Donnerstag, 9. Dezember 1993


Als ich aufwachte, lag sein Arm über meinen Brüsten. Es war bereits Tag, und die Glocken einer nahe gelegenen Kirche läuteten.

Er küßte mich. Seine Hände liebkosten abermals meinen Körper.

»Wir müssen aufbrechen«, sagte er. »Heute sind die Feiertage zu Ende, es wird ziemlich viel Verkehr geben.«

»Ich will nicht nach Saragossa«, antwortete ich. »Ich möchte dahin gehen, wo du hingehst. Die Banken öffnen gleich, ich kann mit meiner Karte Geld ziehen und mir Kleider kaufen.«

»Du hast gesagt, du hast nicht viel Geld.«

»Es wird schon irgendwie gehen. Ich muß gnadenlos mit meiner Vergangenheit brechen. Kehre ich nach Saragossa zurück, könnte ich dies alles verrückt finden, wieder an meine Prüfungen denken, die bald stattfinden, und es hinnehmen, zwei Monate lang von dir getrennt zu sein, bis das Examen vorbei ist. Und wenn ich es bestehe, will ich vielleicht nicht mehr aus Saragossa weg. Nein, ich kann nicht zurückkehren.

Ich muß die Brücken zu der Frau abbrechen, die ich einmal war.«

»Barcelona«, sagte er leise, wie zu sich selbst.

»Wie bitte?«

»Ach, nichts. Wir fahren weiter.«

»Aber du mußt noch einen Vortrag halten.«

»Erst in zwei Tagen«, antwortete er. Seine Stimme klang eigenartig. »Wir fahren woandershin. Ich will nicht direkt nach Barcelona.«

Ich stand auf. Ich wollte nicht an Probleme denken. Vielleicht hatte er sich beim Aufwachen einfach nur gefühlt, wie man sich oft nach einer ersten Liebesnacht mit jemandem fühlt: etwas gehemmt und verlegen. Ich ging zum Fenster, zog den Vorhang ein wenig zur Seite und sah auf die kleine Straße hinaus. Auf den Balkons hing Wäsche. Die Glocken läuteten noch immer.

»Ich habe eine Idee«, sagte ich. »Laß uns an einen Ort fahren, an dem wir als Kinder waren. Ich bin niemals dahin zurückgekehrt.«

»Wohin?«

»Laß uns zum Kloster von Piedra fahren.«

Als wir aus dem Hotel kamen, läuteten die Glocken immer noch, und er schlug vor, wir könnten kurz in die Kirche hineingehen.

»Wir haben bislang nichts anderes gemacht«, antwortete ich.

»Kirchen, Gebete, Rituale.«

»Wir haben uns geliebt«, sagte er. »Wir haben uns dreimal betrunken. Wir sind in den Bergen gewandert. Wir haben Strenge und Barmherzigkeit im Gleichgewicht gehalten.«

Ich hatte etwas Dummes gesagt. Ich mußte mich an das neue Leben gewöhnen.

»Entschuldige«, sagte ich.

»Laß uns kurz hineingehen. Diese Glocken sind ein Zeichen.«

Er hatte recht, doch das würde ich erst am nächsten Tag begreifen. Ohne auf das geheime Zeichen zu achten, nahmen wir den Wagen und fuhren in vier Stunden zum Kloster von Piedra.

Die Decke war eingestürzt, und die wenigen Standbilder hatten keine Köpfe mehr – mit Ausnahme einer Statue.

Ich blickte um mich. Dieser Ort hatte gewiß einst sehr willensstarke Menschen beherbergt, die darauf achteten, daß ein jeder Stein sauber und jede Bank von einem der Mächtigen jener Zeit besetzt war.

Doch jetzt lagen vor mir nichts als Ruinen. Die Ruinen, die sich in unserer Kindheit in Burgen verwandelt hatten, in denen wir zusammen spielten und in denen ich meinen verzauberten Prinzen suchte. Jahrhundertelang hatten die Mönche des Klosters von Piedra dieses kleine Stück Paradies für sich behalten. Da es am Grunde einer Senke lag, besaß es das, worum die benachbarten Ortschaften betteln mußten: Wasser. Hier hatte der Rio Piedra Dutzende von Wasserfällen und Seen gebildet und so dazu beigetragen, daß ringsumher eine überbordende Vegetation entstanden war.

