Sonntag, 5. Dezember 1993


Wir hielten an, um einen Kaffee zu trinken.

»Das Leben hat dich viele Dinge gelehrt«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.

»Es hat mich gelehrt, daß wir lernen können, es hat mich gelehrt, daß wir uns verändern können«, antwortete er, »auch wenn es unmöglich erscheinen mag.«

Dann schwieg er. Wir hatten während der zwei Stunden Fahrt kaum miteinander gesprochen, bis wir bei diesem Cafe an der Straße angelangt waren.

Anfangs hatte ich versucht, unsere gemeinsame Kindheit wieder auferstehen zu lassen, doch er zeigte nur höfliches Interesse. Er hörte mir überhaupt nicht zu, stellte Fragen zu Dingen, die ich längst gesagt hatte.

Irgend etwas stimmte nicht. Vielleicht hatten Zeit und Entfernung ihn für immer meiner Welt entfremdet. ›Er redet über magische Augenblicke‹ dachte ich. ›Was können ihn da schon die Lebenswege von Carmen, von Santiago oder Maria interessieren?‹ Seine Welt war eine andere, Soria war nur noch eine ferne Erinnerung – dort war die Zeit stehengeblieben, die Freunde der Kindheit waren immer noch Kinder, die Alten lebten noch und machten genau das, was sie vor neunundzwanzig Jahren gemacht hatten.

Ich bereute allmählich, mitgefahren zu sein. Als er im Cafe wieder das Thema wechselte, beschloß ich, nicht weiter nachzuhaken.

Die letzten zwei Stunden bis Bilbao waren eine einzige Tortur.

Er schaute auf die Straße, ich blickte aus dem Fenster, und keiner von uns beiden verhehlte das Unbehagen, das sich zwischen uns breitgemacht hatte. Der Mietwagen hatte kein Radio, da blieb einem nichts anderes übrig, als das Schweigen zu ertragen. »Laß uns fragen, wo der Busbahnhof ist«, sagte ich, gleich nachdem wir die Autobahn verlassen hatten, »es gibt eine Buslinie nach Saragossa.«

Es war Siestazeit, und daher waren nur wenige Menschen auf den Straßen. Wir kamen an einem Mann vorbei, an zwei jungen Leuten, doch er hielt nicht, um nach dem Weg zu fragen.

»Weißt du denn, wo er ist?« fragte ich nach geraumer Weile.

»Wo was ist?«

Er hatte mir wieder nicht zugehört.

Plötzlich verstand ich sein Schweigen. Worüber sollte er sich schon mit einer Frau unterhalten, die niemals in die Welt hinausgegangen war? Was sollte es ihm schon bringen, neben einer zu sitzen, die Angst vor dem Unbekannten hatte, die lieber eine feste Arbeit hatte und von einer konventionellen Ehe träumte? Ich Unglückswurm redete immer von denselben Freunden aus der Kindheit, den verstaubten Erinnerungen aus einer unbedeutenden Kleinstadt. Das war mein einziges Thema.

»Du kannst mich gleich hier absetzen«, sagte ich, als wir im Stadtzentrum angekommen zu sein schienen. Ich versuchte, natürlich zu wirken, doch ich fühlte mich dumm, kindisch und langweilig.

Er hielt nicht an.

Ich ließ nicht locker:

»Ich muß den Bus zurück nach Saragossa nehmen.«

»Ich war noch nie hier. Ich weiß nicht, wo mein Hotel ist. Ich weiß nicht, wo der Vortrag stattfindet. Ich weiß nicht, wo der Busbahnhof liegt.«

»Keine Angst, ich finde ihn schon.«

Er fuhr etwas langsamer, doch er hielt nicht an.

»Ich würde gern…«, sagte er.

Zweimal begann er den Satz, schaffte es aber nicht, ihn zu beenden. Ich stellte mir vor, was er gerne tun würde: sich für meine Gesellschaft bedanken, mir Grüße für die Freunde auftragen und so dieses unbehagliche Gefühl loswerden.

