Freitag, 10. Dezember 1993


Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte. Meine Erinnerungen an jene Nacht sind wirr und undeutlich. Ich weiß nur, daß ich dem Tode nahe war – doch ich erinnere mich nicht mehr an sein Gesicht und wohin er mich führte.

Ich würde mich gern daran erinnern, damit ich es auch aus meinem Herzen verbannen könnte. Doch es gelingt mir nicht.

Seit ich aus dem Tunnel in die nun nachtdunkle Welt trat, erscheint mir alles wie ein Traum.

Kein Stern strahlte am Himmel. Ich erinnere mich vage daran, daß ich bis zum Wagen gegangen bin, die kleine Tasche, die ich bei mir hatte, herausgenommen habe und ziellos weitergelaufen bin. Ich muß bis zur Straße gekommen sein, versucht haben, per Anhalter nach Saragossa zurückzukehren.

Doch es hat nicht geklappt. Ich bin schließlich in die Gärten des Klosters gegangen.

Das Rauschen des Wassers war allgegenwärtig. Überall gab es Wasserfälle, und mir war klar, daß mich die Große Mutter mit ihrer Anwesenheit immer verfolgen würde. Ja, sie hatte die Welt geliebt. Sie hatte die Welt so wie Gott geliebt, denn auch sie hat ihren Sohn hingegeben, damit er für die Menschen geopfert würde. Doch wußte sie auch etwas über die Liebe einer Frau zu einem Mann?

Sie mag aus Liebe gelitten haben, doch es ging um eine andere Liebe. Ihr himmlischer Bräutigam war allwissend, tat Wunder.

Ihr Bräutigam auf Erden war ein einfacher Arbeiter, der an alles glaubte, was ihre Träume erzählten. Sie hat nie erfahren, was es bedeutet, einen Mann zu verlassen oder von ihm verlassen zu werden. Als Joseph sie aus seinem Hause vertreiben wollte, weil sie schwanger war, schickte der himmlische Bräutigam sogleich einen Engel, um dies zu verhindern.

Ihr Sohn hat sie verlassen. Doch Kinder verlassen ihre Eltern immer. Es ist einfach, aus Liebe zum Nächsten zu leiden, aus Liebe zur Welt oder aus Liebe zu seinem Kind. Dieses Leiden gibt einem das Gefühl, daß es Teil des Lebens ist, daß es ein edles, großartiges Leiden ist. Es ist einfach, aus Liebe für eine Sache oder eine Mission zu leiden: Das läßt das Herz dessen, der leidet, wachsen.

Doch wie soll man erklären, was es bedeutet, um eines Mannes willen zu leiden? Es ist unmöglich. Denn man fühlt sich wie in der Hölle, weil dieses Leiden weder hehr noch groß, nur elend ist.

An jenem Abend legte ich mich auf die gefrorene Erde, und die Kälte betäubte mich bald. Ich dachte kurz daran, daß ich sterben würde, wenn ich mir nicht etwas Wärmendes zum Zudecken suchte – doch wozu? Alles, was mir im Leben wichtig war, war mir großzügig in einer Woche gegeben – und in einer Minute, ohne daß ich Zeit gehabt hätte, etwas zu sagen, wieder genommen worden.

Mein Körper begann vor Kälte zu zittern, doch ich kümmerte mich nicht darum. Irgendwann würde er schon damit aufhören, weil er all seine Energie in dem Versuch aufgebraucht haben würde, mich zu wärmen, und nun nichts mehr tun konnte. Dann würde mein Körper zu seiner gewohnten Ruhe zurückkehren und der Tod mich umfangen.

Ich zitterte über eine Stunde lang. Und dann kam der Friede.

Bevor ich die Augen schloß, hörte ich die Stimme meiner Mutter. Sie erzählte eine Geschichte, die sie mir immer als Kind erzählt hatte, doch damals ahnte ich nicht, daß sie einmal meine Geschichte sein würde.

