4.

Gegen achtzehn Uhr dreißig servierte die Haushälterin die Medaillons. Lady Marbely hatte eine Flasche Weißwein im Kühlschrank entdeckt und bat den Butler, diese zu öffnen.

„Gern, Milady, wenn auch der Rotwein gewiss besser mit dem Wild harmonieren dürfte.“

„Er erinnert mich an den toten Richter und verdirbt mir den Appetit.“

„Sehr wohl, Milady.“ Der Butler lehnte dankend ab, als die Lady auch ihm ein Glas anbot. „Ich muss einsatzfähig bleiben“, bedauerte er.

Auch Marion Metz entschuldigte sich. „Ich kümmere mich noch um das Geschirr, dann muss ich heim zu meiner Familie.“

„Sie haben Familie. Wie schön. Sie können natürlich sofort gehen. Den Abwasch übernehmen James und ich. Nicht wahr, James?“

„Mit Vergnügen, Milady.“ Der Butler nickte Marion Metz zum Abschied zu.

„Das Wildschwein ist vorzüglich. Und erst die Spätzle. Wie heißt es doch so schön im Deutschen … Doch ich sollte vorsichtig mit Sprichwörtern sein. Damit habe ich mich schon einmal ins Nest gesetzt.“

„Nesseln, Milady. Man setzt sich in Nesseln.“

„Wirklich?“

„Milady wollten auf ein Sprichwort hinweisen …“

„Ach ja: Besser die Spätzle auf dem Teller als die Taube auf dem Dach.“

„Sehr wohl, Milady!“

Lady Marbely deutete den zerknitterten Gesichtsausdruck ihres Butlers richtig. „War wohl wieder nichts, hm? Ich sollte die Hände davon lassen, aber sicher nicht vom Wein … Einfach köstlich.“

Sie leerte das Kristallglas, der Butler schenkte nach und stellte eine Karaffe mit frischem Leitungswasser auf die weiß gedeckte Tafel.

Der Rest des Essens verlief überraschend ruhig. Lady Marbely wurde immer langsamer in ihren Bewegungen und glitt schließlich vom Stuhl. Der besorgte Butler prüfte ihren Puls, fand, dass dieser in Ordnung war, wenn auch etwas schnell in der Frequenz. Vermutlich war die Lady stark übermüdet, nach all den Ereignissen der vergangenen Tage. Die Jüngste war sie schließlich auch nicht mehr. Er ging in die Knie, schob seine Hände unter Schultern und Kniekehlen der Frau, erhob sich und trug sie in das Schlafgemach, wo er sie vorsichtig auf das Himmelbett legte.

Auf Zehenspitzen entfernte er sich aus dem Raum.

*

Lady Marbely spürte die Berührungen des kräftigen Mannes als Schmerz an ihrem Körper. Die Schultern und die Kniekehlen brannten, als ob sie verbrüht worden wären. Der Wein war zu heiß gewesen, eindeutig zu heiß, obwohl er aus dem Kühlschrank kam. All das hatte mit dem Teufel zu tun, der den Richter geholt hatte. Ein Teufelsbraten als Festessen. Dem Teufel gehörte Schloss Andreae, und morgen die ganze … Aber nein. So etwas durfte man nicht einmal denken!

Dabei fiel ihr das Denken leichter als sonst. So klar war ihr die Welt eigentlich noch nie erschienen, obwohl sich alles im Kreis bewegte. Dann sah sie den Ring vor sich, den ihr Graham bei ihrer Vermählung an den Finger gesteckt hatte. Ach ja! Hatte Graham nicht eine frappante Ähnlichkeit mit James? Dasselbe Lächeln, dieselbe Noblesse. Und die Figur! Und auf dem Ring saß ein schwarzer Stein, der sich bewegte. Eine Spinne, die auf sie zukam und …

In Lady Marbelys Kopf blitzte es, grell und schmerzhaft. Etwas Kaltes griff nach ihrem Herzen. Sie musste atmen; sie wusste, dass sie atmen musste, um nicht am eigenen Speichel zu ersticken. Sie konnte nicht mehr schlucken. Aber was machte das schon aus, nachdem sie ihre Arme und Beine verloren hatte! Sie fand sich auf den Zustand einer Schmetterlingspuppe reduziert.

Eine rot glühende Gestalt bewegte sich auf sie zu. Behaart, obszön in ihrer unverhüllten Männlichkeit. Sie strahlte Hitze und Kälte zugleich aus. Lady Marbely fühlte etwas in sich, was ihr nicht unbekannt war, das beinahe in Vergessenheit geraten war. Sie musste Widerstand leisten, durfte sich nicht gehen lassen. Das war sie ihrer Würde, ihrer gesellschaftlichen Stellung, schuldig. Doch sie konnte und wollte sich nicht bewegen. Immerhin fehlten ihr die äußeren Gliedmaßen. Sie war reduziert auf ihren heißen Leib. In dem Moment, in dem Lady Marbely wusste, wer vor ihr stand, spürte sie einen Stich, wo ihr linker Arm gewesen war. Phantom Limb nannte man so etwas. Wie das auf Deutsch hieß, wusste sie nicht. Warum eigentlich dachte sie nicht in ihrer Muttersprache, warum dachte sie in Deutsch? Ein Rätsel, das sich nicht lösen ließ, wie alle Fragen um diese vermaledeite Erbschaft, die sie nie hätte antreten dürfen. Nie, nie, nie.