»Ich würde mich freuen, wenn du heute abend mit mir zum Vortrag gingst«, sagte er schließlich.

Ich erschrak. Vielleicht wollte er Zeit gewinnen, um das quälende Schweigen während der Reise wiedergutzumachen.

»Ich würde mich sehr freuen, wenn du mit mir kämst«, wiederholte er.

Ich war zwar ein Mädchen aus der Provinz, das keine großen Abenteuer erlebt hatte, über die es berichten konnte, hatte nicht den Glanz und die Ausstrahlung der Frauen aus der Großstadt.

Doch das Leben in der Provinz lehrt uns, wenn es auch eine Frau nicht eleganter oder weltgewandter macht, auf unser Herz zu hören – und unserem Instinkt zu folgen. Zu meiner großen Überraschung sagte mir mein Instinkt, daß er es ernst meinte.

Ich atmete erleichtert auf. Ich würde natürlich nicht zu dem Vortrag gehen, aber zumindest war mein lieber Freund wieder zurück, wo llte mich an seinen Abenteuern, seinen Ängsten und Siegen teilhaben lassen.

»Vielen Dank für die Einladung«, antwortete ich. »Aber ich habe kein Geld für ein Hotel, ich muß wieder zurück zu meinen Büchern.«

»Ich habe etwas Geld. Du kannst in meinem Zimmer schlafen.

Wir nehmen ein Zimmer mit zwei getrennten Betten.«

Ich bemerkte, daß er zu schwitzen begann, obwohl es kalt war.

Mein Herz sandte Alarmsignale aus, die ich nicht entschlüsseln konnte. An die Stelle der Freude, die ich eben noch verspürt hatte, trat unendliche Verwirrung.

Er hielt plötzlich den Wagen an, sah mir direkt in die Augen.

Niemand kann lügen, niemand kann etwas verbergen, wenn man ihm direkt in die Augen sieht.

Und jede Frau, die auch nur ein bißchen Einfühlungsvermögen besitzt, kann in den Augen eines verliebten Mannes lesen.

Gleichgültig, wie absurd es anmuten mag, gleichgültig, ob diese Liebe sich unerwartet am falschen Ort und zur falschen Zeit zeigt. Ich dachte sofort an die Worte der rothaarigen jungen Frau am Brunnen.

Es war unmöglich. Doch es stimmte.

Ich hätte niemals, auf gar keinen Fall, gedacht, daß er sich nach so langer Zeit noch daran erinnerte. Damals waren wir Kinder, hatten unsere Zeit zusammen verbracht und hatten Hand in Hand die Welt entdeckt. Ich hatte ihn geliebt – wenn ein Kind überhaupt weiß, was Liebe bedeutet. Doch dies alles war vor langer, langer Zeit, in einem anderen Leben gewesen, in dem die Unschuld das Herz für das Beste offenhält, was das Leben zu bieten hat.

Jetzt waren wir erwachsen und vernünftig. Und die Kindheit war eben die Kindheit.

Ich sah ihm wieder in die Augen. Ich wollte es nicht glauben, oder konnte es nicht.

»Ich muß noch diesen Vortrag halten, und dann kommen die Empfängnis-Mariä-Feiertage. Ich muß in die Berge«, fuhr er fort. »Ich muß dir etwas zeigen.«

Dieser brillante Mann, der von magischen Augenblicken sprach, saß neben mir und verhielt sich völlig unvernünftig. Er war unsicher, verhedderte sich, machte wirre Vorschläge. Ich konnte es kaum mit ansehen.

Ich öffnete die Wagentür, stieg aus, lehnte mich an den Wagen.

