Dienstag, 7. Dezember 1993


Er schlief sofort ein. Ich lag noch eine Weile wach, dachte an den Nebel, den Platz dort draußen, an den Wein und an das Gespräch. Ich las das Manuskript, das er mir gegeben hatte, und fühlte mich glücklich; Gott war – so es ihn wirklich gab – Vater und Mutter.

Dann löschte ich das Licht und dachte daran, wie wir am Brunnen geschwiegen hatten. In jenen Augenblicken, in denen wir nichts sagten, hatte ich begriffen, wie nah ich ihm war.

Keiner von uns hatte ein Wort gesagt. Man braucht nicht über die Liebe zu reden, denn die Liebe hat ihre eigene Stimme, sie spricht für sich selbst. In jener Nacht beim Brunnen hatte die Stille erlaubt, daß unsere Herzen sich einander näherten und sich besser kennenlernten. Da hatte mein Herz gehört, was sein Herz sagte, und war glücklich gewesen.

Bevor ich die Augen schloß, machte ich jedoch noch die Übung, die er ›der oder die Andere sein‹ nannte.

›Ich befinde mich hier in diesem Zimmer‹, dachte ich, ›fern von allem, was ich gewohnt bin, rede über Dinge, für die ich mich nie interessiert habe, und schlafe in einer Stadt, in der ich noch nie gewesen bin. Ich kann – nur für ein paar Minuten – so tun, als wäre ich jemand anderes.‹

Ich begann mir vorzustellen, wie ich jenen Augenblick auch erleben könnte. Ich würde fröhlich, neugierig, glücklich sein.

Jeden Moment intensiv erleben, durstig das Wasser des Lebens trinken. Wieder Vertrauen in meine Träume haben.

Fähig sein, für das zu kämpfen, was ich wollte.

Einen Mann lieben, der mich liebte.

Ja, so war die Frau, die ich gern wäre – und die unvermittelt da war und sich in mich verwandelte.

Ich spürte, wie meine Seele vom Licht Gottes erfüllt wurde, an den ich nicht mehr glaubte – oder dem Licht einer Göttin? Ich spürte in jenem Augenblick, daß die Andere meinen Körper verließ und sich in eine Ecke des kleinen Zimmers kauerte. Ich sah die Frau an, die ich bislang gewesen war: schwach, aber vorspiegelnd, sie sei stark. Sie hatte vor allem und jedem Angst, verkaufte diese Angst aber als die Klugheit dessen, der die Wirklichkeit kennt. Vermauerte die Fenster, durch die die Sonne hereinscheinen und ihre alten Möbel ausbleichen könnte.

Ich sah die Andere in der Ecke des Zimmers hocken: zerbrechlich, müde, enttäuscht. Die das in Ketten legte und versklavte, was eigentlich immer frei sein sollte: die Gefühle.

Die eine zukünftige Liebe mit dem Maßstab vergangenen Leidens maß.

Die Liebe ist immer neu. Gleichgültig, ob wir einmal, zweimal oder zehnmal im Leben lieben – jedesmal sehen wir uns vor eine Situation gestellt, die wir nicht kennen. Die Liebe kann uns in die Hölle führen oder ins Paradies, doch sie führt uns immer irgendwohin. Man muß sie annehmen, weil sie die Nahrung unseres Lebens ist. Verweigern wir uns, so sterben wir Hungers, während wir auf die von Früchten schweren Äste des Lebensbaumes blicken, jedoch den Mut nicht aufbringen, diese Früchte zu pflücken. Man muß die Liebe suchen, wo auch immer sie sich befindet, selbst wenn dies bedeutet, daß wir Stunden, Tage, Wochen voller Enttäuschung und Traurigkeit durchleben müssen.

Denn in dem Augenblick, wo wir uns auf die Suche nach der Liebe machen, macht auch sie sich auf, uns zu finden.

Und rettet uns.

Als sich die Andere von mir entfernte, begann mein Herz wieder zu mir zu sprechen. Erzählte mir von dem Spalt in der Mauer des Stausees, durch den Wasser strömte, von überallher wehte der Wind, und mein Herz war freudig, weil ich ihm wieder zuhörte.

Mein Herz sagte mir, daß ich verliebt war. Und ich schlief mit einem Lächeln auf den Lippen glücklich ein.

Als ich erwachte, stand das Fenster offen, und er blickte hinaus auf die Berge. Eine Weile sagte ich nichts, würde die Augen wieder geschlossen haben, wenn er sich umgedreht hätte. Er wandte sich um, als hätte er meine Gedanken gelesen, und sah mir in die Augen. »Guten Tag«, sagte er.

»Guten Tag. Mach das Fenster zu, es wird kalt hier drinnen.«

Die Andere war ohne Vorankündigung wieder da. Sie wollte wieder die Windrichtung ändern, Mängel finden, ›Nein, es ist unmöglich‹ sagen. Dabei mußte sie wissen, daß es dafür zu spät war. »Ich muß mich anziehen«, sagte ich.

»Ich warte unten auf dich«, antwortete er.

Und dann stand ich auf, verscheuchte die Andere aus meinen Gedanken, öffnete das Fenster wieder und ließ die Sonne herein. Die Sonne überströmte alles, die schneebedeckten Berge, den mit Herbstlaub bedeckten Boden, den Fluß, den ich nicht sah, aber hörte.

Die Sonne fiel auf meine Brüste, meinen nackten Körper, und ich spürte die Kälte nicht, denn ich war von Wärme erfüllt, der Wärme eines Funkens, der zu einer Flamme wird, einer Flamme, die zu einem Feuer wird, einem Feuer, das nicht mehr zu bezähmen war. Ich wußte es.

