7.

Stefan stand vor dem Haus, in dem seine Stiefmutter Angela Obermann wohnte. Es war nicht das Haus seiner Kindheit, auch nicht seiner Jugend. Noch vor seiner Internatszeit hatten alle bei den Eltern seines Vaters gewohnt, in einem Haus an der Sieg, das er als hell und sonnenbestrahlt in Erinnerung hatte. Großvater Heinrich war ein ähnlich ernster Mann wie sein Vater gewesen, doch die Großmutter war lebensfroh, etwas rundlich und immer voll guter Laune. Ziemlich ähnlich der englischen Lady, die ihm vom ersten Moment an sympathisch gewesen war. Doch was war nur mit ihr geschehen? Sie meldete sich nicht mehr!

Alles um ihn herum begann chaotisch zu werden. Nichts ergab mehr einen Sinn. Nur Ruth schien einen klaren Kopf zu behalten und wollte offenbar, dass er selbst die Spur aufnahm, da er nicht glauben wollte, was sie vermutete. Und er mochte es immer noch nicht wahrhaben. Angela war zwar immer sehr distanziert zu ihm gewesen, aber keineswegs feindselig. Sie hatte niemals Aggressionen gezeigt, weder ihm noch seinem Vater gegenüber. Und Jakob Aufhauser hätte ihr kein Geld hinterlassen, wenn er einen bösen Verdacht gehabt hätte. Stefan wollte mit ihr reden, in aller Ruhe. Er musste herausfinden, wie Angela die Lage sah. Ohne Beschuldigungen und ohne Ruths Verdacht zu erwähnen. Andererseits war seine Freundin eine erfahrene Menschenkennerin …

Einerseits, andererseits …

Stefan Obermann gab sich einen Ruck und läutete an der Tür zum Haus seiner Eltern, obwohl er einen Schlüssel besaß. Noch gab es das Mansardenzimmer, das er ab seinem sechzehnten Lebensjahr in den Schulferien bewohnt hatte.

Als niemand sich meldete, schloss er auf und stand im Flur. Er fühlte sich unbehaglich. Eine schwere Wolke schien über seinem Kopf … nein, in seinem Kopf zu hängen. Und diese Wolke drückte ihn nieder. Er konnte kaum aufrecht gehen, musste sich an den Seitenwänden abstützen. Er wankte, sah kaum etwas. Die Gegenstände im Haus veränderten sich, wurden unscharf, dann wieder leuchteten sie so grell, dass es schmerzte. Der sirenenartige Ton in seinen Ohren wurde unerträglich. Er wollte sich schützen, indem er beide Hände auf die Ohren legte. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Sofort verspürte er Erleichterung. Auf dem Boden liegend schienen die Turbulenzen in seinem Kopf wie weggeblasen, auch das Kreischen verebbte. Er konnte durchatmen, rollte sich zusammen und schlief. Bis er die Stimmen von Männern hörte. Kräftige, laute Stimmen. Jemand hatte ihn an den Schultern gepackt und schüttelte ihn.

„Er muss vor der Tat Drogen genommen haben“, sagte jemand.

Drogen? Vor welcher Tat?, überlegte Stefan, dann bat er um ein Glas Wasser.

„Warte, bis der Arzt kommt“, sagte ein Mann. Es war ein Polizist.

Irgendwann kontrollierte jemand seine Atmung, den Herzschlag und den Puls. Der Mann leuchtete ihm mit einer grellen Lampe in die Augen und in den Mund, dann entblößte er seinen linken Arm und entnahm ihm eine Blutprobe. Stefan versuchte aufzustehen. Er schwitzte, keuchte vor Anstrengung.

„Sitzen bleiben! Lehnen Sie sich an die Wand!“ Die Worte des Arztes waren streng.

„Was ist passiert? Warum sind Sie hier?“, fragte Stefan Obermann.

„Wir stellen die Fragen! Also, warum sind Sie hier?“

„Ich … ich gehöre hierher. Meine Eltern … Angela wohnt hier.“

„Warum haben Sie sie erschossen?“, fragte der Polizist.