Sah eine Zeitlang den beinahe menschenleeren Boulevard hinunter. Zündete mir eine Zigarette an und versuchte, an nichts zu denken. Ich könnte so tun, als hätte ich nichts gemerkt, so tun, als hätte ich es nicht verstanden – ich könnte mir selbst einreden, daß es tatsächlich nur der Vorschlag eines Freundes an eine Jugendfreundin gewesen war. Vielleicht war er zu lange unterwegs gewesen und brachte daher alles durcheinander.

Aber vielleicht übertrieb ich ja.

Er sprang aus dem Wagen und stellte sich neben mich. »Ich würde mich freuen, wenn du zum Vortrag heute abend hierbleiben würdest«, sagte er noch einmal. »Aber wenn du nicht kannst, verstehe ich das.«

Gut so. Die Welt hatte sich einmal um die eigene Achse gedreht und war an ihren Platz zurückgekehrt. Es war nichts von dem, was ich gedacht hatte. Er beharrte nicht weiter, war schon bereit, mich gehen zu lassen. Verliebte Männer verhalten sich nicht so.

Ich fühlte mich gleichzeitig verrückt und erleichtert. Ja, ich könne bleiben, zumindest noch einen Tag. Wir würden zusammen zu Abend essen und uns ein bißchen betrinken – früher in Soria hatten wir das nie gemacht. Es war eine gute Gelegenheit, um den Unsinn zu vergessen, den ich wenige Minuten zuvor gedacht hatte, und auch, um das Eis zu brechen, das uns seit Madrid getrennt hatte.

Auf einen Tag mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Außerdem hätte ich dann vielleicht auch meinen Freundinnen etwas zu erzählen.

»Getrennte Betten also«, flachste ich. »Und du bezahlst das Abendessen, denn ich bin immer noch Studentin. Ich habe kein Geld.«

Wir brachten die Koffer aufs Zimmer und gingen dann vom Hotel bis zu dem Ort, an dem der Vortrag stattfinden sollte. Wir waren zu früh da und setzten uns in ein Cafe.

»Ich möchte dir etwas geben«, sagte er und reichte mir einen kleinen roten Beutel.

Ich machte ihn sofort auf. Darin war eine alte, verrostete Medaille, mit der Heiligen Jungfrau der Gnade auf der einen und dem Heiligen Herz Jesu auf der anderen Seite.

»Die hat dir gehört«, sagte er, als er mein überraschtes Gesicht sah.

Mein Herz schlug wieder Alarm.

»Eines Tages, es war Herbst, genau wie jetzt, und wir waren etwa zehn Jahre alt, da habe ich mich mit dir auf den Platz mit der großen Eiche gesetzt. Ich wollte gerade etwas sagen, was ich wochenlang eingeübt hatte, da fielst du mir ins Wort und meintest, du hättest deine Medaille bei der Einsiedelei des heiligen Saturius verloren, und dann hast du mich gebeten, sie für dich zu suchen.«

Ich erinnerte mich. Und ob ich mich daran erinnerte!

»Ich habe sie schließlich gefunden. Doch als ich zum Platz zurückkam, traute ich mich nicht mehr, dir das zu sagen, was ich eingeübt hatte«, fuhr er fort. »Und da habe ich mir geschworen, daß ich dir die Medaille erst dann wiedergeben würde, wenn ich den Satz zu Ende bringen könnte, den ich an jenem Tag vor beinah zwanzig Jahren angefangen hatte. Lange habe ich versucht, ihn zu vergessen, doch der Satz war immer gegenwärtig. Ich kann nicht weiter mit ihm leben.«

Er hatte seine Tasse abgesetzt, eine Zigarette angezündet und starrte zur Decke. Dann wandte er sich mir zu.

»Der Satz ist ganz einfach«, sagte er. »Ich liebe dich.«

Manchmal erfüllt uns eine Traurigkeit, gegen die wir nichts tun können, sagte er. Uns wird bewußt, daß der magische Augenblick eines bestimmten Tages vorbei ist und wir ihn nicht ergriffen haben. Dann verbirgt das Leben seine Magie und seine schöpferische Kraft.

