.

Andrej fragte sich, ob der Herzog, als er diese Worte sprach, wußte, daß er einem Mann gegenüberstand, der schon wegen weniger getötet hatte. Der wahrscheinlich nicht einmal einen Grund zum Töten brauchte. Vermutlich aber wußte er das nicht; und er war sich auch nicht der Gefahr bewußt, die es bedeutete, Malthus zu reizen. Denn Ják Demagyar gehörte zu jenen Menschen, die mit der gleichen Überheblichkeit über das Leben anderer entschieden, mit der sie sich selbst für unantastbar hielten.

»Wo bleibt denn nur dieser Heide?« Demagyar sah sich fragend um.

Malthus lächelte ebenso flüchtig wie kalt. »Wenn ich Euch einen Rat geben darf, Herzog«, sagte er spöttisch, »dann solltet Ihr nicht so reden, wenn er es hören kann ... oder einer seiner Leute. Viele von ihnen sprechen Eure Sprache.« Er streckte die Hand aus: »Das Schwert.«

Demagyar wirkte für einen Moment verärgert, zuckte aber dann erneut mit den Schultern und griff unter seinen Mantel. Er förderte ein längliches, gut meterlanges Paket zutage, das in schmutzige Lumpen eingehüllt war. Allerdings machte er keine Anstalten, es dem Ritter zu überreichen, sondern ignorierte Malthus ausgestreckte Hand und entfernte mit schnellen Bewegungen die verrotteten Lumpen. Darunter kam Andrejs Sarazenenschwert zum Vorschein.

»Eine phantastische Waffe«, sagte er mit aufrichtiger Bewunderung. »Ein Schwert wie dieses habe ich noch nie zuvor gesehen. Ich frage mich, was eine solche Klinge wohl wert ist.«

»Mehr als ein Menschenleben, Herzog.« Die Drohung in Malthus Worten war beim besten Willen nicht mehr zu überhören, aber Demagyar ignorierte sie trotzdem und fuhr an Delãny gewandt fort: »Wem habt Ihr sie gestohlen, Delãny?«

Andrej starrte das Sarazenenschwert an. Sein Herz raste wie wild. Der Anblick dieser Waffe in den Händen des goldenen Ritters war ein Schock für ihn, mit dem er nur schwer fertig wurde. Zumal er nicht wußte, worauf der Mann abzielte.

»Woher ... habt Ihr dieses Schwert?« fragte er stockend.

»Seine bisherigen Besitzer hatten keine Verwendung mehr dafür«, antwortete Demagyar lächelnd. »Was sollen tote Männer auch mit einer Waffe?«

»Ihr habt sie ...?«

»Jetzt erzählt mir nicht, Ihr hättet Mitleid mit diesen beiden Strauchdieben«, sagte Demagyar. »Ein Mann mit verbranntem Gesicht und ein berufsmäßiger Dieb und Mörder. Beide hätten früher oder später ohnehin am Galgen geendet. Darüber hinaus hätten sie Euch ohne zu zögern geopfert, Delãny, glaubt mir.«

»Und Frederic?« fragte Andrej.

»Der Junge?« Der Herzog zögerte einen ganz kurzen Moment. Dann sagte er: »Es war besser so für ihn.«

»Ihr habt auch ihn ... getötet?«

»Unser Freund hier ...« Demagyar deutete mit einer Kopfbewegung auf Malthus. »... sowie eine gewisse, sehr zornige junge Dame haben mit Nachdruck auf seiner Auslieferung bestanden. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, warum. Gegen das, was ihn erwartet hätte, war ein schneller Stich ins Herz eine Gnade, glaubt mir.«

»Ihr ... Ihr habt Frederic getötet?« murmelte Andrej noch einmal. Und dann, urplötzlich, brach es mit solcher Wucht aus ihm heraus, daß er fast vor sich selbst erschrak.

»Du Mörder!« brüllte er. »Du verdammtes, blutrünstiges Ungeheuer! Warum hast du das getan?!«

Er tobte. Er schrie, er brüllte, warf sich mit aller Macht gegen seine Fesseln und schrie seinen Schmerz und seine Wut hinaus, bis seine Kräfte versagten und er erschöpft und atemlos in sich zusammensank.