Ich wollte es.

Ich wußte, daß ich von diesem Augenblick an Himmel und Hölle kennenlernen würde, Freude und Schmerz, Traum und Hoffnungslosigkeit, und daß ich die Stürme nicht mehr bändigen konnte, die in den verborgenen Winkeln der Seele tobten. Ich wußte, daß mich von diesem Augenblick an die Liebe leitete – obwohl sie schon seit meiner Kindheit dagewesen war, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.

Denn vergessen hatte ich ihn nie, auch wenn ich mich für unwürdig gehalten hatte, um ihn zu kämpfen. Es war eine schwierige Liebe mit Grenzen, die ich nicht überschreiten wollte.

Ich erinnerte mich an den Platz in Soria, an den Augenblick, in dem ich ihn bat, die Medaille zu suchen, die ich verloren hatte.

Ich wußte – ja, ich wußte wohl, was er mir sagen wollte, und wollte es nicht hören, weil er einer von diesen Jungen war, die eines Tages auf der Suche nach Geld, Abenteuern oder Träumen fortgehen. Was ich wollte, war eine erfüllbare Liebe, mein Herz und mein Körper waren noch jungfräulich, und irgendwann würde mich ein verzauberter Prinz finden.

Damals verstand ich kaum etwas von der Liebe. Als ich ihn beim Vortrag sah und die Einladung annahm, hielt ich mich für eine reife Frau, die fähig war, das Herz des Mädchens im Griff zu haben, das so sehr darum gekämpft hatte, ihren verzauberten Prinzen zu finden. Dann hatte er vom Kind in uns gesprochen, und ich hatte wieder die Stimme des Mädchens vernommen, das ich einmal war, der Prinzessin, die Angst hatte vor Liebe und Verlust.

Vier Tage lang hatte ich nicht auf die Stimme meines Herzens gehört, doch sie war immer lauter geworden, was die Andere in Verzweiflung gestürzt hatte. Im verborgensten Winkel meiner Seele gab es mich immer noch, und ich glaubte an die Träume.

Bevor die Andere noch etwas sagen konnte, sagte ich ja zur Reise, sagte ich ja zum Risiko. Und das war der Grund – dieser kleine Rest von mir –, daß die Liebe mich wiederfand, nachdem sie mich überall auf der Welt gesucht hatte. Trotz der von der Anderen in einer ruhigen Straße in Saragossa aufgebauten Mauer aus Vorurteilen, Gewißheiten und Lehrbüchern hatte die Liebe mich wiedergefunden.

Ich hatte das Fenster und meine Seele geöffnet. Das Sonnenlicht war ins Zimmer geströmt und die Liebe in meine Seele.

Wir wanderten stundenlang mit leerem Magen, wir gingen auf der Straße und durch den Schnee, frühstückten dann in einer kleinen Stadt, deren Namen ich mir nicht merkte, doch auch sie besitzt einen Brunnen mit einer Skulptur, die Schlange und Taube ineinander verschlungen darstellt, als wären sie ein einziges Tier.

Er lächelte.

»Das ist ein Zeichen. Das Männliche und das Weibliche in einer einzigen Figur vereint.«

»Auf das, was du gestern über Gottes männliche und weibliche Seite gesagt hast, wäre ich nie gekommen«, meinte ich. »Aber es macht Sinn.« »Gott erschuf den Menschen zu seinem Bilde«, sagte er, die Genesis zitierend. »Zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.«

Seine Augen strahlten. Er war glücklich und lachte über nichts und wieder nichts. Er sprach Leute an, die uns unterwegs begegneten – Bauern in grauen Kleidern, die aufs Feld gingen, Bergsteiger in bunten Kleidern, die sich aufmachten, irgendeinen Gipfel zu besteigen.

Ich schwieg, denn mein Französisch war schauderhaft; doch meine Seele freute sich, ihn so zu erleben.

Sein Glück war so groß, daß alle, die mit ihm sprachen, lächelten. Vielleicht hatte ihm sein Herz etwas gesagt, und er wußte jetzt, daß ich ihn liebte – obwohl ich mich weiterhin wie eine alte Freundin aus der Kindheit benahm.

»Du wirkst fröhlicher«, sagte ich irgendwann zu ihm.

»Weil ich immer davon geträumt habe, einmal mit dir hier zu sein, durch die Berge zu wandern, die von der Sonne vergoldeten Früchte zu pflücken.«

»Die von der Sonne vergoldeten Früchte.« Diesen Vers hatte jemand vor langer Zeit geschrieben, und jetzt wiederholte er ihn

– im richtigen Augenblick.

»Es gibt noch einen Grund für deine Fröhlichkeit«, meinte ich auf dem Rückweg von der kleinen Stadt mit dem merkwürdigen Brunnen.

»Welchen?«

»Du weißt, daß ich fröhlich bin. Dir habe ich zu verdanken, daß ich heute hier bin, fern von meinen Heften und Büchern, und wirkliche Berge besteige. Du machst mich glücklich. Und Glücklichsein vervielfältigt sich, wenn man es teilt.«

»Hast du die Übung, eine Andere zu sein, gemacht?«

»Ja, woher weißt du das?«

»Weil auch du dich verändert hast. Und weil wir diese Übung immer im rechten Augenblick lernen.«

Die Andere verfolgte mich den ganzen Morgen lang. Sie versuchte, sich mir aufs neue zu nähern. Dennoch wurde ihre Stimme von Minute zu Minute leiser, ihr Bild begann sich allmählich aufzulösen. Ich erinnerte mich an das Ende von Vampirfilmen, wo das Ungeheuer zu Staub zerfällt.