„Erschossen? Ich? Warum sollte ich das tun?“

„Das ist die Frage.“

„Angela ist tot?“ Stefan wollte schreien, doch er hörte sich nur krächzen.

„Die Frau wurde erschossen. Vermutlich mit Ihrer Waffe. Wir wurden gewarnt. Anonym. Jemand wusste, dass Sie die Frau töten wollten, vermutlich, um an ihre Erbschaft heranzukommen. Leider kamen wir zu spät. Und hätten Sie die Drogen nicht genommen, wäre Ihnen die Flucht gelungen.“

„Ich habe … noch nie in meinem Leben … irgendwelche Drogen …“

„Sie können weder stehen noch gehen.“

„Lassen Sie mich nachdenken“, bat Stefan weinerlich. „Ich wollte mit Angela … mit meiner Stiefmutter reden, sie um eine Erklärung bitten.“

„Warum hatten Sie die Pistole bei sich?“

„Ich … kann nicht schießen.“

„Es wäre von Nutzen, wenn Sie die Fragen beantworten, die ich Ihnen stelle.“

„Ich muss nachdenken. Ich bin völlig verwirrt …“ Stefan Obermann verstummte. Er schloss seine Augen, knetete die Finger und murmelte vor sich hin.

Der Arzt spritzte ihm ein Beruhigungsmittel. „Schockzustand. Vermutlich durch die Droge, die er eingenommen hat. Ich tippe auf LSD, gemischt mit irgendetwas. Ein Verhör wird erst möglich, wenn die Wirkung der Substanzen nachlässt.“

„Die Situation ist an sich klar“, stellte der Polizeibeamte sachlich fest.

*

„Das Testament wird akzeptiert, Frau Marbely“, sagte der Führer und entblößte dabei seine Zähne. „Und damit Sie erkennen, welchem Zweck Ihr Vermögen dient, lade ich Sie zu einer Sitzung des Bundes 88 ein. Wir bereiten uns auf eine verantwortungsvolle Übernahme in diesem abgewirtschafteten Land vor.“ Alexander Henschel rollte die R-Laute wie sein Vorbild aus vergangenen Tagen. Nur war es Lady Marbely nicht ganz klar, ob er Adolf Hitler imitierte oder nur falsch in den ausgeprägten Siegener Dialekt verfallen war. Doch vor ihr stand kein aufrechter Siegerländer, sondern nur ein jämmerlicher Mensch.

„Folgen Sie mir!“, forderte Henschel Milady auf und schritt voraus durch einen dunklen Gang. „Sie dürfen zur Feier des Tages mit uns tafeln.“

„Eine Henkersmahlzeit?“, seufzte Lady Marbely.

„Sie werden nicht gehenkt.“

Während Milady seufzend Henschel auf der engen Steintreppe nach oben folgte, verstärkte sich ihr Verdacht, dass der sogenannte Führer in Wahrheit von jemand anderem geführt wurde. Der Mann schien selbst gar nicht in der Lage, Pläne zu entwickeln und diese konsequent umzusetzen.

„Von der Loge aus, die wir nun betreten, sehen Sie in unsere Festhalle, unser Walhall, das sie als Frau natürlich nicht betreten dürfen“, verkündete Henschel stolz, als er eine weiße Holztür aufschloss.

In dem dahinterliegenden kleinen Raum stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Durch eine Glasscheibe konnte die Lady in einen Saal blicken, in dem an drei Reihen von Holztischen schätzungsweise fünfzig Männer bei Schweinebraten und Bier saßen. Fast alle rauchten. Insgesamt wirkte die Versammlung auf Lady Marbely eher wie eine Veranstaltung in einer Londoner Bingo-Halle, in der sich in ihren Jugendjahren Leute aus der Unterschicht zu harmlosen Vergnügungen eingefunden hatten, als eine politische Versammlung. Doch man durfte diese Leute in ihrer scheinbaren Harmlosigkeit nicht unterschätzen. Eine Reihe von zum Teil grausamen Morden ging auf ihr Konto. Lady Marbely fröstelte, als ihr in diesem Moment die aufgespießte Leiche des Amtsrichters im Keller von Schloss Andreae einfiel. An der gegenüberliegenden Schmalseite des Festsaales stand eine Tribüne mit einem Rednerpult, über der ein Transparent mit der Zahl 88 befestigt war. Schwarze Ziffern in weißem Kreis, rot umrandet.