Doch nur wenige hundert Meter weiter, am Ausgang der Schlucht, herrschten Dürre und Trostlosigkeit. Der Fluß wurde, kaum hatte er die Senke verlassen, wieder zu einem kleinen Rinnsal, als wäre dort schon seine ganze Jugend und Kraft aufgebraucht.

Die Mönche wußten das und ließen sich das Wasser, das sie ihren Nachbarn verkauften, teuer bezahlen. Unzählige Kämpfe zwischen den Priestern und den umliegenden Dörfern prägten die Geschichte des Klosters.

Schließlich diente das Kloster von Piedra während eines der vielen Kriege, die Spanien erschütterten, als Kaserne. Pferde liefen durch das Hauptschiff, Soldaten kampierten zwischen den Bänken, erzählten sich dort schlüpfrige Witze und schliefen mit den Frauen aus den Nachbardörfern. Die wenn auch späte Rache war gekommen. Das Kloster wurde geplündert und zerstört.

Niemals erhielten die Mönche dieses Paradies zurück.

Während eines der vielen vor Gericht ausgefochtenen Kämpfe sagte jemand, daß die Bewohner der benachbarten Ortschaften darin ein Gottesurteil sahen. Christus hatte gesagt: »Gebt dem zu trinken, den es dürstet«, und die Pater hatten sich diesen Worten gegenüber taub gestellt. Dafür hatte Gott die vertrieben, die sich für die Herren der Natur gehalten hatten.

Und vielleicht war deshalb die Kirche eine Ruine geblieben, obwohl der größte Teil des Klosters wiederaufgebaut und zu einem Hotel umgewandelt worden war. Die Nachkommen der Bevölkerung der umliegenden Dörfer hatten nie vergessen, welch hohen Preis ihre Vorfahren für etwas hatten zahlen müssen, das die Natur umsonst schenkt. »Wen stellt das einzige Standbild dar, das noch einen Kopf hat?«

»Die heilige Teresa von Avila«, antwortete er. »Sie ist mächtig.

Trotz aller Rachegelüste, die Kriege mit sich bringen, hat niemand gewagt, Hand an sie zu legen.«

Und er nahm mich bei der Hand, und wir gingen hinaus. Wir wandelten durch die endlosen Flure des Klosters, gingen breite Holztreppen hinauf und sahen die Schmetterlinge in den Innenhöfen. Ich erinnerte mich an jede Einzelheit dieses Klosters, denn dort war ich in meiner Kindheit gewesen, und die weit zurückliegenden Erinnerungen scheinen oft lebendiger zu sein als die kürzlich erworbenen.

Erinnerung. Der ganze letzte Monat schien wie alles vor dieser Woche einem anderen Leben anzugehören. Einer Epoche, in die ich nie wieder zurückkehren wollte, weil ihre Stunden nicht von der Hand der Liebe berührt worden waren. Ich fühlte mich so, als hätte ich jahrelang immer denselben Tag gelebt, als wäre ich immer gleich aufgewacht, hätte immer dasselbe getan und immer dieselben Träume gehabt.

Ich erinnerte mich an meine Eltern, an die Eltern meiner Eltern und an viele Freunde. Ich erinnerte mich daran, wieviel Zeit ich damit verbracht hatte, für etwas zu kämpfen, was ich nicht wirklich wollte.

Warum hatte ich das getan? Ich fand keine Erklärung. Vielleicht war ich zu faul gewesen, an andere Wege zu denken. Vielleicht war es die Angst gewesen, was die anderen denken könnten.

Vielleicht weil es zu anstrengend war, anders zu sein. Vielleicht weil der Mensch dazu verdammt war, in die Fußspuren der vorangegangenen Generation zu treten, bis – und da erinnerte ich mich an den Klostervorsteher – eine bestimmte Anzahl von Menschen beginnt, sich anders zu verhalten.

