5.

Der Butler servierte Lady Marbely das Frühstück am nächsten Tag in Königstein erst um zehn Uhr. Er hatte sich von den Speisen anregen lassen, die ihm die Lady am Vortag bereitet hatte und erntete mit seinem Menü besonders viel Lob und Anerkennung.

„Fein. Und was machen wir mit dem heutigen Tag? Sie haben gewiss Vorschläge.“

„Wir sollten im Geschehen innehalten, das Vorhandene betrachten, analysieren und uns dabei der genialen Methode bedienen, die Sie, Milady, gestern in so unvergleichlicher Weise …“

„Kommen Sie zum Punkt, James. Von welcher Methode sprechen Sie?“

„Dem Hineinschlüpfen in die Haut des anderen, wenn Milady gestatten.“

„In welche Haut wollen Sie heute schlüpfen?“

„In die der Person hinter all den Untaten, mit denen wir anlässlich Ihres geschätzten Besuches hier in Deutschland konfrontiert wurden.“

„Einverstanden. Soll ich oder Sie?“

„Worauf beziehen Milady diese Frage?“

„Soll ich schlüpfen oder Sie? Wollen Sie der Unhold sein oder ich?“

„Ich schlage vor, ich übernehme diese Rolle. Sie sind meine Komplizin.“

„Gut, dann verwandeln wir uns.“

„Wer beginnt?“

„Sie, James. Ich bin nur die Komplizin.“

„Ich halte alle wichtigen Punkte auf einem Bogen Papier fest.“ Der Butler begann zu schreiben.

Tod Jakob Aufhausers durch Injektion von Insulin. Maybach, gelockerte Radmuttern, verletzter Chauffeur. Gelockerte Radmuttern am Mercedes des Butlers.

Offenbar Mordversuch an Lady Marbely mittels Seilwinde. Fabrikhof Siegen.

Schussattentat auf Lady Marbely. Friedhof Königstein.

Schussattentat auf Mercedes.

Verschwinden Alexander Henschels im Landeskroner Weiher.

Ermordung des Amtsrichters im Weinkeller der Villa Andreae.

LSD-Attentat auf Lady Marbely. Villa Andreae.

Schussattentat auf Hans Obermann.

Selbstmord des Geschäftsführers Habermann in Kirchhundem mit LSD.

Schwarze Ringe. Lemniskaten.

Waffenschmuggel. Geldwäsche.

Danach wandte sich der Butler nachdenklich an Lady Marbely. „Unglaublich, was in der kurzen Zeit alles passiert ist. Möchten Milady etwas ergänzen?“

„Ich hätte gern ein Fragezeichen hinter Habermanns Selbstmord.“

„Schon geschehen.“ Der Butler fixierte weiter sein Geschriebenes. „Wir, Milady, sind die teilweisen Urheber dieses verbrecherischen Geschehens. Beginnen wir mit dem Warum und denken wir wie unser Widerpart.“

„Warum also haben wir so viele Leute auf dem Gewissen und andere immer wieder attackiert?“, fragte Lady Marbely mehr sich selbst als ihren Butler.

„Wir haben einen gewichtigen Grund dafür, ansonsten würden wir uns dieser Sache, oder nennen wir es Projekt, nicht mit dieser Energie widmen.“

„Wir hatten einen Plan, der durch eine schrullige Engländerin gestört wurde, die plötzlich auftauchte und alles durcheinanderbrachte. Sie ist der Grund dafür, dass aus einem sauberen Plan, der wie ein chirurgischer Eingriff ablaufen sollte, ein Blutbad wurde.“ Lady Marbely betrachtete mit großem Wohlgefallen die Schokoladenkekse, die der Butler als gelungene Abrundung des Frühstücks servierte, hielt einen davon in ihre Teetasse und wartete, bis er sich vollgesogen hatte, dann ließ sie ihn genießerisch in ihrem Mund verschwinden.

Der Butler fuhr derweil in seinen Überlegungen fort: „Ich brauche sehr viel Geld, um meine Pläne umzusetzen. Dazu sollte mir die Erbschaft des Jakob Aufhauser dienen.“

„Sie setzen zu spät ein. Das alles begann viel früher, mit der Firma in Kirchhundem. Sie machte Jakob zu einem reichen Mann.“

„Richtig. GFF in Kirchhundem hat sich auf die unerlaubte Ausfuhr von Geräteteilen spezialisiert, die, am Zielort zusammengesetzt, zur Herstellung von Haubitzen dienen.“

„Und der Zielort ist ein Krieg führendes Land“, warf Lady Marbely ein.

„Womit gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen wird und viel Geld zu verdienen ist.“

„Dieses Geld“, fuhr Lady Marbely fort, „wird in der anderen Fabrik in Siegen reingewaschen, sodass es offiziell verwendet werden kann. Man kauft Rohstoffe über konzerneigene Zulieferfirmen zu eklatant überhöhten Preisen, und schon ist das schmutzige Geld sauber. Und das ist nur eine Methode, wie man Geld waschen kann, ganz abgesehen von Offshorebanken und Scheinfirmen.“

„Milady haben sich eingehend mit diesem Thema beschäftigt.“

„Um zu wissen, wovon ich in meinem Firmenimperium besser die Hände lasse, James. Weiter im Text. Wir haben uns im vorliegenden Falle eines Strohmannes bedient, dem wir die Rettung seines maroden Unternehmens in Aussicht stellten, den wir, ohne dass er es am Anfang bemerkte, immer tiefer in die kriminellen Machenschaften verwickelten.“

„Bis es eines Tages zu spät war, um einfach auszusteigen“, meinte der Butler. „Als der Mann, entgegen unseren Erwartungen, doch alles platzen lassen wollte, als er drohte, mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen, musste er sterben.“

„Und wir wollten erben“, ergänzte Lady Marbely und schob ein weiteres mit Tee getränktes Schokoladenplätzchen in den Mund.

