6.

Am nächsten Morgen nahm Lady Marbely Stefan Obermanns VW, um nach Siegen zu gelangen. Das Fahrgefühl war interessant. Man spürte, dass man in einem Auto saß, hörte sogar den Motor und musste sich an die neue Position des Lenkrades gewöhnen. Außerdem war es entweder zu kalt oder zu warm, je nachdem, ob man die Heizung einschaltete oder nicht. Lady Marbely verzichtete schließlich ganz auf diese Einrichtung, da die Sonne zu wärmen begann. Sie hielt an der nächsten Tankstelle, füllte den Benzintank und erwarb eine Straßenkarte. Von der Frau an der Kasse ließ sie sich den Weg nach Siegen erklären. Dabei fiel ihr der von Stefan Obermann erwähnte Ort namens Adlerhorst ein, wo sich angeblich die Leute mit den schwarzen Ringen trafen. Die junge Frau konnte dazu nichts sagen und verwies die Lady an zwei ältere Männer, die sich an einem Buffettisch zu einem morgendlichen Kaffee getroffen hatten. Die beiden Einheimischen erklärten sich bereit, auf die höflichen Fragen der Engländerin zu antworten. Die Straßenkarte wurde auf einem Nebentisch ausgebreitet und Milady erklärte, dass sie auf ihrer Fahrt nach Siegen gerne das ehemalige Führerhauptquartier Adlerhorst besichtigen wolle. Sie habe in einem englischen Roman darüber gelesen.

„Sie sind Engländerin?“, fragte der zweite Einheimische. Er fiel aufgrund seiner ausgesprochenen Hagerkeit auf. „Das merkt man kaum.“

„Es ist nichts mehr davon zu sehen. Wurde alles dem Erdboden gleichgemacht, von den Feinden, nach dem Krieg“, beantwortete der Weißhaarige die Frage der Lady.

„Wo liegt dieser Ort, meine Herren?“

„Nehmen Sie uns mit! Wir zeigen Ihnen das Areal“, schlug der Hagere vor. „Doch Sie werden enttäuscht sein.“

„Macht nichts. Wenn es nicht allzu weit ist, möchte ich es sehen.“ Lady Marbely entschuldigte sich telefonisch bei ihrem Mitarbeiter Sam Hamilton in Siegen. „Ich werde mich etwas verspäten. Wir treffen uns zur Mittagszeit.“

Als sie nach einer Viertelstunde in Ziegenberg ankamen, erklärte der Weißhaarige: „Das Schloss und die Bunker darunter gehörten zum Führerhauptquartier, ebenso wie eine zweite Stollenanlage in Wiesenberg und das Schloss Kransberg. Ich war ein kleiner Junge damals, am Ende des Zweiten Weltkriegs, kann mich aber noch gut erinnern. Es war immerhin ein Ereignis für die Gegend, den Führer persönlich auf Besuch zu haben. Natürlich sah man nichts von ihm.“ Der Weißhaarige kam Lady Marbelys Frage zuvor: „Das Schloss wurde durch amerikanische Bomben völlig zerstört. Nur die Außenmauern blieben stehen. Stellen Sie den Wagen hier ab. Ins Schloss gehen wir zu Fuß.“

„Im März 1945 wurde Schloss Ziegenberg zu Kransberg, und der Bergfried zum alten Turm“, ergänzte der Hagere.

Lady Marbely betrachtete den steinernen Turm, auf den dornenbestückte Rosenranken kletterten, die jetzt noch keine Blätter trugen.

„Ein Industrieller hat das Schloss wieder aufbauen lassen“, erklärte der Weißhaarige weiter.

„Sie wissen nicht zufällig, um wen es sich da handelt?“, fragte die Lady.

Die Männer schüttelten unisono ihre Köpfe.

„Im Moment scheint niemand hier zu sein“, bemerkte die Lady mit einem Blick auf die geschlossenen Fenster.

„Sie kommen nur an bestimmten Tagen“, antwortete der Hagere. „Schloss Ziegenberg stellte das Zentrum des Führerhauptquartiers Adlerhorst dar. Es eignete sich wegen des noblen Herrenhauses und der Wirtschaftsgebäude ganz besonders dafür. Die Autobahn war nicht weit entfernt, und bei Hasselborn, keine zwanzig Kilometer entfernt, gab es einen Eisenbahntunnel, in dem man Züge vor den Bombenangriffen der Feinde schützen konnte.“

„Der Ort hat etwas Unheimliches an sich“, meinte Lady Marbely, obwohl sie fürchtete, von ihren Begleitern verlacht zu werden.

„Ein Ort, den auch Hitler nicht besonders mochte“, erklärte der Weißhaarige zustimmend und steckte sich eine Zigarette an. „Aber er war hier. Vermutlich, weil die ausgedehnten Bunkeranlagen hohe Sicherheit versprachen. Am Ende des Jahres 1944 und in den ersten Wochen 1945. Wenn man sich einigermaßen hier auskennt, kann man noch die Reste der Stollenanlagen um das Schloss herum erkennen. Zwei der Bunker sowie ein Verbindungsgang wurden einige Jahre nach dem Krieg gesprengt. Angeblich gibt es noch einen Bunker, den Bunker Nummer fünf. Aber das kann auch ein Gerücht sein. Wie so vieles, was den Adlerhorst betrifft.“

„Erzählen Sie, bitte“, ermunterte Lady Marbely den Mann.

„Diejenigen, die sich nach alten Zeiten zurücksehnen, schwafeln von einer Auferstehung des sogenannten Tausendjährigen Reiches.“

„Einer Fortsetzung“, korrigierte ihn der Hagere; er hatte sich ebenfalls eine Zigarette in den Mundwinkel gesteckt.