„Ich muss mich jetzt auf meine Rede konzentrieren und Sie eine Weile allein lassen. Sie haben zu essen und zu trinken. Und wenn Sie sonst etwas brauchen, drücken Sie diesen Knopf. Unser Personal wird sich um Sie kümmern.“

Lady Marbely nickte stumm und wartete, bis er sich entfernt hatte, dann untersuchte sie den schmalen Raum und wurde rasch fündig. Dort, wo die rot tapezierte Zimmerdecke in die Hinterwand überging, war ein lupenförmiger Gegenstand angebracht. Offenbar eine Webcam, die sie wohl überwachen sollte. Webcam, dachte Lady Marbely amüsiert, war ein so undeutsches Wort, dass der Bund 88 mit Sicherheit eine andere Bezeichnung dafür hatte. Netzauge, vielleicht. Und das Internet, wie mochten sie dieses nennen? Weltnetz? Und E-Mail war vermutlich die Computerpost. Obwohl Computer auch kein deutsches Wort war …

Da hatten Henschels Leute noch viel Arbeit vor sich, wenn sie alle englischen Ausdrücke aus ihrem Wortschatz verbannen wollten.

Lady Marbely suchte nach einem Kleidungsstück, mit dem sie die Kamera verhängen konnte und entschloss sich, dafür ihr Taschentuch zu verwenden. Dann schüttete sie ihr Getränk auf den dunklen Teppichboden und ließ den Schweinebraten in einer Ecke der Loge verschwinden. Man sollte glauben, sie hätte davon gegessen. Lady Marbely war überzeugt, dass diese sogenannte Henkersmahlzeit vergiftet war.

Gebannt verfolgte die Lady das skurrile Geschehen im Saal. Eine Gruppe kahl geschorener junger Männer in braunen Uniformen mit der doppelten Acht am linken Oberarm räumte die leeren Teller ab. Währenddessen ertönte Marschmusik aus einer Lautsprecheranlage.

Heute wollen wir marschier’n,

Einen neuen Marsch probier’n.

In dem schönen Westerwald,

Ja da pfeift der Wind so kalt.

O du schöner Westerwald,

Über deine Höhen pfeift der Wind so kalt.

Jedoch der kleinste Sonnenschein

Dringt tief ins Herz hinein.

Zum Schluss hieß es dann noch:

Echte Menschen der Natur

Von Falschheit keine Spur.

Was für eine Farce, von der Schönheit der Natur und der Ehrlichkeit der Menschen dieser Landschaft im Marschrhythmus zu singen. Und doch hatte das Lied etwas, das auch der Lady gefiel. In seinem Text und in seiner Melodie spürte sie eine tiefe Melancholie, wie bei so manchem hier in Deutschland, insbesondere in den Märchen, die sich im Gegensatz zum Nationalsozialismus über die gesamte Welt verbreitet hatten. Plötzlich musste Milady an ein ganz bestimmtes Märchen denken, als das Geschehen im Saal eine völlig unerwartete Richtung einschlug.

Die Musik im Festsaal war verstummt. Alexander Henschel betrat strahlend die Bühne, ein dickes Paket von Papieren in der Hand. Offenbar seine vorbereitete Rede. „Volksgenossen! Bevor ich den Neubeginn des Großen Reiches verkünde, sollen eure Gläser gefüllt werden. Männer, bringt das Bier!“

Unter Applaus und Gejohle rollten junge Männer zwei Fässer in den Saal und stellten sie auf. Henschel schlug mit geübter Hand Zapfhähne in die Holzfässer und trank selbst gierig von der schäumenden Flüssigkeit. Erst als jeder der Festgäste mit Bier versorgt war, begab sich Henschel merkwürdig schwankend zur Tribüne.