Wir müssen auf das Kind hören, das wir einmal waren und das es immer noch in uns gibt. Dieses Kind erkennt die magischen Augenblicke. Wir können zwar sein Weinen ersticken, doch seine Stimme können wir nicht zum Schweigen bringen.

Dieses Kind, das wir einst waren, ist immer da. Selig sind die Kinder, denn das Himmelreich ist ihr.

Wenn wir nicht aufs neue geboren werden, wenn wir das Leben nicht wieder mit der Unschuld und der Begeisterung der Kindheit betrachten können, hat das Leben keinen Sinn mehr.

Es gibt viele Arten, sich selbst zu töten. Diejenigen, die versuchen, ihren Körper zu töten, übertreten Gottes Gesetz.

Diejenigen, die versuchen, ihre Seele zu töten, übertreten auch Gottes Gesetz, obwohl dieses Verbrechen für das menschliche Auge weniger sichtbar ist. Wir sollten auf das hören, was das Kind sagt, das wir in unserer Brust tragen. Wir sollten uns seiner nicht schämen. Wir sollten nicht zulassen, daß es sich fürchtet, weil es allein ist und wir ihm fast nie zuhören.

Wir sollten ihm die Zügel unseres Daseins überlassen. Wir sollten ihm Vergnügen bereiten – auch wenn dies bedeutet, daß wir anders handeln, als wir es gewohnt sind, auch wenn es in den Augen der anderen dumm erscheinen mag.

Vergeßt nicht, daß die Weisheit des Menschen vor Gott Torheit ist. Wenn wir auf das Kind hören, das wir in der Seele tragen, werden unsere Augen wieder leuchten. Wenn wir den Kontakt zu diesem Kind nicht verlieren, verlieren wir auch nicht den Kontakt zum Leben.

Die Farben um mich herum wurden intensiver; ich merkte, daß ich lauter sprach und das Glas heftiger wieder auf den Tisch stellte.

Ein gutes Dutzend war direkt nach dem Vortrag mit zum Abendessen gegangen. Alle redeten durcheinander, und ich lächelte – lächelte, weil diese Nacht anders war als die anderen. Es war die erste Nacht seit vielen Jahren, die ich nicht geplant hatte.

Es war wunderbar!

Als ich beschlossen hatte, nach Madrid zu fahren, hatte ich meine Gefühle und mein Handeln unter Kontrolle. Plötzlich war alles anders. Ich befand mich in einer Stadt, in der ich nie gewesen war, obwohl sie keine drei Stunden von meiner Geburtsstadt entfernt lag. Ich saß an einem Tisch mit Leuten zusammen, die ich nicht kannte – und alle redeten mit mir, als kennten sie mich schon lange. Ich war überrascht über mich selbst, weil ich reden, trinken und mich mit ihnen amüsieren konnte.

Ich war dort, weil mich das Leben unvermittelt dem Leben wiedergegeben hatte. Ich fühlte mich nicht schuldig, hatte weder Angst, noch schämte ich mich. Während ich bei ihm war und ihm zuhörte, wurde mir immer bewußter, daß er recht hatte: Es gibt Augenblicke, in denen man etwas wagen, verrückte Dinge tun muß.

›Da sitze ich Tag für Tag über meinen Büchern und Heften und mache übermenschliche Anstrengungen, um mir meine eigene Versklavung zu erkaufen‹, dachte ich. ›Warum will ich unbedingt diese Anstellung haben? Was wird sie mir als Mensch, als Frau geben?

Nichts. Ich war doch nicht dazu auf die Welt gekommen, den Rest meines Lebens hinter einem Tisch zu sitzen und den Richtern dabei zu helfen, ihre Prozeßakten abzufertigen.