„Das heißt, die alten Nationalsozialisten sind nur untergetaucht und arbeiten politisch weiter“, versuchte Lady Marbely Klarheit in die Andeutungen der beiden Männer zu bekommen.

„Bunkerleute, Maulwürfe“, sagte der eine.

„Nicht nur die Alten. Sie haben neue Anhänger“, ergänzte der andere eifrig.

„Aber alles nur Gerüchte, die wir vor einer Fremden … Sie entschuldigen doch diesen Ausdruck? Also, das ist alles nur ein Latrinengerücht, um in der Sprache dieser Zeit zu bleiben“, schloss der Weißhaarige das Gespräch und hatte es plötzlich sehr eilig, die Rückfahrt anzutreten. „Ich muss jetzt leider wieder nach Hause.“ Er strebte auf den vor dem Schloss abgestellten VW Polo zu. Lady Marbely und der Hagere folgten ihm.

Nachdem sie eine Weile gefahren waren, stoppten sie aufgrund merkwürdiger Fahrgeräusche. Gemeinsam verließen sie den Wagen. Die Männer entfernten die aufgesteckten Radkappen. Mit einem Drehschlüssel kontrollierten sie die Radmuttern, fanden heraus, dass die hinteren Räder in Ordnung waren, die beiden vorderen jedoch lose an den Naben hingen.

„Das hätte ins Auge gehen können“, sagte der Weißhaarige und zog die Radmuttern nach. „Gut, dass wir es rechtzeitig bemerkt haben.“

„Jemand muss das Fahrzeug manipuliert haben, während wir im Schlosshof waren“, vermutete Lady Marbely.

Die Männer rauchten nachdenklich neue Zigaretten und stiegen danach wieder ein. Während der gesamten Rückfahrt zur Tankstelle herrschte betretenes Schweigen. Während der Weißhaarige wortlos den VW verließ, meinte der Hagere mit gedämpfter Stimme: „Sie haben gefährliche Gegner. Passen Sie auf sich auf!“

Lady Marbely fuhr rasch weiter Richtung Siegen und fühlte sich wie der Held in Franz Kafkas Roman Das Schloss. Alles um sie herum hatte sich verdüstert. Sie hatte ihren treuen Begleiter, wenn nicht gar Freund, den Butler James verdächtigt, an der Spitze der Feinde zu stehen, war nun völlig allein unterwegs, wieder einmal knapp dem Tod entronnen und keinen Schritt weitergekommen in den Ermittlungen gegen die Täter. Nun, das stimmte nicht ganz. Sie ahnte, dass die Morde und Mordversuche vom Schloss ausgingen, dem ehemaligen Führerhauptquartier Adlerhorst. Und da das Schloss an sich nicht böse sein konnte, musste es Menschen geben, die für die Angriffe auf sie und andere verantwortlich waren. Offenbar, um an die Erbschaft Jakob Aufhausers heranzukommen, mit der man dunkle Pläne finanzieren wollte. Pläne, die irgendwie mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten.

An der Spitze dieser Bewegung musste jemand stehen, der eine Verbindung zu Jakob Aufhausers Firmen hatte. Jemand, der erhofft hatte, dessen Besitz zu erben. Und dieser Jemand kannte Lady Marbely sehr gut.

*

„Die Zeit der Schonung der Engländerin ist vorbei“, sagte der Führer in scharfem Ton. „Sie weiß anscheinend mehr, als uns lieb sein darf. Sie hätte uns sonst nicht bis hierher verfolgt. Ein Autounfall hat, wie ich vorausgesagt habe, erneut nicht funktioniert. Wir können es uns nicht erlauben, immer wieder auf die gleiche Weise zu scheitern. Ihr schnappt sie euch, und zwar sofort, und bringt sie hierher. Sie wird uns verraten, was sie weiß, und wir werden versuchen, sie für unsere Sache zu gewinnen. Und wenn uns das nicht gelingt, wird sie sterben … nachdem sie ein Testament unterzeichnet hat.“

*

Lady Marbelys Anspannung löste sich, als sie auf die idyllische Stadt Butzbach zusteuerte. Sie blinzelte, als sie eine Bewegung vor sich sah. Zwei junge Männer hatten eine Autopanne und gaben ihr durch Handzeichen zu erkennen, dass sie anhalten sollte. Sie war sich durchaus bewusst, dass dies ein Hinterhalt sein konnte. Doch Lady Marbely war bereit, die Rolle des Lockvogels weiter todesmutig zu übernehmen. Lachend kamen die beiden Männer auf sie zu, sie öffnete das linke Seitenfenster und … einer der Männer sprühte ihr eine kalte Flüssigkeit aus einer Spraydose ins Gesicht. Unmittelbar darauf verlor sie das Bewusstsein.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie in einem fast dunklen, nur von einer schwachen Lichtquelle erhellten Raum erwachte. Und als sie sich bewegte, erfasste sie eine heftige Übelkeit, die erst wich, als sie bemüht ruhig rücklings auf einer Art Pritsche liegen blieb. Sie versuchte aus dieser Position, den Raum mit ihren Blicken zu erkunden. Von der Steindecke her zu schließen, befand sie sich in einem quadratischen Kellergewölbe, schätzungsweise vier mal vier Meter, fensterlos. Das karge Licht drang durch eine mit Metall abgeschlossene Öffnung, die auch zur Belüftung des Verlieses diente. An der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Stahltür. Sie selbst lag in eine Decke gehüllt auf einem harten Bett. Vor ihr, auf einem Schemel, standen ein Krug Wasser und ein Glas, etwas entfernt davon ein Kübel, der wohl als Toilette dienen sollte. Sie erinnerte sich an ihre Zeit im Internat in Harrogate. Genau davon hatte sie eben geträumt, bevor sie aufgewacht war. Allmählich wurde ihr klar, was passiert war …

In ihrer Ohnmacht hatte sie von Schloss Ziegenberg geträumt. Es hatte gefährlicher denn je auf sie gewirkt, und doch irgendwie bekannt. Als ob sie dort schon öfter gewesen wäre, vor ihrem Besuch mit den beiden Männern von der Tankstelle. Das Schloss hatte ein Gesicht gehabt, ein menschliches Gesicht, oder eigentlich zwei Gesichter übereinander. Die Gesichter zweier Menschen, die sie kannte. Das Schloss hatte zu ihr gesprochen, und sie hatte genickt, immer nur genickt. Offenbar war das, was das Schloss ihr mitgeteilt hatte, nachvollziehbar gewesen. Nachvollziehbar, aber nicht angenehm. Es hatte mit Leben oder Tod zu tun. Nein, mit Leben und Tod.