Dann erst verändert sich die Welt, und wir verändern uns mit ihr.

Doch ich wollte nicht mehr so sein. Das Schicksal hatte mir zurückgegeben, was mir gehörte, und jetzt bot es mir die Möglichkeit, mich selbst zu verändern und dabei mitzuhelfen, die Welt zu verändern.

Ich dachte wieder an die Berge und die Bergsteiger, die wir auf unserer Wanderung getroffen hatten. Sie waren jung gewesen und bunt gekleidet, damit man sie fand, falls sie sich im Schnee verirrten, und sie kannten den Weg zum Gipfel genau.

An den Steilwänden waren schon Aluminiumschlaufen angebracht, sie mußten nur noch ihre Haken einklinken, um sich anzuseilen und sicher oben anzukommen. Sie waren zu einem Feiertagsabenteuer aufgebrochen und würden mit dem Gefühl an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, die Natur herausgefordert und besiegt zu haben.

Doch sie machten sich etwas vor. Abenteurer waren diejenigen gewesen, die als erste beschlossen hatten, die Wege zu erkunden. Einige hatten es nicht einmal bis auf halbe Höhe geschafft und waren in Felsspalten gestürzt. Anderen waren die Finger abgefroren. Viele wurden nie wieder gesehen. Doch eines Tages schaffte es einer bis auf einen der Gipfel.

Seine Augen sahen als erste jene Landschaft, und sein Herz schlug schneller vor Freude. Er hatte die Gefahren auf sich genommen, und er ehrte mit seinem Sieg alle, die beim Versuch, den Gipfel zu bezwingen, das Leben verloren hatten.

Vielleicht dachten ja die Leute im Tal: ›Da oben ist doch gar nichts, nur Landschaft, lohnt sich das überhaupt?‹

Doch der erste Bergsteiger wußte, daß es sich lohnte, die Herausforderung anzunehmen und sich ihr zu stellen. Er wußte, daß kein Tag dem anderen gleicht und jeder Morgen sein eigenes Geheimnis besitzt, den magischen Augenblick, in dem alte Welten unter- und neue Sterne aufgehen.

Der erste Mensch, der jene Berge bestieg, muß sich die gleiche Frage gestellt haben, als er tief unten die kleinen Häuser mit ihren rauchenden Schornsteinen sah: »Ihre Tage gleichen einander, lohnt sich das überhaupt?«

Heute sind die Berge erobert, die Astronauten auf dem Mond gewesen, es gibt auf der Erde keine neue Insel zu entdecken – mag sie auch noch so klein sein. Doch die großen Abenteuer des Geistes gibt es noch immer – und eines bot sich mir jetzt.

Es war ein Segen. Der Klostervorsteher hatte nichts begriffen.

Dieser Schmerz tut nicht weh.

Selig sind die, die den ersten Schritt tun. Eines Tages werden die Leute wissen, daß Menschen fähig sind, die Sprache der Engel zu sprechen, daß wir alle die Gaben des Heiligen Geistes besitzen und daß wir Wunder tun, heilen, prophezeien, verstehen können.

Wir wanderten den ganzen Nachmittag in der Schlucht umher und ergingen uns in Kindheitserinnerungen. Heute machte er zum ersten Mal mit; auf unserer Fahrt nach Bilbao hatte er wenig Interesse an Soria gezeigt, aber jetzt fragte er mich nach jedem unserer Freunde, wollte alles genau wissen, ob sie glücklich waren, was sie so machten.

Wir gelangten schließlich zum größten Wasserfall des Rio Piedra, an dem das Wasser aller kleinen Bäche ringsum zusammenströmt und beinahe dreißig Meter tief hinunterstürzt.

Wir blieben am Ufer stehen und hörten dem ohrenbetäubenden Rauschen zu, schauten auf den Regenbogen, der sich im feinen Nebel der großen Wasserfälle bildet.

»Der Pferdeschweif«, sagte ich, überrascht, daß ich den Namen nach so langer Zeit noch wußte.

