2.

Die Villa Borgnis, in der das Trauermahl ausgerichtet wurde, befand sich im Kurpark. Der Butler musste beim Anblick des Gebäudes unwillkürlich gähnen und führte diesen Umstand einerseits auf die kurze Nachtruhe, andererseits aber auch auf die Atmosphäre zurück, die das Kurhaus der Stadt Königstein ausstrahlte. Dem Anlass entsprechend, ewige Ruhe. Die Menschen, die sich hier zum sogenannten Reuessen versammelt hatten, wagten kaum zu sprechen. Sie flüsterten miteinander. Der Butler brach den Bann, indem er sich mit Lady Marbely in normaler Lautstärke unterhielt.

Die Lady, als engste Angehörige des Verstorbenen, saß an der Stirnseite der weiß gedeckten Tafel. An den Längsseiten nahmen die beiden Geschäftsführer Platz. Der düstere Hans Obermann mit seiner schönen Frau Angela. Ihnen gegenüber saß Alexander Henschel, der sich vergeblich bemühte, sein Lächeln zu dämpfen. Die restliche Trauergemeinde bestand zum Großteil aus Männern, die, wie der Butler vermutete, aus Jakob Aufhausers Firma stammten.

„Wir müssen herausfinden, wer das Essen organisiert hat“, wandte sich Lady Marbely an den an ihrer linken Seite positionierten Butler.

Dieser erhob sich und begab sich zu Angela Obermann, besprach sich mit ihr und kehrte an seinen Platz zurück. „Die Obermanns haben das gemacht.“

„Das muss ich regeln. Die Kosten werde ich übernehmen“, stellte Lady Marbely fest und begab sich, freundlich lächelnd, zu den Obermanns, bei denen sie so lange blieb, bis die Speisen aufgetragen wurden. Zum Reuessen wurde Tafelspitz mit Frankfurter Grüner Soße serviert. Lady Marbely fand den Geschmack der Soße interessant und erkundigte sich bei ihrem Butler, woraus diese bestand.

„Verschiedene Kräuter“, gab der Butler zur Antwort. „Zu dieser Zeit des Jahres aus Glashäusern stammend, Milady.“

„Und Sie als Mann wissen natürlich nicht, um welche Kräuter es sich handelt.“

„Um Ihre Frage so exakt wie möglich zu beantworten: Es ist mir bekannt, liegt aber für gewöhnlich nicht im Bereich meiner persönlichen Interessen. Der Umstand, dass Milady sich mit dieser Frage beschäftigt, ändert natürlich die Situation.“ Bei diesen Worten erhob sich der Butler kurz von dem gepolsterten Stuhl und deutete eine Verbeugung an.

„Übertreiben Sie nicht, James! Ich bin mir bei Ihnen nicht sicher, ob Sie mich nicht auslachen.“

„Das liegt mir fern, Milady.“

„Und die Kräuter in der Soße?“

„Schnittlauch, Petersilie, Sauerampfer, Borretsch, Kerbel, manchmal auch Dill. Die Pimpinelle nicht zu vergessen.“

„Die Pimpi… was?“

„Pimpinelle oder Kleiner Wiesenknopf, eine wild wachsende Pflanze.“

„Ich verstehe. Und das alles wird gedünstet und gemixt.“

„Wie Milady belieben.“

„Das heißt, ich irre mich in meiner Vermutung, die Zubereitung betreffend.“

„Milady irren nie.“

„Wie würden Sie die Grüne Soße bereiten, wenn ich Sie darum bäte, James?“

„Ich würde in diesem Fall die Kräuter fein hacken und mit saurer Sahne sowie mit Eigelb vermengen.“

„Und nicht kochen?“

„Es ist eine kalte Soße“, stellte der Butler fest und war froh, dass Hans Obermann das Gespräch unterbrach, indem er mit einer Gabel an ein Weinglas schlug, sich erhob und an den Verstorbenen erinnerte, zu dessen Ehren man sich hier versammelt hatte.

Obermann bedankte sich auch bei Lady Marbely für die Einladung zu diesem Essen, worauf diese, leicht verlegen, nickte. Er schloss mit den Worten: „Jakob Aufhauser, unser geschätzter Chef, lebte ausschließlich für den Beruf. Er opferte vieles in seinem Leben uns und unserem Betrieb. Angela und ich wollen ihm ein letztes Mal dafür danken.“

Mit dem Essen und dem Dornfelder, einem trockenen Weißwein aus Wachenheim in Rheinland-Pfalz, lockerte sich allmählich die Stimmung im Saal, und nach dem Dessert, das aus Espresso und Schokoladenmuffins auf Pfefferkirschen, gefüllt mit Mandelmilch-Kirscheis, bestand, wie den Menükarten zu entnehmen war, kamen die Gespräche in Fahrt.