*

Der Butler verfolgte währenddessen die Gespräche der jungen Leute im Maybach über Funk. Stefan Obermann und Ruth Henschel genossen die Fahrt in dem komfortablen Fahrzeug und unterhielten sich über die schrullige Engländerin. „Aber wie soll es weitergehen? Wir wissen doch, in welcher Gefahr sie sich befindet“, fragte Stefan gerade.

„Wir haben eine Vermutung. Dennoch …“

„Ich glaube, dass auch wir im Visier der Täter stehen.“

„Die Männer, die auch unsere Väter getötet haben?“

„Ich weiß nicht“, sagte Stefan Obermann. „Irgendetwas stimmt nicht an der Sache. Da ist jemand, der die Fäden zieht.“

„Den wir kennen.“

„Ja, jemand, den wir kennen“, bestätigte die Stimme des jungen Obermann.

Der Butler wurde von seinem Mobiltelefon abgelenkt. „Hier Hamilton. Ich habe Ihre Nummer von Mister Prince“, meldete sich ein Mann mit stark englischem Akzent. Seine Stimme klang aufgebracht. „Die Lady ist nicht zur vereinbarten Zeit in Siegen eingetroffen. Ich fürchte, dass ihr etwas zugestoßen ist.“

„Milady haben sich entschlossen, eigene Wege zu beschreiten. Daher …“

„Hören Sie mit dem Gestelze auf! Reden Sie normal! Ich mache mir Sorgen.“

„Gut, dann ganz knapp“, antwortete der Butler. „Ich weiß, wo Lady Marbely gefangen gehalten wird. Ein Peilsender verrät mir ihre jeweilige Position.“

„Was gedenken Sie zu unternehmen? Sie sind für Milady verantwortlich!“

„Wir beobachten die Situation, um mehr über ihre Entführer herauszufinden. Ein zu frühes Einschreiten gefährdet den entscheidenden Schlag gegen die Waffenmafia.“

„Das heißt, dass Sie die Lady als Köder für Ihre lächerliche Verbrecherjagd verwenden, Sie … Sie …“

„Was ist bei Ihren bisherigen Untersuchungen der Firmen Aufhausers herausgekommen?“, versuchte der Butler das Gespräch zu versachlichen.

„Das geht Sie einen feuchten Dreck an, Sie …!“

Der Butler entfernte das iPhone von seinem Ohr, um die Vielfalt unflätiger Ausdrücke nicht hören zu müssen. Als die Schimpfkanonade nicht enden wollte, beendete er das Gespräch. Doch der Engländer hatte natürlich recht. Er musste handeln. Jetzt sofort! Zuallererst wollte der Butler Kontakt zu den beiden jungen Leuten suchen, in deren Blockhaus sich die Lady geflüchtet hatte. Hänsel und Gretel, einsam im Wald. Und wer war die Hexe? War es Angela Obermann? Liefen bei ihr die Fäden zusammen? Immerhin hätte sie gute Aussichten gehabt, das gesamte Vermögen zu erben, wäre ihr nicht die Lady in die Quere gekommen. Eine sehr schöne, aber hart wirkende Frau, die wusste, was sie wollte, indem sie den Chef ihres Mannes in ihr Haus und in ihre Familie lockte. Wenn sie der Teufel war, stellte sich die Frage, welche Verbindung sie zu dieser Neonazitruppe hatte. Benutzte sie diese nur als Mordwerkzeug, um ans Ziel zu kommen? Und was war ihr Ziel? Macht? Geld?

Der Besuch im Blockhaus musste warten, entschied der Butler, ebenso wie die Befreiung der Lady. Auch wenn es riskant war. Doch die Lösung des Falles erforderte einen kühlen Kopf und ein ebensolches Herz. Auch wenn es dem Butler schwerfiel. Er musste noch einmal Angela Obermann treffen und ihre Persönlichkeit auf sich wirken lassen, um zu verstehen, was sie plante.

*

Die Terrassentür, durch die man Herrn Obermann erschossen hatte, war inzwischen repariert. Und Frau Obermann war schön wie immer. Sie wirkte von den Ereignissen unberührt. Der Butler deutete nur an, von dem Kaffee zu trinken, und das Schnittchen ließ er in einem Taschentuch verschwinden, während Angela Obermann auf seine Bitte hin eine Flasche Mineralwasser aus der Küche holte.

„Lady Marbely ist heute nicht mitgekommen?“, fragte Angela Obermann.