Lady Marbely beobachtete die Vorgänge im Saal mit wachsendem Interesse. Das Geschehen nahm eine unerwartete Wende. Es war, als ob sich alles verlangsamte, als ob die Bewegungen der Männer gefroren. Die Zeitlupe, in die plötzlich alles mündete, endete in einem völligen Stillstand.

„Volks… Volks…“, lallte der Führer ins Mikrofon, dann sank er zu Boden.

Im Saal schienen alle Menschen wie erstarrt. Lady Marbely dachte an die Geschichte von Dornröschen, die sie in ihrer Kindheit als Erzählung von der Sleeping Beauty kennengelernt hatte.

In dem Augenblick aber, wo die Königstochter den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss: Der König und die Königin, die eben heimgekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herd flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas verschüttet hatte, an den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.

Verzaubert von der Erinnerung, verfolgte Lady Marbely das Geschehen im Saal. Sie wartete auf den Prinzen, der hinter den rätselhaften Ereignissen stehen musste. Inzwischen war ihr klar, um wen es sich dabei nur handeln konnte. Um James, ihren Butler, dem es offenbar gelungen war, den gesamten Bund 88 durch ein Schlafmittel im Bier stillzulegen. Und tatsächlich betrat ein Mann mit Schirm, Charme und Melone den Festsaal. Untadelig gekleidet wie immer. Um ihn herum bewegten sich an die zwanzig Männer im olivgrünen Outfit, Handfeuerwaffen im Anschlag. Diese Szene wiederum erinnerte Lady Marbely an ein Ballett. Nur die Musik fehlte. Engelbert Humperdincks Märchenoper Dornröschen wäre jetzt passend.

Der Butler, der sein iPhone gezückt hatte, war offenbar auf der Suche nach ihr. Die Lady versuchte durch heftiges Klopfen gegen die Glasscheibe zur Halle auf sich aufmerksam zu machen. Als der Butler jedoch direkt vor dem Fenster stand und sie nicht sah, wurde ihr bewusst, dass das Glas außen beschichtet war. Sie schlug heftig gegen die Scheibe.

Es dauerte eine Weile, bis der Butler in ihre Richtung nickte. Er schien direkt in ihre Augen zu blicken. Kurze Zeit später öffnete er die Tür zur Loge. Lady Marbely betrachtete den athletischen Mann mit seinem ernsten, doch stets freundlichen Gesicht und den leuchtend blauen Augen mit Wohlgefallen. Sie streckte ihre Hand zum Gruß aus, dann zog sie ihn an sich heran, umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die rechte Wange. „Sie dürfen die Freundschaftsbeweise gerne erwidern, James“, sagte sie gönnerhaft.

Und James ließ sich nicht lange bitten, gab der Lady jeweils einen Kuss auf beide Wangen. „Willkommen zurück im Team“, sagte er.

„Es tut mir ja so leid“, seufzte die Lady.

„Die Trennung war tatsächlich schmerzhaft. Andererseits hat diese Tatsache es uns erst ermöglicht, Ihren geschätzten Spuren folgend, diese sonderbare Truppe von Schlafmützen ausfindig zu machen.“

„Oh, Ihr Bart kratzt, James.“ Die Lady strich sich über ihre Wange.

„Dafür muss ich mich entschuldigen, Milady. Die Umstände erlaubten im Augenblick keine gründliche Rasur. Das Wichtigste: Wie geht es Ihnen, Milady?“

„Ausgezeichnet. Vor allem wohl, weil ich mein Essen nicht angerührt habe.“

„Gibt es sonst dringende Wünsche?“, erkundigte sich der Butler.