Wir kamen an einer anderen Säule mit einer Mariengestalt vorbei.

»Woran denkst du?« fragte er.

»An Vampire. An die Wesen der Nacht, die in sich selbst eingeschlossen sind und verzwe ifelt nach Gesellschaft suchen.

Doch unfähig sind zu lieben.«

»Daher besagt die Legende, daß nur ein ins Herz gestoßener Pflock sie töten kann. Dringt er ein, erwacht das Herz, setzt die Energie der Liebe frei und zerstört das Böse.«

»So habe ich das nie gesehen. Aber es macht Sinn.«

Mir war es gelungen, diesen Pflock hineinzustoßen. Das vom Fluch befreite Herz war nun am Zuge. Für die Andere gab es jetzt keinen Platz mehr.

Tausendmal fühlte ich in mir den Wunsch, seine Hand zu ergreifen, und tausendmal bezwang ich mich, tat ich es nicht.

Ich war verwirrt – wollte ihm sagen, daß ich ihn liebte, und wußte nicht, wie anfangen.

Wir redeten über die Berge und über die Flüsse. Wir verliefen uns fast eine Stunde lang im Wald, fanden dann aber den Pfad wieder. Als die Sonne sich zum Horizont zu neigen begann, beschlossen wir, nach Saint-Savin zurückzukehren.

Unsere Schritte hallten zwischen den Steinwänden wider. Ich führte, ohne nachzudenken, die Hand zum Weihwasserbecken und bekreuzigte mich. Ich erinnerte mich an das, was er zu mir gesagt hatte – das Wasser ist das Symbol der Göttin.

»Laß uns hineingehen«, sagte er.

Wir gingen durch die leere dunkle Kirche, in der unter dem Hauptaltar ein Heiliger begraben lag: der heilige Savinus, ein Eremit, der zu Anfang des ersten Jahrtausends gelebt hatte.

Die Wände dieser Kirche waren mehrfach eingerissen und wiederaufgebaut worden. Es gibt solche Orte – Kriege, Verfolgung und Gleichgültigkeit können sie zerstören. Doch sie bleiben immer heilig. Und dann kommt jemand dorthin, fühlt, daß etwas fehlt, und baut sie wieder auf.

Ein Kruzifix fiel mir ins Auge und löste ein merkwürdiges Gefühl in mir aus: Mir war, als hätte der Christuskopf sich bewegt und mir nachgeblickt.

»Halt mal.«

Vor uns befand sich ein Altar der Heiligen Jungfrau.

»Schau dir das Standbild an.«

Maria trug ihren Sohn auf dem Arm. Das Jesuskind wies mit dem Zeigefinger in die Höhe.

»Sieh genau hin«, beharrte er.

Ich versuchte mir jede Einzelheit der Skulptur einzuprägen: die Vergoldung, den Sockel, den vollkommenen Faltenwurf des Gewandes. Als ich beim Zeigefinger des Jesuskindes anlangte, verstand ich, was der Künstler ausdrücken wollte.

Denn Maria hielt zwar das Kind im Arm, doch sie wurde von Jesus getragen. Sein zum Himmel weisender Arm schien die Heilige Jungfrau emporzuheben. Hinauf zur Wohnstätte ihres Bräutigams.

»Der Künstler, der dies vor mehr als sechshundert Jahren geschaffen hat, wußte genau, was er ausdrücken wollte«, merkte er an.

Schritte erklangen auf dem Holzboden. Eine Frau kam herein und zündete vor dem Hauptaltar eine Kerze an.

Wir schwiegen eine Weile, um ihrem stillen Gebet unseren Respekt zu zollen.

›Die Liebe kommt niemals stückweise‹, dachte ich, während ich in die Betrachtung der Heiligen Jungfrau versunken war. Am Tag zuvor hatte die Welt ohne ihn noch Sinn gemacht. Jetzt brauchte ich ihn an meiner Seite, um den wahren Glanz der Dinge zu erkennen.

Als die Frau hinausgegangen war, redete er weiter: »Der Künstler kannte die Große Mutter, die Göttin, das barmherzige Antlitz Gottes. Du hast mich etwas gefragt, was ich noch nicht richtig beantworten konnte. Du hast mich gefragt: ›Wo hast du dies alles gelernt?‹«

Ja, das hatte ich gefragt, und er hatte mir eine Antwort gegeben. Doch ich schwieg.

»Ich habe es durch diesen Künstler gelernt«, fuhr er fort. »Ich habe die vom Himmel kommende Liebe angenommen. Ich ließ mich führen. Du wirst dich an den Brief erinnern, in dem ich davon sprach, daß ich ins Kloster eintreten wollte. Ich habe es dir nie gesagt, aber ich bin tatsächlich eingetreten.«

Ich erinnerte mich sofort an das Gespräch vor dem Vortrag.

Mein Herz begann schneller zu schlagen, und ich versuchte, mich mit dem Blick an der Jungfrau festzuhalten. Sie lächelte.

›Das darf nicht sein‹, dachte ich. ›Er ist ins Kloster eingetreten, doch dann hat er es wieder verlassen. Bitte sag mir, daß er das Seminar verlassen hat.‹

»Ich hatte meine Jugend intensiv ausgelebt«, fuhr er fort, ohne sich diesmal darum zu kümmern, was ich denken mochte.