Eine blaue Rose rankte sich ihren Arm entlang. Die Stiche der Dornen schmerzten. Dann ließ die Hitze nach. Eine unheimliche Ruhe kam über sie. Sie konnte wieder atmen, spürte Arme und Beine. War das die Euphorie, die dem Sterben vorausging? Egal. Wenigstens der Teufel war verschwunden. Der Teufel, der sie um ein Haar geholt hätte.

*

In seiner Besorgnis rief der Butler wieder bei Mister Prince an und bat ihn, der Lady einen diskreten Arzt zu vermitteln. „Lady Marbely befindet sich in einem Zustand höchster Erregung“, berichtete er. „Sie ist ohne Bewusstsein. Ihr Puls rast, sie hat unvermittelt hohes Fieber bekommen.“

Keine zehn Minuten später läutete es am Haupttor zur Villa. Ein relativ junger Mann mit Arztkoffer stand draußen und wies sich mit seinem Führerschein, um den ihn der Butler bat, als Dr. Heiner Landau aus, seines Zeichens Allgemeinmediziner, mit einer Praxis in Königstein. Der Arzt untersuchte die Lady und bestätigte die Vermutung des Butlers, dass sie unter dem Einfluss einer starken Droge stand. Er tippte auf LSD oder Ecstasy oder eine Mischung beider Substanzen.

„Ich werde der Frau eine Blutprobe entnehmen und den Wein untersuchen. Sie hören von mir, sobald ich Näheres weiß. Aber jetzt holen wir die Dame langsam zurück in unsere Welt, indem wir sie mit einer Spritze beruhigen. Sie wird in einen sanften Schlaf gleiten und irgendwann in dieser Nacht hoffentlich erholt erwachen. Es wäre gut, wenn man sie in dieser Zeit nicht allein ließe.“

Der Butler bedankte sich und bat den Arzt um seine Telefonnummer. „Falls es zu Komplikationen kommt.“

*

Gegen vier Uhr früh streckte sich Lady Marbely und gähnte laut. Dann sprang sie erschrocken vom Bett auf.

„Ich bleibe in diesem Haus des Teufels keine Minute länger. Ich fahre zurück nach England und …“

„Beruhigen Sie sich, Milady! Bitte berichten Sie, was Sie so sehr, äh … Sie gestatten den Ausdruck … verstört hat.“

„Ich bin nicht verstört, ich bin zerstört“, korrigierte ihn Lady Marbely, warf sich in ihren eisblauen Morgenmantel und lief aus dem Raum.

Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, komplimentierte sie den Butler aus dem Schlafgemach. Dieser ging nur widerstrebend.

„Ich muss mit Ihnen reden, Milady“, erklärte er. „Sie hatten ein ernstes medizinisches Problem und müssen sich schonen.“

„Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen. Wir treffen uns in der Küche, dem einzigen Ort in diesem Haus, an dem ich mich sicher fühle. Und bereiten Sie Tee und etwas Toast, damit ich gestärkt abreisen kann.“

Als die Lady in der Küche erschien, hatte sie ihr Haar in Ordnung gebracht und etwas Schminke aufgelegt. „Ich sehe schrecklich aus. Dabei habe ich kaum etwas getrunken“, klagte sie. „Egal. Ich reise ab. So bald wie möglich. Ich telefoniere nach Hause. Sie bringen mich nach Siegen, zum Flughafen. Dann sind Sie mich los und können wieder Ihr normales Leben führen.“

„Sie gestatten, Milady, dass ich auch meine Sicht der Dinge darlege?“

„Natürlich können Sie das. Die Zeit der Leibeigenschaft ist vorüber. Doch ich möchte Ihnen auch noch etwas sagen. Wer beginnt?“

„Ich lausche Ihrem Wort mit Interesse“, erwiderte der Butler und bestrich eine Scheibe heißen Toast mit gesalzener Butter, wartete jedoch mit dem Hineinbeißen, um Lady Marbely nicht den Eindruck von Desinteresse zu vermitteln.

„Dies ist kein gutes Haus“, begann Lady Marbely ihre Ausführungen. „Wir wissen, dass mindestens vier Personen hier zu Tode kamen. Der Richter, Jakob, sein Sohn und seine Frau. Er wollte hier nicht leben. Und man kann hier nicht leben. Ich habe den Teufel gesehen, heute Nacht. Hier, in diesem Gebäude. Und ich habe mich noch nie so, wie soll ich sagen, aufgewühlt gefühlt, wie in den vergangenen Stunden. Mit mir ist etwas geschehen, das mich sehr beunruhigt, und ich weiß, dass ich nicht länger bleibe. Auch nicht in diesem Land. Wären Sie nicht gewesen, wäre ich tot. Man trachtet mir nach dem Leben. Und ich bezweifle allmählich, dass dieser Jemand aus Fleisch und Blut ist. Nun gut, das Wesentliche ist gesagt. Versuchen Sie mich nicht zu überreden, hierzubleiben. Mein Entschluss steht fest. Unabänderlich.“

Der Butler schwieg.