„Doch dieser Plan ging nicht auf. Nicht die Person, von der wir es erwartet hatten, erbte, sondern eine entfernte Verwandte namens Lady Marbely. Also musste dieses Hindernis beiseitegeschafft werden. Als dies nicht gelang, versuchte man es über Richter und Rechtsanwalt, die irgendeiner geheimen Gruppe angehören, über die man Macht hat.“

„Bitte um Details, James!“

„Denken Sie an die schwarzen Ringe mit den Lemniskaten.“

„Das ist eine gewagte Vermutung, aber nicht ganz vom Finger zu weisen.“ Der Butler überlegte, ob Milady diesmal nur einen gelungenen Wortwitz kreiert hatte. „Wir beseitigen alle Menschen, die unseren Plan gefährden können“, fuhr die vielfache Millionärin fort.

„Aber wir erreichen unser Ziel nicht, solange die Lady am Leben ist.“

Die beiden legten eine Pause ein und hüllten sich in nachdenkliches Schweigen.

„Wir kennen nun die Motive des Täters“, nahm Lady Marbely den Faden wieder auf.

„Oder der Täter.“

„Aber wir wissen nicht, wer sie sind. Es wäre doch hilfreich, wenn uns das bekannt wäre. Wir könnten uns besser schützen.“

„Oder sie aktiv bekämpfen.“

„Das heißt …“

„Das heißt“, stellte der Butler fest, „dass unser Hauptziel in einer Identifizierung des Täters liegt.“

„Schön, aber … alle Verdächtigen sind bereits tot.“

„Ein Ansatzpunkt in diesem Fall sind die Strohmänner, hinter denen der eigentliche Täter steckt.“

„Jakob schrieb über einen Teufelspakt. Ein Vertrag zwischen Faust und Mephisto.“

„Das ist ein interessanter Gedanke, den wir unbedingt weiterverfolgen sollten.“

„Ein Pakt mit dem Teufel, der kurzzeitig Vorteile, letzten Endes aber den Untergang bringt.“

„Nur der Teufel selbst steigt dabei unversehrt aus. Damit wären wir bei unserem zweiten Hauptthema angelangt.“

Lady Marbely hatte verstanden. „Vielleicht kann uns der Amerikaner in dieser Hinsicht weiterhelfen. Er kommt doch heute Abend?“

„Das hat er uns gestern in Siegen versprochen. Ein Mann wie Larry Brent hält sein Wort.“

*

Der Agent tauchte wie aus dem Nichts aus dem Hintergrund auf. Der Butler bemerkte den Schatten und ging sofort in Angriffsstellung, um sich sogleich wieder zu entspannen. „Mister Brent!“

„Guten Abend, die Herrschaften!“ Der durchtrainierte Amerikaner mit dem blonden Haar lächelte kurz. „Dieses Haus birgt in der Tat einige Geheimnisse. Es hat sich mir jedoch ein wenig geöffnet.“

Larry Brent sprach ausgezeichnet Deutsch; bereits gestern hatte er von seiner deutschstämmigen Mutter erzählt. Dabei waren seine rauchgrauen Augen auffällig hart geblieben. Der Butler wurde das Gefühl nicht los, dass der Spezialagent der PSA hier in Siegen aus privaten Gründen weilte. Irgendetwas, das in der Vergangenheit lag. Der Butler hatte nicht nachgefragt.

„Sie sind geschmeidig wie eine Katze, Mister Brent.“ Lady Marbely hatte sich bereits von ihrer Überraschung erholt. „Möchten Sie Näheres über die Geschichte der Villa Andreae hören?“

Larry Brent winkte ab. „Sie haben recht mit Ihrer Vermutung, Milady. Hier existiert ein Teufelspakt. Der Fall, in den Sie verwickelt wurden, hat mit dem politischen Geschehen des letzten Jahrhunderts zu tun.“

Lady Marbely sah den Agenten der PSA fragend an. „Woher wissen Sie?“

„Die Stunde hier im Haus hat mir einiges bekannt gegeben.“

Der Butler sog hörbar Luft ein.

„Kein Grund zur Besorgnis“, beruhigte Larry Brent. „Manchmal nehme ich mir gewisse Freiheiten. Letztendlich bin ich hier, um zu helfen.“

„Dann darf ich weiter mutmaßen?“, fragte Lady Marbely. „Sie sprechen von der Zeit des Nationalsozialismus?“

Larry Brent nickte.

„Wie konnten Sie das erkennen?“, erkundigte sich die Lady aufgeregt.

„Die Schatten kürzlich Verstorbener irren ziellos umher. Sie sind noch nicht zur Ruhe gekommen. Sie wollen eingreifen, wissen jedoch nicht wie.“

„Diese Aufgabe haben wir übernommen“, meldete sich der Butler zu Wort.

„Wenn Sie erfolgreich sind, kommen die Schatten zur Ruhe.“

„Und wenn nicht?“, fragte Lady Marbely.

„Dann werden Sie selbst zu ruhelosen Schatten.“

Lady Marbely machte große Augen. „Und der Teufelspakt? Was meinen Sie damit?“ „Der gilt noch. Er wurde zwischen zwei Wesen geschlossen, die keine Schatten sind.“ „Sie haben erkennen können, wer das ist?“, insistierte die Lady. Larry Brent schwieg und der Butler lud ihn und die Lady zum Abendmahl in den Speiseraum.

*

Als sich der PSA-Agent, den der Butler auch unter der Bezeichnung X-RAY-3 kannte, nach Mitternacht verabschiedete, bat er James, ihn zum Auto zu begleiten. Lady Marbely ersuchte er um Verständnis, dass er mit seinem Kollegen, wie er sich ausdrückte, unter vier Augen sprechen wollte. Milady fügte sich und wartete ungeduldig auf die Rückkehr des Butlers, der sehr ernst wirkte.

„Was hat er gesagt?“, fragte sie sofort.