»Ich erinnere mich…«, begann er.

»Ja! Ich weiß, was du sagen willst!«

Natürlich wußte er es! Der Wasserfall verbarg eine riesige Grotte. Als Kinder hatten wir nach unserem ersten Ausflug zum Kloster von Piedra tagelang darüber gesprochen.

»An die Höhle«, fügte er hinzu.

Es war unmöglich, unter den herabstürzenden Wassermassen hindurchzugehen. Daher hatten die Mönche einst einen Tunnel gebaut, der am höchsten Punkt des Wasserfalls begann und unterirdisch bis zum rückwärtigen Teil der Grotte führte.

Es war nicht schwer, den Eingang zu finden. Im Sommer ist der Tunnel manchmal erleuchtet, doch jetzt standen wir vor einem stockfinsteren Gang. »Wollen wir trotzdem hineingehen?«

»Na klar. Vertrau mir.«

Wir stiegen in das Loch neben dem Wasserfall. Wir konnten keine Hand vor Augen sehen, doch wir wußten trotzdem, wohin wir gingen – er hatte mich gebeten, ihm zu vertrauen.

›Ich danke Dir, Herr‹, dachte ich, während wir immer tiefer in den Schoß der Erde eindrangen. ›Denn ich war ein verlorenes Schaf, und Du hast mich zurückgeführt. Denn mein Leben war tot, und Du hast es wiederauferstehen lassen. Denn es war keine Liebe mehr in meinem Herzen, und Du hast mir diese Gnade wiedergegeben.‹

Ich hielt mich an seiner Schulter fest. Mein Geliebter leitete meine Schritte auf dem finsteren Weg, denn er wußte, daß wir das Licht wiederfinden und uns an ihm erfreuen würden.

Vielleicht würde es in unserer Zukunft Augenblicke geben, in denen sich die Lage verkehren würde. Dann würde ich ihn mit derselben Liebe und mit derselben Gewißheit leiten, bis wir an einen sicheren Platz gelangten, an dem wir zusammen ausruhen würden.

Wir gingen langsam, und der Abstieg schien nicht enden zu wollen. Vielleicht war dies ja ein neues Übergangsritual – das Ende einer Epoche, in der es auch in meinem Leben kein Licht gegeben hatte. Während ich durch diesen Tunnel ging, erinnerte ich mich daran, wieviel Zeit ich an ein und derselben Stelle vertan hatte, indem ich versuchte, Wurzeln in einem Boden zu schlagen, auf dem nichts mehr wuchs.

Doch Gott war gütig gewesen und hatte mir den Traum vom Abenteuer, die Begeisterungsfähigkeit, die ich verloren hatte, wiedergegeben, den Mann, auf den ich unbewußt mein ganzes Leben lang gewartet hatte. Ich empfand keine Gewissensbisse, weil er jetzt das Priesterseminar verlassen würde, denn es gab, wie der Pater gesagt hatte, viele Arten, Gott zu dienen, und unsere Liebe würde sie noch vervielfachen. Von nun an hatte ich auch die Chance, zu dienen und zu helfen – alles seinetwegen. Wir würden in die Welt hinausgehen, er würde den anderen Trost zusprechen, und ich würde ihm Trost zusprechen.

›Ich danke Dir, Herr, weil Du mir geholfen hast zu dienen. Lehre mich, dessen würdig zu sein. Gib mir die Kraft, Teil seiner Mission zu sein, mit ihm gemeinsam durch die Welt zu gehen und ein neues spirituelles Leben zu beginnen. Mögen all unsere Tage wie diese sein – ein Ziehen von Ort zu Ort, wo wir die Kranken heilen, die Traurigen trösten, von der Liebe sprechen, die die Große Mutter für uns bereithält.‹

Plötzlich war das Geräusch des Wassers wieder da, Licht erfüllte unseren Weg, und der schwarze Tunnel war zu einem der schönsten Schauspiele der Welt geworden. Wir befanden uns in einer riesigen Höhle –, so groß wie eine Kathedrale. Drei Wände waren aus Stein, die vierte war der Pferdeschweif, dessen Wasser in den smaragdgrünen See zu unseren Füßen fiel. Die Strahlen der untergehenden Sonne drangen durch den Wasserfall, und die nassen Wände glänzten.