Lady Marbely widmete sich besonders intensiv der Konversation mit Alexander Henschel, der fast unverschämt mit ihr flirtete. Ihre Wangen nahmen dabei einen leicht rosigen Schimmer an. Der Butler wiederum, der die Lady nicht aus den Augen ließ, fand sein Gespräch mit Frau Obermann sehr aufschlussreich. Die schöne Frau verriet ihm, dass Jakob Aufhauser praktisch bei ihnen gewohnt hatte.

„Ganz wenige Wochenenden verbrachte er hier, in seiner Villa, in Königstein“, erklärte sie. „Und da ist es auch passiert. Er war nie krank gewesen. Ich kann es mir nicht erklären. Wäre er bei uns gewesen, hätten wir ihn retten können.“

Der Butler, der wissen wollte, welche Art Beziehung zwischen Frau Aufhauser und dem Verstorbenen bestanden hatte, fragte wie beiläufig: „Die Leute von Pietät Bertram berichteten Lady Marbely von einer seltsamen Tätowierung Jakob Aufhausers, irgendwo im Rückenbereich. Leider hatten wir keine Chance mehr, dieser Frage nachzugehen.“

„Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Auch mein Mann nicht. Wir waren eng befreundet, respektierten aber die Grenzen des anderen. Nur so konnte es all die Jahre gut gehen.“

Die schöne Angela sprach entweder die Wahrheit, oder sie war nur vorsichtig. Der Butler nahm sich vor, dies möglichst rasch herauszufinden. Diese Gelegenheit ergab sich beim nächsten Termin, im Amtsgericht Königstein, Burgweg 9.

*

Als die Lady das Autofenster herunterlassen wollte, um die frische Frühlingsluft zu genießen, bat der Butler sie, dies besser zu unterlassen. Er werde die Klimaanlage entsprechend justieren.

„Sie haben Angst um mein Leben“, sagte die Lady geradeheraus.

„Sollte es jemanden geben, der nicht damit einverstanden ist, dass Sie das Vermögen Jakob Aufhausers erben, wird er noch vor der Testamentseröffnung zuschlagen. Und er hat es ja bereits zweimal getan.“

Und wie zum Beweis wurden die Worte des Butlers durch einen Knall unterbrochen. Eine Gewehrkugel schrammte das vordere rechte Seitenfenster entlang, an dem Lady Marbely saß.

„Dreimal!“, korrigierte sich der Butler trocken. „Der Wagen ist glücklicherweise schusssicher, Milady.“

„Ob ich die Erbschaft ablehnen sollte?“, rief die Lady.

Der Butler blieb so ruhig, als hätte lediglich ein Ast den Wagen gestreift. „Davon rate ich ab. Ihnen wird auf jede erdenkliche Weise Schutz geboten. Genau dazu bin ich bei Ihnen!“

„Aber Ihr Auto ist jetzt zerkratzt“, bedauerte die Lady.

„Es hat den Anschein.“

Milady bewahrte Contenance. „Was haben Sie beim Reuessen in Erfahrung bringen können, James?“

„Das Gespräch darüber, Milady, müssen wir leider bis nach der Testamentseröffnung verschieben. Die Zeit drängt.“

*

Im Amtsgericht Königstein hatten sich auch das Ehepaar Obermann sowie Aufhausers Rechtsanwalt Dr. Gundolf Siedler eingefunden. Der etwa Fünfzigjährige mit dem schon schütteren Haar wirkte nervös. Er musterte die Ankommenden durch die dicken Gläser seiner randlosen Brille, die er immer wieder zurechtrückte.

„Eine Überfunktion der Schilddrüse“, stellte Lady Marbely flüsternd fest. „Sehen Sie nur diese Glotzaugen!“

„Oder Stress, Milady. Angst. Der Mann hat etwas zu verbergen.“

„Darf ich mich vorstellen: Doktor Siedler. In meine Hände hat der Verstorbene die Vollstreckung seines Testaments gelegt, nach der Eröffnung des Dokumentes durch den Amtsrichter.“ Der Rechtsanwalt schüttelte Milady die Hand. Der Butler, der von ihm ignoriert wurde, betrachtete den nervösen Menschen, der elegant gekleidet war und an seiner Rechten einen Ehering trug. Die linke Hand schmückte ein silberner Ring mit einem schwarzen Schmuckstein.