»Hatte andere Völker und andere Länder kennengelernt. Hatte Gott bereits überall auf der Welt gesucht. Hatte mich bereits in andere Frauen verliebt und in den unterschiedlichsten Berufen für viele Männer gearbeitet.«

Mein Herz zog sich abermals zusammen. ›Ich muß achtgeben, daß die Andere nicht wieder zurückkommt‹, sagte ich mir und hatte den Blick noch immer fest auf das Lächeln der Heiligen Jungfrau gerichtet.

»Das Mysterium des Lebens faszinierte mich, ich wollte es besser kennenlernen. Viele Jahre lang war ich auf der Suche nach den Antworten überall dort hingegangen, wo ich die Hüter der Weisheiten vermutete. Ich war in Indien, in Ägypten. Ich habe Meister der Magie und der Meditation kennengelernt.

Habe das Leben von Alchimisten und Priestern geteilt. Und entdeckte, was ich entdecken mußte: daß die Wahrheit immer dort ist, wo auch der Glaube ist.«

Die Wahrheit ist dort, wo der Glaube ist. Ich sah mich noch einmal in der Kirche um: die abgewetzten Steine, die so viele Male eingerissen und wieder an ihren Platz gesetzt worden waren. Was ließ den Menschen so beharrlich daran arbeiten, diese kleine Kirche an einem so abgelegenen Ort hoch oben in den Bergen immer wieder aufzubauen?

Der Glaube.

»Die Buddhisten hatten recht, die Hindus hatten recht, die Indianer hatten recht, die Moslems hatten recht, die Juden hatten recht. Geht der Mensch ehrlich den Weg des Glaubens, dann wird es ihm gelingen, sich mit Gott zu vereinigen und Wunder zu tun. Doch dieses Wissen allein reicht nicht: Man muß eine Wahl treffen. Ich habe die katholische Kirche gewählt, weil ich mit ihren Mysterien groß geworden bin. Wäre ich als Jude geboren, hätte ich die jüdische Religion gewählt. Gott ist derselbe, auch wenn er tausend Namen hat. Doch man muß einen Namen wählen, um zu ihm beten zu können.«

Wieder Schritte in der Kirche.

Ein Mann näherte sich und sah uns an. Dann ging er zum Hauptaltar und nahm zwei Leuchter herunter. Es war wohl jemand, der in der Kirche nach dem Rechten sah, vielleicht der Küster.

Ich dachte an den Wärter in der anderen Kapelle, der uns nicht hineinlassen wollte. Doch der Mann hier sagte nichts.

»Heute abend muß ich mich mit jemandem treffen«, sagte er, sobald der Mann hinausgegangen war.

»Bitte erzähl weiter, und wechsle nicht immer das Thema.«

»Ich bin in ein Priesterseminar hier in der Nähe eingetreten.

Vier Jahre habe ich alles Wissen, was sich mir bot, in mir aufgesogen. Damals begegnete ich das erste Mal den Erleuchteten, den Charismatikern, vielen anderen Strömungen, die versuchten, lange verschlossene Türen wieder zu öffnen.

Ich entdeckte, daß Gott nicht dieser Rächer war, vor dem ich als Kind immer Angst hatte. Daß es Ansätze für eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Unschuld des Christentums gab.« »Du meinst also, man hätte nach zweitausend Jahren endlich begriffen, daß Jesus in die Kirche aufgenommen werden sollte«, bemerkte ich ironisch.

»Du sagst das spöttisch, doch genau darum geht es. Ich begann es bei einem der Klostervorsteher zu lernen. Er hat mich gelehrt, darin einzuwilligen, das Feuer der Erleuchtung, den Heiligen Geist, zu empfangen.«

Bei seinen Worten zog sich mein Herz zusammen. Die Heilige Jungfrau lächelte weiterhin, und das Jesuskind hatte einen fröhlichen Gesichtsausdruck. Auch ich hatte an all das einmal geglaubt. Doch mit der Zeit, dem Älterwerden und weil ich mich als logisch denkende, wirklichkeitsbezogene Person sah, distanzierte ich mich immer mehr von der Religion. Ich sehnte mich zwar nach diesem kindlichen Glauben, der mich so viele Jahre lang begleitet und mich an Engel und Wunder hatte glauben lassen. Doch der Wille allein genügte nicht, ihn wiederzuerlangen.

»Der Vorsteher sagte zu mir, wenn ich glaubte, was ich wüßte, dann würde ich am Ende wissend sein«, fuhr er fort. »Ich begann Selbstgespräche zu führen, wenn ich allein in meiner Zelle war. Ich betete darum, der Heilige Geist möge sich mir zeigen und mich alles lehren, was ich brauchte. Ganz allmählich entdeckte ich, daß während meiner Selbstgespräche eine weisere Stimme zu mir sprach.«

»Das ist auch bei mir so«, unterbrach ich ihn.

Er wartete darauf, daß ich fortfuhr. Doch ich konnte nichts mehr herausbringen.

»Ich höre«, sagte er.

Etwas hatte meine Zunge gelähmt. Er fand schöne Worte für das, was er sagen wollte, ich konnte mich nicht so gut ausdrücken.