Wir blieben an den Stein gelehnt schweigend stehen.

Früher, als wir noch Kinder waren, war dies die Piratenhöhle gewesen, in der die Schätze unserer kindlichen Phantasien lagen. Jetzt war dieser Ort das Wunder der Mutter Erde. Ich fühlte mich wie in ihrem Leib, wußte, daß sie da war, uns mit ihren Steinwänden beschützte und uns mit ihrer Wand aus Wasser von unseren Sünden reinwusch.

»Danke«, sagte ich laut.

»Wem dankst du?«

»Ihr. Und dir, der du das Werkzeug warst, das mich zum Glauben zurückführte.«

Er trat ans Ufer des unterirdischen Sees. Er betrachtete das Wasser und lächelte.

»Komm hierher«, bat er.

Ich kam näher.

»Ich muß dir etwas sagen, was du noch nicht weißt.«

Seine Worte ließen mich angstvoll aufhorchen. Doch sein Blick war ruhig, und ich beruhigte mich wieder. »Alle Menschen auf Erden haben eine Gabe«, begann er. »Bei einigen offenbart sie sich spontan. Andere müssen an sich arbeiten, um sie herauszufinden. Ich habe in den vier Jahren im Seminar daran gearbeitet.«

Jetzt mußte ich etwas »inszenieren« – um das Wort zu gebrauchen, das er benutzt hatte, als uns der Alte nicht in die Kirche lassen wollte.

Ich mußte so tun, als hätte ich keine Ahnung.

›Das ist kein Unrecht‹ dachte ich. ›Dies ist eine Reise der Freude und nicht der Frustration.‹

»Was macht man denn im Seminar?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen und meine Rolle besser spielen zu können.

»Das tut jetzt nichts zur Sache«, sagte er. »Tatsache ist, daß ich eine Gabe entwickelt habe. Ich kann heilen, wenn Gott es will.«

»Das ist gut«, antwortete ich und spielte die Überraschte. »Da werden wir Arztkosten sparen!«

Er lachte nicht. Und ich fühlte mich wie eine komplette Idiotin.

»Ich habe meine Gabe mit den charismatischen Übungen entwickelt, die du gesehen hast«, fuhr er fort. »Anfangs war ich verwundert: Ich betete, bat den Heiligen Geist, er möge über mich kommen, legte meine Hände auf und gab so vielen Kranken ihre Gesundheit wieder zurück. Mein Ruhm begann sich zu verbreiten, und täglich standen Menschen am Tor des Priesterseminars Schlange, damit ich ihnen helfe. In jeder entzündeten, übelriechenden Wunde sah ich die Wundmale Christi.«

»Ich bin stolz auf dich«, sagte ich.

»Viele Leute im Kloster waren dagegen, doch mein Vorsteher stand zu mir.«

»Laß uns diese Arbeit weiterführen. Wir werden gemeinsam durch die Welt reisen. Ich werde die Wunden reinigen, du segnest sie, und Gott wird seine Wunder tun.« Er wandte den Blick von mir ab und starrte in den See. Etwas schien in dieser Höhle gegenwärtig zu sein – wie damals in der Nacht, als wir uns am Brunnen von Saint-Savin betranken.

»Ich habe es dir schon erzählt, aber ich werde es noch einmal sagen«, fuhr er fort. »Eines Nachts wachte ich auf, und das Zimmer war ganz hell. Ich sah das Antlitz der Großen Mutter und ihren Blick, der voll Liebe war. Von jenem Tag an zeigte sie sich hin und wieder. Ich habe keinen Einfluß darauf, doch manchmal erscheint sie mir.