„Jetzt beißen Sie doch endlich in Ihren Toast, James!“

Der Butler ließ noch etwas Orangenmarmelade auf den gebutterten Toast gleiten, probierte davon und fand ihn köstlich. Er nahm noch einen Schluck starken Tee, bevor er sich an die Lady wandte. „Ihre Entscheidung muss ich natürlich akzeptieren, Milady, sosehr ich sie auch bedaure. Dennoch erlaube ich mir, den Verlauf des gestrigen Abends und der heutigen Nacht aus meiner Sicht zu schildern. Die unangenehmen Vorkommnisse begannen mit dem toten Richter im Weinkeller. Sie entschieden daraufhin, von einem gekühlten Weißwein zu trinken und verloren noch an der Tafel das Bewusstsein. Zugleich schien sich Ihr Körper, Milady, in einem Zustand höchster Agitation zu befinden. Ihr Puls raste, Sie hatten Fieber. Der Arzt, den ich rief, vermutete, Sie hätten eine Droge genommen. Natürlich, ohne es zu wissen. Er wird den restlichen Wein untersuchen. Und ich wage es auch noch, Ihnen mitzuteilen, warum ich Ihren Entschluss, aus Deutschland abzureisen und mich zu feuern, sehr, sehr bedaure.“

„Aber ich entlasse Sie doch nicht! Sie sind ja nicht wirklich mein Butler. Das ist nur Ihre Rolle. Sie sind … Na, so genau weiß ich es eigentlich gar nicht!“

„Eine Rolle, in die ich immer stärker hineinwachse. Ich bedaure Ihren Entschluss, Milady, aus persönlichen, aber auch aus beruflichen Gründen. Sie wurden mir, als ich den Auftrag übernahm, als beinahe furchtlose, unkonventionelle Frau beschrieben, mit deren Hilfe ich den schwierigen Fall lösen könnte. Ich weiß nicht, ob ich das allein schaffe.“

Lady Marbely schwieg. Tränen glänzten in ihren hellblauen Augen. Sie nahm einen Schluck Tee, räusperte sich und sagte: „Geben Sie mir eine Stunde Zeit! Ich muss mit mir ins Reine kommen. Ich weiß selbst nicht, was ich will. Und das, das versichere ich Ihnen, ist nicht oft der Fall bei mir.“

„Ich warte mit Interesse auf Ihre Mitteilung, Milady.“

„Und ruhen Sie sich etwas aus, James! Sie haben sicher die ganze Nacht nicht geschlafen. Für Ihre außerordentliche Fürsorge bedanke ich mich bei Ihnen.“

*

Der Butler war am Küchentisch eingenickt, als ihn das Läuten und Vibrieren seines Handys im Frackrock weckte.

„Landau hat mich verständigt“, meldete sich Mister Prince. „Er hat im Blut der Lady Marbely und im untersuchten Wein eine ziemlich hohe Konzentration von Lysergsäurediethylamid entdeckt.“ LSD. Wie es der Butler vermutet hatte.

Mister Prince erkundigte sich nach dem Befinden der Lady und reagierte etwas geschockt, als er von deren Absicht hörte, vorzeitig nach England zurückzukehren.

„Sie hasst dieses Haus und glaubt, den Teufel gesehen zu haben.“

„Den Teufel. Soso. Wir müssen natürlich ihren Wunsch akzeptieren“, meinte Mister Prince. „Doch zufälligerweise kann ich Ihnen einen außergewöhnlichen Vorschlag unterbreiten. Ich weiß, dass sich ein Top-Agent der PSA in Deutschland aufhält. Er arbeitet an einem Fall ganz in Ihrer Nähe. Er könnte der Lady diesen … unnützen Teufel sicher austreiben.“

„Es ist doch nicht etwa …“

„Larry Brent von der PSA. Ich werde ihn verständigen. Er wird, wenn ich ihn dazu überreden kann, von sich aus den Kontakt zu Ihnen suchen.“ Es klickte. Mister Prince hatte das Gespräch beendet.

Der Butler nickte zufrieden. Diese Schwesterorganisation PSA war eine patente Truppe. Es fügte sich gut, endlich mal einen dieser Spezialagenten kennenzulernen. Mit fachlichen Argumenten konnte Lady Marbely vielleicht zur Einsicht gebracht werden. Sofern sich dieser Larry Brent melden würde.

Kurz nach fünf kam Lady Marbely, vollständig angekleidet, in die Küche und verkündete: „Ich mache weiter. Allerdings unter bestimmten Bedingungen.“

„Eine sehr erfreuliche Mitteilung, Milady. Jeder Wunsch wird Ihnen erfüllt.“

„Also“, begann die Lady und füllte frisches Wasser in den automatischen Kocher. Dem Butler, der aufgesprungen war, ihr diese Arbeit abzunehmen, winkte sie entschieden ab. „Das gehört bereits zu meinen Bedingungen. Ich entschuldige mich für die Schwierigkeiten, die ich Ihnen seit meinem Eintreffen bereite. Sie werden den Eindruck haben, es mit einer selbstsüchtigen, hysterischen Alten zu tun zu haben, ähnlich jener schrecklichen Person, die sich Herzogin von Alba nennt. Eine peinliche Frau, die nach einer kosmetischen Operation wie die Figur aus einem Comicheft aussieht.“

„Die Simpsons, wenn Milady erlauben.“

„Von der ausgeprägten Oberlippe her, denke ich eher an Daisy Duck. Oder Oma Duck, was das Alter betrifft. Jedenfalls komme ich mir, seitdem ich Ihre Dienste in Anspruch nehme, immer mehr wie eine komische Alte vor, die eine merkwürdige Rolle in einer Schmierenkomödie übernommen hat. Sie sind ein perfekter Butler, aber was bin ich? Ich fühle mich kaum als Mensch neben Ihnen.“ Wieder sammelten sich Tränen in Lady Marbelys Augen.