„Er hat das bestätigt, was wir in unserem Rollenspiel vermutet haben.“

„Und wer ist nun Mephisto und wer sein Faust?“

„Das herauszufinden, ist unsere Aufgabe. Mister Brent hat zumindest bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“

„Und hat diesen merkwürdigen Hinweis auf den Nationalsozialismus gegeben. Was halten Sie davon?“

„Ich nehme Herrn Brent und seine Aussagen sehr ernst.“

„Das heißt, es wird gefährlich.“

„Das ist es längst.“

„Dann wird es noch gefährlicher?“

„Ich fürchte, ja.“

„Aber warum hat er nur Sie ins Vertrauen gezogen? Wir arbeiten doch als Team.“

„Er hat mich gewarnt, dass der Teufel Zwietracht sät.“

„Doch nicht unter uns!“

Seit dem Gespräch mit Larry Brent wirkte der Butler bedrückt. „Ich hoffe nicht.“

*

In der folgenden Nacht konnte Lady Marbely nicht einschlafen. Ihre Gedanken bewegten sich im Kreis. Worauf hatte sie sich mit dieser Erbschaft nur eingelassen! War der Butler tatsächlich der hilfreiche Begleiter, als der er ihr am Anfang erschienen war? Er war ihr über Sam Hamilton, ihren geschäftlichen Berater, empfohlen worden. Hamilton vertraute sie vorbehaltlos. War es möglich, dass auch er getäuscht worden war? Unsinn! Der Butler hatte ihr mehrmals das Leben gerettet. Er war ein höchst sympathischer Mensch, mit Verstand und Muskelkraft. Er konnte nicht der Teufel sein, der hinter allem steckte. Dennoch: Er gehörte einer geheimen Organisation an, über die sie nichts wusste. Wollte er an ihr Geld herankommen, um diese mysteriöse Gruppe zu finanzieren? Nein, sicher nicht! Sie würde dem Butler weiter vertrauen, aber nicht mehr blind. Sie musste, jedoch ohne sein Wissen, versuchen herauszufinden, wer er tatsächlich war. Sie kannte nicht einmal seinen tatsächlichen Vornamen, vom Familiennamen ganz zu schweigen.

Lady Marbely beschloss spontan, den Führerschein des Butlers zu kontrollieren. Dort musste sein Name eingetragen sein. Und Hamilton würde sie fragen, wie er auf den Butler gestoßen war. Sie stieg aus dem Bett, hüllte sich in ihren Morgenmantel und verzichtete darauf, Hausschuhe anzuziehen. Sie wollte möglichst leise und unbemerkt in das Zimmer des Butlers gelangen. Der Gang, der von ihrem Zimmer zu dem des Butlers führte, wurde vom beinahe vollen Mond fahl beleuchtet. Lady Marbelys Haut wirkte in diesem Licht wie die einer Toten.

Von draußen drang Hundebellen in das Schloss. Sonst war es ruhig. Lady Marbely spürte die Kälte der Steinfliesen auf den Fußsohlen und fröstelte. Dann sah sie Licht, das durch drei Fenster im Parterre ins Freie drang. Jemand befand sich in der Bibliothek, aller Wahrscheinlichkeit nach der Butler. Demnach bedeutete die unbemerkte Kontrolle des Führerscheins kein Problem. Sie betrat das Schlafzimmer ihres Butlers und fand nichts. Der Mann hatte ja seine Montur noch an, wenn er in der Bibliothek arbeitete. Wie dumm von ihr, das nicht bedacht zu haben. Sie musste warten, bis er zu Bett ging und dann erst …

Ob der Butler ihren Wein mit LSD versetzt hatte? Egal, sie würde nun ihm einen Schlaftrunk bereiten, um sich ungestört auf die Suche nach seiner Identität begeben zu können. Sie ergriff die Wasserflasche, die auf dem Nachttisch des Butlers stand und eilte zurück in ihr Zimmer. Dort schob sie vier Schlaftabletten in die Flasche und schüttelte sie, damit sie sich auflösten. Für den Rückweg zog sie ihre Pantoffeln an. Da der Butler sich immer noch in der Bibliothek aufhielt, konnte sie auf übertriebene Vorsichtsmaßnahmen verzichten. Nun hieß es warten, bis der Mann endlich zu Bett ging.

*

Der Butler saß an Jakob Aufhausers Schreibtisch und studierte ein medizinisches Fachbuch, das sich mit psychischen Problemen beschäftigte. Er konzentrierte sich auf den Begriff APS, der antisozialen Persönlichkeitsstörung, die durch eine niedere Frustrationstoleranzschwelle und hoch aggressives, sozial unangepasstes Verhalten gekennzeichnet war. Der Butler hatte eine ganz bestimmte Person vor Augen und verglich seine Beobachtungen mit den wissenschaftlichen Ausführungen.

Besonders der Punkt Instrumentell-dissoziales Verhalten traf ziemlich genau auf die Person zu, an die der Butler dachte. Diese Abweichung von der sogenannten psychischen Norm war durch eine Konzentration auf Besitz und materielle Werte gekennzeichnet, durch allzu großes Selbstvertrauen und durch den Drang zur Machtausübung. Diese Menschen hintergingen andere oft durch ihren aufgesetzten Charme und durch vorgetäuschte Emotionen, verspürten jedoch selbst kaum Angst oder Liebe oder andere tiefer gehende Gefühlsregungen. Sie waren kalt, konnten aber perfekt die Anforderungen einer Führungsposition erfüllen. Sie waren nicht therapierbar und begingen meist auch kriminelle Handlungen.

Das alles entsprach ziemlich genau dem Bild, das sich der Butler von der Person gemacht hatte, die er im Auge hatte. Es galt, sehr vorsichtig zu sein.