Damals wußte ich bereits von der Arbeit der wahren Revolutionäre der Kirche. Ich wußte, daß meine Mission auf Erden außer der des Heilens darin bestand, den Weg dafür zu bereiten, Gott und seiner weiblichen Seite wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Das weibliche Prinzip, die Säule der Barmherzigkeit, würde wieder aufgerichtet werden – und der Tempel der Weisheit in den Herzen der Menschen wieder aufgebaut.«

Ich blickte ihn an. Sein anfangs angespannter Gesichtsausdruck war nun wieder ruhig.

»Dies hatte seinen Preis, und ich war bereit, ihn zu zahlen.«

Er schwieg, wußte nicht, wie er fortfahren sollte.

»Was willst du mit ›ich war‹ sagen?« fragte ich.

»Der Weg der Göttin könnte nur mit Worten und Wundern geebnet werden, wenn die Welt anders wäre, als sie ist. Aber so würde es schwieriger sein: Tränen, Unverständnis, Leiden würden nicht ausbleiben.«

›Der Pater‹, dachte ich. ›Er hat versucht, Angst in sein Herz zu säen. Doch ich werde sein Trost sein.‹

»Nicht das Leid wird diesen Weg kennzeichnen, sondern die Ehre zu dienen«, entgegnete ich.

»Die meisten Menschen mißtrauen der Liebe noch.«

Ich spürte, daß er mir etwas sagen wollte und es nicht schaffte.

Vielleicht konnte ich ihm helfen.

»Das habe ich auch schon gedacht«, unterbrach ich ihn. »Der erste Mensch, der den höchsten Gipfel der Pyrenäen bestiegen hat, hatte begriffen, daß das Leben ohne Abenteuer verschenkt ist.«

»Was meinst du damit?« fragte er, und ich sah, daß er wieder angespannt war. »Einer der Namen der Großen Mutter ist Unsere Heilige Mutter der Gnaden – weil sie aus großzügigen Händen ihre Segnungen an alle verschenkt, die für sie offen sind.

Wir können niemals das Leben anderer beurteilen, denn jeder weiß um den eigenen Schmerz und Verzicht. Du kannst für dich sagen, daß du auf dem rechten Weg bist; doch es ist etwas anderes, wenn du sagst, es sei der einzige Weg.

Jesus sagte: Das Haus meines Vaters hat viele Wohnungen.

Die Gabe ist ein Geschenk. Aber es ist auch ein Geschenk, eine Gnade, sein Leben in Würde zu leben, in Liebe für den Nächsten und arbeitsam. Maria hatte auf Erden einen Ehemann, der versucht hat, den Wert anonymer Arbeit zu zeigen. Obwohl es wenig erscheint, so war er es doch, der für ein Dach über dem Kopf und Nahrung gesorgt hat, damit seine Frau und sein Sohn alles das tun konnten, was sie getan haben. Seine Arbeit ist genauso wichtig wie ihre, auch wenn man ihr diesen Wert nicht beimißt.«

Ich sagte nichts. Er ergriff meine Hand.

»Verzeih mir meine Intoleranz.«

Ich küßte seine Hand und legte sie an mein Gesicht.

»Das ist es, was ich dir erklären möchte«, sagte er wieder lächelnd. »Daß ich in dem Augenblick, in dem ich dich wiedergetroffen habe, begriffen habe, daß ich dich durch meine Mission nicht leiden lassen durfte.«

Unruhe stieg in mir auf.

»Gestern habe ich gelogen. Es war das erste und das letzte Mal, daß ich gelogen habe«, fuhr er fort. »Anstatt ins Seminar zu fahren, bin ich in die Berge gefahren und habe mit der Großen Mutter gesprochen.

Ich habe gesagt, daß ich mich, wenn sie es wollte, von dir trennen und meinen Weg fortsetzen würde. Ich würde weiter unzählige Kranke vor meiner Tür warten haben, würde mitten in der Nacht aufbrechen, das Unverständnis derer, die den Glauben leugnen wollen, und die zynischen Blicke derer ertragen, die der rettenden Liebe mißtrauen. Wenn sie mich gebeten hätte, hätte ich auf das verzichtet, was ich auf der Welt am meisten liebe, auf dich.«

Mir fiel wieder der Pater ein. Er hatte recht gehabt. An jenem Morgen war er dabei, sich zu entscheiden.