Nach wenigen Minuten bat der Richter die Anwesenden in die Amtsstube, forderte sie auf, Platz zu nehmen und setzte sich selbst an einen ausladenden Schreibtisch. Der Reihe nach ließ er die Geladenen vortreten und überprüfte anhand einer Liste ihre Personalien. Dann war es so weit. Er griff nach einem Brieföffner und brach das Siegel über einem Schriftstück. Dabei fiel dem Butler auf, dass auch der Richter einen schwarzen Ring trug. Und noch jemand hatte bei der Verabschiedung einen solchen Ring getragen. Der Butler fand es ärgerlich, dass er zu wenig darauf geachtet hatte und nun nicht mehr wusste, um wen es sich gehandelt hatte.

Der Richter räusperte sich, dann verlas er Jakob Aufhausers Letzten Willen. Er stockte dabei mehrere Male, weil er offenbar Probleme mit der Handschrift des Verstorbenen hatte. „Ich, Jakob Aufhauser, vererbe die Villa Andreae meiner Cousine Amanda Marbely. Ebenso gehen alle meine Firmen, laut beiliegender Liste, an Lady Marbely, sowie mein Barvermögen von zweiunddreißig Millionen Euro, das sich in Form von Sparbüchern, Aktien und Bargeld in meinem Depot in der Deutschen Bank in Königstein befindet. Meiner Cousine vertraue ich das künftige Geschick meiner Firmen und damit der darin Beschäftigten an, weil sie zu den wenigen gehört, die all das optimal verwalten können. Die Firmen sollen, nach nötiger Klärung und Sanierung, weiter betrieben werden. In meinem Interesse, im Interesse der Arbeiter, aber auch im wirtschaftlichen Interesse der Region. Weiterhin: Das Ehepaar Obermann, dem ich zu großem Dank verpflichtet bin, erbt ein Barvermögen von fünfhunderttausend Euro, das ihnen hoffentlich hilft, sich von den mühevollen Aufgaben rund um die Firma zurückzuziehen.“ Der Amtsrichter legte eine kurze Pause ein. „Dann folgen Datum und Unterschrift. Eine Beilage, wie im Testament angeführt, liegt nicht vor. Die Anwesenden können Einsicht in das Dokument nehmen und es kopieren lassen. Und Sie, Lady Marbely, Frau und Herr Obermann, müssen schriftlich bestätigen, dass Sie die Erbschaft antreten, beziehungsweise ablehnen. Die nächsten Schritte sind dem Testamentsvollstrecker, Rechtsanwalt Gundolf Siedler, vorbehalten, sofern er diesen Auftrag annimmt.“

„Ich erkläre mich dazu bereit“, sagte der Mann feierlich und unterschrieb ein Dokument, das ihm der Richter vorlegte. Lady Marbely und die Obermanns bestätigten ebenfalls schriftlich, dass sie willens waren, die Erbschaft anzutreten.

„Die Erben mögen Kontakt mit dem Vollstrecker aufnehmen. Er wird Ihnen alles Nötige mitteilen. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen.“

Dr. Siedler schlug Lady Marbely und den Obermanns vor, ihm in seine Rechtsanwaltskanzlei zu folgen. „Das schaffen wir zu Fuß. Die Parkplatzsituation ist hier leider etwas problematisch“, erklärte er.

Der Butler jedoch bestand darauf, Lady Marbely zu fahren. Die hakte sich bei ihm unter. „Ich weiß genau, warum Sie den Wagen nehmen wollten. Langsam durchschaue ich Sie, James.“

„Sehr wohl, Milady.“

„Sie wollen die Gelegenheit nutzen, mir mitzuteilen, was ich den Rechtsanwalt fragen soll.“

„Das ist ein guter Vorschlag, Milady.“ Der Butler nickte, hatte jedoch vorrangig die Sicherheit der Lady im Sinn.

„Den wir gleich in die Tat umsetzen werden, James. Ich werde also fragen, wie das im Testament erwähnte Beiblatt verschwinden konnte.“

„Mein Kompliment, Milady, das ist tatsächlich der Kern des Problems, auf den wir, wenn Milady gestatten, nur auf Umwegen zusteuern sollten. Ich schlage vor, Sie fragen nach den Umständen, unter denen das Testament zum Vollstrecker gelangt ist, und wer es gefunden hat.“

„Sie verdächtigen Doktor Siedler?“

„Ich denke, wir sollten weiterhin sehr vorsichtig sein.“

*

Die Anwaltskanzlei lag an der Hauptstraße im ersten Geschoss eines Hauses aus den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, über einem Blumengeschäft. Lady Marbely, der Butler, Angela und Hans Obermann nahmen an einem runden Tisch Platz, auf dem die Sekretärin Kaffee, alkoholfreie Getränke und Kuchenstücke vorbereitet hatte.