„Sie ist unpässlich“, log der Butler. „Die Aufregung der letzten Tage. Und die Jüngste ist sie auch nicht mehr.“

„Aber eine sehr sympathische Person. Lassen Sie sie grüßen! Ich wünsche baldige Besserung. Aber nun zum eigentlichen Grund Ihres Besuches, Herr …“

„James.“

„Also, James, was führt Sie zu mir?“

„Die Hoffnung, etwas mehr über die Beteiligten aus der Sicht einer intelligenten Frau zu erfahren.“

„Komplimente sind nicht nötig. Was wollen Sie wissen?“

„Was für ein Mensch war Jakob Aufhauser?“

„Jakob wurde immer sensibler durch das Leid, das er erfahren hatte“, antwortete die Frau nachdenklich. „Er wirkte auf mich wie manche Schwerkranke, die kurz vor dem Tod ein melancholisches Wesen entwickeln. Er hat mich fasziniert. Ich kenne das von meinem Vater, der an Krebs starb und sich in den Monaten, in denen er sich einer Chemotherapie unterzog, völlig verwandelte. Von einem hektischen Manager zu einem ruhigen und liebenswerten Menschen. Bei Jakob war das, wie gesagt, auf den Verlust seines Sohnes und seiner Frau zurückzuführen. Er begann sein bisheriges Leben und seine berufliche Tätigkeit zu hinterfragen.“

„Mit dem Effekt, dass er reinen Tisch machen wollte, was die illegale Waffenproduktion betraf?“, hakte der Butler nach.

„Davon wusste ich nichts. Doch es kann so gewesen sein“, sagte Frau Obermann.

„Aber Ihr Mann …“

„Hans war Jakob treu ergeben, als Mitarbeiter und als Freund. Er wäre mit ihm durchs Feuer gegangen.“

„Und Alexander Henschel? Welche Rolle spielte er?“

„Ich mochte ihn nicht. Er war nicht ehrlich, wirkte auf mich verschlagen.“

„Und Henschels Tochter?“

„Ein Teufel in Menschengestalt. Sie versucht sich an unseren Stefan heranzumachen, aus welchen Gründen auch immer. Ich habe ihn vor ihr gewarnt, aber, wie es scheint, vergeblich. Das ist etwas, das mir Sorgen macht.“

„Was konkret ist der jungen Frau vorzuwerfen?“

„Sie ist ein durch und durch schlechter Mensch. Hochintelligent. Doch nützt sie diese Gabe nur negativ, um Menschen und Tieren zu schaden. Ich weiß Dinge, über die ich nicht sprechen möchte. Ich hoffe, Stefan kommt zur Vernunft. Sie haben Ihren Kaffee nicht getrunken, Herr James.“

„Oh, ich leide zurzeit an Sodbrennen und möchte meinen Magen schonen.“

„Möchten Sie einen Tee oder Kakao?“

Der Butler lehnte höflich ab und verabschiedete sich.

*

„Sie sind das!“, rief Lady Marbely erstaunt, als der Mann die Zelle betrat. Er trug eine militärische Uniform mit einer doppelten Acht am linken Ärmel seiner Jacke.

„Jawohl, ich bin der zweite Führer, der das so schmählich unterbrochene Werk seines Vorgängers fortsetzen und zur Vollendung bringen wird. Deutschland wird wiederauferstehen aus der Schmach und den Demütigungen des vergangenen Jahrhunderts.“

„Und dafür benötigen Sie das Geld einer alten Engländerin?“

„Falsch. Das Geld eines Deutschen, das durch widrige Umstände an eine Engländerin gefallen ist. Natürlich nur vorübergehend.“

„Also muss diese alte Engländerin sterben, wie so viele in diesem Fall.“

„Persönliche Interessen müssen dem großen Ganzen untergeordnet werden.“

„Sie müssen mich also töten, um an meine Erbschaft zu kommen.“

„Nicht unbedingt. Vielleicht lassen Sie sich für unsere Ziele begeistern.“

„Ach herrje. Und wenn nicht?“

„Dann wird uns letzten Endes nichts anderes übrig bleiben, als …“

„Und vorher?“

„Vorher sind die Schritte zu setzen, die den legalen Übergang der Erbschaft von Ihnen auf uns ermöglichen.“

„Also ein neues Testament?“

„Ein Testament“, sagte der Mann schließlich, „das uns das nötige Geld sichert, das sonst im Ausland verschwände. Bei unserem Erzfeind.“

„Auf der Insel.“

„Richtig. Ich habe Papier und Kugelschreiber mitgebracht.“

„Und Sie glauben, ich bin so dumm, mein eigenes Todesurteil zu unterschreiben?“

Dieses Mal schwieg ihr Gegenüber.

„Sie wollen, dass ich mein gesamtes Vermögen dem Bund 88 hinterlasse. Oder soll ich schreiben meinen lieben Mördern?“ Miladys Stimme zitterte.

„Der Stiftung Aufhauser, die von einem Gremium anerkannter Persönlichkeiten vertreten wird. Ich habe einen Mustertext aufgesetzt. Sie müssen nur abschreiben.“

„Ich nehme mir Bedenkzeit.“

„Die bekommen Sie. Allerdings ist unsere Geduld beschränkt. In vier Stunden sehen wir uns wieder. Dann haben Sie entweder unterschrieben …“

„Oder nicht.“

„Von dieser Möglichkeit rate ich allerdings dringend ab. Wir haben Mittel und Wege, Sie zum Schreiben zu bringen.“

„Folter?“

Der Führer hüstelte dezent.

*

„Was ist mit unserer Lady passiert?“, fragte Stefan Obermann. „Sie hätte doch am Abend zurückkommen sollen.“

„Sie wird in Siegen geblieben sein“, versuchte Ruth ihn zu beruhigen.

„Kennt die Lady eigentlich unsere Telefonnummern?“

„Nein. Und wir kennen die ihre nicht. Sie wird schon wieder kommen. Vielleicht streikt der Wagen. Und ich muss leider noch mal weg.“

„Wohin?“, fragte Stefan.