Ich darf nicht so über mein Leben denken. Ich muß schließlich noch in dieser Woche wieder zu ihm zurückkehren.‹

Es mußte am Wein liegen. Wer nicht arbeitet, hat nichts zu beißen.

›Es ist alles nur ein Traum. Irgendwann werde ich aufwachen.

Doch wie lange werde ich diesen Traum weiterträumen können?‹ Ich spielte zum ersten Mal mit dem Gedanken, ihn in die Berge zu begleiten. Schließlich lag ja eine Woche mit mehreren Feiertagen vor uns.

»Und wer bist du?« fragte mich eine schöne Frau, die mit an unserem Tisch saß.

»Eine Jugendfreundin«, antwortete ich.

»Machte er das schon als Kind?« fuhr sie fort.

»Was denn?«

Es war, als würden die Gespräche am Tisch plötzlich leiser werden, verstummen.

»Du weißt schon«, beharrte die Frau. »Die Wunder.«

»Er konnte immer schon gut reden«, antwortete ich, ohne begriffen zu haben, was sie meinte.

Alle lachten, auch er, und ich wußte nicht, warum. Doch der Wein hatte mich befreit, ich mußte nicht mehr alles im Griff haben. Ich schwieg, blickte in die Runde, machte eine launige Bemerkung zu irgend etwas, vergaß aber gleich wieder, wozu.

Und dachte wieder an die Feiertage.

Es tat so gut, dort zu sein, neue Leute kennenzulernen. Sie debattierten über ernste Dinge, machten aber gleichzeitig witzige Kommentare, ich hatte das Gefühl, an dem teilzuhaben, was in der Welt geschah. Zumindest war ich an diesem Abend nicht die Frau, für die sich das Leben nur im Fernsehen und in den Zeitungen abspielte.

Bei meiner Rückkehr nach Saragossa würde ich viel zu erzählen haben. Wenn ich noch die Einladung über die Feiertage annahm, würden die Erinnerungen für ein ganzes Jahr reichen.

›Er hatte ganz recht, wenn er meinen Geschichten aus Soria nicht zugehört hat‹, überlegte ich. Und ich tat mir selbst leid: Seit Jahren lagen immer nur dieselben Geschichten in der Schublade meiner Erinnerung.

»Trinken Sie noch ein bißchen«, sagte ein weißhaariger Mann und füllte mein Glas.

Ich trank. Dachte daran, wie wenig ich meinen Kindern und Enkeln würde erzählen können.

»Ich zähle auf dich«, sagte er so leise, daß nur ich es hören konnte. »Wir fahren nach Frankreich.«

Der Wein hatte mir meine Hemmungen genommen, so daß ich frei heraus sagen konnte, was ich dachte.

»Nur wenn eines ganz klar ist«, antwortete ich.

»Was denn?«

»Nun, was du vor dem Vortrag gesagt hast. Im Cafe.«

»Die Medaille?«

»Nein«, entgegnete ich, indem ich ihm in die Augen sah und versuchte, nüchtern zu wirken. »Was du gesagt hast.«

»Darüber reden wir später.«

Die Liebeserklärung. Wir hatten nicht die Zeit gehabt, darüber zu reden. »Wenn du willst, daß ich mit dir reise, mußt du mir zuhören«, sagte ich.

»Hier möchte ich nicht darüber reden. Jetzt amüsieren wir uns gerade.«

Ich ließ nicht locker: »Du bist früh aus Soria weggegangen. Ich bin nur etwas, was dich mit deinem Heimatort verbindet. Ich habe dir dabei geholfen, deinen Wurzeln nahe zu sein, und das hat dir die Kraft gegeben, deinen Weg zu gehen. Und das war alles. Mit Liebe hat das nichts zu tun.«

Er hörte mir zu, ohne etwas zu sagen. Jemand fragte ihn nach seiner Meinung zu etwas, und so konnte ich das Gespräch nicht fortsetzen.