„Es wird einen Augenblick dauern, bevor meine Mitarbeiter alle Schriftstücke erstellt haben, die es Ihnen ermöglichen, die Erbschaft anzutreten“, erklärte der nervöse Rechtsanwalt.

„Wer hat das Testament gefunden?“, fragte Lady Marbely. „Wie kam es in Ihre Hände?“

„Es wurde mir nach dem Tod des Erblassers von Frau Obermann überbracht, ich reichte es ungeöffnet an das Amtsgericht weiter.“

„Und das im Testament erwähnte Beiblatt, das fehlt?“, fragte Lady Marbely weiter.

„Offenbar war es nicht im Kuvert.“

Der Anwalt machte eine resignierende Handbewegung.

Lady Marbely schien fürs Erste zufrieden und bat anschließend das Ehepaar Obermann zu einem Gespräch in die Konditorei Kreiner, in unmittelbarer Nähe zur Anwaltskanzlei, ebenfalls in der Fußgängerzone der Kurstadt gelegen.

„Wie ein Wiener Kaffeehaus“, sagte Lady Marbely bewundernd, als sie das Lokal mit seinen dunklen Holzvertäfelungen betraten. Die Polsterungen der Sitzmöbel und die Vorhänge waren aus rotem Samt gefertigt. Nur eine Wand sowie der Plafond des Saales waren weiß gestrichen und verliehen durch ihre Helligkeit dem Raum eine angenehm leichte Atmosphäre.

Lady Marbely wollte eine Taunus-Apfel-Torte probieren, der Butler wählte Mohnstreuselkuchen. Frau Obermann bestellte Zitronensorbet, ihr Mann nahm Würstchen in Blätterteig. Dazu tranken sie Kaffee in allen Variationen von Espresso über Milchkaffee bis zum rumhaltigen Pharisäer.

„Mir ist es ein Rätsel“, begann Lady Marbely nachdenklich, „warum Jakob mich zur Haupterbin bestimmt hat. Ich hoffe, das kränkt Sie nicht“, fügte sie, an das Ehepaar Obermann gewandt, hinzu.

„Wir sind mehr als zufrieden mit dem, was wir bekommen. Das war sehr großzügig von Jakob“, erwiderte Angela Obermann.

Nun meldete sich auch ihr Mann zu Wort. „Der Grund, warum Jakob die Firma, sein Schloss hier in Königstein und sein Vermögen Ihnen vermacht, liegt in seinem Verantwortungsgefühl den Arbeitern und dem Siegerland gegenüber. Würde der Betrieb in falsche Hände geraten, wäre das fatal für die Region. Jakob hoffte, wie er im Testament schreibt, dass Sie aus Ihrer Erfahrung heraus fähig wären, die schwierige Erbschaft anzutreten.“

„Schwierig, Herr Obermann?“

„Sagte ich schwierig? Nein, das ist vielleicht das falsche Wort. Ich meinte, dass es sich als heikel …“

Seine Frau unterbrach ihn. „Jakob Aufhauser war Tag und Nacht für den Betrieb da. Er hatte kein Privatleben mehr, war sehr einsam und suchte bei uns Anschluss, den wir ihm gerne gewährten. Er war für uns eine Bereicherung.“

„Er wohnte praktisch bei uns“, ergänzte ihr Mann.

„Seit wann?“, fragte Lady Marbely.

„Seit sieben, acht Jahren. Nur den Urlaub und manche Wochenenden verbrachte er weiterhin in seinem Schloss hier in Königstein.“

Der Butler betrachtete die Obermanns genau. Angela Obermann war hübsch und sehr gepflegt. Ihr schmales Gesicht ließ sie jedoch ehrgeizig erscheinen. Ihr düster dreinblickender Mann hingegen, dem die Narbe im Gesicht einen beinahe bösen Ausdruck verlieh, wirkte unsicher und verlegen. Er verbarg eindeutig etwas vor Lady Marbely und möglicherweise auch vor seiner Frau.

Der Mann trug keinen schwarzen Ring. Auch das fand der Butler bemerkenswert.

*

„Wir sollten noch Orangen besorgen, bevor die Läden schließen“, bemerkte Lady Marbely auf der Rückfahrt nach Siegen.

„Milady haben Appetit auf Orangen?“, fragte der Butler.

„Man kann keinen Krankenbesuch machen, ohne Orangen mitzubringen.“

„Selbstverständlich. Wie konnte ich das nur vergessen!“, gab sich der Butler zerknirscht.