„Das sind die Nachwirkungen vom LSD, das sich in dem Wein befunden hat, Milady, und der Injektion, die Ihnen der Arzt verabreicht hat. Alles schwere Psychopharmaka.“

„Mag sein. Aber es liegt auch viel Wahrheit in dieser bitteren Erkenntnis“, wehrte die Lady ab. „Und deshalb habe ich mich entschlossen, diesen Zauber zu beenden. Sie treten als Agent, oder was immer Sie sind, neben mir auf. Und ich versuche, eine möglichst brauchbare Assistentin zu sein.“

„Der Wunsch, weiter mit mir zu arbeiten, Milady, freut und ehrt mich. Ich weise aber darauf hin, dass die Konstellation Herrin und Butler viele Vorteile bei der Lösung dieses Falles bietet. Ich würde ungern darauf verzichten.“

„Einverstanden. Aber unter einer Bedingung.“

„Und die lautet?“

„Wir wechseln die Rollen für diesen Tag. Von Stund an bis um null Uhr.“

„Das heißt, Sie wollen die Rolle des Agenten übernehmen, während ich in die zweite Reihe zurücktrete. Das ist kein Problem, Milady. Dazu bin ich selbstverständlich bereit.“

„Sie missverstehen mich. Sie müssen die Rolle des Herrn übernehmen, während ich Ihre Gesellschaftsdame spiele. Und fragen Sie mich bitte nicht nach dem Grund dieses Wunsches!“

Der Butler zog ein langes Gesicht. „Gerade diese Frage, Milady, beschäftigt mich soeben sehr heftig.“

„Gut. Dann bemühe ich mich um eine Antwort. Ich möchte Ihnen die Möglichkeit geben, wenigstens für neunzehn Stunden zu sehen, dass auch die Rolle des Herrn ihre schweren Seiten hat, und ich möchte Ihre Sicht der Dinge übernehmen, um nicht in der Rolle einer eisernen Lady zu versteinern.“

„Oh. Ich weiß nicht …“

„Es ist die entscheidende Bedingung, weiter mit Ihnen zu arbeiten.“

„Einverstanden, Mil…“

„Ich bin Amanda, Ihre Gesellschaftsdame, Sir. Welche Wünsche haben Sie? Darf ich Ihnen ein englisches Frühstück vorschlagen? Mit Würstchen, Tomaten, Spiegelei.“

Etwas verlegen fügte sich der Butler in seine Rolle und bemühte sich, die Geduld aufzubringen, ruhig dazusitzen, während jemand anderer für ihn kochte. Eine langweilige Rolle, überlegte er, als ob man keine Hände und Füße hätte. „Sie sprachen von einer Teufelserscheinung, Mil… Amanda.“

„Amanda. Jawohl, Sir. Gut, heute Nacht sah ich den Teufel, möchte in der Beschreibung aber nicht ins Detail gehen. Das wäre mir, einem noblen Menschen wie Ihnen gegenüber, peinlich. Das Furchtbarste an diesem Erleben, das so gar nichts von einem Traum hatte, waren die körperlichen Empfindungen. Ich hatte keine Arme und keine Beine mehr.“

Ach!, dachte der Butler amüsiert. „Schrecklich. Das macht Ihre heftige Reaktion natürlich verständlich. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, scheint auf dem Herd etwas zu heiß zu werden.“

„Oh mein Gott! Ich sollte mich auf die Arbeit konzentrieren und nicht so viel reden. Ich hoffe, wir haben noch Eier.“

Trotz dieses kleinen Zwischenfalls mundete das von Lady Marbely, alias Amanda, bereitete Frühstück köstlich, und der Butler, alias Sir James, fühlte sich allen möglichen Schwierigkeiten des folgenden Tages gewachsen, zu denen ein Besuch bei Hans Obermann und seiner Frau in Siegen zählen sollte.

„Ich schlage vor, wir …“

Lady Marbely unterbrach den Butler: „Sie schlagen mir nichts vor, Sir, Sie befehlen, wenn ich mir diesen Einwand in aller Höflichkeit erlauben darf.“

„Ich befehle also meiner treuen Amanda, bei den Obermanns auf die vorübergehende Umkehr unserer Rollen zu verzichten. Es könnte die armen Leute …“

„Die vielleicht gar nicht so arm sind …“

„Oh, Amanda, Sie haben soeben Ihren Herrn etwas unhöflich in seinen Ausführungen unterbrochen.“

„Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, Sir. Bitte um Verzeihung.“

„Ohne Zweifel der Teufel … Also, wir verzichten auf den Rollentausch, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die uns schon kennen.“

„Das, Sir, kann ich schwer akzeptieren, schlage daher einen Kompromiss vor. In den beschriebenen Fällen treten wir als zwei sozial gleichwertige Menschen auf. Also ganz normal.“

„Ein guter Vorschlag, den ich gern akzeptiere.“

„Ich fühle mich erleichtert, Sir. Ahne aber jetzt schon, wie schwer es wird, als Ihre Gesellschaftsdame einigermaßen zu …“

„Reüssieren?“

„Bestehen.“

„Und nun ein Angebot von meiner Seite. Ich kenne einen absoluten Spezialisten auf dem Gebiet paranormaler Phänomene. Er wird, so hoffe ich, die Villa möglichst rasch kontrollieren und je nach dem Ergebnis der Untersuchungen zu einer Abreise raten oder die Unbedenklichkeit des Aufenthaltes bestätigen.“

Die Lady dankte dem Butler und eilte zur Spüle, um den Abwasch zu erledigen.