„Ich bewundere die geschmeidigen Bewegungen der Herren im Saal. Ein wunderbar männliches Ballett, wie man es am Theater nicht zu sehen bekommt. Sie wissen schon: weiße Strumpfhosen und so.“

„Ich möchte es mir detailliert nicht gerne vorstellen, wenn Milady gestatten.“

„Dennoch ein wahrer Kunstgenuss“, sagte die Lady, während sie die elastischen Bewegungen der Männer im Saal beobachtete. „Von wo kommen diese Herren?“

„GSG 9, Bundespolizei, eine Antiterrortruppe.“

„Sie haben beste Beziehungen, James.“

„Danke sehr, Milady. Nun muss ich mich um Henschel kümmern.“

„Er hat seinen Tod nur vorgetäuscht“, sagte die Lady.

„Um seine verbrecherischen Ideen weiter ungestört umsetzen zu können“, vollendete der Butler.

„Der Mann des immerwährenden Lächelns.“

„Eine Maske.“

„Eine Marionette!“

Der Butler blickte sie überrascht an. „Sie haben den Verdacht, dass es hinter diesem Führer noch jemanden gibt?“

„… der ihn, was den Verstand angeht, bei Weitem übertrifft.“

„Könnten Sie Ihre Vermutung möglicherweise präzisieren, Milady?“

„Dieser Bund 88 ist das Bindeglied zu der Lemniskate. Unendliche Unfähigkeit, unendliche Dummheit, unendliche moralische Verworfenheit zeichnet ihn aus. Ich bin mir sicher, dass diese Leute samt ihrem dauerlächelnden Führer nicht imstande sind, selbstständig zu denken. Henschel musste immer wieder jemanden fragen, wie es weitergehen sollte, auch als ich das Testament zugunsten seiner Tochter und deren Freund verfasst hatte. Und die Rede, die er halten wollte, stammte nicht von ihm. Er musste sich den Text erst schreiben lassen.“

„Das Manuskript wird sofort geprüft. Es liegt vermutlich neben ihm.“

„Er hat es fallen lassen, als er zu Boden ging. Übrigens eine grandiose Idee, die Männer mit Bier einzuschläfern.“

„Sie sind nur betäubt.“

„Äh … ja, genau das wollte ich damit sagen.“

„Ihre Beobachtungen, Milady, sind von unschätzbarem Wert. Ich werde in dieser Richtung weiter ermitteln.“

„Und ich wieder an Ihrer Seite.“

„Sie sollten sich vielleicht etwas ausruhen, nach den Strapazen.“

„Sie sagten eben noch: Willkommen zurück im Team. Ich komme jedenfalls mit.“

„Sehr wohl, Milady. Die Herren der GSG 9 befördern die Herren vom Bund 88 in Autobussen nach Frankfurt, wo sie eine Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt I antreten und getrennt verhört werden, um die kriminelle Spreu vom Weizen zu trennen, wenn Sie mir dieses sprachliche Bild gestatten, Milady. Ein logistisch ziemlich komplexer Vorgang, mit Kronzeugenregelung und allem Drum und Dran.“

„Was geschieht mit Henschel?“

„Ja, was geschieht mit Lazarus Henschel?“, wiederholte der Butler versonnen.

„Ich verstehe Ihre Anspielung. Im Neuen Testament … Der verstorbene Lazarus verlässt wie durch ein Wunder die Grabeshöhle, in der er bestattet worden war.“

„Lächelnd …“

„Genau. Und, was haben Sie nun mit ihm vor?“

„Wir werden ihn mithilfe einer belebenden Spritze aus seinen bösen Träumen wecken und gleich hier verhören. Wo waren Sie eigentlich in den letzten Tagen untergebracht, Milady?“

„In einer Kerkerzelle irgendwo in den Bunkern dieser schrecklichen Anlage.“

„Des Führerhauptquartiers Adlerhorst, vulgo Schloss Ziegenberg. Genau dorthin werden wir den Mann verfrachten, noch vor seiner Erweckung. Und dann soll er uns alles verraten, was wir wissen wollen. Bis es so weit ist, können Sie sich etwas frisch machen, Milady, und vielleicht eine Stärkung zu sich nehmen. Ich werde Ihnen etwas bringen lassen, das Sie unbesorgt genießen können.“

*

Lady Marbely und der Butler warteten vergeblich auf das Lächeln in Henschels Gesicht. Sein Grinsen war endgültig zur Grimasse geworden. Die sonst so strahlend blauen Augen blieben auf den Steinboden der Kerkerzelle geheftet.