Der Herzog schüttelte den Kopf und sah ihn mit einem Ausdruck an, der echtes Bedauern hätte sein können, wäre Ják Demagyar nicht der gewesen, der er nun einmal war. »Ihr müßt diesen Jungen sehr geliebt haben, Delãny«, sagte er. »Glaubt mir: Ich habe ihm großes Leid erspart.«

Frederic geliebt? Oh ja, das hatte er. Und zwar viel intensiver, als ihm das bisher auch nur annähernd bewußt gewesen war. Andrej schwieg, starrte zu Boden und kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen an. Sein Schmerz war unbeschreiblich. Dieser Junge war alles gewesen, was ihm noch geblieben war - die einzige Erinnerung an seine Familie, das einzige Verbindungsglied zu seinem früheren Leben. All das hatte Demagyar ihm genommen, nicht aus Grausamkeit oder Berechnung, sondern aus einem viel banaleren und schlimmeren Antrieb: aus reiner Bedenkenlosigkeit.

»Ich werde dich töten«, sagte Andrej leise, ausdruckslos und so kalt, daß ihm vor seiner eigenen Stimme schauderte. »Ich weiß noch nicht, wie oder wann, aber ich verspreche dir: Ich werde dich töten! Und wenn ich von den Toten zurückkehren müßte, um dich in die Hölle zu schicken.«

Ják Demagyar starrte ihn fassungslos an. Er versuchte zu lachen, aber der Laut, der über seine Lippen kam, geriet allenfalls zur Andeutung eines Lachens, das ihm jäh auf den Lippen erstarb.

Malthus streckte wortlos den Arm aus, nahm Demagyar das Sarazenenschwert aus den Händen und lehnte es an den Balken, an den Andrej gefesselt war.

»Was für eine Verschwendung«, seufzte Demagyar. »Aber wie Ihr meint... Wo bleibt denn nur dieser ...«

»Mohr?« fiel ihm eine Stimme von der Tür her ins Wort. Eine hochgewachsene, vollständig in schwarze Tücher gehüllte Gestalt betrat die Lagerhalle. Der Mann war mindestens zwei Meter groß, dabei aber nicht so breitschultrig wie Malthus, sondern schlank; sein Gesicht war dunkelbraun, fast schwarz. Der Fremde trug einen ebenfalls schwarzen Turban, so daß einzig die schweren Ringe an seinen Fingern und der juwelenbesetzte Griff des Krummsäbels, den er an der Seite trug, dieser düsteren Erscheinung etwas Farbe verlieh. Während er mit langsamen Schritten näher kam, fuhr er fort: »Pirat? Heide? Sprecht es getrost aus, Herzog. Nichts davon wäre falsch.«

»Abu Dun.« Malthus senkte andeutungsweise den Kopf. »Pünktlich wie immer.«

»Was man von Eurem Geschäftspartner nicht behaupten kann«, entgegnete der Muselman, ohne seinen Blick von dem Herzog abzuwenden. Abu Dun hatte sonderbare Augen, tiefblau und durchdringend, wobei die Farbe des einen leicht von der des anderen abwich.

»Die Männer sind unterwegs«, sagte der Herzog. Seine Stimme klang ein wenig verunsichert. »Es ist nicht leicht, fünfzig Männer und Frauen durch die halbe Stadt an diesen Ort zu bringen, ohne daß es auffällt. Aber sie werden pünktlich hier sein.«

»Das hoffe ich«, sagte Abu Dun. »Wir müssen mit der Flut auslaufen. Das Schiff kann nicht bis Tagesanbruch im Hafen bleiben.«

»Sie werden pünktlich hier sein«, versicherte Demagyar noch einmal. »Vorausgesetzt, wir haben unseren Handel bis dahin abgeschlossen.«

Abu Dun warf Malthus einen fragenden Blick zu, aber der Ritter zuckte nur gleichmütig mit den Achseln. »Er bekommt ein Drittel der vereinbarten Summe«, sagte er. »Im voraus.«

»Ich habe die Sklaven noch nicht einmal gesehen«, bemerkte Abu Dun. »Was, wenn sie nichts wert sind?«