Bloody hell! Sie musste einen Geschirrspüler für die Villa anschaffen. Das heiße Wasser und das übel riechende Spülmittel schadeten ihren Händen. Wieder fiel ihr Blick auf den leeren Ringfinger, und sie dachte mit Wehmut an ihren Mann, mit dem sie ein entspanntes, ja, beinahe normales Leben geführt hatte. Andererseits waren es zu ruhige Jahre gewesen, die sie an Geist, Seele und Körper altern ließen. Jung fühlte sie sich erst, seitdem sie sich um das Firmengeflecht kümmern musste, das ihr Mann weltweit zurückgelassen hatte. Und jetzt diese neue Herausforderung! Sie würde auch dieses Abenteuer in Deutschland bestehen. Sie war ja nicht allein.

*

Lady Marbely bestand in ihrer vorübergehenden Rolle darauf, den Maybach nach Siegen zu chauffieren. Der Butler bemühte sich, auf dem Beifahrersitz möglichst entspannt zu wirken, trotz der, gelinde gesagt, extravaganten Fahrweise der Lady.

„Es ist nicht ganz leicht, einen rechtsgesteuerten Wagen über Deutschlands Straßen zu lenken“, entschuldigte sie sich bei ihrem Passagier, der auch bei den heftigsten Manövern Haltung bewahrte. „Aber das wissen Sie ja, Sir, aus eigener Erfahrung. Wie konnte ich nur so gedankenlos sein, ein solches Modell zu ordern! Wir hätten einen Leihwagen nehmen können, mit kontinentaler Steuerung.“ Dann fügte sie noch hinzu: „Ich fürchte, Sie werden mich bald entlassen.“

„Erst um Mitternacht. So lautet unser Pakt.“

„Geben Sie zu, Sir, dass Sie soeben auch an einen Teufelspakt gedacht haben.“

„Nichts läge mir ferner als das.“ Der Butler unterdrückte ein Lächeln.

„Aber ich falle ständig aus meiner Rolle, Sir. Eine Gesellschaftsdame hat zu schweigen, solange sich ihr Herr nicht an Sie wendet.“

„Dem habe ich nichts hinzuzufügen.“ Der Butler schloss die Augen und schien tatsächlich zu schlafen, bis der Maybach vor dem Haus der Obermanns in der Siegener Am-Schwarzen-Barth-Straße hielt.

Das Haus wirkte mit seinem Efeubewuchs düster und unfreundlich auf die Lady. Wie sein Besitzer, Hans Obermann, der von der Firma nach Hause geeilt war, um den Besuch zu begrüßen. Der Butler hatte sich jedoch vorgenommen, dem Ehepaar Obermann ohne vorgefasste Meinung zu begegnen. Immerhin hatte ihnen Jakob Aufhauser eine beträchtliche Summe Geld hinterlassen und in ihrem Haus gelebt.

„Jakob wohnte im ersten Stock“, erklärte Angela Obermann mit einem strahlenden Lächeln, bei dem sie ihre makellosen Zähne entblößte. Sie hätte gut zu dem verunglückten Alexander Henschel gepasst, fand der Butler, aber dann wäre sie jetzt Witwe.

„Wir haben genug Platz, seitdem unser Sohn studiert“, fuhr sie fort.

Ihr Mann hielt sich schweigend im Hintergrund.

Der Butler sprach ihn direkt an, als Frau Obermann in der Küche verschwand, um einen vormittäglichen Imbiss zu bereiten. „Wir haben von einer weiteren Firma gehört, die dem Cousin Lady Marbelys gehörte. Ein Betrieb in Kirchhundem.“

„Die Gesellschaft für Feinmechanik, vermute ich“, erwiderte Herr Obermann.

Lady Marbely, der Butler und Hans Obermann nahmen auf dunkelbraunen Ledersitzmöbeln Platz, die beim ersten Kontakt mit dem Körper ein peinliches Geräusch von sich gaben. Lady Marbely probierte es gleich mehrmals hintereinander und nahm so der Situation die Spitze.

Hans Obermanns Gesicht hatte sich jedoch weiter verdunkelt. Er schwieg.

„Das heißt, Sie wussten von dieser Firma?“

„Ich kenne sie, weil wir sie beliefern“, lautete die knappe Antwort.

„Aber Herr Aufhauser muss Ihnen gegenüber doch etwas erwähnt haben. Schließlich haben Sie hier mit ihm zeitweise zusammengelebt.“

„Ich kommentiere private Gespräche nicht. Es war mir stets wichtig, die dienstliche Seite von der privaten zu trennen, möchte aber nicht verhehlen, dass Jakob Aufhauser für mich ein lieber Freund geworden ist, eine Art wohlmeinender großer Bruder, von dem ich menschlich viel gelernt habe. Vor allem habe ich mich unter seinem Einfluss von einer Gruppe von Menschen befreien können, die für meine innere Entwicklung nicht gut waren.“

Der Butler, der überrascht war von der emotionalen Art, in der Herr Obermann von seinem Arbeitgeber gesprochen hatte, erkundigte sich nach der Gruppe, die sein Gegenüber erwähnt hatte.