Als der Butler in sein Zimmer zurückkehrte, bemerkte er, dass der Klebestreifen, den er zwischen Tür und Türstock angebracht hatte, gelöst worden war. Jemand war in sein Zimmer eingedrungen. Er unterzog den Raum einer systematischen Kontrolle, von den Vorhängen bis zum Bett. Er untersuchte auch den Bereich unter seinem Bett und setzte einen Hochfrequenzscanner ein, um eventuell platzierte Abhörgeräte aufzuspüren. Ein Blick auf seinen Nachttisch zeigte ihm, dass die Flasche Evian bewegt worden war. Er betrachtete das stille Wasser in der durchsichtigen PET-Flasche genauer und erkannte einen Bodensatz, der vermutlich von einem Medikament herrührte. Er stellte die Flasche beiseite, um sie eventuell einer näheren Überprüfung zu unterziehen oder nach Fingerabdrücken zu suchen.

Doch es erschien ihm einfacher abzuwarten, wer ihn außer Gefecht setzen wollte. Er hatte auch schon eine Idee, um wen es sich handeln könnte. Als sich nach längerer Zeit tatsächlich die Türklinke nach unten bewegte und die vom Mondlicht beschienene Gestalt der Lady Marbely in sein Zimmer schlich, täuschte er regelmäßiges Atmen, unterbrochen von leichten Schnarchgeräuschen, vor und sah durch die leicht geöffneten Wimpern, wie die Lady seine über einen Stuhl gefaltete Butlermontur durchsuchte, den Führerschein entnahm und darin las. Der Butler beschloss, seine Rolle des durch ein Medikament außer Gefecht gesetzten Mannes durchzuhalten, was immer geschehen würde.

Durch die wieder geschlossene Tür war ein Rumoren zu vernehmen, das den Schluss zuließ, die Lady würde eilig packen und eine Abfahrt vorbereiten. Das Motorengeräusch des Maybachs, das einige Zeit später erklang, bestätigte dies. Die Lady war unterwegs. Wohin, das würde ihm der mit einem Abhörgerät versehene Zündschlüssel verraten, über den er auch Gespräche, die im Auto geführt wurden, mitverfolgen konnte.

*

Weg! Nichts wie weg von dieser Villa, die ihr von Anfang an unheimlich gewesen war. Sie würde genau das machen, was ihr der Butler nach dem Tod des Geschäftsführers in Kirchhundem empfohlen hatte: Sie würde sich in aller Ruhe, sofern sie diese irgendwann wieder fand, in alle ungeklärten Fragen vertiefen und ihre Gefühle, die sie oft vorschnell beiseiteschob, zulassen. Sie wollte herausfinden, wer der Butler war, ob er ein gefährlicher Teufel oder ihr Schutzengel war, denn sie hatte keine Ahnung, was von beiden zutraf.

Lady Marbely fuhr Richtung Norden. Als sie den Ort Feldberg passiert hatte, hielt sie am Straßenrand und setzte ihr Galaxy Pad in Betrieb. Im Führerschein des Butlers stand der Name Curd von Cornelius, geboren am 13. November 1962.

Sie suchte im Internet nach dem Stichwort Cornelius und wurde bei Wikipedia fündig. Dort wurde ein deutscher Maler dieses Namens, der zur Zeit Goethes gelebt hatte, erwähnt. Bemerkenswert fand die Lady, dass jener Cornelius Goethes Faust illustriert hatte.

Der Teufelspakt! Faust und Mephisto. War Cornelius der Teufel? Wer war sie in diesem Spiel, wenn es ein solches gab? Zumindest erklärte die adelige Abstammung des Mannes seine perfekten Manieren und sein Können und Wissen als Butler.

Sie suchte weiter, indem sie die Namen von Cornelius und Cornelius googelte und schließlich auf Google Images ging. Neben einem österreichischen Popsänger dieses Namens und einem Schimpansen namens Cornelius aus dem Film Planet der Affen tauchte ein Foto auf, das eindeutig Ähnlichkeit mit dem Butler aufwies, ihn allerdings wesentlich jünger, mit extremem Kurzhaarschnitt, zeigte.

Lady Marbely ging auf die Seite, in die dieses Bild eingebettet war. Es handelte sich um die Internetpräsenz des Zweiten Fallschirmjäger-Fremdenregiments in Calvi, auf Korsika. Der Butler, dem ein Kamerad den Arm um die Schulter gelegt hatte, lächelte neben vier anderen Soldaten selbstbewusst in die Kamera. Unter dem Bild standen die Worte: Die Fremdenlegionäre im Einsatz gegen den internationalen Terrorismus, im Sold des französischen Staates. Sie fürchten weder Gott noch Teufel.

Lady Marbely rekapitulierte: Der Butler hieß möglicherweise Curd von Cornelius, war adeligen Ursprungs, ausgebildeter Soldat, in jüngeren Jahren in den Diensten der Légion Étrangère der französischen Armee. Sämtliche Klischees, die die Öffentlichkeit mit der Fremdenlegion verband, fielen Lady Marbely ein, von Verbrechern, die untertauchen wollten, um eine neue Identität zu bekommen, sollten sie überleben, über todesmutige Kämpfer, die weder sich noch andere schonten, bis zu ehemaligen SS-Männern, die sich nach dem Krieg der Legion angeschlossen hatten. Von Alkoholismus und anderen Exzessen ganz zu schweigen. All das passte nicht zum Butler, der ihr als ein kraftvoller und ruhiger, in vieler Hinsicht weiser Mensch erschienen war. Kein Haudegen, sondern ein kulturell interessierter Mann.

Lady Marbely begann ihre Flucht zu bedauern, dennoch war sie notwendig gewesen. Sie musste sich unbedingt Klarheit verschaffen. Ein Satz drängte sich in Lady Marbelys Gedanken: Sie fürchten weder Gott noch Teufel. Genau das war es, was den Butler kennzeichnete, und sie wusste nicht, ob dies gut oder schlecht war. Es konnte ein Hinweis auf besondere charakterliche Souveränität sein, aber auch einen Menschen beschreiben, der sich für Gott hielt und ein Teufel war.