»Die Andere will wieder zurück«, sagte er, als erriete er meine Gedanken. »Die Andere hat Angst, Unsinn zu reden.«

»Ja«, antwortete ich und bemühte mich, meine Angst zu bezwingen. »Manchmal, wenn ich mit jemandem rede und mich die Begeisterung mitreißt, sage ich plötzlich Dinge, die ich nie zuvor gedacht habe. Es ist so, als spräche aus mir eine höhere Intelligenz, die nicht meine ist und die das Leben viel besser begreift als ich. Doch das kommt selten vor. Meist halte ich mich bei Diskussionen im Hintergrund, meine, ich lerne was dazu, doch am Ende vergesse ich alles wieder.«

»Wir sind für uns selbst die größte Überraschung«, sagte er.

»Wäre unser Glaube nur so groß wie ein Senfkorn, so könnten wir diese Berge dort versetzen. Das habe ich gelernt. Und heute wundere ich mich über meine eigenen Worte. Die Apostel waren Sünder, Analphabeten, Unwissende. Doch sie nahmen die Flamme in sich auf, die vom Himmel kam. Sie schämten sich ihrer eigenen Unwissenheit nicht: sie glaubten an den Heiligen Geist, der sich dem schenkt, der ihn annehmen will.

Man muß nur glauben, annehmen und keine Angst haben, einen Fehler zu machen.«

Die Heilige Jungfrau vor mir lächelte. Sie hatte nur allzu viele Gründe gehabt, um zu weinen. Und dennoch lächelte sie.

»Erzähl weiter«, sagte ich.

»Allein darauf kommt es an«, antwortete er. »Die Gabe annehmen. Dann offenbart sie sich.«

»So einfach geht das aber nicht.«

»Verstehst du nicht, was ich meine?«

»Doch. Aber ich bin wie alle anderen: Ich habe Angst, und dann denke ich, bei dir mag das funktionieren, auch bei jemand anderem, doch bei mir nicht.«

»Das wird sich eines Tages ändern. Wenn du begreifst, daß wir alle wie dieses Kind hier vor uns sind, das uns ansieht.«

»Doch bis dahin werden wir alle meinen, daß wir dem Licht zwar nahe sind, unsere eigene Flamme aber nicht entzünden können.«

Darauf entgegnete er nichts.

»Du hast mir die Geschichte vom Priesterseminar nicht zu Ende erzählt«, sagte ich nach einer Weile.

»Ich bin immer noch im Priesterseminar.« Und noch bevor ich darauf reagieren konnte, erhob er sich und trat in den Gang zwischen den Bänken.

Ich rührte mich nicht. In meinem Kopf drehte sich alles, ich verstand nichts mehr.

Im Priesterseminar!

Es war besser, nicht weiter darüber nachzudenken. Der Staudamm war gebrochen, die Liebe überschwemmte meine Seele, und ich konnte sie nicht mehr eindämmen. Einen Ausweg gab es noch: die Andere, die hart war, weil sie schwach war, die kalt war, weil sie Angst hatte. Doch ich wollte sie nicht mehr. Ich konnte das Leben nicht mehr mit ihren Augen sehen.

Ein Ton unterbrach meine Gedanken. Ein hoher, langanhaltender Ton wie aus einer riesigen Flöte. Mein Herz tat einen Sprung.

Dann noch ein Ton und noch einer. Ich wandte mich um. Eine Holztreppe führte nach oben zu einer grobgezimmerten Empore, die gar nicht zu der eisigen Schönheit des Steins passen wollte, und zu einer alten Orgel.

Und da war er. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn es war dunkel dort oben. Doch ich wußte, daß er es war.

Ich wollte aufstehen, doch er gebot mir sitzenzubleiben.

»Pilar«, sagte er sehr bewegt. »Bleib, wo du bist.«

Ich gehorchte.

»Möge mich die Große Mutter erleuchten«, fuhr er fort. »Möge diese Musik mein heutiges Gebet sein.«

Und er begann das Ave Maria zu spielen. Es mochte etwa sechs Uhr nachmittags sein, die Stunde des Angelus, die Stunde, in der Licht und Dunkelheit ineinander übergehen. Der Klang der Orgel hallte in der leeren Kirche, drang in die von Geschichte und Glauben durchtränkten Steine und Figuren. Ich schloß die Augen und ließ die Musik auch in mich eindringen, damit sie meine Seele von Ängsten und von Schuld reinwusch, mich nicht vergessen ließ, daß ich besser war, als ich dachte, stärker, als ich glaubte. Plötzlich mußte ich einfach beten. Seit mir der Glaube abhanden gekommen war, überkam es mich zum ersten Mal.

Ich saß zwar dort auf der Bank, doch in Wahrheit kniete meine Seele vor dieser Frau vor mir, der Frau, die ja gesagt hatte, als sie hätte nein sagen und es dem Engel überlassen können, statt ihrer eine andere zu finden, und es wäre keine Sünde vor dem Herrn gewesen, denn Gott kennt die Schwächen seiner Kinder. Doch sie hat

Dein Wille geschehe

gesagt, obwohl sie spürte, daß sie mit den Worten des Engels allen Schmerz und alles Leiden ihres Schicksals empfing. Und mit den Augen ihres Herzens konnte sie sehen, wie ihr geliebter Sohn dereinst das Haus verließ, die Menschen, die ihm folgten und ihn später verleugneten, doch sie hatte Dein Wille geschehe

gesagt, obwohl sie ihr Kind bei den Tieren im Stall zur Welt bringen mußte, weil die Heilige Schrift es so wollte, Dein Wille geschehe

obwohl sie ihren Sohn voller Angst in den Straßen suchen und ihn dann im Tempel finden würde. Und er sie bitten würde, ihn nicht zu stören, da er andere Pflichten und Aufgaben zu erfüllen habe.