„Ich muss mich um meine Klienten kümmern. Du könntest dich hier nützlich machen. Am Nachmittag bin ich wieder da.“

„Nützlich in welcher Weise?“

„Holz hacken, Essen machen. Dir wird schon etwas einfallen.“

„Okay. Zuerst frühstücken wir aber.“

Die junge Frau lächelte. „Natürlich. Ich mache das Frühstück, du wäschst ab.“

Nachdem Ruth weggefahren war, fühlte sich Stefan derart träge, dass er sich wenigstens ein paar Minuten ausruhen wollte, bevor er sich dem Alltag im Blockhaus stellen konnte. Kaum lag er auf dem weichen Bett, da war er schon in einen tiefen Schlaf gefallen.

Zur gleichen Zeit fuhr Ruth Henschel in ihre Praxis für Systemische Therapie in die Siegener Leimbachstraße. Drei Klienten warteten an diesem Vormittag auf sie. Wobei man nie wusste, ob sie tatsächlich kamen. Das war bei psychisch Kranken nicht immer vorauszusehen. Das Sitzen und Warten gehörte zu den Tätigkeiten, die Ruth am meisten hasste. Da war es schon spannender, wenn jemand eine akute Krise hatte oder aggressiv wurde. Damit konnte sie umgehen. Ausreichend Erfahrung hatte sie in den drei Jahren ihrer Tätigkeit gesammelt. Sie hatte in der Therapie, die sie in der Ausbildung selbst mitmachen musste, herausgefunden, dass sie aufgrund ihrer eigenen, nicht unproblematischen Geschichte eine natürliche Begabung für das Aufspüren menschlicher Schwächen oder Schwächen in Systemen wie Büros oder Arbeitsgruppen hatte. Die Konstellation in ihrer eigenen Familie war ziemlich verworren gewesen. Der Vater wollte die Familie führen, war aber tatsächlich nichts anderes als ein ewiges Kind geblieben. Ein Peter Pan, der einen Captain Hook als Gegner benötigte, oder zumindest ein Krokodil, um sich als Mann zu spüren. Ein Kasperl im Kampf gegen Hexen und Krokodile, der mit einer Frau wenig anzufangen wusste. Und schon gar nichts mit einer Tochter. Wobei man von Glück sagen konnte, dass Ruth kein Junge war. Der wäre sicher im ewigen Konkurrenzkampf mit dem Vater untergegangen.

Die Mutter hatte eine komplexere Persönlichkeit gehabt. Musste sie wohl, sonst hätte sie einen Mann wie Ruths Vater nicht zum Partner genommen. Sie war scheinbar ruhig und zurückhaltend, auf das Haus konzentriert, das sie perfekt in Ordnung hielt, wie Frauen aus dem Orient, die tatsächlich die absoluten Herrscherinnen in den Familien waren. So war es auch bei ihnen gewesen. Der Vater verdiente, die Mutter lenkte die Geschicke. Nur Ruth hatte, sobald sie dazu fähig gewesen war, eine Gegenstrategie entworfen, der die Mutter nichts entgegensetzen konnte. Sie hatte sich zum absoluten Liebling des Vaters entwickelt. Auch zur Mutter war sie reizend und zuvorkommend, nur tat sie nicht, was diese ihr auftrug. Sie fand immer eine Ausrede, und die Mutter ließ sie gewähren. Als Ruth fünfzehn war, änderte ein äußeres Ereignis die Situation radikal. Der Vater, der die Familie vom Blockhaus im Hochtaunus nach Hause fuhr, schlief für einen kurzen Augenblick am Steuer des Wagens ein und raste gegen einen Baum am Straßenrand. Die Mutter wurde bei diesem Unfall getötet, der Vater regelrecht skalpiert und im Gesicht verletzt. Seither lächelte er ständig. Ruth trug eine Schädelverletzung davon und lag monatelang im Koma. Sie litt noch immer unter Kopfschmerzen, wenn das Wetter umschlug. Als sie ins Internat zurückkehrte, war sie nicht mehr dieselbe. Sie sah ihre Umwelt mit anderen Augen und versuchte, allein zu sein. Sie beschränkte sich auf die Bekanntschaft zu einem verschüchterten Jungen namens Stefan Obermann.

Ruth begann in dem Therapieheft ihres nächsten Klienten zu blättern, eines Gymnasiallehrers mit Schlafstörungen. Der schüchterne Mann hatte den falschen Beruf gewählt. Er litt eindeutig an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung, führte ein einsames Leben und wurde jeden Tag mit dem unkontrollierbaren Wesen seiner Schüler konfrontiert. Bibliothekar wäre das Richtige für diesen faden Menschen, der ohnehin nichts an sich und seinem Leben ändern wollte, der Woche für Woche in ihre Praxis kam, um gegen Geld eine sichere, geregelte Beziehung geboten zu bekommen. Eine Beziehung zu ihr, seiner Therapeutin. Ihre Strategie war es, eben diesem Wunsch nicht zu entsprechen und ihn zum Reagieren zu zwingen. Sie verhielt sich kühl, sprach nur wenig, saß nur da und blickte den Mann an, dessen angstvoll geweitete Augen um Wärme und menschliche Nähe flehten. Er erinnerte sie an Stefan in den ersten Jahren im Internat. Der Junge schien ständig zu frieren, bis sie ihm die Wärme gab, nach der er sich so sehnte. Seither hing er an ihr wie eine Klette. Er hatte wie sie Psychologie studieren wollen, musste aber erkennen, dass ihm das nicht lag. Er wollte, wie er sagte, nicht dauernd von nervenden Menschen umgeben sein. Also sattelte er um auf Technische Physik. Wie sein Vater. Stefan brauchte Vorbilder auf seinem Weg durchs Leben. Und Ruth unterstützte ihn finanziell; sie verdiente gut, obwohl sie erst Psychotherapeutin in Ausbildung war. Auch die Frage des Geldes war ein Punkt, den sie ihren Klientinnen und Klienten klar zu machen versuchte. Geld war nichts Schlechtes, sondern ein Mittel, Träume Wirklichkeit werden zu lassen und das Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten. Vom Sklaven zum Herrn zu werden.