Lady Marbely startete den Maybach und fuhr weiter. Sie wollte das Auto irgendwo abstellen und einen Mietwagen organisieren, um nicht allzu sehr aufzufallen. Dann würde sie sich in einem versteckten Winkel des Rothaargebirges einquartieren und die weiteren Schritte planen. Dazu gehörte auf jeden Fall die Kontaktnahme zu Sam Hamilton, ihrem geschäftlichen Berater, der am nächsten … nein, es war schon gegen Mitternacht, der an diesem Tag im Siegerland eintreffen würde. Er hatte ihr den Butler vermittelt. War auch Hamilton nicht zu trauen? War auch er Teil der Verschwörung gegen sie? Lady Marbely fuhr sich durch das grau-rötliche Haar. Himmel, das grenzte bereits an Paranoia! Sie musste geduldig, ohne jede Hektik, Licht ins Dunkel bringen, und das ohne fremde Hilfe. Sie beschloss, auf einen Kontakt zu Sam Hamilton fürs Erste zu verzichten.

Die Straße wand sich in unzähligen Kurven durch dicht bewaldetes Gebiet bergan. Außer ihr war nur ein weiteres Fahrzeug unterwegs, das ihr, seitdem sie angehalten hatte, folgte. Ein kleiner VW mit Siegener Kennzeichen. Hatte der Butler bereits ihre Spur aufgenommen? Diesen Gedanken verwarf Lady Marbely, indem sie an das Schlafmittel in dessen Mineralwasser dachte und dabei sogar den Anflug eines schlechten Gewissens verspürte. Würde der Butler, falls er tatsächlich unschuldig war, sie nicht für eine reichlich schreckhafte, wenn nicht gar verrückte Person halten? Wenn es nicht der Butler war, der ihr folgte, wer war es dann? Ein Mensch, der zufällig dieselbe Route fuhr wie sie?

Als sie den nächsten größeren Ort, Oberreifenberg, erreichte, entschloss sie sich, eine Bleibe zu suchen. Hinweisschilder führten sie zu einem Waldhotel. Als sie vor dem schmucklosen Gebäude in der Tannenbaumstraße hielt, wurde ihr bewusst, dass sie mit dem Maybach auf dem Hotelparkplatz Aufsehen erregen würde. Sie entschloss sich, das Auto auf einem nahen Waldweg abzustellen, am nächsten Vormittag nach einem Mietwagen zu suchen und dann erst ein Zimmer zu nehmen.

Der Maybach Guard bot absolute Sicherheit. Also konnte sie versuchen, einige Stunden zu schlafen. Sie machte es sich auf den weichen Ledersitzen bequem. Minuten später klopfte jemand ans Fenster. Ein junger Mann starrte mit großen Augen gegen die verspiegelte Scheibe. Er stand auf der falschen Seite, weil er den Fahrer links vermutete. Lady Marbely rutschte auf den Beifahrersitz, öffnete die Scheibe einen winzigen Spaltbreit und fragte: „Sie wünschen?“

„Ich bin Stefan, der Sohn von Hans Obermann. Ich möchte mein Verhalten bei unserem Telefonat entschuldigen. Der Tod meines Vaters hatte mich so geschockt, dass ich nicht die richtigen Worte fand. Können wir uns unterhalten?“

Lady Marbely war über diese unerwartete Begegnung mehr als nur verblüfft, erkannte jedoch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Ermordeten. Der Sohn wirkte vielleicht noch düsterer. Ansonsten war er ein typischer Student, mit blondem, etwas zu langem Haar und einer billigen Brille auf der Nase. Sofort regte sich in Lady Marbely der Mutterinstinkt, den sie leider nie hatte entfalten können. Wie sehr hatte sie sich mit ihrem Gatten Graham ein Kind gewünscht! Also warf sie alle Vorsicht über Bord, ins Meer seiner traurig blickenden Augen, öffnete die Beifahrertür und bat den jungen Mann, einzusteigen. Dieser drückte der Lady höflich die Hand, bedankte und entschuldigte sich nochmals für die unfreundlichen Worte am Telefon.

„Ach, das habe ich schon vergessen.“

Dann entschuldigte sich Stefan Obermann noch für seine Aufdringlichkeit. „Aber ich wusste keinen anderen Weg. Ich muss mit Ihnen reden. Es war Zufall, dass ich Ihren Wagen gesehen habe.“ Vom schwarzen Rollkragenpulli und den Jeans des jungen Mannes ging der Geruch von Zigaretten aus, der Lady Marbely dazu anregte, einen Zigarillo anzustecken. Sie bot Stefan Obermann ebenfalls einen an und gab ihm Feuer.

Der junge Mann sog schweigend den Rauch in seine Lunge und wirkte allmählich etwas entspannter. „Ich habe mir vorgenommen, den Tod meines Vaters aufzuklären und möchte wissen, was Sie damit zu tun haben.“

Lady Marbely sah ihn entsetzt an.

„Natürlich möchte ich damit nicht andeuten, dass Sie Schuld daran sind“, fuhr der junge Obermann rasch fort, „aber etwas merkwürdig ist es schon, dass zuerst Onkel Jakob ums Leben kommt, Sie mit Ihrem Bodyguard auftauchen, fast alles erben und dann auch noch mein Vater stirbt.“

Sie nickte. „Das kann ich verstehen. Alles muss Ihnen sonderbar erscheinen. Ich kann Ihnen jedoch noch keine Lösung dieses Rätsels anbieten, nur die Bereitschaft, gemeinsam mit Ihnen danach zu suchen.“

„Danke! Das habe ich gehofft.“

„Und der worst case, wie sah der für Sie aus?“

„Dass Sie mich von Ihrem Bodyguard beiseiteräumen lassen.“ Stefan Obermann senkte seinen Kopf. „Entschuldigen Sie meine unbedachten Worte, Frau …“

„Nennen Sie mich Amanda. Bitte, erzählen Sie von sich, von Ihrer Familie. Sie sind Student. Was studieren Sie?“

„Das ist eine komplizierte Geschichte. Ich begann mit Psychologie, wollte die Laufbahn eines Therapeuten einschlagen. Das war leider eine Fehlentscheidung. Jetzt studiere ich Technische Physik in Frankfurt. Ich wollte in die Firma meines Vaters … also, in Ihre Firma, einsteigen.“

„Und privat? Ich meine Hobbys, Freundinnen und so weiter.“

Als der junge Obermann schwieg, entschuldigte sich die Lady für ihre Neugier. „Ich erzähle Ihnen von mir, und Sie entscheiden, was Sie mir anvertrauen wollen.“

Keine zehn Kilometer von Oberreifenberg entfernt, belauschte der Butler das Gespräch zwischen der Lady und dem jungen Mann, das über den Zündschlüssel an sein Smartphone übertragen wurde. Er war gespannt, was die Lady über sich verraten würde.