„Übertreiben Sie nicht, James. Ich weiß, dass sie mich ziemlich schrullig finden und …“

„Ihr Verhör der Obermanns war erste detektivische Klasse und kein bisschen schrullig.“

„Sie ahnen gar nicht, wie mich Ihre Bemerkung freut, James. Sie müssen wissen, dass meine heimliche Leidenschaft dem Lösen von Rätseln gehört, besonders wenn es sich um Verbrechen oder gar Morde handelt.“

„Milady haben in dieser Hinsicht schon Erfahrungen gesammelt?“, erkundigte sich der Butler.

„In der Welt der Finanzen, in der man sich notgedrungenerweise bewegt, wenn man einigen Firmen vorsteht, gibt es mehr Haie, als man annehmen sollte“, antwortete die Lady. „Soll ich Ihnen einen Beweis meiner detektivischen Tauglichkeit liefern, James?“

„Den haben Sie bereits mehr als erbracht, Milady. Dennoch muss ich gestehen, macht mich Ihre Ankündigung so neugierig, dass ich gerne darum bitte.“

„Um den Beweis?“

„Um eine weitere Beobachtung Ihrerseits.“

„Gut. Drei Männer tragen gleiche Ringe.“

„Ein Umstand, der auch mir nicht entgangen ist“, bemerkte der Butler. „Zwei davon haben mit meiner Erbschaft zu tun.“ „Der Richter und der Anwalt.“ „Und beim dritten wurde ich fündig.“ „Inwiefern, Milady?“ „Sie haben doch sicher bemerkt, James, wie intensiv ich mich dem blonden Herrn Henschel gewidmet habe.“

In diesem Moment wurde dem Butler klar, dass Aufhausers Geschäftsführer den dritten schwarzen Ring getragen hatte.

„Beim innigen Händedruck“, fuhr Lady Marbely fort, „konnte ich den Ring eingehender betrachten. In den schwarzen Stein war das Zeichen für Unendlichkeit eingelassen. Wenn ich mich richtig erinnere, in zweifacher Ausführung.“

„Zwei liegende Achten übereinander?“

„So habe ich das wahrgenommen.“

„Ich bewundere Ihren Scharfblick, Milady.“

„Ich trage nicht umsonst Multifokallinsen.“

„Die Ihren Augen jene einzigartige Farbe verleihen, die so sehr an Gletscherseen erinnert.“ „Ich muss Sie zurechtweisen, James. Derartige Schmeicheleien haben zu unterbleiben, wenn sie auch, zugegebenermaßen, Schamesröte auf die Wangen einer alten Frau … äh …“

„Zaubern?“

„Schluss jetzt, James. Die Linsen verleihen meinen naturblauen Augen Schärfe, sonst nichts.“

„Natürlich. Milady mögen mir meine Unverschämtheit verzeihen. Weiterhin muss ich dringend telefonieren. Wäre es möglich, dass Sie die Orangen für den Chauffeur allein besorgen?“

„Ich werde ganz gewöhnliche Apfelsinen kaufen. Blutorangen könnten unter den gegebenen Umständen die angeschlagene Psyche meines Chauffeurs beleidigen. Wie denken Sie darüber, James?“

„Ich teile wie immer Ihre geschätzte Meinung, Milady.“

Kaum war Lady Marbely im Laden verschwunden, setzte der Butler sein abhörsicheres Handy in Betrieb, um Kontakt zu Mister Prince aufzunehmen. Mit den Worten: „Zwei liegende Achten, knapp übereinander“, beendete der Butler das Gespräch, gerade als Lady Marbely mit einer Tüte Orangen auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

Sie hatte die letzten Worte des Telefonats mitbekommen. „Ich liebe hintergründige Männer, doch möchte ich nicht verhehlen, dass mich die Neugier quält. Sie wurden mir vom MI6 empfohlen, mehr weiß ich nicht über Sie.“

„Viel mehr ist auch nicht zu sagen“, wehrte der Butler behutsam ab.

„Aber Sie sind doch kein Mitglied des Secret Intelligence Service.“

„Das kann ich bestätigen.“

„Aber?“

„Ein leichtes Umgruppieren der Buchstaben löst das Rätsel.“

„SIS. Secret Intelligence Service könnte zu ISS oder SSI werden“, überlegte Lady Marbely und spitzte dabei die Lippen.