Und Ruth selbst hatte noch einiges vor in ihrem Leben.

*

Stefan Obermann hörte ein seltsames Geräusch. Das Klirren von zerbrechendem Glas, dann ein Krachen. Es roch nach Benzin und brennendem Holz. Doch er war zu schlaff, zu ausgebrannt, um sich darum zu kümmern. Hatte Ruth ihm nicht auch geraten, sich von der Öffentlichkeit fernzuhalten? Die Leute sollten nicht sehen, wie überarbeitet er war. Sein schwacher, zitternder Körper sei niemandem zuzumuten.

Doch er war nicht schwach, und er zitterte nicht. Wie war Ruth nur darauf gekommen? Aber nein, sie hatte das nie gesagt. Es war ein Traum gewesen. Er hätte Holz hacken sollen und lag im Bett und schlief und träumte, während das Haus brannte.

Ja, das Blockhaus brannte. Eindeutig. Doch was hatte das mit ihm zu tun?

Nichts, absolut nichts.

*

„Was ist los mit Ihnen?“, fragte der sonst so stille Lehrer.

Ruth blickte ihn ernst an und schlug ihm vor, frei zu phantasieren, was mit ihr los sein könnte.

„Sie sind nicht bei der Sache“, begann der Mann. „Ihre Gedanken sind anderswo. Sie sehen unser Treffen nur als Pflicht, die Sie diszipliniert hinter sich bringen wollen, um zum Eigentlichen zurückzukehren, das, was Ihnen wichtig ist.“

„Gut so. Machen Sie weiter“, ermunterte ihn Ruth. „Was könnte das sein, das Sie als das Eigentliche, das Wesentliche, bezeichnen?“ In diesem Moment meldete sich ihr Mobiltelefon. Sie ignorierte es.

„Da sehen Sie. Ein Anruf“, sagte der Mann.

„Ein Anruf für mich, nicht von mir. Machen Sie weiter! Was ist das Wesentliche?“

„Ein Mensch, ein geliebter Mann“, sinnierte der Klient und schüttelte den Kopf. „Nein. Menschen sind für Sie nicht wirklich interessant. Für Sie zählen Ideen und Materielles.“

„Wie kommen Sie auf Materielles?“

„Sie betonen doch immer die Bedeutung von Besitz, von Geld, als Mittel, die Welt gestalten zu können.“

„Ich verstehe. Sie meinen also, für mich zählen nicht Menschen, sondern irgendwelche Ideen, die ich mithilfe von materiellem Besitz verwirklichen will.“

„Nicht ganz“, verbesserte der Mann. „Es geht Ihnen um Macht, um die Möglichkeit, andere Menschen zu manipulieren, sie zu beherrschen. Aber entschuldigen Sie, das sind harte Worte. Oder?“

„Die im Rahmen einer Therapie durchaus ihre Berechtigung haben“, versicherte Ruth dem Mann und fragte, ob er sonst noch etwas zum Thema vorbringen wolle.

„Nein. Das ist alles, was ich sagen kann.“

„Und wie geht es Ihnen jetzt, nachdem Sie den Mut aufgebracht haben, mir …“

Ruths Handy klingelte erneut. Der Klient blickte Ruth triumphierend an. Er fühlte sich in seinem Verdacht bestätigt, dass sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrierte, doch sie reagierte wieder nicht auf den Anruf und bat den Mann mit ruhiger Stimme: „Und jetzt machen wir einen Versuch, das Gesagte zu vertiefen. Nehmen Sie all das, was Sie meinen, in mir gesehen zu haben und testen Sie, ob es nicht eher auf Sie selbst zutrifft! Unverbindlich, versuchsweise.“

„Sie meinen …“

„Wenn Sie das Wort Sie, also des Gegenübers, durch ich ersetzen.“

Der Mann begann zögerlich: „Ich bin nicht bei der Sache. Mit dem Kopf ganz woanders, weil mir Menschen nichts bedeuten. Ich habe keine Lebensziele, will nur Geld und Macht, um andere zu beherrschen … Nein, das trifft auf mich nicht zu. Hoffe ich.“ Der Mann schaute Ruth erschrocken an.

„Das ist natürlich überspitzt. Aber könnte es nicht sein, dass es im Kern stimmt?“

Der Mann nickte stumm, er hatte Tränen in den Augen. „Mir fehlt der Sinn in meinem Leben“, sagte er mit tonloser Stimme.

Sie diskutierten bis zum Ende der Stunde. Ruth schaffte es, sehr intensiv auf den Mann einzuwirken. „Lassen Sie sich die heutige Stunde in Ruhe durch den Kopf gehen“, sagte sie noch. „Finden Sie heraus, was auf Sie zutrifft und womit Sie tatsächlich mich meinen. Wir können uns das nächste Mal damit beschäftigen.“

Als der Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte, rief Ruth ihren Freund an. Sie hatte natürlich gesehen, dass die Anrufe von ihm kamen.

Stefan meldete sich aufgeregt: „Es ist etwas Furchtbares passiert. Das Blockhaus ist abgebrannt. Es tut mir so leid. Ich kann nichts dafür … glaube ich.“

„Ist dir etwas passiert?“, fragte sie atemlos.

„Nein, außer ein paar angesengten Haaren. Ich war plötzlich so müde und muss eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, brannte alles um mich herum.“

„Ich bin gleich bei dir!“ Sie ließ alles stehen und liegen und fuhr, so schnell es ging, zu ihrem Freund. Sie fand ihn, nur spärlich bekleidet vor der Ruine des Blockhauses ihres Vaters. Das Gebäude war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der Schornstein ragte als schwarzer Finger in den nebelgrauen Himmel. Es roch widerlich.