„Ich bin einundsiebzig Jahre alt, verwitwet, noch immer als Unternehmerin tätig, nicht arm zu nennen, wuchs im Süden Englands auf, habe leider keine Kinder.“

„Von dem Auto her, das Sie fahren, müssen Sie sehr reich sein.“

„Mag sein. Ich spüre das, was Sie reich nennen, eher als Verantwortung, manches Mal als Bürde. Mein Leben wäre in den letzten Tagen bedeutend ruhiger und ungefährlicher verlaufen, hätte ich auf die Erbschaft Jakob Aufhausers verzichtet. Man ist aber an mich mit der Bitte herangetreten, Jakobs Betriebe zu übernehmen, die etwas verworrene Situation zu klären und die Fabriken weiterzuführen. Unter anderem, um Arbeitsplätze zu sichern.“

„Sie sprachen von man. Man sei an Sie herangetreten. Wie ist das zu verstehen?“

„Sie fragen aus einem bestimmten Grund?“, erkundigte sich die Lady.

„Mein Vater hat von einer Nazitruppe gesprochen, die den Betrieb zu unterwandern drohte.“

„Eine Nazitruppe?“, fragte Lady Marbely erstaunt.

„Eine rechtsgerichtete Gruppierung. Wobei ich gestehen muss, selbst dem CC, dem Coburger Convent, angehört zu haben.“

„Eine verbotene Gemeinschaft?“, fragte Lady Marbely.

„Nein, nicht verboten, auch keine Nazitruppe, aber doch sehr konservativ, mit Pflichtmensuren. Das heißt …“

„Dass Sie Duelle ausfechten mussten, bei denen Sie auch verletzt werden konnten.“

„Wie mein Vater. Die Narbe in seinem Gesicht …“

„… stammte von einem solchen Wettkampf.“

Stefan Obermann nickte. „Ich stieg nach einem Jahr aus und bin jetzt froh, dass ich mich so klar entschieden habe. Die Verbindung ist Vergangenheit. Ich möchte eine andere Zukunft haben.“

„Sie denken an eine gemeinsame Zukunft?“, fragte Lady Marbely direkt.

„Ja, mit Ruth. Ruth Henschel.“

„Henschel?“ Sie horchte auf. „Eine Tochter des verunglückten Geschäftsführers?“

Stefan Obermann nickte. „Wir haben beide unsere Väter verloren und uns geschworen, die Hintergründe aufzudecken und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“

„Das wird nicht einfach“, bemerkte die Lady. „Aber wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie und Ihre Freundin dabei unterstützen. Ihre Ziele sind auch meine. Um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen …“

„Tut mir leid. Ich weiß nicht mehr … Irgendwie kann ich nicht mehr richtig denken. Es ist alles so verworren.“

„Sie fragten mich, wer mir gegenüber den Wunsch geäußert hat, die Erbschaft Jakob Aufhausers anzutreten, um Klarheit zu schaffen. Das geschah über meinen geschäftlichen Berater, an den sich wiederum eine internationale Gruppe gewandt hat, deren Zusammensetzung mir nicht bekannt ist. Kriminelle Organisationen möchte ich eigentlich ausschließen, muss aber gestehen, dass mein Wissen ziemlich vage ist und dass mir gerade in den letzten Stunden Zweifel gekommen sind.“

„Wir könnten es wirklich gemeinsam versuchen.“

„Einverstanden.“

„Ich möchte aber, dass Ruth mitmacht.“

„Selbstverständlich. Wo schlagen wir unser Hauptquartier auf?“, fragte Lady Marbely unternehmungslustig.

„Ruths Vater, Alexander Henschel, hat eine Jagdhütte im Hochtaunus.“

„Keine schlechte Idee. Sie fahren voraus, ich folge Ihnen.“

„Es ist nicht weit. Eine halbe Stunde. Höchstens.“

Gesagt, getan. Sie machten sich gemeinsam mit dem Maybach auf den Weg.

Am Ziel angekommen war Lady Marbely begeistert. „Herrlich!“, rief sie aus, als sie den Wagen verließ und die frische Luft einatmete, die über dem hügeligen Land mit seinen Mischwäldern und Wiesen lag.

Stefan Obermann hatte seine Freundin per Handy auf seine und Lady Marbelys Ankunft vorbereitet. Freundlich lächelnd stand Ruth Henschel in der geöffneten Tür zum Blockhaus und umarmte zuerst ihren Freund, dann begrüßte sie die Lady mit einem Händedruck. „Ich habe etwas zu essen vorbereitet“, sagte die junge Frau.

Kurze Zeit danach stand Linseneintopf mit Lammfleisch auf dem Tisch, pikant gewürzt, köstlich duftend.

„Lamb Stew“, freute sich Milady. „Das habe ich lange nicht mehr gegessen.“

„Amanda …“, begann Stefan Obermann umständlich. „Amanda wird bei uns wohnen, wenn es ihr hier gefällt. Wir haben ein kleines Gästezimmer.“

„Ich nehme das Angebot dankend an“, sagte die Lady. „Und ich verspreche, pflegeleicht zu sein. Ich bin froh, hier untertauchen zu können, um Verschiedenes zu klären.“ Die Lady und der junge Obermann lieferten Ruth Henschel eine Zusammenfassung des Gespräches, das sie im Auto geführt hatten. Dabei bemerkte sie, wie selbstbewusst der vorher so scheue junge Mann in Gegenwart seiner Freundin wirkte. Die junge Frau ähnelte ihrem ständig lächelnden Vater überhaupt nicht, fand die Lady. Sie war nicht besonders hübsch, aber voll Energie, die sich über ihre strahlenden dunklen Augen bemerkbar machte.