„Die zweite Variante trifft zu. Special Service International. Eine Gruppierung mit zahlreichen Verbindungen, die rasch und effizient handeln kann.“

„Mehr verraten Sie mir nicht?“

„Das wäre zum derzeitigen Stand unserer Zusammenarbeit nicht zweckmäßig.“

„Und es macht alles nur noch aufregender, James. Wunderbar!“

*

Mister Prince trank seinen Tee, wie er ihn am liebsten mochte: schwarz, ohne Milch, ohne Zucker, mild-aromatischen China Golden Pi Lo Chun. Nach einer Weile griff er zum Telefon. „Prince hier. Ich brauche deine Hilfe, Professor!“

„Das hör ich gern“, antwortete der Angerufene. „Soll ich zu dir kommen, oder willst du dich herbemühen?“

„Ich suche dich auf, wir benötigen vermutlich die Hilfe deiner schlauen Bücher.“

„Auf welches Thema soll ich mich vorbereiten?“

„Lemniskaten“, lautete die Antwort.

Wenig später ließ sich Mister Prince im Rolls-Royce Phantom in die Euston Road fahren. Er bedauerte, dass die National Library vom British Museum in diese kulturlose Backsteinscheune in St Pancras verbannt worden war.

Professor Ronald Hameed sah das anders. Er war der Ansicht, dass sich auch Bibliotheken der modernen Zeit anpassen mussten, mit einem Business-und IP-Center, einem Tonarchiv und digitalisiertem Textmaterial, das weltweit online abrufbar war. Professor Hameeds Office war in einem voll klimatisierten fensterlosen Raum untergebracht. Er begrüßte seinen seltenen Gast mit den Worten: „Du bist doch nicht selbst gefahren?“

„In der Hoffnung, dass die Beantwortung dieser Frage dazu führt, mir deinen vorzüglichen Sherry anzubieten, verneine ich“, erwiderte Mister Prince.

Professor Hameed entkorkte einen dreißig Jahre alten Garvey, schenkte ein und prostete seinem Gast zu. „Die Lemniskate führt dich also zu mir.“

„Zwei Zeichen für Unendlichkeit, in geringem Abstand übereinander. So hat es unser Mann in Deutschland beschrieben.“

„Das ist nichts Erfreuliches.“ Der Professor verzog das Gesicht.

„So zart besaitet, neuerdings, Professor?“

„Ein Fall, mit dem ihr zu tun habt?“, erkundigte sich Hameed.

„Ein Toter in Deutschland …“

„In Deutschland sterben wie überall viele Menschen. Ich muss dich daran erinnern, dass wir alle irgendwann abtreten müssen. Was ist das Besondere daran?“

„Ein Verwandter der Lady.“

„Du meinst doch nicht …“

„Doch. Ich meine Amanda Marbely und das bereitet mir Sorgen.“

„Ich teile diese Einschätzung voll und ganz. Noch ein Glas?“

„Das löst das Problem nicht.“

„Aber es erleichtert es womöglich.“

Eine gute Stunde später, auf der Rückfahrt in die Residenz, nahm Mister Prince Kontakt zu Tom Rother vom BND auf und erklärte ihm den Fall, an dem einer seiner Leute arbeitete.

„Wir werden ihm zur Seite stehen“, gab Rother zur Antwort.

„Er wird es als Zeichen mangelnden Vertrauens auffassen.“

„Also verdeckt.“

„Wie es sich für einen Geheimdienst gehört“, bestätigte Mister Prince.

*

Lady Marbelys Chauffeur konnte keine Orangen essen. Sein gebrochener Unterkiefer war mit Schrauben fixiert worden. Die Nahrungsaufnahme beschränkte sich auf Flüssiges und Püriertes.

„Sie sollten die Orangen pressen, James“, schlug die Lady vor. „Die Vitamine werden ihm guttun.“ Dann wandte sie sich an den bleich wirkenden Mann und übersetzte: „James is going to prepare fresh orange juice for you, dearest.“

Der Butler verließ das Zweibettzimmer auf der Unfallchirurgischen Abteilung des Kreisklinikums und begab sich in einen nahe gelegenen Markt, in dem er eine Flasche Orangensaft, Plastikbecher und Trinkhalm sowie hochprozentigen Rum erwarb. Die Orangen verschenkte er an ein Rentnerehepaar, die den vornehm gekleideten Butler dabei verdutzt, aber dankbar anlächelten. Noch vor dem Krankenzimmer vermischte er Orangensaft und Rum.

„Thank you so much“, nuschelte der Chauffeur nach den ersten Schlucken aus dem weißen Becher mühsam. „I think, we’ll be friends.“

Lady Marbely musterte den Butler misstrauisch, doch dieser wandte sich direkt an den Chauffeur und fragte ihn, wie er den Ablauf des Unfalls erlebt hatte. Der Mann erklärte auf Englisch, dass er einen Umweg über das landschaftlich schöne Rothaargebirge gemacht hatte und dass es dort passiert war. Dabei entschuldigte er sich mehrmals bei Lady Marbely für die Beschädigung des Maybachs.