„Alles ist weg! Unsere Kleidung, mein Notebook, das Haus …“ Stefan weinte fast.

„Mach dir keine Sorgen!“ Ruth umarmte Stefan. „Wichtig ist, dass dir nichts passiert ist.“

„Die Feuerwehr spricht von Brandstiftung.“ Es sprudelte nur so aus Stefan heraus. „Molotowcocktail. Die Polizei hat mich intensiv befragt … Irgendwie habe ich den Eindruck, sie verdächtigen mich …“

„Beruhige dich, Stefan! Aber vielleicht …“

„Hast du einen Verdacht, Ruth?“

„Wer fällt dir ein, Stefan?“

Der junge Mann schwieg und starrte auf seine schmutzigen Schuhe.

Ruth ergriff seinen Arm. „Komm in den Wagen! Da ist es schön warm.“ Sie zog ihn mit sich. „Wir können uns nicht von den Ereignissen treiben lassen, wir müssen die Initiative ergreifen. Was sollen wir deiner Meinung nach tun?“

„Ich kann kaum klar denken. Außerdem habe ich wahnsinnige Kopfschmerzen.“

„Was man zurückhält, verursacht Verkrampfungen. Verkrampfungen lösen Schmerzen aus.“

Stefan sah seine Freundin an. Er nickte tapfer. „Gut, ich sage, was mich bewegt. Ich habe an meine … Stiefmutter … an Angela gedacht. Sie könnte … nein. Sie ist kein mörderischer Teufel. Es tut mir leid. Vergiss es! Das würde bedeuten, dass sie unsere Väter ermordet hat.“

„Oder ermorden ließ.“ Ruth nickte nachdenklich. „Sie selbst wird kaum die Räder eines Autos manipuliert haben oder geschossen haben.“

„Eben. Die Taten sind untypisch für eine Frau.“

„Und wenn doch?“, fragte Ruth. „Wenn sie hinter dem Autounfall steckt, der meinen Vater in den Landeskroner Weiher beförderte, wo er noch heute liegt? Oder hinter dem Mord an deinem Vater? Sie war auch dabei, als auf ihn geschossen wurde.“

„Würdest du ihr diese Mordaufträge zutrauen?“

„Sie erbt nur einen Teil von Aufhausers Vermögen. Vielleicht ist ihr das zu wenig. Immerhin hat sie viel in diesen Mann investiert.“

„Du meinst doch nicht etwa … sie hatten ein Verhältnis?“, fragte Stefan verwirrt.

„Ich schließe es jedenfalls nicht aus.“

„Was sagst du als Therapeutin zu Angelas Charakterbild?“

„Sie könnte eine schwere psychische Störung haben, die sie ihr Leben lang geschickt verborgen hat.“

„Du meinst, sie ist schizophren?“, fragte Stefan entsetzt.

Ruth zuckte die Schultern. „Sie könnte an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung leiden. Eine psychische Erkrankung, bei der die Frustrationstoleranz extrem niedrig ist. Menschen, die an dieser seelischen Krankheit leiden, neigen sehr schnell zu aggressiven Handlungen gegen das persönliche Umfeld. Sie versuchen andere in ihrem Sinn zu manipulieren. Nicht die menschliche Beziehung steht im Vordergrund, sondern der Zweck, das Ziel, dem sie dienen kann.“

„Ich kann mit dieser Beschreibung wenig anfangen“, gestand Stefan Obermann. „Sie trifft auf alles und jeden zu, oder auch wieder nicht. Natürlich hat Angela einige dieser Eigenschaften. Aber lässt sich das nicht auf jeden von uns anwenden? Wer ist schon frei von allen Merkwürdigkeiten und …“

„APS ist eine schwere Krankheit. Die Menschen, die daran leiden, sind meist hochgradig gefährlich.“

„Aber dass sie mich töten will …“

„Töten lassen will. Das ist schon etwas anderes“, unterbrach ihn Ruth. „Menschen mit dieser Persönlichkeitsstörung spüren selbst kaum etwas. Diese Kälte, die sie gut kaschieren, macht sie zu perfekten Verbrechern.“

„Das würde bedeuten, dass Angela an der Spitze einer verbrecherischen Organisation steht. Welche Ziele sollte die haben?“

„Ich bin nicht allwissend, Stefan. Das wird sich herausstellen, wenn sie von der Polizei verhört wird. Ich denke, es ist eine Gruppe mit einem politischen Ziel.“

„Aber Angela ist kein politisch interessierter Mensch.“

„Siehst du, Stefan, jetzt nähern wir uns dem wichtigen Punkt. Natürlich ist sie das nicht. Ihr Ziel ist die Macht. Sie ist frei von Ideologien und kann die politische Gruppe in ihrem Sinn manipulieren und nutzen. Der Teufel und Faust.“

„Wenn sie der Teufel ist, wer ist dann Faust?“

„Eine wichtige Frage, die wir klären sollten“, erwiderte Ruth.

„Du lächelst wie dein Vater.“ Stefan Obermann küsste Ruth auf den Mund.