Ruth Henschel öffnete eine Flasche Weißwein und füllte die Gläser. „Die ist noch von meinem Vater“, erklärte sie.

„Mein Beileid, Ruth, zu Ihrem großen Verlust“, sagte die Lady. Seit dem Unfall waren nur ein paar Tage vergangen.

Ruth nickte dankbar. „Mein Vater war die einzig verbliebene Bezugsperson. Meine Mutter starb, als ich fünfzehn war. Auch bei einem Autounfall.“

„Fast zeitgleich mit meiner Mutter“, sagte Stefan Obermann. „Wir erfuhren im Internat davon, und …“

„Unsere Freundschaft und Liebe geht auf diese Zeit zurück“, ergänzte Ruth.

„Sie waren im selben Internat?“

Die beiden nickten.

„Dann ist also Frau Obermann nicht Ihre Mutter, Stefan?“, fragte Lady Marbely.

„Nein. Ich mag sie auch nicht sonderlich. Aber man ist wohl Stiefmüttern gegenüber immer etwas ungerecht.“

Lady Marbely betrachtete nachdenklich die mit Holz verkleidete Zimmerdecke. „In den deutschen Märchen, die ich sosehr liebe, sind es wirklich immer böse Frauen.“

„Mir ist, ehrlich gesagt, die Angelegenheit völlig unklar“, überlegte Stefan weiter. „Wir dachten, in Ihnen und Ihrem Butler die Ursache für alle Probleme gefunden zu haben. Das war ein Irrtum, zumindest, was Sie betrifft, äh … Amanda. Ich bin froh, dass Sie zu uns übergelaufen sind.“

„Was meinen Butler betrifft, so zweifele ich. Entweder ist er Teufel oder …“

„Oder?“

„Oder Schutzengel, dem sein Schützling entwischt ist. Ich hoffe, letzteres trifft zu. Wir werden sehen. Er hat mir mehrere Male das Leben gerettet. Sein Bemühen um Aufklärung der dunklen Vorgänge um Jakob Aufhausers Erbe wirkte authentisch.“ Lady Marbely schien in Gedanken versunken. „James, meinem Butler, und mir sind die Ringe aufgefallen, die der Richter im Nachlassverfahren, der Rechtsanwalt und … ach ja … und Herr Henschel, also Ihr Vater, trugen. Silberne Ringe mit schwarzem Schmuckstein, auf dem sich zwei liegende Zeichen für unendlich befanden. Mein Butler befasste sich eingehend mit diesem Symbol. Allerdings, und das fällt mir erst jetzt auf, verriet er mir das Ergebnis seiner Recherchen nicht.“

„Es ist ein ziemlich heikles Thema, das eine Engländerin vielleicht nicht verstehen wird“, meinte Stefan Obermann.

„Versuchen Sie es! Vielleicht hilft uns ein Glas Wein.“ Lady Marbely lächelte dem jungen Paar aufmunternd zu.

Ruth Henschel entschuldigte sich, dass sie nicht daran gedacht hatte, nachzuschenken. „Ich hatte mich zu sehr auf unser Gespräch konzentriert.“

„Ich habe einen Mund, um mich zu Wort zu melden. Morgen werde ich für Nachschub sorgen. Sie müssen keine Angst haben, dass Sie mich durchfüttern müssen“, erklärte die Lady lachend. „Kochen und abwaschen kann ich auch. Wenn ich auch durch mein privilegiertes Leben etwas aus der Übung gekommen bin. Also, was hat es mit den Ringen auf sich?“

„Ich erinnere mich, dass mein Vater einen schwarzen Ring trug“, antwortete Ruth Henschel, „kann aber nicht sagen, welche Bedeutung er für ihn hatte.“

„Mein Vater befürchtete, eine rechtsgerichtete Gruppierung versuche Einfluss auf Aufhausers Betriebe zu nehmen“, ergänzte Stefan Obermann.

„Und Sie glauben“, fragte Lady Marbely, „dass die Ringe damit in Zusammenhang stehen?“

„Die zwei Lemniskaten auf dem Schmuckstein“, erklärte der junge Obermann, „liegen nur, wenn man sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet. Dreht man sie um neunzig Grad, werden sie zu zwei Achten.“

„Und das bedeutet?“ Lady Marbely machte erwartungsvoll große Augen.

„88. Ein Zeichen für Neonazis. Der achte Buchstabe im Alphabet. HH. Heil Hitler. Dreht man das Alphabet um und zählt von hinten, kommt man auf SS.“

„Du meinst, dass Vater …“, wandte sich Ruth Henschel an ihren Freund.

„Ich fürchte, ja. Jedenfalls hatte mein Vater einer solchen Gruppierung angehört, bis er sich eines Tages davon lossagte und das mit mir besprach. Er wirkte so ehrlich, so überzeugend, dass auch ich sofort danach die Studentenverbindung verließ. Mein Vater erkannte den großen Irrtum in seinem Leben, den er korrigieren wollte. Das sei alles Vergangenheit. Die Zukunft liege anderswo. Sie sei in Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit und im Verzicht auf Gewalt zu finden.“

„Ich verstehe!“ Lady Marbely nickte eifrig.

Die Stimmung im Blockhaus hatte etwas Feierliches angenommen, erinnerte an eine religiöse Zeremonie. Es war Lady Marbely, die schließlich die Stille brach. „Mein … der Butler fand in Jakobs Computer die Zahlen 88 und 18, in einer Art Vermächtnis meines Cousins, in dem er die Aufkündigung eines Teufelspaktes erwähnt. Damit konnte er nur eine solche Gruppierung gemeint haben.“

„88 scheint klar zu sein. 18 kann Adolf Hitler oder Adlerhorst bedeuten“, sagte der junge Obermann.