»Wenn es aber möglich wäre«, fuhr er fort, »diesen Kelch an mir vorbeigehen zu lassen, versprach ich, der Welt durch meine Liebe zu dir zu dienen.«

»Was sagst du da?« fragte ich erschrocken.

Er schien mich nicht zu hören.

»Man braucht keine Berge zu versetzen, um seinen Glauben zu beweisen«, sagte er. »Ich war bereit, allein das Leiden auf mich zu nehmen, nicht aber, es zu teilen. Würde ich diesen Weg weitergehen, hätten wir nie ein Haus mit weißen Gardinen und einem Blick auf die Berge.«

»Ich will dieses Haus überhaupt nicht. Ich wollte nicht einmal hineingehen!« sagte ich, und ich zwang mich, nicht zu schreien.

»Ich will dich begleiten, dir im Kampf beistehen, zu denen gehören, die das Wagnis als erste eingehen! Du hast mir den Glauben wiedergegeben!«

Die Sonne hatte ihre Stellung verändert, und ihre Strahlen beschienen nun die Wände der Höhle. Doch all diese Schönheit begann ihre Bedeutung zu verlieren.

Gott hat die Hölle mitten im Paradies verborgen.

»Du weißt es nicht«, sagte er, und ich sah, wie seine Augen mich anflehten, ihn doch zu verstehen. »Du kennst das Risiko nicht.«

»Doch du bist glücklich dabei.«

»Ich bin wohl glücklich, aber es ist mein Risiko.«

Ich wollte ihn unterbrechen, doch er hörte mir nicht zu. »Daher habe ich gestern die Heilige Jungfrau um ein Wunder gebeten«, fuhr er fort. »Ich habe sie gebeten, mir meine Gabe wieder zu nehmen.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Ich habe etwas Geld und all die Erfahrungen, die ich auf meinen Reisen gesammelt habe. Wir werden ein Haus kaufen, ich werde mir eine Anstellung suchen und werde Gott dienen wie einst Joseph, in demütiger Anonymität. Ich brauche keine Wunder mehr, um meinen Glauben lebendig zu halten. Ich brauche dich.«

Meine Beine wurden schwach, wie kurz vor einer Ohnmacht.

»Und in dem Augenblick, als ich die Heilige Jungfrau darum bat, mir die Gabe wieder zu nehmen, begann ich mit fremden Zungen zu reden«, fuhr er fort. »Die Zungen sagten mir: ›Lege deine Hände auf die Erde. Ihre Gabe wird aus dir heraustreten und zur Großen Mutter zurückkehren.‹«

Panik erfaßte mich.

»Du hast doch nicht…«

»Doch. Ich tat das, was der Heilige Geist mich tun hieß. Der Nebel lichtete sich, und die Sonne erstrahlte zwischen den Bergen. Ich fühlte, daß die Heilige Jungfrau mich verstanden hatte – denn auch sie hat viel geliebt.«

»Doch sie ist ihrem Mann gefolgt! Sie hat den Weg ihres Sohnes akzeptiert!«

»Wir besitzen nicht ihre Kraft, Pilar. Meine Gabe wird auf jemand anderen übergehen – sie wird niemals vergeudet.

Gestern im Restaurant habe ich in Barcelona angerufen und den Vortrag abgesagt. Wir fahren nach Saragossa. Dort kennst du viele Leute, und wir könnten dort anfangen. Ich werde schnell eine Arbeit finden.«

Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

»Pilar!« sagte er.

Doch ich war schon wieder in den Tunnel zurückgekehrt, ohne die Schulter eines Freundes, auf die ich mich stützen konnte – verfolgt von den unzähligen Kranken, die sterben, von ihren Familien, die leiden würden, von den Wundern, die nie getan würden, vom Lachen, das die Welt nun nicht mehr schmücken würde, von den Bergen, die nun immer an ihrem Platz bleiben würden.

Und ich sah nichts – nur die beinahe körperliche Dunkelheit, die mich umgab.

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