›Ein Junge und ein Mädchen verliebten sich wahnsinnig ineinander‹, sagte die Stimme meiner Mutter zwischen Traum und Delirium. ›Und sie beschlossen, sich zu verloben. Verlobte schenken sich immer etwas. Der junge Mann war arm – sein einziger Besitz war eine Uhr, die er von seinem Großvater geerbt hatte. Er dachte an das schöne Haar seiner Liebsten und beschloß, die Uhr zu verkaufen, um ihr eine hübsche Silberspange für ihr Haar zu kaufen. Das Mädchen hatte auch kein Geld für ein Verlobungsgeschenk. Daher ging es zum Laden des größten Kaufmanns am Ort und verkaufte sein Haar. Mit dem Geld kaufte es eine goldene Kette für die Uhr seines Liebsten.

Als sie einander beim Verlobungsfest wiedersahen, gab sie ihm die Kette für die Uhr, die verkauft worden war, und er gab ihr die Spange für das Haar, das es nicht mehr gab.‹

Ich wachte auf, weil ein Mann mich schüttelte. »Trinken Sie«, sagte er. »Trinken Sie, schnell.« Ich wußte weder, was geschah, noch hatte ich die Kraft, mich zu wehren. Er öffnete meinen Mund und zwang mich, eine Flüssigkeit zu trinken, die mich von innen verbrannte. Ich bemerkte, daß er in Hemdsärmeln war und ich seinen Mantel trug. Er ließ nicht locker: »Trinken Sie mehr!« Ich wußte nicht, was los war, dennoch gehorchte ich. Dann schloß ich die Augen wieder.

Ich wachte im Kloster wieder auf, und eine Frau schaute mich an.

»Sie wären beinahe gestorben«, sagte sie »Ohne den Wärter vom Kloster wären Sie nicht mehr am Leben.«

Ich stand taumelnd auf, wußte nicht genau, was ich tat. Ich erinnerte mich bruchstückhaft an das, was am Vortage geschehen war, und ich wünschte, der Wärter wäre dort nicht vorbeigekommen.

Doch der richtige Augenblick für den Tod war vorüber. Ich würde weiterleben.

Die Frau nahm mich mit in die Küche und gab mir Kaffee, Kekse und Brot mit Olivenöl. Sie stellte keine Fragen und gab auch keine Erklärungen. Als ich fertig gegessen hatte, reichte sie mir meine Tasche.

»Sehen Sie nach, ob alles drin ist«, sagte sie.

»Sicher. Ich hatte sowieso nichts.«

»Sie haben Ihr Leben, mein Kind. Ein langes Leben. Geben Sie besser darauf acht.«

»Es gibt in der Nähe eine Stadt mit einer Kirche«, sagte ich, und mir war zum Weinen zumute. »Gestern, bevor ich hierherkam, bin ich in diese Kirche gegangen mit…«

Ich wußte nicht, wie ich es erklären sollte. »… mit einem Jugendfreund. Ich hatte schon genug von den vielen Kirchenbesuchen, doch die Glocken läuteten, und er sagte, es sei ein Zeichen, wir müßten hineingehen.«

Die Frau schenkte meine Tasse wieder voll, nahm sich auch ein wenig Kaffee und setzte sich, um meiner Geschichte zuzuhören.

»Wir traten in die Kirche«, fuhr ich fort. »Sie war leer, und drinnen war es dunkel. Ich versuchte, irgendein Zeichen zu entdecken, doch ich sah nur dieselben Altäre und dieselben Heiligenfiguren wie immer. Plötzlich hörten wir ein Geräusch auf der Empore, dort, wo die Orgel steht.

Es war eine Gruppe junger Männer mit Gitarren, die ihre Instrumente zu stimmen begannen. Wir setzten uns, um ein wenig Musik zu hören, bevor wir unsere Reise fortsetzten.

Kurz darauf kam ein Mann herein und setzte sich neben uns. Er war fröhlich und rief den jungen Männern zu, sie sollten einen Paso doble spielen.«

»Aber das ist doch Stierkampfmusik!« sagte die Frau. »Ich hoffe, sie haben es nicht getan.«

»Nein, das haben sie nicht. Doch sie lachten und spielten einen Flamenco. Mein Jugendfreund und ich hatten das Gefühl, der Himmel sei zu uns herabgestiegen. Die Kirche, die anheimelnde Dunkelheit, der Klang der Gitarren und die Fröhlichkeit des Mannes neben uns – dies alles war ein Wunder.

Ganz allmählich füllte sich die Kirche. Die jungen Männer spielten weiter Flamencos, und die Hereinkommenden lächelten, ließen sich von der Heiterkeit der Musiker anstecken.