Der Butler las den Beginn der Rede vor, die der sogenannte Führer vor den Männern des Bundes 88 hatte halten wollen: „Volksgenossen! Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Goldenen Zeitalter, der Fortsetzung des Tausendjährigen Reiches, dessen ruhmreiches Wirken durch hinterhältige Feinde einige Zeit unterbrochen worden ist. Mit dem heutigen Tag jedoch kann ich als euer Führer ein Wiederaufblühen der alten Größe verkünden, einen triumphalen Neubeginn, der alles in den Schatten stellen wird, was wir bisher erlebten. Wir haben die finanzielle Grundlage, unsere Pläne in die Tat umzusetzen, um diesem geschundenen Land die Würde zurückzugeben, die es verdient …“ Der Butler hielt in seiner bewusst zurückhaltenden Lesung inne, dann fragte er den auf der Holzpritsche Liegenden: „Und wer hat das für Sie geschrieben?“

Alexander Henschel schwieg.

„Wir wissen, Herr Henschel, dass es einen Mastermind im Hintergrund gibt und Sie nur Befehle ausführten. Ein Umstand, der vor Gericht zu Ihren Gunsten ausgelegt werden kann. Jedoch nur, wenn Sie uns verraten, wer die Drahtzieher sind.“

„Ich bin der Führer“, stöhnte Henschel mit belegter Stimme. „Ich übernehme die Verantwortung für alle Worte und Taten, die in Zusammenhang mit unserer großen Idee stehen, die übrigens auch durch Ihr bedauerliches Eingreifen nicht zum Stillstand kommen wird.“

„Da bin ich anderer Meinung“, widersprach der Butler. „Die finanzielle Unterstützung Ihrer Gruppierung, von der hier die Rede ist, wird es nicht geben. Lady Marbely wird weiterleben, und all ihr Besitz und der des verstorbenen Jakob Aufhauser bleibt in ihrer Hand.“

„Mein Testament“, schaltete sich die Lady in das Gespräch ein, „zugunsten von Stefan Obermann und Ihrer Tochter Ruth ist hinfällig. Erstens, weil ich lebe, und zweitens, weil Sie nicht auf die Idee kommen sollen, auch noch die beiden zu töten, nur um an das Geld heranzukommen.“

„Ich hatte nie vor, meine Tochter zu töten“, protestierte Henschel heftig.

Im selben Moment meldete sich das iPhone des Butlers, der sofort für einen Augenblick die Zelle verließ. Nach Beendigung des Gesprächs kam er zurück und sagte: „Wenn Sie uns sonst nichts mitzuteilen haben, werden Sie nach Frankfurt gebracht. Oder gibt es noch etwas, das Sie loswerden möchten?“

„Nein. Meiner Tochter wäre nichts geschehen, doch alles andere musste leider sein, um an unser Ziel zu gelangen.“

„Der Mann hat kein Gewissen.“ Der Butler kniff seine Lippen zusammen. „Für sein Ziel ist er über Leichen gegangen.“

Milady nickte seufzend.