Dein Wille geschehe

obwohl sie wußte, daß sie ihn ein ganzes Leben lang suchen würde, das Herz vom Dolch des Schmerzes durchbohrt, jeden Augenblick um sein Leben fürchtend, wissend, daß er verfolgt und bedroht sein würde.

Dein Wille geschehe,

obwohl sie wegen der Menge nicht zu ihm gelangen konnte.

Dein Witte geschehe,

obwohl ihr Sohn, wenn sie jemanden bitten würde, ihm zu sagen, daß sie da sei, ihr ausrichten ließe, ›meine Mutter und meine Brüder sind die, die bei mir sind‹.

Dein Wille geschehe, obwohl, wenn am Ende alle geflohen wären, nur sie, eine andere Frau und einer von ihnen am Fuße des Kreuzes ausharren würden und das Gelächter der Feinde und die Feigheit der Freunde ertragen.

Dein Wille geschehe.

Dein Wille geschehe, Herr. Denn Du kennst die Schwäche der Herzen Deiner Kinder und erlegst einem jeden nur die Bürde auf, die es tragen kann. Denn Du verstehst meine Liebe, die das einzige ist, was ganz mein ist, das einzige, was ich in das andere Leben mitnehmen kann. Mach, daß sie trotz der Abgründe und der Fallstricke, die die Welt bereithält, mutig und rein ist, auf daß sie weiterlebe.

Die Orgel schwieg, die Sonne verbarg sich hinter den Bergen, als würden beide von derselben Hand befehligt. Sein Gebet wurde erhört, die Musik war sein Gebet gewesen. Ich öffnete die Augen, und die Kirche lag nun in vollkommener Dunkelheit, bis auf eine einsame Kerze, die das Bildnis der Heiligen Jungfrau beleuchtete.

Ich hörte wieder seine Schritte, die zu mir zurückkehrten. Der Schein dieser einzigen Kerze beleuchtete meine Tränen und mein Lächeln, das, wenn es auch nicht so schön war wie das der Heiligen Jungfrau, zeigte, daß mein Herz lebendig war.

Wir sahen einander an. Meine Hand suchte seine und fand sie.

Ich spürte, daß sein Herz jetzt schneller schlug, ich konnte es beinahe hören, weil wir beide wieder schwiegen.

Meine Seele aber war ruhig und mein Herz voller Frieden.

Ich hielt ihn bei der Hand, und er schloß mich in seine Arme.

Eng umschlungen standen wir zu Füßen der Heiligen Jungfrau, wie lange, weiß ich nicht, die Zeit war stehengeblieben. Sie blickte auf uns nieder. Die junge Bäuerin, die ja zu ihrem Schicksal gesagt hatte. Die Frau, die zugestimmt hatte, den Sohn Gottes in ihrem Leib und die Liebe der Göttin in ihrem Herzen zu tragen. Sie konnte verstehen.

Ich wollte nichts fragen. Allein die Augenblicke in der Kirche an jenem Nachmittag rechtfertigten diese Reise. Die vier Tage mit ihm reichten, um dem ganzen Jahr einen Sinn zu geben, in dem sonst nichts Besonderes geschehen war.

Daher wollte ich nichts fragen. Wir traten Hand in Hand aus der Kirche und gingen in unser Zimmer zurück. In meinem Kopf drehte sich alles – das Priesterseminar, die Große Mutter, das Treffen, zu dem er heute nacht gehen würde.

Da wurde mir klar, daß ich ebenso wie er meine Seele an dasselbe Schicksal binden wollte. Doch es gab das Priesterseminar in Frankreich, es gab Saragossa. Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich blickte auf die mittelalterlichen Häuser, den Brunnen von der vorherigen Nacht. Ich erinnerte mich an die Stille und den traurigen Ausdruck der anderen Frau, die ich einmal gewesen war.

›Gott, ich versuche meinen Glauben wiederzufinden. Laß mich nicht allein‹, betete ich, um die Angst zu verscheuchen.

Er schlief ein wenig, und ich lag wieder wach, blickte auf das sich gegen die Dunkelheit abzeichnende Fenster. Irgendwann standen wir auf, aßen mit der Familie, die bei Tisch nie redete, zu Abend, und er bat um den Haustürschlüssel.

»Heute wird’s spät«, sagte er zur Frau.

»Junge Leute müssen sich amüsieren«, antwortete sie.

»Genießt ja die Feiertage.«

»Ich muß dich etwas fragen«, sagte ich, kaum daß wir im Wagen saßen. »Ich versuche es nicht zu tun, doch es gelingt mir nicht.«

»Das Seminar«, sagte er.

»Ja, genau. Ich verstehe das nicht.«

›Obwohl es nicht mehr wichtig ist, überhaupt noch etwas zu verstehen‹, dachte ich.

»Ich habe dich immer geliebt«, begann er. »Ich habe andere Frauen gehabt, doch ich liebte nur dich. Ich trug die Medaille bei mir, dachte, ich würde sie dir eines Tages wiedergeben, wenn ich den Mut hätte, dir zu sagen: ›Ich liebe dich.‹ Alle Wege führten mich immer wieder zu dir. Ich schrieb dir und öffnete beklommen deine Briefe, weil in einem von ihnen stehen konnte, daß du einen Mann gefunden hast. Damals vernahm ich dann den Ruf zum spirituellen Leben. Oder besser gesagt, ich folgte diesem Ruf, der mich genau wie du seit meiner Kindheit begleitete. Ich fand heraus, daß Gott in meinem Leben zu wichtig war, daß ich nicht glücklich sein würde, wenn ich meiner Berufung nicht folgen würde. Christus blickte mich in jedem Armen an, dem ich auf meinen Reisen durch die Welt begegnet bin, und ich konnte darüber nicht hinwe gsehen.«

Er schwieg, und ich beschloß, nicht in ihn zu dringen.