„Eine Gruppierung, der ich seit dem Studium angehörte. Konservativ, alten Werten anhängend. Meine Narbe geht auf diese Zeit zurück.“

„Eine schlagende Verbindung?“, mutmaßte der Butler.

Hans Obermann nickte. „Aber ohne Bedeutung für mein jetziges Leben.“

Frau Obermann, die geduldig gewartet hatte, bis dieser Teil des Gespräches abgeschlossen war, stellte Schnittchen, Kaffee und Mineralwasser auf den Couchtisch. „Hans ist ein sehr ehrlicher Mensch. Er kennt keine Lügen. Das macht den Umgang mit ihm manches Mal etwas schwer, wenn man ihn nicht so gut kennt wie ich. Oder wie das bei Jakob Aufhauser der Fall war. Er mochte meinen Mann.“

„Sie gestatten mir dieselbe Offenheit“, setzte der Butler das Gespräch fort. „Lady Marbely sind berechtigte Zweifel gekommen, dass die sicherlich gut geführte Fabrik in Siegen Quelle des immensen Vermögens sein kann, das sie geerbt hat.“

„Dieser Gedanke drängt sich auf“, räumte Hans Obermann ein. „Jakob Aufhauser war gerade damit beschäftigt, all das zu klären, als man ihn beseitigte.“

Der Butler horchte auf. „Sie glauben also auch an Mord?“

„Ich bin überzeugt davon, dass man ihn getötet hat“, antwortete Hans Obermann.

„Sie wissen, wer oder was dahintersteckt?“

„Ich …“ Ein Klirren und ein dumpfer Schlag unterbrachen das Gespräch. Auf Hans Obermanns Stirn zeichnete sich ein kreisrunder roter Fleck ab. Er kippte nach vorn.

Seine Frau eilte auf ihn zu. Der Butler sprang auf, stieß sie mit der linken Hand zu Boden, mit der Rechten drückte er Milady unter den Tisch. „Nicht bewegen!“

„Aber ich kann doch meinen Mann nicht im Stich lassen!“, schrie Frau Obermann.

Der Butler hockte kampfbereit hinter einem der Sessel. „Ihr Mann ist tot.“

*

„Sie bleiben im Wagen, Amanda!“, gab sich der Butler streng, indem er die neue Rolle, die Lady Marbely ihm aufgedrängt hatte, nun für seine Interessen nutzte. „Unsere Gegner entwickeln eine derart massive kriminelle Energie, dass wir mehr auf Sicherheit bedacht sein müssen.“

„Aber …“

„Aber was?“

„Aber, Sir.“

„Kein Aber, Amanda. Ich wage mich allein in die Höhle des Löwen namens GFF, wäre jedoch froh, eine Vollmacht zu erhalten, die mir einen Einblick in die Geschäftsunterlagen der Firma erlaubt, die sich nun rechtlich in Ihrem Besitz befindet.“

„Abgelehnt, Sir. Ich komme mit.“

„Gut, dann folgen Sie mir. Auf eigene Gefahr, auf eigenes Risiko, aber etwas flott, wenn ich bitten darf.“

Den Mord an Hans Obermann hatte der Butler bereits Minuten nach dem Überfall an seine Leitstelle gemeldet. Kaum eine Viertelstunde später war ein Hubschrauber des LKA eingetroffen. Für die geschockte Frau Obermann wurde gesorgt. Jetzt galt es, keine unnötige Zeit zu verlieren.

Die Fahrstrecke von Siegen nach Kirchhundem wäre landschaftlich schön gewesen, hätte es nicht derart stark geregnet. Den Laubbäumen mag dieser Segen von oben in diesen ersten trockenen Frühlingstagen gutgetan haben. Den Einfluss des trüben Wetters auf Lady Marbely, deren seelisches Gleichgewicht nach dem unfreiwilligen LSD-Trip noch nicht ganz wiederhergestellt war, musste man jedoch als bedrückend bezeichnen. Die sonst so gesprächige Dame schwieg während der Fahrt, schaute stur geradeaus, fuhr viel langsamer, als es erlaubt gewesen wäre.

Ein schlechtes Zeichen, dachte der Butler gerade, als die Lady den Wagen in eine Parkbucht lenkte und anhielt. Sie blieb weiterhin stumm. Der Butler bemerkte die Tränen, die aus Lady Marbelys Augen über ihre vollen Wangen liefen.

„Ist Ihnen nicht gut, Amanda?“, fragte der Butler besorgt. „Soll ich übernehmen?“

„Entschuldigen Sie, Sir“, kam die Antwort. „Es ist alles ein bisschen viel auf einmal. Die nächtliche Konfrontation mit dem Teufel, und jetzt auch noch der Tod Hans Obermanns. Ich war dabei, den Mann, wenn schon nicht sympathisch, so doch ehrlich und authentisch zu finden, da liegt er tot neben uns. Und die arme Frau. Wir hätten uns um sie kümmern müssen.“

„Sie wird von Spezialisten versorgt.“

„Ich werde mich telefonisch bei ihr melden. Wenn Sie keine Einwände haben.“

Die Regenwolken wirkten mit einem Mal geradezu freundlich auf den Butler, als die Atmosphäre im Maybach erneut einen Dämpfer erhielt. Lady Marbely, die die Telefonnummer der Obermanns gewählt hatte, erreichte nicht Angela Obermann, sondern den durch den Tod seines Vaters mitgenommenen Sohn.