›Wenigstens habe ich ihm klar gesagt, was ich denke‹, sagte ich zu mir selbst. So eine Liebe konnte es nur im Märchen geben. Denn im wahren Leben muß die Liebe möglich sein.

Auch wenn sie nicht sofort erwidert wird, kann sie nur überleben, wenn Hoffnung besteht, so gering sie auch sein mag, den geliebten Menschen zu erobern. Alles andere sind Hirngespinste.

Als hätte er meine Gedanken erraten, hob er sein Glas und trank mir von der anderen Seite des Tisches zu: »Auf die Liebe!«

Auch er war ein bißchen beschwipst. Ich beschloß, die Gelegenheit beim Schöpfe zu packen.

»Auf die Weisen, die begreifen, daß bestimmte Arten von Liebe Kindereien sind«, sagte ich.

»Der Weise ist nur deshalb weise, weil er liebt. Und der ist ein Narr, der glaubt, er verstünde die Liebe«, antwortete er.

Die anderen am Tisch hatten diese Bemerkung gehört, und es begann sofort eine lebhafte Debatte über die Liebe. Alle hatten eine vorgefertigte Meinung, sie verteidigten ihre Ansicht mit Zähnen und Klauen, und es mußten mehrere Flaschen Wein geleert werden, um die Gemüter zu beruhigen. Schließlich sagte jemand, daß es schon spät sei und der Wirt das Restaurant schließen wolle. »Fünf Feiertage liegen vor uns«, rief jemand von einem anderen Tisch herüber. »Der Wirt will nur das Restaurant schließen, weil ihr über so ernste Dinge redet!«

Alle lachten – nur er nicht.

»Und wo sollen wir dann über ernste Dinge reden?« fragte er den Betrunkenen vom anderen Tisch.

»In der Kirche!« sagte der Betrunkene. Und diesmal lachte das ganze Restaurant.

Da stand er auf. Ich dachte, er wolle sich mit ihm prügeln, weil wir alle wieder zu Jugendlichen geworden waren, und in der Jugend hatten Schlägereien zur Nacht gehört wie auch Küsse, an verbotenen Orten ausgetauschte Zärtlichkeiten, laute Musik und halsbrecherische Fahrten.

Doch er nahm mich nur bei der Hand und ging zur Tür.

»Es ist besser, wir gehen«, sagte er. »Es ist schon spät.«

Regnet es in Bilbao, regnet es überall. Wer liebt, muß sich verlieren und sich wiederfinden können. Ihm gelingt es in diesem Augenblick, beides in sich zu vereinigen. Er ist fröhlich und singt, während wir zum Hotel zurückgehen.

Son locos que inventaron el amor. Verrückt sind, die die Liebe erfanden.

Obwohl ich noch den Wein spüre und die Farben kräftiger sehe, finde ich allmählich mein Gleichgewicht wieder. Ich muß mich wieder in den Griff bekommen, weil ich die Reise mit ihm machen möchte. Es wird einfach sein, die Kontrolle nicht zu verlieren, denn ich bin nicht verliebt. Wer sein Herz im Zaume hält, kann die Welt erobern.

Con un poema, y un trombon a develarte el corazon. Mit einem Gedicht und einer Posaune rauben sie dem Herzen den Schlaf, lautet der Text des Liedes weiter.

›Ich möchte mein Herz einmal nicht im Griff haben‹, denke ich.

Würde es mir gelingen, mich einmal, wenn auch nur für ein Wochenende, hinzugeben, würde dieser Regen auf meinem Gesicht anders schmecken. Wenn lieben so einfach wäre, würden wir einander jetzt in den Armen liegen, und die Worte dieses Liedes würden unsere Geschichte erzählen. Müßte ich nach den Feiertagen nicht nach Saragossa, wünschte ich, die Wirkung des Weins möchte niemals aufhören, und ich würde mich frei fühlen, ihn zu küssen, ihn zu liebkosen, die Dinge zu sagen und zu hören, die sich Liebende sagen.