„Es war ohnehin an der Zeit, auf ein neueres Modell umzusteigen“, meinte die Lady.

„Wo könnten die Radmuttern gelockert worden sein?“, erkundigte sich der Butler bei dem Chauffeur, der zufrieden am Orangensaft nippte.

„Ich legte eine längere Rast in Schmallenberg ein, wo ich ein Café mit dem bemerkenswerten Namen Knasperhouse aufsuchte.“

„Das heißt Knusperhaus“, korrigierte ihn Lady Marbely. „Sie sollten endlich etwas Deutsch lernen, mein Bester.“

„Sehr wohl, Milady“, erwiderte der Chauffeur, selig vor sich hin lächelnd. „Und da muss es passiert sein.“

„Und die Attentäter meinten, Lady Marbely befinde sich im Wagen?“, erkundigte sich der Butler.

„Der Eindruck mag wohl entstanden sein. Ich saß am Tisch mit einer Einheimischen etwa des gleichen Alters wie …“ Der Chauffeur verbesserte sich sofort. „Mit einer eleganten Dame, deren Jugendlichkeit …“

Als Lady Marbely mit dem Butler das Kreisklinikum verließ, fragte sie: „Was haben Sie dem armen Mann zu trinken gegeben?“

„Vitamine und ein Tonikum.“

„Das dem Geruch nach Rum war. Sie sind ein ganz und gar durchtriebener Mensch, James. Ich traue Ihnen keinen Schritt über den Weg.“

„Sehr wohl, Milady. Ich hoffe, Sie meinen das als Kompliment, ansonsten müsste ich mich sehr um Besserung bemühen.“

„Schon gut, James. Was machen wir jetzt?“

„Wir begeben uns ins Hotel und zur Ruhe.“

„Was sind Sie doch für ein alter Mann! Wir sollten noch eine Fahrt im neuen Maybach unternehmen.“

„Wie Milady wünschen. Aber entschuldigen Sie, ich muss noch einmal rasch zurück ins Spital. Dummerweise habe ich meine Melone im Krankenzimmer liegen gelassen.“

„Wenn das nicht wieder einer Ihrer Tricks ist“, murmelte die Lady, aber da eilte der Butler schon zum Haupteingang.

Der Chauffeur lächelte dem Butler freundlich entgegen, als er das Zimmer betrat. „I thank you so much. You’ve helped me a lot.“

Der Butler setzte die Konversation ebenfalls auf Englisch fort: „Gern geschehen. Aber Ihre Geschichte stimmt nicht ganz.“

„Sie werden der Lady berichten?“

„Das habe ich nicht vor. Also, wie war es wirklich? Ab wann ist Ihnen ein Wagen gefolgt?“

„Ich übernachtete auf halber Strecke in Leuven, in einem reizenden kleinen Hotel. An der Bar kam ich ins Gespräch mit einer charmanten Dame, der ich erzählte, dass ich nach Siegen in Deutschland unterwegs war. Die junge Frau erzählte von ihrer Mutter, die im Rothaargebirge eine Schwester habe und dass sie diese gerne wieder einmal besuchen wolle. Und eine Fahrt in einem Maybach wäre für sie wohl ein Erlebnis, das sie nie vergessen würde. Also verletzte ich meine Dienstpflicht und nahm die nette alte Dame mit nach Schmallenberg, wo ich eine längere Rast einlegte.“

„Und Sie wurden nicht verfolgt?“

„Ab Aachen etwa bemerkte ich einen schwarzen Mercedes. Aber das kann Zufall gewesen sein.“

„Die Nummer haben Sie nicht notiert?“

„Ich sah keinen Grund dafür.“

„Dann danke ich Ihnen. Jetzt verstehe ich die Sache schon ein Stück besser.“

„And you won’t tell Lady Marbely, that I …“

„My lips are sealed.“

*

„Wohin soll die Fahrt gehen, Milady?“, erkundigte sich der Butler, als er mit Lady Marbely in dem neuen Maybach saß.

Milady schien bester Laune zu sein. „Sehen Sie mich an, dann wissen Sie es, James.“ Nach einigem Zögern fügte die Lady noch hinzu: „Wenn Sie mich in die Altstadt bringen, sind Sie allerdings gefeuert.“

„Wären Milady mit Engelshäuschen oder Lindenberg zufrieden?“

„Klingt nicht schlecht. Ich dachte aber an etwas, das mit meinem Aussehen zu tun hat. Ich bin gespannt, ob Sie das Rätsel lösen können.“

„Milady wollen offenbar nach Freudenberg“, vermutete der Butler und verschwieg, dass es in Freudenberg einen Ortsteil namens Alte Heide gab.