»Ich bitte Euch, mein Freund«, erwiderte Malthus, »wir machen seit Jahren gute Geschäfte miteinander, und wir haben Euch niemals übervorteilt. Also fangt jetzt nicht an zu feilschen.«

»Ich gehe ein großes Risiko ein«, fügte Demagyar hinzu. »Allein das Einlaufen eines muslimischen Piratenschiffes im Hafen von Constãntã zuzulassen - und das zum jetzigen Zeitpunkt, wo sich die Türken zum Angriff sammeln! - ist schon die Summe wert, die Malthus mir genannt hat.«

»Piratenschiff?« Abu Dun lachte kurz, dann wurde er um so ernster und sah Demagyar auf eine Art an, die den Herzog erbleichen ließ. »Bringt mich nicht auf neue Gedanken, Herzog!«

Abu Dun und Demagyar entfernten sich ein paar Schritte von Andrej, redeten aber im Gehen weiter und gerieten allmählich in ein heftiges Gestikulieren. Offensichtlich schien sich der Fremde nicht an Malthus' Rat zu halten, auf das Feilschen und Schachern zu verzichten.

»Ein Pirat«, murmelte Andrej.

»Sklavenhändler«, verbesserte ihn der Ritter. »Das Wort Pirat hört er nicht so gerne - obwohl er zweifellos auch das ist.«

»Warum?« fragte Andrej. »Ich ... verstehe das nicht, Malthus. Ich begreife, daß Ihr mich töten wollt; und ich kann zumindest nachvollziehen, warum Ihr Barak getötet habt - auch wenn ich Euch verachte für die Art, wie Ihr es getan habt. Aber all die anderen? Ihr überfallt ein Dorf und nehmt seine Einwohner gefangen, um sie als Sklaven zu verkaufen? Selbst ein Mann wie Ihr sollte sich doch einen Rest von Ehre bewahrt haben!«

Für einen kurzen Moment flammten Malthus' Augen in purem Haß auf, aber er beherrschte sich und unterdrückte einen Wutausbruch. »Es war nicht meine Idee«, sagte er. »Außerdem: Man muß leben. Es ist nicht billig, im Namen des Herrn zu reisen und die Welt von den Dienern des Teufels zu befreien.«

Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. Und Andrej war nicht einmal sonderlich erstaunt über diese zynische Bemerkung. Er hatte Vater Domenicus nur ein einziges Mal gesehen, aber er wußte, wie gnadenlos dieser Inquisitor war; auch wenn Domenicus unter dem Banner und im Namen der Kirche seine Missionen erfüllte, war er doch ein Ungeheuer.

»Wissen Eure Freunde in Rom, auf welche Weise Ihr die Botschaft des Herrn verbreitet?« fragte er.

Malthus schnitt eine Grimasse. »Ihr stellt zu viele Fragen, Andrej Delãny«, erklärte er. »Zumal Ihr ja mit den Antworten doch nichts mehr anfangen könntet. Das Schiff läuft in einer Stunde aus. Sobald der letzte Mann an Bord gegangen ist, werde ich Euch töten.«

Andrej deutete mit den Augen auf sein Sarazenenschwert. »Damit?«

»Mit Eurem Schwert?« Malthus schüttelte den Kopf. »Das ist für Euch, Delãny. Ich habe Euch einen fairen Kampf versprochen, und Ihr werdet ihn auch bekommen.«

»Wie großzügig.« Andrej lachte höhnisch.

Malthus seufzte. »Ihr seid noch sehr jung, zumindest für einen von uns. Wie viele habt Ihr schon getötet?« Er sah Andrej fragend an, aber als der keine Antwort gab, erschien ein Ausdruck ehrlicher Verwunderung auf seinem Gesicht. »Noch ... keinen? Ihr habt tatsächlich noch keinen von uns getötet? Ihr habt niemals die Transformation erlebt?«

»Ich habe nicht einmal die blasseste Ahnung, wovon Ihr überhaupt sprecht«, erwiderte Andrej verächtlich. »Ich verspüre keinen Drang danach, Männer zu töten, nur weil sie so sind wie Ihr oder ich.«

Malthus sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, den ein Vater aufsetzen mochte, wenn sein Sprößling eine besonders dumme Antwort gegeben hatte. »Wißt Ihr denn gar nichts über Euch selbst?« fragte er fast enttäuscht.