Zwanzig Minuten später hielt er den Wagen an, und wir stiegen aus.

»Wir sind in Lourdes«, sagte er. »Du müßtest das hier einmal im Sommer sehen.«

Ich sah nur menschenleere Straßen, geschlossene Läden, Hotels mit Scherengittern vor dem Haupteingang.

»Sechs Millionen Menschen kommen im Sommer hierher«, fuhr er bewegt fort.

»Auf mich wirkt das hier wie eine Geisterstadt.«

Wir gingen über eine Brücke. Vor uns lag ein riesiges, von Engeln flankiertes Eisentor, dessen einer Flügel geöffnet war.

Und wir gingen hindurch.

»Rede weiter«, bat ich ihn, obwohl ich kurz zuvor noch beschlossen hatte, nicht nachzuhaken. »Erzähl mir von Christi Antlitz in den Menschen.«

Ich merkte, daß er das Gespräch nicht fortsetzen wollte.

Vielleicht war jetzt weder der richtige Moment noch der richtige Ort dafür. Doch da er einmal begonnen hatte, mußte er es zu Ende führen.

Wir gingen eine endlose, von schneebedeckten Feldern gesäumte Allee entlang. An deren Ende erkannte ich die Umrisse einer Kathedrale.

»Rede weiter«, wiederholte ich.

»Du weißt doch schon alles. Ich bin ins Priesterseminar eingetreten. Während des ersten Jahres bat ich Gott, meine Liebe zu dir in Liebe für alle Menschen zu verwandeln. Im zweiten Jahr fühlte ich, daß Gott mich erhörte. Im dritten Jahr war ich mir sicher, daß diese Liebe, obwohl die Sehnsucht nach dir noch immer sehr groß war, sich allmählich in Barmherzigkeit, Gebet und Hilfe für die Bedürftigen verwandelte.«

»Und warum hast du mich dann wieder aufgesucht? Warum hast du in mir dieses Feuer wieder entfacht? Warum hast du mir von der Übung erzählt, eine Andere zu sein, mir gezeigt, wie kläglich mein Leben war?«

Die Worte brachen ungeordnet, zitternd aus mir hervor. Mit jeder Minute sah ich ihn dem Seminar näher und ferner von mir.

»Warum bist du zurückgekehrt? Warum erzählst du mir erst heute diese Geschichte, wo du doch merkst, daß ich anfange, dich zu lieben?«

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Du wirst es dumm finden«, sagte er.

»Ich werde es nicht dumm finden. Ich habe keine Angst mehr, lächerlich zu erscheinen. Das hast du mich gelehrt.«

»Vor zwei Monaten hat mich der Vorsteher meines Klosters gebeten, ihn zu einem Haus zu begleiten, das einer Frau gehört hatte, die gestorben war und ihr ganzes Vermögen unserem Seminar vermacht hatte. Sie wohnte in Saint-Savin, und mein Vorsteher mußte ihre Besitztümer inventarisieren.«

Die Kathedrale im Hintergrund kam immer näher. Mir war klar, daß unser Gespräch unterbrochen werden würde, wenn wir dort anlangten.

»Hör jetzt nicht auf zu reden«, sagte ich. »Ich verdiene eine Erklärung.«

»Ich erinnere mich an den Augenblick, in dem ich das Haus betrat. Von den Fenstern sah man auf die Pyrenäen, deren schneebedeckte Gipfel das Sonnenlicht doppelt hell erstrahlen ließen. Ich begann eine Liste der Gegenstände aufzustellen, hörte aber nach kurzer Zeit damit auf, denn mir war aufgefallen, daß der Geschmack dieser Frau ganz und gar mit meinem übereinstimmte. Sie besaß genau dieselben Platten, die ich auch gekauft hätte, mit Musikstücken, die ich gern gehört hätte, während ich auf die Landschaft dort draußen schaute. Die Regale standen voller Bücher – einige hatte ich gelesen, andere hätte ich gewiß gern gelesen. Ich sah die Möbel, die Bilder, die kleinen, überall verteilten Gegenstände an; es war, als hätte ich sie ausgesucht.

Von diesem Tag an ging mir das Haus nicht mehr aus dem Sinn. Immer wenn ich zum Beten in die Kapelle ging, wurde mir bewußt, daß mein Verzicht noch nicht vollständig war. Ich stellte mir vor, daß ich mit dir dort wäre, in genau so einem Haus mit dir wohnte, diese Platten hörte, auf die schneebedeckten Berge und ins Kaminfeuer schaute. Ich stellte mir vor, daß unsere Kinder durchs Haus liefen und auf den Feldern um Saint-Savin spielten.« Obwohl ich dieses Haus nie betreten hatte, wußte ich genau, wie es aussah. Und ich wünschte, er würde nichts mehr sagen, um weiterträumen zu können.

Doch er fuhr fort: »Vor zwei Wochen konnte ich die Traurigkeit meiner Seele nicht mehr ertragen. Ich suchte meinen Superior auf und erzählte ihm alles. Ich erzählte ihm die Geschichte meiner Liebe zu dir und was ich gefühlt hatte, als ich die Liste des Inventars schrieb.«

Ein feiner Regen begann zu fallen. Ich zog den Kopf ein und knöpfte meine Jacke zu. Ich hatte Angst, zu hören, was nun kam.