Nach nur wenigen Worten trennte Lady Marbely die Verbindung. „Der Sohn der Obermanns. Völlig aus dem Häuschen. Er blamiert den Tod seines Vaters auf uns.“ Die Lady war aufgewühlt, ihr Deutsch für den Moment desolat.

Eine halbe Stunde später stärkten sie sich bei Eierlikörtorte und Milchkaffee im Stadtcafé Hilchenbach, einem prächtigen Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert. Sie verweilten nicht lange und steuerten nach dieser kreativen Pause Kirchhundem und das Gelände der Gesellschaft für Feinmechanik an. Diese Betriebsstätte wirkte sauber und modern, obwohl die Gebäude schon einige Jahrzehnte alt sein mussten. Der Parkplatz stand voller Autos. Der Butler schätzte, dass dort an die hundert Fahrzeuge abgestellt waren.

Am Glas der Eingangstür zum Bürogebäude war ein Hinweis auf eine Betriebsversammlung um vierzehn Uhr angebracht. In allen Büros brannte Licht. Dennoch war niemand anzutreffen. Als sie am Ende eines Ganges eine Frau mittleren Alters von einer Tür in die nächste huschen sah, machte sich Lady Marbely durch lautes Rufen bemerkbar.

Die Frau, vermutlich eine Sekretärin, reagierte und schritt den Gang entlang auf die Lady und den Butler zu. „Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“

Lady Marbely wies sich als die neue Eigentümerin der Firma aus. Ein Umstand, der die sorgenvolle Miene von Frau Belinda Semmelrogge, so stellte sie sich vor, mit einem Schlag aufhellte. „Ich verständige den Geschäftsführer, Herrn Habermann. Ich führe Sie in sein Büro.“

Der Raum wirkte hell, obwohl die Fenster auf eine Betonwand blickten. Von einem Computermonitor leuchtete der Terminkalender des Herrn Siegbert Habermann, randvoll von morgens um halb neun bis abends um neunzehn Uhr. Ein Blick auf seine Uhr zeigte dem Butler, dass es kurz vor zwölf war.

Herr Habermann wirkte überdreht. Er redete unaufhörlich ab dem Zeitpunkt, an dem er seine Gäste begrüßt und sie gebeten hatte, auf olivgrünen Polstermöbeln Platz zu nehmen. „Ich freue mich sehr, Sie persönlich kennenzulernen, Lady Marbely. Die Tatsache, dass Sie das Erbe unseres Chefs antreten, überrascht mich zwar, aber Herr Henschel war immer für Überraschungen gut. Ja, Herr Henschel war Chef und Eigentümer des Betriebs. Nein, von einem Herrn Aufhauser haben wir nie etwas gehört. Oh doch, natürlich. Wir bezogen Produkte von Aufhauser Metalltechnik in Siegen. Sie können sich vorstellen, dass der plötzliche Tod des Eigentümers zu Unruhe in der Belegschaft führt. Wir haben um vierzehn Uhr eine Betriebsversammlung, bei der wir versuchen werden, die Arbeiter und Angestellten etwas zu beruhigen. Dreihundertsiebenundsechzig Arbeiter, achtundfünfzig Angestellte, mich eingeschlossen. Ja, die Art der Produkte. Sehr global gesehen handelt es sich um feinmechanische Geräte, die zur Herstellung vielfältiger Teile dienen. Richtig gesehen zur Herstellung metallischer Gegenstände.“

Lady Marbely gedachte den Redefluss des Mannes zu unterbrechen. „Also eine illegale Waffenfabrik?“

Der Geschäftsführer zog sein Gesicht in die Länge. „Wie kommen Sie darauf?“

„Instinkt, Herr Habermann. In meinem geliebten Heimatland gibt es ähnliche Feinmechanik. Geräte, die zur Herstellung anderer Geräte dienen. Das sind meist Kanonenrohre, Haubitzen, und der Teufel weiß, was sonst noch.“

„Aber …“

„Schweigen Sie, Habermann! Jetzt rede ich!“ Lady Marbely wurde brüsk. „Sie begegnen mir entweder mit rückhaltloser Offenheit, was die Firma betrifft, oder ich spreche eine sofortige Kündigung aus und leite eine kriminalistische Untersuchung der Vorgänge rund um das Werk Kirchhundem ein.“

„Ich erbitte Bedenkzeit. Da gibt es ziemlich viel zu berücksichtigen.“

„Sie haben bis dreizehn Uhr Zeit. Wir werden inzwischen etwas essen. Sie haben doch eine Kantine?“

„Selbstverständlich. Nur entspricht sie im Standard nicht dem, was man einem Gast wie Ihnen …“

„Ich bin kein Gast. Die Fabrik gehört mir“, stellte die Lady klar. „Zeigen Sie mir bitte den Weg!“

Wenig später verstummten die Stimmen der Männer und Frauen im Speisesaal, als der Geschäftsführer die Lady und den Butler an einen freien Tisch geleitete. „Ich hoffe im Interesse der Belegschaft, dass GFF überleben wird“, verabschiedete sich Habermann. „Es sind sehr schwere Stunden, die viel von uns allen fordern.“

Lady Marbely und der Butler stellten sich brav an der Essensausgabe an und wählten Menü Nummer zwei, das aus Pfannkuchensuppe mit Gemüseeinlage, Schweinekotelett mit Leipziger Allerlei und Kartoffelpüree sowie Nussecken bestand. Dazu tranken sie Apfelschorle.