»Genug, um zu wissen, daß ich nicht werden will wie Ihr«, antwortete Andrej.

»Keine Angst, Delãny, das werdet Ihr auch nicht. Mein Schwert wird Euch aus dieser Zwangslage befreien. Aber keine Sorge: Ich ziehe es vor, Euch im fairen Zweikampf zu schlagen, statt Euch einfach hier und jetzt niederzustechen.«

»Und danach werdet Ihr Euch das nächste Dorf aussuchen, dessen Bewohner Ihr einfach zu Tode quälen könnt?« fragte Delãny. »Ich frage mich dabei nur, was für ein Genuß es für Euch sein muß, einem Jungen wie meinem Sohn Marius einen Holzpflock durchs Herz zu stoßen. Oder habt Ihr Euch am ihm etwa gar nicht die Hände schmutzig gemacht? Habt Ihr das einem Eurer Lakaien überlassen?«

Malthus wirkte einen Herzschlag lang verwirrt. »Dieser Junge war Euer Sohn?« fragte er ungläubig, aber in einem Ton, der erkennen ließ, daß er ganz genau wußte, wen Delãny gemeint hatte.

»Ja. Er war mein Sohn.« Delãny kämpfte nicht gegen die aufsteigenden Tränen an. »Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich mich an seinen Mördern gerächt habe.«

Malthus schien seine Antwort gar nicht gehört zu haben. Er starrte Andrej nur mit einer Mischung aus Staunen und Unglauben an; aber Andrej glaubte in den Augen seines Feindes auch einen Hauch von Betroffenheit zu erkennen.

»Wenn Ihr mit diesem feigen Mord etwas zu tun habt, dann sagt es mir besser gleich«, stieß er wütend hervor. »Und falls das so ist, dann seid versichert: Ich werde Euch töten, was immer Ihr auch unternehmt!«.

Der Ritter wirkte jetzt eher verwirrt als betroffen. »Ihr habt tatsächlich überhaupt keine Ahnung«, sagte er kopfschüttelnd und seufzte tief. »Ich hätte doch auf Kerber oder Biehler hören sollen. Sie haben mich von Anfang an vor Euch gewarnt. Aber nun ist es zu spät...«

»Kerber und Biehler?« fragte Andrej voller Abscheu. »Eure beiden Kumpane?«

»Kumpane?«, ächzte Malthus. »Das ist wohl kaum das richtige Wort...«

»Aber es sind doch die Männer, die gleich Euch in goldenen Rüstungen nach Borsã gekommen sind, um die Dorfbevölkerung auszulöschen und meinen Sohn umzubringen?« fragte Andrej scharf. »Oder wollt Ihr mir etwa weismachen, ich hätte mir die ganzen Toten im Wehrturm nur eingebildet?«

Der Hüne starrte ihn nur schweigend und mit einem Gesichtsausdruck an, der Andrej mehr als deutlich zeigte, daß ihm die Wendung des Gesprächs überhaupt nicht behagte.

»Redet!« schrie er. »Ich will wissen, ob Ihr etwas mit diesem feigen Hinterhalt zu tun habt, in den Vater Domenicus die Dorfbevölkerung gelockt hat, um sie Euch als Fraß vorzuwerfen!«

Malthus nickte, ganz langsam und fast bedächtig. »Wenn Ihr es von diesem Blickwinkel aus sehen wollt... ja.«

»Wenn Ihr selber es schon zugebt«, flüsterte Delãny voller Entsetzen. »Dann seid Ihr der Mörder meines Sohnes!«

Malthus versuchte, seinem Blick standzuhalten. Aber es gelang ihm nicht; schon nach wenigen Augenblicken starrte er an Delãny vorbei ins Nichts. »Ich bin nicht der Mörder Eures Sohnes«, sagte er dann.