Mein Freund fragte mich, ob ich an der Messe teilnehmen wollte, die gleich beginnen würde. Ich sagte nein – wir hatten eine lange Reise vor uns. Wir beschlossen hinauszugehen – doch vorher dankten wir Gott für diesen wunderbaren Augenblick.

Kaum waren wir am Portal angelangt, da merkten wir, daß viele Leute, wirklich viele Leute, vielleicht sogar alle Bewohner der kleinen Stadt, zur Kirche strömten. Ich dachte, dies sei wahrscheinlich die letzte rein katholische Ortschaft in Spanien.

Vielleicht, weil die Messen so fröhlich waren.

Als wir in den Wagen stiegen, sahen wir einen Menschenzug herankommen. Die Leute trugen einen Sarg. Jemand war gestorben, und die Messe sollte eine Totenmesse sein. Als der Zug am Kirchentor angelangt war, verstummten die Flamencos, und die Musiker stimmten ein Requiem an.«

»Möge Gott dieser Seele gnädig sein«, sagte die Frau, indem sie sich bekreuzigte.

»Möge er ihr gnädig sein«, sagte ich und bekreuzigte mich auch. »Daß wir in die Kirche eingetreten waren, hatte tatsächlich eine tiefere Bedeutung. Die nämlich, daß einen am Ende der Geschichte immer Traurigkeit erwartet.«

Die Frau sah mich an, ohne ein Wort zu sagen. Dann ging sie hinaus und kam kurz darauf mit einem Block Papier und einem Stift wieder.

»Gehen wir hinaus«, sagte sie.

Wir gingen zusammen hinaus. Es begann zu tagen.

»Atmen Sie tief ein«, bat sie mich. »Lassen Sie diesen neuen Morgen in Ihre Lungen und durch Ihren ganzen Körper strömen. Mir kommt es so vor, als hätten Sie sich gestern nicht zufällig verlaufen.«

Ich sagte nichts.

»Außerdem haben Sie weder die Geschichte, die Sie mir gerade erzählt haben, noch ihre Bedeutung richtig begriffen«, fuhr sie fort. »Sie haben nur den traurigen Schluß behalten und die heiteren Augenblicke vergessen, die Sie erlebt haben. Sie haben das Gefühl vergessen, das so war, als wären die Himmel herabgestiegen, und wie schön es war, all das mit ihrem…«

Sie hielt inne und lächelte.

»…Jugendfreund erlebt zu haben«, sagte sie und zwinkerte mir zu. »Jesus hat gesagt: Laßt die Toten die Toten begraben.

Denn Er weiß, daß es den Tod nicht gibt. Das Leben existiert bereits, bevor wir geboren werden, und es existiert weiter, wenn wir diese Welt verlassen.«

Meine Augen füllten sich mit Tränen.

»Dasselbe geschieht mit der Liebe«, fuhr sie fort. »Es gab sie vorher, und es wird sie immer weiter geben.«

»Es ist, als kennten Sie mein Leben«, sagte ich.

»Alle Liebesgeschichten haben etwas gemeinsam. Ich habe dies auch schon in meinem Leben durchgemacht. Doch daran denke ich nicht mehr.

Ich erinnere mich daran, daß die Liebe in der Gestalt eines anderen Mannes, in der Gestalt neuer Hoffnungen, neuer Träume wiederkam.«

Sie reichte mir das Papier und den Stift.

»Schreiben Sie alles auf, was Sie fühlen. Holen Sie es aus Ihrer Seele, vertrauen Sie es dem Papier an, und werfen Sie es dann fort. Die Legende besagt, daß der Rio Piedra so kalt ist, daß alles, was in ihn hineinfällt – die Blätter, die Insekten, die Federn der Vögel –, sich in Steine verwandelt. Wer weiß, vielleicht ist es ja eine gute Idee, das Leid in sein Wasser zu werfen.«

Ich nahm das Papier, sie küßte mich und sagte, ich könne, wenn ich wollte, zum Mittagessen wiederkommen.

»Vergessen Sie eines nicht«, rief sie mir nach. »Die Liebe bleibt. Nur die Männer ändern sich!«

Ich lachte, und sie winkte.

Ich sah lange auf den Fluß. Weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte.

Dann begann ich zu schreiben.

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