*

Der Mann in der Uniform, der sich selbst als zweiter Führer bezeichnet hatte, sagte in schneidendem Ton zu Lady Marbely: „Es ist an der Zeit …“

Lady Marbely überlegte, wie sie ihre Exekution hinauszögern konnte. Sie hatte den Notruf an ihrem manipulierten Ehering noch nicht betätigt, glaubte immer noch, sich selbst aus dieser Situation retten zu können. „Ich muss gestehen, Herr Henschel, es hat mich überrascht, Sie hier zu sehen. Wir vermuteten Sie auf dem Grund des Landeskroner Weihers.“

„Jemand, der für tot gehalten wird, kann ungestörter seinen Geschäften nachgehen.“

„Und die wären in Ihrem Fall?“

„Die Interessen des Bundes 88. Diese noble Vereinigung wird dem geschundenen Deutschland mit seiner Überfremdung, der Ausplünderung durch die Schurken der EU endlich wieder seine wahre Bestimmung und Identität zurückgeben.“

Lady Marbely spitzte die Lippen. „Ich verstehe.“

„Sie verstehen gar nichts, Gnädigste. Sie sind eine Angehörige eines fremden Volkes. Sie sind der Feind!“

„Ich verstehe, was Sie mit Ausplünderung meinen. Die Politiker meines Landes waren vorsichtig genug, wenigstens nicht den Euro einzuführen.“

„Hexe!“, zischte Alexander Henschel.

Idiot!, dachte Milady.

„Sie schreiben jetzt entweder Ihr Testament, oder Sie sterben.“

„Wenn Sie Oder durch Und ersetzen, trifft es vermutlich eher den Kern der Sache.“

„Geschwätz. Deine Rede sei ja, ja, nein, nein.“

„Das ist kein Zitat Ihres großen, des ersten Führers … falls Sie das glauben sollten. Das sind die Worte Jesu bei der Bergpredigt, die übrigens ein beachtlich modernes Programm für uns alle bietet. Das Gebot Jesu, dass wir den Mitmenschen gegenüber äußerst liberal auftreten, zu uns selbst aber beinahe unbarmherzig streng sein sollen, ist moderner als vieles andere, was …“

„Schreiben Sie, oder Sie sterben!“ Alexander Henschel wirkte hochgradig genervt.

„Lassen Sie mich fünf Minuten allein, dann können Sie Ihr Schriftstück abholen.“

Der Mann verdrehte seine Augen und verließ wortlos die Kerkerzelle.

Lady Marbely hatte derweil einen konkreten Plan entwickelt, wie sie Bewegung in diese verfahrene Situation bringen konnte. Sie entschloss sich, ihr Testament tatsächlich zu verfassen, ihr Vermögen jedoch nicht irgendeiner suspekten Gruppe zu hinterlassen, sondern der Tochter des sogenannten Führers und ihrem Freund. Ruth Henschel und Stefan Obermann waren die Zukunft dieses Landes. Bei ihnen wäre zur Not der immense Besitz Lady Marbelys in Deutschland, aber auch in ihrem Heimatland, in einigermaßen guten Händen. So glaubte sie und schrieb ihren letzten Willen auf Deutsch. Als Alexander Henschel wenig später das Schriftstück las, lächelte er stärker, faltete das Blatt sorgsam und wollte gehen.

Diese Reaktion, oder besser gesagt, das Ausbleiben einer solchen überraschte die Lady. „Was passiert jetzt mit mir?“

„Wir werden uns beraten.“ Der Mann verließ den Kerkerraum, überglücklich, wie es schien.

Lady Marbely war alarmiert. Das merkwürdige Verhalten Henschels verhieß nichts Gutes. Er hatte, entgegen ihrer Annahme, das Testament akzeptiert. Sie hatte damit gerechnet, dass er toben und ihr eine weitere Frist setzen würde. Er wollte sich beraten. Gab es jemanden, der in der Hierarchie über Henschel stand? Konnte das bedeuten, dass sie durch ihren vermeintlichen Schachzug nicht nur sich selbst, sondern auch die beiden jungen Leute in Gefahr gebracht hatte?

Lady Marbely löste den Ehering vom Finger und betätigte den Notruf.

*

„Ich werde meine Stiefmutter mit dem Verdacht konfrontieren“, sagte Stefan.

„Aber sei vorsichtig! Warte! Ich habe eine Waffe, die meinem Vater gehörte. Nimm sie zur Sicherheit.“ Mit diesen Worten reichte Ruth ihrem Freund eine Pistole. „Eine Glock 39. Sie ist geladen. Steig aus!“

Ruth verließ den Maybach, ihr Freund folgte nur sehr zögerlich. „Ich habe noch nie geschossen. Keine Ahnung, wie das geht.“

„Ich zeig es dir.“ Ruth nahm die Waffe zurück und schoss mehrmals gegen einen Baumstamm. Danach reinigte sie die Pistole gründlich mit einem Tuch. „Auch du darfst nicht vergessen, deine Fingerabdrücke zu entfernen, nachdem du geschossen hast.“

„Ich habe nicht vor, Angela zu erschießen!“ Stefan schien entsetzt.

„Die Waffe soll dich doch nur schützen, sonst nichts. Probier es! Los!“

Stefan schoss, traf den Baum jedoch nicht ein einziges Mal.

„Vielleicht genügt es, wenn du in die Luft schießt“, meinte Ruth. „Schon der Knall kann jemanden abschrecken. Fahr jetzt bitte!“

„Das alles hat mich so aufgewühlt, ich kann jetzt nicht fahren“, wehrte Stefan ab.

„In Ordnung. Ich bring dich zum Haus deiner Stiefmutter, dann fahre ich weiter.“

„Wann sehen wir uns wieder?“

„Ich muss noch einiges erledigen. Noch ist mein Vater nicht gefunden. Der Nachlass hängt in der Schwebe. Ich melde mich so bald wie möglich.“

„Aber meine Stiefmutter. Wenn sie tatsächlich …“

„Du klärst das in Ruhe, Stefan. Ich melde mich. Okay?“

„Soll ich dich nicht sofort verständigen, wenn …“

„Ich stelle mein Handy ab und bin frühestens abends wieder erreichbar“, sagte Ruth entschieden, fügte dann aber versöhnlicher hinzu: „Hast du schon den Espresso probiert? Er ist absolut köstlich. Nimm einen Schluck zur Stärkung.“ Sie schaltete die Nespresso-Maschine im Maybach ein.


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