„Adlerhorst?“, fragte Lady Marbely. „Was bedeutet das?“

„Das ehemalige Führerhauptquartier, in der Nähe von Königstein, in dem Hitler Weihnachten und Silvester 1944/45 verbrachte. Noch heute eine Pilgerstätte einschlägiger Kreise.“

Ruth war erbleicht. „A. H. Mein Vater … Das sind auch seine Initialen.“

„Aufhausers geheime Firma in Kirchhundem, in der Kriegsgerät hergestellt wurde“, erklärte Lady Marbely. „Ihr Vater leitete diese Fabrik. Sie war Grundlage des enormen Reichtums meines Cousins.“

„Und sollte der Finanzierung dieser rechten Gruppe dienen“, vermutete Stefan Obermann. „Die Neonazis sollten so aus ihrem finanziellen Tief geholt werden.“

„Und weil ich dazwischen kam“, führte Lady Marbely den Gedankengang fort, „mussten so viele Menschen sterben. Insofern hatten Sie wohl recht, als Sie mich anfangs verdächtigten.“

„Und die Rolle des Butlers?“, fragte Ruth Henschel.

„Entweder Engel oder Teufel. Aber das hatten wir schon“, meinte Stefan. „Ich bin gespannt, wie es weitergeht.“

„Ich ahne nichts Gutes“, befürchtete Lady Marbely. „Die Angelegenheit mit dem Butler werde ich morgen klären. Ich fahre nach Siegen, um mich mit einem meiner Berater zu treffen. Er hat mir den Butler empfohlen. Wenn Sie mir bitte dazu Ihren Wagen leihen. Der Maybach ist zu auffällig. Sie können ihn inzwischen benutzen.“

Stefan Obermann stimmte begeistert zu.

„Und dieses Auto ist absolut sicher“, fügte Lady Marbely noch hinzu.

Als sie wenig später ihren Koffer aus dem Maybach holte, vernahm sie einen leisen Pfiff. James!, durchfuhr es die alte Lady. Ohne zu zögern sprang sie ins Dickicht, und tatsächlich stand ihr Butler, perfekt gekleidet wie immer, im Mondlicht und verbeugte sich höflich.

„Wir müssen reden“, sagten beide gleichzeitig.

„Sie haben den Vortritt, James.“

„Gut, dann rasch zum Kern der Sache.“ Der Butler schaute ernst drein. „Es gibt drei Möglichkeiten, wie es weitergehen kann: Sie misstrauen mir weiterhin. Das würde bedeuten, wir gehen getrennte Wege. Für immer.“

„Oder?“

„Oder Sie trauen mir wieder, was ich sehr hoffe. Dann könnten wir wie zuvor gemeinsam weiter ermitteln.“

„Und die dritte Möglichkeit?“

„Sie vertrauen mir wieder, mit Vorbehalt, wir bleiben in Kontakt, arbeiten jedoch getrennt weiter.“

„Das ist schwer, James.“

„Das Vertrauen zu mir, Milady? Ich hoffe, ich trage daran keine Schuld.“

„Man kann Vertrauen nicht wie eine Lampe ein-und ausschalten. Das braucht Zeit. Und: Nein, Sie können nichts dafür. Es sind die vertrackten Umstände, die alles so kompliziert gemacht haben.“

„Mephisto, der Zwietracht sät. Wie PSA-Agent Larry Brent befürchtet hat.“

„Und wer ist dieser Mephisto? Sie haben doch eine Ahnung, James.“

„Noch liegt dieser Fall bedauerlicherweise im Dunkeln.“

„Welche der drei Möglichkeiten würden Sie wählen, wenn Sie in meiner Haut steckten?“

„Das ist schwer zu sagen. Ich hoffe natürlich nicht, dass Ihr Misstrauen so groß ist, dass Sie nicht mehr mit mir zusammenarbeiten wollen. Von den verbliebenen zwei Möglichkeiten hat jede ihre Vor-und Nachteile.“

„Die wären, James?“

„Die gemeinsame Weiterarbeit bietet die größte Sicherheit für Sie, bremst jedoch das Tempo.“

„Also bleibt die getrennte Zusammenarbeit, auch wenn das sprachlich einen Widerspruch bedeutet?“

„Der Vorteil bestünde in einer Täuschung des Täters. Zugleich wäre es sehr riskant für Sie. Sie wären, sozusagen, der Köder, mit dem man die Verbrecher fangen könnte, mit allen damit verbundenen Risiken.“

„Sie machen das sehr geschickt, James. Sie wollen mich dazu überreden, indem Sie an meinen Mut und meinen Ehrgeiz appellieren.“

„Nichts liegt mir ferner, Milady.“

„Und es ist Ihnen gelungen. Ich wähle die dritte Möglichkeit, lasse mich von den Tätern schnappen und locke sie damit aus der Reserve. Und Sie, mein lieber James, retten mich.“

„Ein bestechender Plan, der, wie gesagt, den Nachteil hat, dass er riskant ist und Ihr Leben in Gefahr bringt.“

Lady Marbely sah ihn vertrauensvoll an. „Um das zu verhindern, sind Sie da.“

„Sehr wohl, Milady, ich werde mein Möglichstes tun. Und dazu gehört dies hier.“ Mit diesen Worten steckte er einen Ring an Lady Marbelys Ringfinger der linken Hand, denn nur die Deutschen und die Österreicher tragen den Ehering rechts.

„Mein Gott, James! Das ist ja mein Ring. Was für eine schöne Überraschung!“

„Es ist Ihr Ehering, Milady, leicht modifiziert. Er enthält nun einen Peilsender, der es mir ermöglicht, Ihren Spuren zu folgen, wohin auch immer diese führen. Dieser Knopf auf der Unterseite ist für den äußersten Notfall bestimmt. Damit können Sie ein SOS-Signal abgeben.“

„Das ich hoffentlich nie benötige. Und nun …“

„Nun tauche ich unter und wünsche Ihnen und mir gutes Gelingen.“


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