Der Butler führte die Lady zu seinem Wagen. „Ich schlage vor, wir statten dem jungen Obermann einen Besuch ab. Auch er wurde in die Justizvollzugsanstalt Frankfurt I gebracht.“

„Als Mastermind hinter all den perfiden Plänen dieser Verrückten kann ich mir den scheuen jungen Mann wirklich nicht vorstellen“, gab die Lady zu bedenken. „Er war sehr reizend zu mir, im Blockhaus. Nicht umsonst änderte ich mein Testament zugunsten dieser jungen Leute. Auch wenn es nicht ganz ernst gemeint war.“

*

Der Verkehr wurde dichter, als sie sich ihrem Ziel, der Justizvollzugsanstalt I, im Frankfurter Stadtteil Preungesheim näherten. Der moderne, in unfreundlichem Grau gehaltene Gefängniskomplex bestand aus eng aneinandergebauten drei-bis fünfstöckigen Bauteilen, mit ein oder zwei Untergeschossen. Ein Justizbeamter erklärte stolz die Vorzüge der erst 2010 eröffneten Anstalt für Untersuchungshäftlinge. Sie ermöglichte humane Haftbedingungen und entsprach, seinen Worten zufolge, modernen Sicherheitsstandards. Dabei führte der Mann den Butler und seine Begleiterin in die Besuchsabteilung, die in Gebäude F untergebracht war. Sie nahmen an einer der fünfzehn Sitzgruppen, die aus schmucklosen Tischen und Sesseln bestanden, Platz und warteten auf Stefan Obermann, der wenig später von zwei Beamten in den Saal geleitet wurde. Sie befanden sich allein in der Halle, da sie außerhalb der vorgesehenen Besuchszeiten gekommen waren.

Der junge Mann lächelte, als er Milady erkannte, und drückte ihre Hand. Den Butler beäugte er misstrauisch. „Es freut mich, dass Sie mich besuchen, Milady …“

„Ich bin und bleibe Amanda für Sie.“ Lady Marbely nickte ihm aufmunternd zu. „Erzählen Sie bitte, was passiert ist, Stefan!“

„Die Welt ist in den letzten Tagen eine andere geworden. Das Blockhaus wurde niedergebrannt, meine Stiefmutter erschossen, und ich werde des Mordes verdächtigt, weil …“

„Weil“, unterbrach ihn der Butler, „auf der Waffe, mit der Ihre Stiefmutter getötet wurde, Ihre Fingerabdrücke gefunden wurden.“

„Das ist richtig.“

„Und wie erklären Sie sich das?“, fragte der Butler streng.

„Ich habe dafür leider keine Erklärung“, entgegnete der junge Mann. „So sehr ich darüber nachdenke, so wenig verstehe ich das Geschehen.“

„Es macht nur Sinn“, fuhr der Butler fort, „wenn Sie der Kopf, das Gehirn, dieses Bundes 88 wären, der aus Machtgier letztlich die eigenen Leute hinters Licht führen wollte …“

„Unsinn“, unterbrach ihn die Lady. „Dann säße er nicht hier, sondern hätte sich längst in Sicherheit gebracht. Auch ihm wurde übel mitgespielt.“

Stefan Obermann starrte stumm auf die matt glänzende Tischplatte.

„Haben Sie einen Verdacht?“, fragte der Butler.

„Nein!“ Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf.

Etwas zu heftig, wie der Butler fand. „Ich schlage vor, Sie helfen uns, alle betreffenden Ereignisse zu rekonstruieren. Sie wollen doch freikommen, oder?“

„Natürlich. Ich bin unschuldig. Das Verhältnis zu meiner Stiefmutter war nicht gerade herzlich, doch ich hatte keinerlei Grund, sie zu töten. Ich habe überhaupt niemanden getötet und werde es auch nie tun.“

„Und Sie wollen, dass der wahre Täter gefunden und zur Verantwortung gezogen wird?“, fuhr der Butler fort.

Stefan Obermann stöhnte auf und schwieg. Lady Marbely nahm seine zitternden Hände in ihre und bat ihn, sich zu erinnern. Und schließlich begann der junge Mann zu erzählen. Zuerst langsam, dann schneller, beinahe atemlos. Nur, als er von seiner Fahrt zum Haus der Mutter berichtete, geriet er ins Stocken.