So wie er es sagte, schien er Andrej auf vollkommen unbegreifliche Art und Weise gleichzeitig die Wahrheit und die Unwahrheit zu sagen.

Ein paar Sekunden herrschte ein fast unerträgliches Schweigen. Delãny fühlte ein so abgrundtiefes Grauen in sich, daß er dem goldenen Ritter das Herz aus dem lebendigen Leib gerissen hätte, wenn er die Hände freigehabt hätte. Er hatte die letzten Tage versucht, jeden Gedanken an Rache zu vermeiden und sich ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, die überlebende Dorfbevölkerung von Borsã zu retten. Aber jetzt dem Mann gegenüberzustehen, der indirekt zugegeben hatte, seinen Sohn eigenhändig ermordet zu haben - das war zuviel.

»Bindet mich los«, sagte er. »Damit ich es gleich hier und jetzt zu Ende bringen kann.«

»Nicht ganz so hastig«, widersprach Malthus. »Ihr sollt Eure Chance haben. Aber erst, wenn der letzte Mann von Bord gegangen ist.« Er stieß ein hartes Lachen aus. »Und glaubt mir: Ihr könnt von Glück sagen, wenn ich Euch nicht noch in letzter Sekunde Kerber oder Biehler überlasse!«

Es dauerte einen Moment, bevor die Wortes des Ritters in Andrejs aufgewühlten Verstand einsickerten. Sergé hatte einen der goldenen Ritter getötet; in dem Moment, als der Mann ihn nach dem Wirtshausbrand hatte töten wollen. Es konnten also nicht mehr alle drei am Leben sein!

»Wieso Kerber oder Biehler«, stammelte er, als er die Tragweite von Malthus' Worten begriff. »Das kann doch nicht sein ... Einer von euch muß tot sein!«

»Ihr habt doch in Constãntã selber noch mit Kerber gesprochen«, sagte Malthus höhnisch. »Sah er etwa tot aus?«

»Er sah weder tot aus, noch war er der Mann, den ich meine«, stellte Andrej fest, während er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Es war der Mann, den Ihr Biehler nennt: Er wollte mich umbringen, nachdem ich mich aus dem brennenden Gasthaus gerettet habe. Aber Sergé hat ihn erschlagen.«

Malthus reagierte auf eine sehr überraschende Art und Weise: Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Das ist gut«, sagte er, als er sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht gewußt, wie naiv Ihr seid.«

»Was hat das mit Naivität zu tun?« fragte Andrej, während er die Panik in sich niederzukämpfen versuchte, die sich mit der Ahnung einer unglaublichen Wahrheit vermischte. »Sergé wird sich überzeugt haben, daß Euer Freund tot ist. Er war in diesen Dingen sehr gründlich.«

»Das kann ich mir vorstellen«, spottete Malthus. »Allerdings hat ihm das nicht viel Glück gebracht. Mittlerweile dient er nur noch als Fischfutter.«

Andrej starrte den Ritter mit einer Mischung aus Entsetzen und Abscheu an. »Und genau dieses Schicksal habt Ihr mir jetzt auch zugedacht«, vermutete er. »Nachdem Ihr meinen Sohn mit einem Holzpflock zu Tode gefoltert habt, wollt Ihr mich jetzt erschlagen und ins Meer werfen.«

»Aber nein.« Malthus schüttelte verwundert den Kopf. »Wie kommt Ihr nur auf diesen Gedanken?« Sein Gesicht hatte wieder den gewohnt überheblichen Ausdruck angenommen. »Wißt Ihr, was Ihr für ein Problem habt? Ihr wißt nichts über Euch selbst und über Eure geheimste Natur. Natürlich hat dieser Sergé Biehler getötet. Aber das bedeutet nicht, daß Biehler tot liegengeblieben ist. Denn im Gegensatz zu Euch hat Biehler schon mehrere Transformationen hinter sich.«

Andrej öffnete und schloß mehrmals hintereinander den Mund, wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. »Er hat was?«

»Mehrere Transformationen hinter sich«, wiederholte Malthus und runzelte in einer Geste gespielter Überraschung die Stirn. »Wie sonst, glaubt Ihr, erlangt man ein Stück Unsterblichkeit?«

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