„Ich werde mich bei der Versammlung um vierzehn Uhr an die Arbeiter wenden. Sie sollen wissen, was sie erwartet“, sagte die Lady.

„Es wäre wichtig, die Situation zu klären und dann das Werk weiterzuführen“, riet der Butler. „Ich kann die Unterstützung aller wichtigen Behörden garantieren.“

„Zur Klärung der Situation, von der Sie sprechen, werde ich meinen geschäftlichen Berater Sam Hamilton nach Deutschland beordern. Er soll die Geschäftspraktiken von GFF analysieren und eine Bereinigung der Situation vorbereiten. Dass hier etwas faul ist, scheint wohl klar zu sein.“

Nach dem Mittagessen zogen sich Lady Marbely und der Butler in den Maybach zurück, wo sie einige Telefonate tätigten und Lady Marbely eine Rede entwarf, die sie vor den Mitarbeitern halten wollte.

Als sie gegen vierzehn Uhr die Werkshalle A betraten, hatten sich bereits Hunderte Arbeiter eingefunden. Die Stimmung war angespannt, alle redeten durcheinander. Lady Marbely wartete auf das Erscheinen des Geschäftsführers. Als dieser auch fünf Minuten nach zwei Uhr noch nicht eingetroffen war, erklomm sie das Podium, auf dem ein Rednerpult stand. Sie vergewisserte sich, dass das Mikrofon eingeschaltet war und hielt die vorbereitete Rede, wobei sie frei sprach und nur hin und wieder den Text zu Hilfe nahm. Der Butler bewunderte die ruhige Professionalität der Lady, die erst in diesem Umfeld zur Geltung kam. Er verstand nun, warum sie und ihre Unternehmen so erfolgreich waren.

„Wir werden darauf achten“, beendete Lady Marbely ihre Ansprache, „dass jeder Einzelne von Ihnen weiter beschäftigt werden kann, müssen dafür jedoch die äußeren Umstände klären. Ich schicke Sie vorläufig in einen auf vierzehn Tage bemessenen bezahlten Urlaub. Am 26. März, acht Uhr früh, findet die nächste Versammlung statt, bei der wir Ihnen Näheres, die Zukunft betreffend, mitteilen werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und stehe für Fragen zur Verfügung.“

„Entschuldigen Sie mich, Lady Marbely“, rief die aufgeregte Stimme von Frau Semmelrogge vom Eingang her. „Sie werden dringend benötigt. Es handelt sich um einen Notfall.“ Mehr sagte die Sekretärin nicht, doch ihr verzweifelter Blick, ihr wirres Haar und die unkoordinierten Bewegungen der Hände ließen auf einen dramatischen Vorfall schließen. Lady Marbely und der Butler eilten zum Ausgang und folgten ihr ins Bürogebäude. Der Butler vermutete, dass die Hektik etwas mit dem Geschäftsführer zu tun hatte, der nicht zu der Versammlung gekommen war.

Im Büro von Siegbert Habermann standen zwei Sanitäter. Der Notarzt bestätigte soeben seinen Tod. „Vermutlich die Überdosis einer Droge“, sagte er.

„Die Toilette war versperrt. Ich ließ sie vom Hausmeister öffnen“, erklärte die verwirrte Sekretärin. „Was für ein Elend! Das ist nicht zu fassen.“

Lady Marbely wirkte konsterniert. Sie stand den sich überschlagenden Ereignissen fassungslos gegenüber. Der Butler empfand Mitleid. Kaum hatte sie ihren Fuß auf deutschen Boden gesetzt, da wurde sie von grauenhaften Ereignissen nur so überrollt. Der Butler nahm sie in den Arm; sie legte ihren Kopf an seine Schulter und weinte.

„Hätten wir nicht unsere Rollen getauscht, Milady, dürfte ich nicht wagen …“

„Es ist gut so, James!“ Lady Marbely zwang sich zur Contenance. „Es hilft mir sehr, einen Mann wie Sie an meiner Seite zu wissen.“

Dann musste der Butler erneut seine Kommandozentrale unterrichten, und wieder wimmelten zahlreiche Einsatzkräfte durch das sonst so beschauliche Siegerland. Als man die wichtigsten Formalitäten erledigt hatte, verließen der Butler und Lady Marbely im Maybach das Fabrikgelände.

Merkwürdig!, überlegte der Butler. Egal wohin wir gehen, wir hinterlassen eine Spur des Grauens …

Und nur wenige Kilometer später fiel dem Butler auf, dass ihnen ein silbergrauer VW Polo mit Siegener Kennzeichen folgte. Der Lady gegenüber, die vor Erschöpfung eingeschlafen war, erwähnte er nichts. In dem gepanzerten Wagen mit den schusssicheren Scheiben befanden sie sich in Sicherheit. Zudem lenkte der Anruf eines Mannes mit amerikanischem Akzent seine Gedanken auf ein anderes Thema. Larry Brent, die Nummer drei der PSA, schlug ein Treffen in Siegen vor. „Bevor ich mich eingehender mit dieser Villa beschäftige, die Mister Prince erwähnt hat, möchte ich einige Punkte klären.“

„Wir können in einer halben Stunde bei Ihnen sein.“

„Das heißt, Sie sind irgendwo in der Nähe unterwegs?“

Der Butler bestätigte dies und schlug als Treffpunkt den Siegener Bahnhof vor. „Unser Maybach ist nicht zu übersehen, Mister Brent.“


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