Aber nein. Ich kann nicht.

Ich will nicht.

Salgamos a volar, querida mia, laß uns fliegen, meine Liebste, lautet der Text weiter. Ja, laß uns fliegen, aber zu meinen Bedingungen.

Er weiß noch nicht, daß ich seine Einladung annehmen werde.

Warum will ich dieses Risiko eingehen? Weil ich in diesem Augenblick betrunken bin und das ewig gleiche Einerlei meines Lebens satt habe.

Doch dieser Überdruß wird vergehen. Ich werde bald wieder nach Saragossa zurückkehren wollen, der Stadt, in der ich leben wollte. Mein Studium wartet auf mich, das Examen zur Aufnahme in den öffentlichen Dienst. Mich erwartet ein Ehemann, den ich noch finden muß, und das wird nicht leicht sein.

Mich erwartet ein ruhiges Leben mit Kindern und Enkeln, ohne Schulden und mit Urlaub einmal im Jahr. Ich kenne seine Ängste nicht, doch meine kenne ich wohl. Ich brauche keine neuen Ängste – die, die ich habe, reichen mir schon.

Ich könnte mich niemals in jemanden wie ihn verlieben. Ich kenne ihn viel zu gut, wir haben viel Zeit miteinander verbracht, ich kenne seine Schwächen und seine Ängste. Ich kann ihn nicht so rückhaltlos bewundern wie die anderen.

Ich weiß, daß die Liebe wie ein Staudamm ist: Läßt man nur den geringsten Haarriß zu, durch den das Wasser dann dringt, wird der Damm irgendwann brechen, und niemand wird die Gewalt der Wassermassen kontrollieren können.

Wenn die Wände einstürzen, überschwemmt die Liebe alles.

Dann kommt es nicht mehr darauf an, ob etwas möglich oder unmöglich ist, dann geht es nicht mehr darum, ob wir den geliebten Menschen an unserer Seite halten können – lieben heißt die Kontrolle verlieren.

Nein, ich darf nicht zulassen, daß sich ein Spalt bildet. Auch kein noch so winziger.

»Moment mal!«

Er hörte sofort auf zu singen. Schnelle Schritte hallten auf dem nassen Boden wider.

»Warten Sie!« rief ein Mann. »Ich muß Sie unbedingt sprechen!«

Doch er beschleunigte seinen Schritt.

»Der meint nicht uns«, sagte er. »Laß uns zum Hotel gehen.«

Wir waren aber gemeint: Außer uns war niemand auf der Straße. Mein Herz begann zu jagen, ich war plötzlich ganz nüchtern. Mir fiel ein, daß Bilbao ja im Baskenland lag und es viele terroristische Attentate gab. Die Schritte näherten sich.

»Komm«, sagte er und ging noch schneller.

Doch es war zu spät. Ein Mann stellte sich, naß von Kopf bis Fuß, zwischen uns.

»Halten Sie, bitte!« sagte der Mann. »Um Gottes willen.«

Ich hatte eine Heidenangst, spähte nach einem Fluchtweg, einem Polizeiwagen, der vielleicht gerade wie durch ein Wunder plötzlich auftauchen würde. Instinktiv ergriff ich seinen Arm – doch er löste meine Hände.

»Bitte!« sagte der Mann. »Ich habe erfahren, daß Sie heute in der Stadt sind. Ich brauche Ihre Hilfe. Es geht um mein Kind.«

Der Mann begann zu weinen und kniete nieder.

»Bitte!« sagte er. »Bitte!«

Er atmete tief durch, senkte den Kopf und schloß die Augen.

Während er schwieg, hörte man nur noch das Rauschen des Regens und die Schluchzer des auf dem Fußweg knienden Mannes.

»Geh ins Hotel, Pilar«, sagte er schließlich. »Und schlaf. Ich komme wahrscheinlich erst im Morgengrauen zurück.«

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