»Da sagte mein Superior zu mir: ›Es gibt viele Arten, dem Herrn zu dienen. Wenn du glaubst, daß dies dein Schicksal ist, so folge ihm. Nur wer glücklich ist, kann Glück verbreiten.‹

›Ich weiß nicht, ob dies mein Schicksal ist‹, antwortete ich meinem Vorsteher. ›Mein Herz hat seinen Frieden gefunden, als ich beschloß, in dieses Kloster einzutreten.‹

›Dann geh nach Saint-Savin, um jeden Zweifel zu zerstreuen‹, sagte er. ›Bleib in der Welt, oder kehre ins Kloster zurück. Doch du mußt mit Herz und Seele an dem Platz sein, den du dir erwählt hast. Ein geteiltes Reich kann den Angriffen des Feindes nicht widerstehen. Ein geteilter Mensch kann dem Leben nicht in Würde begegnen.‹

Er griff in die Tasche und reichte mir etwas. Es war ein Schlüssel.

Der Vorsteher hat mir den Schlüssel zu jenem Haus geliehen.

Er sagte, der Verkauf des Hauses könne noch warten. Ich weiß, er wollte, daß ich mit dir dorthin zurückkehre. Er war es, der diesen Vortrag in Madrid arrangierte – damit wir uns wiedertreffen.«

Ich betrachtete den Schlüssel in seiner Hand und lächelte nur.

In meinem Herzen jedoch war es, als würden Glocken läuten und sich der Himmel öffnen. Er würde Gott auf eine andere Weise dienen – an meiner Seite. Und darum würde ich kämpfen.

»Nimm den Schlüssel«, sagte er.

Ich streckte meine Hand aus und verwahrte ihn in meiner Tasche.

Jetzt lag die Basilika vor uns. Noch bevor ich etwas sagen konnte, trat jemand auf ihn zu und begrüßte ihn. Der feine Regen fiel unablässig, und ich fragte mich, wie lange wir dort wohl bleiben würden; mein einziger Gedanke war, daß ich keine Wäsche zum Wechseln hatte und deshalb nicht naß werden durfte.

Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren. Ich wollte nicht an das Haus denken – an die Dinge, die zwischen Himmel und Erde schwebten und auf die Hand des Schicksals warteten.

Er rief mich heran und stellte mich ein paar Leuten vor. Sie fragten, wo wir untergebracht seien, und als er Saint-Savin sagte, meinte einer, daß dort ein heiliger Eremit begraben sei.

Er erzählte, jener habe einst den Brunnen in der Mitte des Platzes gefunden – und Saint-Savin sei ursprünglich als Zufluchtsort für die Mönche entstanden, die das Leben in den Städten aufgegeben hatten und auf der Suche nach Gott in die Berge gekommen waren.

»Sie sind immer noch da«, sagte ein anderer. Ich wußte nicht, ob diese Geschichte stimmte, und wußte auch nicht, wer ›sie‹ waren.

Immer mehr Leute kamen hinzu, und die Gruppe machte sich zum Eingang der Grotte auf. Ein älterer Mann versuchte, mir etwas auf französisch zu sagen. Als er merkte, daß ich ihn nicht verstand, wechselte er in ein holpriges Spanisch.

»Sie befinden sich in Begleitung eines ganz besonderen Menschen«, sagte er. »Dieser Mann tut Wunder.«

Ich antwortete nicht darauf, doch mir fiel die Nacht in Bilbao ein, als der verzweifelte Mann ihn angesprochen hatte. Damals hatte er mir nicht gesagt, wohin er ging, und es hatte mich auch nicht weiter interessiert. Meine Gedanken kreisten jetzt um ein Haus, von dem ich genau wußte, wie es aussah. Ich wußte, welche Bücher es darin gab, welche Platten, wie die Landschaft und die Einrichtung waren.

Irgendwo auf der Welt wartete ein ganz reales Haus auf uns, irgendwann. Ein Haus, in dem ich ruhig auf ihn warten würde.

Ein Haus, in dem ich auf ein Mädchen oder einen Jungen warten würde, die von der Schule zurückkamen und es mit ihrer Fröhlichkeit und ihrer Unordnung erfüllten.

Die Gruppe ging schweigend im Regen, bis wir am Ort der Erscheinungen angelangt waren. Er sah genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: eine Grotte mit dem Bildnis der Heiligen Jungfrau und hinter einer Glasscheibe die Quelle, wo das Wunder des Wassers sich vollzogen hatte. Einige Pilger beteten, andere saßen schweigend und mit geschlossenen Augen in der Grotte. Vor der Grotte floß ein Bach entlang, und das Rauschen seines Wassers beruhigte mich. Als ich das Bildnis sah, sprach ich ein schnelles Gebet; ich bat die Heilige Jungfrau, mir zu helfen, weil mein Herz nicht noch mehr leiden wollte.

›Wenn der Schmerz doch kommen sollte, dann möge er schnell kommen‹, sagte ich. ›Denn vor mir liegt ein ganzes Leben, und ich muß es so gut wie möglich nutzen. Wenn er eine Wahl treffen muß, dann soll er es gleich tun. Dann warte ich auf ihn.

Oder ich vergesse ihn. Warten tut weh. Vergessen tut weh. Doch nicht wissen, wofür man sich entscheidet, das ist das schlimmste Leiden.‹

Tief im Inneren meines Herzens fühlte ich, daß sie meine Bitte erhört hatte.

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