„Sie verschweigen uns etwas, Stefan“, drängte Milady. „Sie wissen viel mehr, als Sie zugeben. Sie haben vom ehemaligen Führerhauptquartier gewusst, Sie …“

„Ich möchte nichts mehr sagen“, gab sich Stefan Obermann entschlossen.

„Ist auch nicht nötig. Sie haben uns bereits genug verraten!“ Der Butler erhob sich.

Lady Marbely blickte nachdenklich in die traurigen Augen des jungen Mannes. Als sie später mit James gemeinsam wieder im Auto saß, meinte sie: „Er hat Angst um seine Freundin. Sie befindet sich in großer Gefahr.“

„Das sehe ich ebenso, Milady“, stimmte ihr der Butler zu.

„Also, was machen wir?“

„Wir suchen Ruth Henschel.“

Lady Marbely sah den Butler von der Seite an. „Was verbergen Sie vor mir?“

„Ich bin mir nicht sicher, Milady, ob Sie das wirklich wissen wollen.“

„Nur Mut, James!“

„An einem anderen Ort. Ich fühle mich hier nicht besonders wohl.“

„Was schlagen Sie vor?“

„Ihr Interesse hier in Deutschland gilt doch den Märchen und Liedern. Ich schlage Ihnen vor, einen Menschen aufzusuchen, der sich damit intensiv beschäftigt.“

„Und wer ist das?“

„Doktor Helga Winter, eine Psychotherapeutin.“

„Und was hat das mit unserem Fall zu tun?“

„Sie ist Ruth Henschels Ausbilderin.“

„Das heißt, sie kann uns helfen, Ruth zu finden.“

„Ich denke schon. Ein Besuch kann jedenfalls nicht schaden.“

*

„Sie kann nur körperlich Gesunde therapieren“, stellte Lady Marbely fest, als sie an der Seite des Butlers die Treppe in das zweite Geschoss des Gründerzeithauses erklomm. „Lassen Sie sich doch Zeit, James! Ich bin ja völlig außer Atem.“

Die Tür zur Praxis von Doktor Helga Winter, lic. Phil. (Dipl.) Psychologin, Klinische Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, wie das blank polierte Messingschild verhieß, stand einen Spaltbreit offen.

Ein angenehmer Duft von Bienenhonig empfing Lady Marbely und den Butler. Die hohen Räume und die edle Einrichtung des Warteraums vermittelten einen beabsichtigt seriösen Eindruck. Auf einem runden Tischchen, neben einigen Fachzeitschriften, stand eine Jugendstilvase mit grün knospenden Zweigen.

Die gepolsterte Tür zum Behandlungsraum öffnete sich, eine dunkelhaarige schlanke Frau, Mitte sechzig, kam der Lady und dem Butler entgegen. Freundlich schüttelte sie ihnen die Hände. „Schön, dass Sie zu mir gefunden haben.“

Der Butler bedankte sich bei der Psychotherapeutin, dass sie sich so kurzfristig Zeit für ein Gespräch nahm.

„Es ist mir ein Vergnügen, über Märchen zu sprechen. Auskünfte über Klienten oder Kollegen kann ich allerdings nicht geben.“ Die Frau steckte sofort klar den Rahmen des Gesprächs ab.

*

„Noch ist nichts verloren, wenn wir entschlossen handeln. Die finanzielle Grundlage befindet sich durch das Testament in Reichweite, allerdings müssen die nötigen Operationen ohne jede Verzögerung anlaufen. Dazu gehört die sofortige Beseitigung der englischen Frau und ihres Begleiters, sowie des Doktors!“

„Jawohl!“, rief der Anführer der Gruppe junger Männer. „Wir werden unser Ziel ohne Skrupel und umgehend ansteuern. Wo befindet sich der Einsatzort?“

„Löhrstraße 40, zweites Geschoss. Die Praxis von Doktor Helga Winter.“

Die Männer stürmten nach draußen und sprangen in einen weißen Kastenwagen.


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