„Wenn Sie meinen“, gab sich Lady Marbely enttäuscht. „Ich hätte Ihnen mehr detektivisches Gespür zugetraut.“

„Wie konnte ich nur so absolut blind sein! Ich bedaure meinen Irrtum, Milady. Wir werden durch das Rothaargebirge fahren.“

„Warum nicht gleich, James?“

Der Butler lächelte und machte sich daran, seinen Pflichten nachzukommen.

Der dunkelblaue Maybach Guard war mit speziellen Sicherheitsmerkmalen ausgestattet. Die gepanzerte Karosserie schützte die Insassen sogar vor großkalibrigen Revolvergeschossen. Die Highend-Luxuslimousine erfüllte alle Bedingungen des sogenannten Hochschutzes, die in der europäischen Widerstandsklasse B4 festgelegt waren. Dies bestätigte das staatliche Beschussamt in Ulm mit einem amtlichen Zertifikat. Der Wagen war zusätzlich mit einem geschützten Tank, einer Notlaufbereifung und einem Alarmsystem ausgestattet, das alle Türen verriegelte und über eine Gegensprechanlage die Kommunikation nach außen gewährleistete. Die Farbe der Lederpolsterung im Inneren wurde laut Prospekt des Maybach Centers of Excellence in Sindelfingen als Vesuvius Black beschrieben. Im Kühlschrank im hinteren Teil des Fahrzeuges befand sich eine Champagnerflasche, eine kleine Aufmerksamkeit des Herstellers.

Der Butler entfernte die Radkappen, um den sicheren Sitz der Radmuttern zu überprüfen, dann gab er grünes Licht. Die erste Fahrt mit dem neuen Wagen konnte beginnen. Die 612 PS machten sich bemerkbar. Der Maybach glitt durch die einsetzende Dämmerung Richtung Nordosten. Bei Netphen wurden die Straßen enger und führten bergauf durch waldreiches Gebiet. An einer Lichtung, von der aus man auf die Lichter der Stadt blicken konnte, hielt der Butler und öffnete die Champagnerflasche. Lady Marbely, sichtlich zufrieden, lud ihn ein, ebenfalls ein Glas zu trinken. „Man fühlt sich so allein, wenn man niemandem zuprosten kann.“

Der Butler deutete einen Schluck nur an. Er war sich der Verantwortung bewusst, die er als Fahrer hatte.

Lady Marbely sprach einen Toast aus. „Ich trinke auf unseren Sieg, den wir anstreben … hier im Siegerland.“ Dann zertrümmerte sie zum Erstaunen des Butlers die noch halb volle Champagnerflasche an einer der rechten Seitentüren. „Wozu kauft man für teures Geld einen gepanzerten Wagen?“ Sie lachte vergnügt. „Mich quält eine Frage, James. Warum heißt das Siegerland Siegerland? Der Name hat doch hoffentlich nichts mit der Zeit des Nationalsozialismus zu tun. Sie wissen schon: Sieg Heil und so.“

„Da kann ich Sie beruhigen, Milady. Die Stadt Siegen und das Siegerland leiten ihren Namen vom Fluss Sieg her, der hier in der Nähe entspringt.“

„Wo? Das interessiert mich jetzt.“

„Dazu müssten wir ein Stück weit wandern, Milady.“

„Ich bin bereit.“

Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie die ummauerte Quelle der Sieg. Lady Marbely trank von dem Wasser, das aus dem Berg herausrann. „Dennoch muss ich weiter fragen, James“, sagte die Lady dann.

„Allerdings kann ich nicht garantieren, immer die Antwort zu wissen.“

„Ich versuche es. Warum heißt die Sieg Sieg?“

„Ein Wort keltischen Ursprungs, für den schnellen Fluss, heißt es.“

„Ich verstehe. Ein erhebendes Gefühl, am Ursprung eines Flusses zu stehen! Ich genieße das. Es gibt mir Kraft und Zuversicht. Und das habe ich Ihnen zu verdanken, James. Ich danke Ihnen dafür.“

„Sehr gerne! Ich tue, was ich kann, Milady.“

„Sehen Sie, das haben wir gemeinsam. Wir gehen den Dingen auf den Grund. Also, auf unseren Sieg im Siegerland!“

„Wir setzen auf Sieg“, erwiderte der Butler ernst. „Und wir werden ihn erringen, wenn es uns gelingt, den Dingen auf den Grund zu gehen.“


Загрузка...